Heidi Benneckenstein

Ein
deutsches Mädchen

Mein Leben in einer Neonazi-Familie

Unter Mitarbeit von
Tobias Haberl

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

Tropen

www.tropen.de

© 2017, 2019 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Nele Schütz Design, München

unter Verwendung eines Fotos von Sigrid Reinichs

Foto auf Seite 2: © Heidi Benneckenstein

Datenkonvertierung: Dörlemann Satz, Lemförde

Printausgabe: ISBN 978-3-608-50420-0

E-Book: ISBN 978-3-608-10886-6

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

1 Meine zwei Leben

»Bis ich 18 war, kannte ich nur Nazis«

Ich heiße Heidrun, aber meine Freunde nennen mich Heidi. Ich bin 24 Jahre alt, habe einen Mann, einen Sohn und einen Hund, die ich über alles liebe, und einen Beruf, der mir Spaß macht. Ich lebe in München, einer der schönsten und wohlhabendsten Städte des Landes. Wenn ich vor die Tür trete, sehe ich Studenten, die in Cafés sitzen, und Touristen mit dem Reiseführer in der Hand.

Unsere Wohnung ist nicht groß, aber ich bin zufrieden, es geht mir gut. Ich arbeite als Erzieherin in einer Kindertagesstätte und wenn ich morgens an der Trambahn-Haltestelle stehe, falle ich nicht auf. Ich bin eine leise Person, eher groß als klein, eher schlank als mollig, mit mittellangen blonden Haaren, in Jeans und Turnschuhen. Die anderen Menschen sehen mich und denken sich – glaube ich – nichts, und das ist gut so.

Sie haben keine Ahnung davon, dass es die Person, die ich 18 Jahre lang war, nicht mehr gibt. Dass sie einen Menschen vor sich haben, der vor ein paar Jahren ein zweites Mal auf die Welt gekommen ist. Dieses Mal will ich endlich das Leben führen können, auf das ich stolz bin und für das ich jahrelang hart gekämpft habe.

In den letzten Jahren habe ich so oft über die ersten 18 Jahre meines Lebens nachgedacht, dass ich jeden Moment abrufen und wie einen Film vor meinem geistigen Auge abspielen kann. Als würde ich auf einem Zeitstrahl vor- und zurückspringen, kann ich mich in alle möglichen Szenen und Phasen hinein- und wieder herauszoomen.

Es ist nicht so schön, was ich erlebt habe. Das meiste ist unangenehm, vieles schrecklich, manches verletzend, kränkend, schockierend.

Ich sehe dumpfe Gestalten und böse Gesichter, sehe Uniformen, Fackeln und Hakenkreuze, sehe ein zierliches Mädchen, das mal unsicher, mal wütend, dann wieder ganz still ist. Eigentlich war ich alles, nur nicht glücklich. Nie fühlte ich mich geborgen oder aufgehoben. Deshalb habe ich schon vor drei Jahren alles, was mir aus dieser Zeit geblieben ist, in eine Kiste gepackt und auf dem Dachboden im Haus meiner Oma verstaut. Ich möchte mit dem Inhalt dieser Kiste nichts mehr zu tun haben. Er ist böse.

Vor einem Jahr bin ich trotzdem noch mal auf den Speicher, holte die Kiste hervor, wischte den Staub ab, klappte den Deckel auf und schaute alles durch, las jedes Buch, jeden Brief, jede Postkarte. Es war nicht leicht, aber musste sein, weil ich dieses Buch schreiben wollte. Ich spürte, dass ich nur mit meinem ersten Leben abschließen konnte, wenn ich so viele Kindheits- und Jugenderinnerungen wie möglich zutage förderte, auch die unangenehmen und grausamen; ja, dass ich die ersten 18 Jahre meines Lebens noch einmal durchleben musste, um sie hinter mir lassen zu können.

Ganz oben lag das Das Liederbuch der deutschen, flämischen und nordländischen Jugend, ein Büchlein eher, zerfleddert, ein paar Seiten waren lose. Ich blätterte vor und zurück, las mal hier mal dort ein paar Zeilen.

Die Lieder hießen »Schwarze Fahne halte stand«, »Gebt Raum, ihr Völker« oder »Deutschland, Deutschland über alles«. Manche Titel klangen eher harmlos, als handle es sich um romantische Heimatlieder aus dem 19. Jahrhundert, zum Beispiel »Der Wind weht über Felder«, aber wenn man in die Strophen hineinlas, wurde schnell klar, welcher Wind hier gemeint war:

»Laßt uns Geist und Hände regen,

stählen unsere junge Kraft,

daß sie einst mit Gottes Segen

uns ein starkes Deutschland schafft!

Laßt nicht Neid die Blicke trüben,

urteilt nicht nach äußrem Schein,

laßt uns Zucht und Ordnung lieben,

pflichtgetreu im kleinsten sein.«[1]

Ich legte es beiseite und wühlte weiter. Als Nächstes kamen jede Menge Briefe, Karten und Einladungen der Jungen Nationaldemokraten und der Heimattreuen Deutschen Jugend zum Vorschein, adressiert an Heidrun Redeker, an mich. Ich las sie von der ersten bis zur letzten Zeile, Erinnerungen wurden wach, Bilder tauchten auf. Es folgten Flugblätter der NPD und der DVU. »Deutsch soll Deutschland sein!«, stand darauf. Ich konnte mich gut erinnern, wie ich sie mit einem freundlichen Lächeln in der Fußgängerzone verteilt hatte.

Ich fand meinen Ahnenpass, ein Büchlein in Pergament-Optik, in das ich Namen, Geburtsdaten und Konfession meiner Eltern, Großeltern und Urgroßeltern eingetragen hatte. Die Schrift war kindlich und akkurat, ich muss konzentriert und mit großem Eifer vorgegangen sein, als ob meine Notizen jederzeit einer Kontrolle hätten unterzogen werden können. »Wohl dem, der seiner Väter gern gedenkt«, lautete das Motto des Buches.

Ich fand zwei T-Shirts. Auf einem stand »Todesstrafe für Kinderschänder«, auf dem anderen »Der Gott, der Eisen wachsen ließ, der wollte keine Knechte« – der Anfang des Vaterlandslieds von Ernst Moritz Arndt aus dem Jahr 1812. Ich fand CDs von Stahlgewitter, Landser und Gigi und die braunen Stadtmusikanten. Von Letzteren war vor ein paar Jahren in sämtlichen Nachrichtensendungen die Rede, weil es Gigi und seine Stadtmusikanten gewesen waren, die 2010, also ein Jahr vor der Enttarnung des Nationalsozialistischen Untergrunds, die NSU-Morde in ihrem Lied »Döner-Killer« gefeiert hatten.

Wenn man die ersten Strophen heute liest, ist man fassungslos, wie präzise sie das tatsächliche Geschehen beschreiben:

»Neun mal hat er es jetzt schon getan.

Die SoKo Bosporus, sie schlägt Alarm.

Die Ermittler stehen unter Strom.

Eine blutige Spur und keiner stoppt das Phantom.

Sie drehen durch, weil man ihn nicht findet.

Er kommt, er tötet und er verschwindet.

Spannender als jeder Thriller,

sie jagen den Döner-Killer.«[2]

»Was wusste Gigi?«, titelte die Zeit – aber erst im April 2012, also viel zu spät. Ich hatte genug gesehen, klappte den Deckel zu und trug die Kiste zurück auf den Speicher. Ich war verwirrt und hatte das Gefühl, als hätte ich 18 Jahre lang das Leben eines anderen Menschen geführt. Ich empfand keinen Ekel, es war eher, als hätte ich einen Blick in die Vergangenheit einer Person geworfen, die ich früher, wenn überhaupt, nur flüchtig gekannt hatte.

Es fällt mir schwer, die Erinnerungen, von denen ich weiß, dass es meine sind, mit der Person in Einklang zu bringen, die ich heute bin. Wenn ich daran denke, was ich früher gesagt, gedacht und getan habe, woran ich geglaubt und gezweifelt habe, schäme ich mich, aber vor allem bin ich wütend. Manchmal muss ich auch lachen, aber es ist kein befreiendes Lachen, eher ein ungläubiges, verzweifeltes Lachen.

Ich habe meine ersten 18 Jahre mit Nazis verbracht. Nicht aus sicherer Distanz und nicht für ein, zwei Jahre in der Pubertät, sondern mittendrin, ausschließlich und von Anfang an. Ich wurde von ihnen erzogen und aufs Leben vorbereitet. Ich wurde von ihnen geschlagen und drangsaliert, gelobt und belohnt.

Eigentlich kannte ich überhaupt keine anderen Menschen: meine Großeltern, mein Vater, die Freunde meiner Eltern, die Kinder, mit denen ich meine Ferien verbrachte, meine erste Clique, mein erster Freund, ja sogar der Mann, mit dem ich heute verheiratet bin – alles Nazis, die einen mehr, die anderen weniger radikal, viele von ihnen militant, gewalttätig, vorbestraft.

Ich wurde von klein auf ideologisch geschult und militärisch gedrillt. Als Mädchen nahm ich an kilometerlangen Geländemärschen teil, hisste Fahnen mit fragwürdigen Symbolen, streckte die Hand zum Hitlergruß aus und sang verbotene Lieder. Als Teenager hockte ich an Stammtischen militanter Kameradschaften, soff bei Nazikonzerten, betreute Wahlkampfstände für die NPD und saß neben einem Typen am Lagerfeuer, den ich erst Jahre später wieder sah – auf der Anklagebank des NSU-Prozesses. Ich prügelte und wurde verprügelt, griff Polizisten an und rannte vor ihnen weg.

Ich war Mitglied bei der Heimattreuen Deutschen Jugend und den Jungen Nationaldemokraten, stand aufrecht neben NPD-Kadern, trug Fackeln, besuchte Kameraden im Knast, feierte im Braunen Haus in Jena – und das alles war so normal für mich, dass ich erst im Rückblick erkenne, in welchen Sumpf ich hineingeraten war.

Ich war ein Nazimädchen. Unschuldig schuldig, in die rechte Ecke hineingeboren, hineingezwängt, hineingeschoben, aber eben doch: ein Nazi.

Ich bin nicht eines Morgens aufgewacht und habe gesagt: Ab heute bin ich kein Nazi mehr. So läuft das nicht. Nicht nach allem, was ich erlebt hatte. Nicht bei der Familie, in der ich aufgewachsen war. Nicht nach den Jahren in rechten Zeltlagern und militanten Kameradschaften. Ich hatte mich im Laufe der Jahre so sehr in dieser Parallelwelt verheddert, dass es lange dauerte, bis ich mich herausarbeiten konnte. Der Weg raus aus diesem Milieu, weg von diesen Menschen, weg von einem Teil meiner Familie und schließlich weg von mir selbst, war schmerzhaft und dauerte mehrere Jahre.

Ich habe monatelang überlegt, ob ich dieses Buch schreiben soll. Es gab so viele Gründe dafür und mindestens genauso viele dagegen. Vor zwei Jahren rief mich ein Journalist der Bild-Zeitung an: Ihm sei da was zu Ohren gekommen, ob man sich treffen und kennenlernen könne. Meine Geschichte sei faszinierend, auch tragisch, was für ein Leben, was für eine Kindheit, da müsse man doch was draus machen. Da stecke doch viel drin.

Ich fühlte mich geschmeichelt und sagte zu. Wir trafen uns auf einen Kaffee, und ich erzählte ihm die Kurzfassung meines Lebens. Er nickte, machte sich Notizen, nickte wieder, schien begeistert – nach ein paar Wochen schlief das Projekt ein. Er meldete sich nicht mehr. Ich glaube, ihm fehlten das Blut, die Gewalt, die krassen Szenen, die Waffen und Prügeleien. Die Geschichten, mit denen man in die Talkshows eingeladen wird.

Was ich durchgemacht hatte, wie zerrissen ich war und wie zerrüttet das Verhältnis zu meinen Eltern, meinen Geschwistern und meinen früheren Kameraden – dafür hatte er kein Gespür. Erst war ich enttäuscht, dann erleichtert. Bei ihm wäre meine Lebensgeschichte nicht in den richtigen Händen gewesen.

Aber die Idee ließ mich nicht mehr los. Ich spürte, dass er in einem Punkt recht gehabt hatte: Mein Leben war krass. Ich hatte was zu erzählen. Und meine Geschichte war relevant, gerade heute, wo überall in Europa nationale Bewegungen an Zulauf gewinnen und viele Menschen sich fragen, wie es möglich sein kann, dass eine rechtspopulistische Partei wie die AfD in ein Parlament nach dem anderen einzieht.

Was ist eigentlich deutsch? Gibt es so etwas wie eine abendländische Kultur oder eine europäische Identität? Wie integriert man Hunderttausende von Flüchtlingen? Und was sind das für Menschen, die jede Woche gegen die EU, Angela Merkel und alles Fremde anschreien? Wie konnten sie so verbittern? Und wer sind ihre Vorbilder?

Diese Fragen stehen wieder auf der Agenda. Gleichzeitig ist der Rechtsradikalismus zurück, brennen Flüchtlingsunterkünfte, haben die Menschen Angst vor Terroranschlägen, feilen die Parteien an immer noch schärferen Sicherheitskonzepten.

Ich hatte den Typen von der Bild schon fast vergessen, da sprachen mich immer öfter Freunde und Bekannte an:

»Schreib doch mal alles auf«, sagten sie, »schreib auf, was du erlebt hast und was man dir angetan hat.«

Ich beschloss, es noch einmal zu versuchen, nur diesmal schonungslos, präzise und in Ruhe. Genau so, wie ich diesen Text haben wollte, und nicht irgendein Boulevardjournalist, der mal eben zwischen zwei Milchkaffee versucht, eine Ahnung davon bekommen, wie aus einem blonden Mädchen ein überzeugter Neonazi werden konnte.

Es gibt mehrere Aussteigerbücher, in denen ehemalige Nazis erzählen, wie sie den Sprung aus der Szene geschafft haben. Sie heißen Fluchtpunkt Neonazi – Eine Jugend zwischen Rebellion, Unter Staatsfeinden – Mein Leben im braunen Sumpf der Neonaziszene oder Vom Saulus zum Paulus – Skinhead, Gewalttäter, Pastor – meine drei Leben. Manche sind ganz gut, andere miserabel geschrieben, identifizieren kann ich mich mit keinem. Ich lese diese Geschichten, entdecke sogar hier und da Übereinstimmungen, aber fühle mich nicht gemeint und erkenne mich nicht.

Nicht nur, dass fast alle von Männern geschrieben sind, auch die Themen sind andere, die Perspektive, die Sozialisierung. Bei mir ging es nicht in der Pubertät los, auch nicht mit Rechtsrock, Gruppenzwang oder spießigen Eltern. Ich komme nicht aus einem deprimierenden Dorf in Sachsen, und meine Eltern waren nicht arbeitslos. Ich musste keine Minderwertigkeitskomplexe kompensieren und wurde nicht verführt, ich machte mich einfach nur auf den Weg, der vor mir lag – und der führte nach rechts.

Obwohl ich keine Lust habe, an der Bushaltestelle erkannt oder angesprochen zu werden, wurde mir immer klarer, dass ich dieses Buch schreiben muss, dass es sinnvoll ist, eine gute Sache, die sich lohnt und anderen helfen kann: eine Kindheit in paramilitärischen Lagern, rechte Parallelgesellschaften im 21. Jahrhundert, die Rolle der Frauen in der Neonazi-Szene – die meisten Menschen haben keine Ahnung, wie tief die Ausläufer rechten Denkens in die bürgerliche Gesellschaft hineinreichen.

Anfangs fiel es mir schwer, nichts wegzulassen. Immer wieder geriet ich in Versuchung, Erlebnisse auszusparen, Szenen wegzustreichen oder unter den Tisch fallen zu lassen. Ich wollte vieles nicht wahrhaben, konnte manches nicht mehr glauben und schon gar nicht nachvollziehen. Am Ende habe ich jedes Detail wieder eingefügt, alles andere wäre nur die halbe Wahrheit gewesen. Und eine halbe Wahrheit hilft niemandem.

Beichte ist ein großes, ein pathetisches Wort, aber ich wollte dieses Buch auch schreiben, um mit mir ins Reine zu kommen und Bekenntnis abzulegen. Es tut mir leid wegen meiner Mutter und meiner kleinen Schwester, die am wenigsten dafür können, dass sich die Dinge so entwickelt haben. Auf der anderen Seite finde ich, dass es mein Recht ist, ja vielleicht sogar meine Pflicht, die Dinge so aufzuschreiben, wie sie waren. Als ich meiner besten Freundin von dem Entschluss erzählte, wurde sie unruhig.

»Hast du keine Angst?«, fragte sie, »dann kommt doch alles raus. Die werden sauer sein. Rache nehmen. Dir auflauern.«

Ich habe darüber nachgedacht, aber ich glaube nicht, dass meine früheren Kameraden auf das Buch reagieren werden. Sie werden es wahrnehmen, einige werden es kaufen, manche sogar lesen, aber mehr nicht. »Diese Schlampe ist es nicht wert«, werden sie sagen, »die hatte eh nie was zu melden.«

Meine Mutter meinte, ich solle endlich aufhören, in der Vergangenheit zu leben:

»Schau doch endlich nach vorn, Heidrun«, sagte sie, »du bist so jung. Kannst du die Sache nicht hinter dir lassen? Es bringt doch nichts, alles noch mal durchzukauen.«

Sie denkt, dass ich immer noch mit meinem Schicksal hadere und frustriert bin, aber das stimmt nicht, im Gegenteil, ich bin zum ersten Mal vorsichtig glücklich.

Es ist nur so, dass ich zum Thema Rechtsextremismus ein paar Dinge zu sagen habe. Ich schaue mir die Nachrichten und die Talkshows doch auch an. Ich verfolge doch auch den Diskurs zum Thema Rechtspopulismus und kriege mit, wie sich unsere Gesellschaft ganz allmählich spaltet, ganze Nationen nach rechts driften und das Gespenst der Angst und der Abschottung durch die Straßen und die Köpfe der Menschen geistert, wie gefährlich dünn der Firnis der Zivilisation ist.

Ich habe Deutschland noch nie so besorgt, hysterisch und zerrissen erlebt, und ja, ich glaube, dass wir an einer Schwelle stehen, dass es jetzt darauf ankommt, die richtigen Weichen zu stellen und für die freiheitliche demokratische Grundordnung zu kämpfen.

Ich möchte zeigen, dass man auch als bürgerlicher Mensch in ein verpfuschtes Leben rutschen kann, dass es Kinder und Jugendliche gibt, die vom ersten Tag an in die rechte Szene hineinwachsen, die – je härter sie bekämpft wird – immer noch verschlungenere Wege findet, um sich neu zu organisieren.

Ich habe lange darüber nachgedacht, ob ich mit diesem Buch auch Rache nehmen möchte. Die Antwort ist: Nein, ich habe keine Rachegefühle. Die Menschen, die dafür in Frage kämen, machen sich selbst kaputt. Meine früheren Kameraden werden denken, dass ich das Buch des Geldes wegen geschrieben habe. Das Argument ist gar nicht so absurd. Für das eine oder andere Aussteigerbuch trifft das sicher zu. Nach Jahren in der Szene sind viele ohne Job und ohne Geld. Ich sehe das Geld, das ich mit diesem Buch verdiene, nicht als Honorar oder Belohnung, es fühlt sich nicht an wie ein Gewinn, eher wie eine kleine Wiedergutmachung, wie Schmerzensgeld.

2 Meine sonderbare Familie

»Wir sagen nicht Handy, wir sagen Handtelefon«

Der Tag, an dem ich geboren wurde, ein Sonntag im April 1992, beschreibt die Familie, in der ich aufgewachsen bin, ganz gut: Mein Vater fuhr meine Mutter zwar noch in die Entbindungsklinik, blieb aber nicht dort, sondern kehrte, nachdem er sie abgeliefert hatte, gleich wieder nach Hause zurück. Offenbar sah er sich dem Stress nicht gewachsen. Warum? Das weiß nur er. Wahrscheinlich fühlte er sich überfordert. Zu viel Hektik, Aufregung und Gefühle, die von ihm erwartet wurden.

Wir wohnten in einem Dorf in der Nähe von Fürstenfeldbruck bei München, 300 Einwohner, sehr ländlich, sehr bayerisch, viel Holz. Eigentlich typisch für diesen Landstrich, trotzdem sah es bei uns anders aus als in den Häusern, in denen meine Freundinnen wohnten. Bei uns hing kein hölzernes Kreuz über dem Esstisch, sondern ein Kalender der Heimattreuen Deutschen Jugend, ein Runengebäck aus Salzteig und Stickdeckchen mit völkischen Sprüchen drauf.

Wir hatten viele Bücher. Die vermeintlich harmlosen standen in einem Regal im Wohnzimmer, zum Beispiel Baska und ihre Männer, ein Buch über die legendäre Wolfshündin Baska, die von der Wehrmacht an der Ostfront eingesetzt wurde und als einziges Tier mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet worden war, – eine Art Lassie für Nazis. Die anderen Bücher waren im Keller oder unter dem Dach im Fernsehzimmer, Bildbände über den Zweiten Weltkrieg, Biographien von NS-Größen, Holocaust-Literatur, in der mein Vater immer wieder blätterte. Auf den Frühstückstisch kam nicht wie bei den meisten in München und Umgebung die Süddeutsche oder die Abendzeitung, sondern die Preußische Allgemeine Zeitung, ein rechtskonservatives Blatt mit einer Auflage von 18 000 Stück. Meine Mutter las am liebsten Romane, wofür sie von meinem Vater permanent gehänselt wurde.

Wir hatten einen Fernseher, schauten aber wenig, eigentlich nur im Winter, weil im Frühjahr und Sommer so viele Blätter an den Bäumen hingen, dass die Satellitenschüssel nicht richtig funktionierte. Mein Vater liebte es, gemeinsam mit uns Heinz Rühmann- oder Sissi-Filme anzuschauen. Filme aus der Zeit zwischen 1930 und 1960 lösten etwas in ihm aus. Er wurde sentimental und schwelgte in alten Zeiten.

Es gab noch eine Samstagabendbeschäftigung, die ihm Spaß machte: Tischkicker. Mein Vater ist ein Mensch, der sich gern mit anderen misst, Leistung ist ihm wichtig. Und weil ich nicht untalentiert war, lobte er mich hin und wieder für einen strammen Schuss oder einen überraschenden Reflex. Abgesehen davon zeigte er mir eher selten seine Anerkennung, eigentlich nur, wenn er mich dabei beobachtete, wie ich im Keller vor seiner alten Modelleisenbahn kniete und selbstvergessen Züge in den Bahnhof einfahren ließ.

Es waren die wenigen Momente, in denen er erkennen ließ, dass er stolz auf mich war. Es muss ihn gerührt haben, mit anzusehen, wie ich 30 Jahre nach ihm vor seiner Eisenbahn hockte, wie dieses alte Spielzeug von einer Generation zur nächsten weitergegeben wurde und immer noch dieselben Glücksgefühle auszulösen imstande war.

Manchmal frage ich mich, ob es ihm gutgetan hätte, wenn ich kein Mädchen, sondern ein Junge geworden wäre, wenn wenigstens eines seiner vier Kinder ein Junge gewesen wäre, aber ich glaube, einen zweiten Mann im Haus hätte er früher oder später als Konkurrenten angesehen. Uns konnte er auf Distanz halten, mal mit der Andeutung einer Zuneigung locken, dann wieder bestrafen und von sich weisen.

Wer zu uns kam, konnte nicht ahnen, was für eine Gesinnung mein Vater hatte. Im Wohnzimmer hing keine Hakenkreuzfahne; trotzdem glaube ich, dass unsere Gäste spüren konnten, dass sie es mit einer sonderbaren Familie zu tun hatten.

Mir war es unangenehm, wenn wir Besuch hatten. Nie wollte ich, dass meine Freundinnen zu mir kamen, viel lieber spielte ich bei ihnen. Trotzdem waren wir im Dorf keine Außenseiter: Mein Vater war als Betriebsinspektor ein angesehener Beamter und Mitglied im Schützenverein, kein Sonderling, im Gegenteil, ein geselliger Typ, der gern feierte. Meine Mutter war freundlich und beliebt. Sie plauderte regelmäßig mit den Nachbarn, und wenn wir in Urlaub fuhren, kam die Großmutter meiner besten Freundin vorbei und goss die Blumen.

Auch viele Freunde meiner Eltern waren auf den ersten Blick anständige und gebildete Leute, in Wahrheit waren sie stramm rechts, Akademiker, aber auch Öko-Bauern und hippieartige Weltverbesserer, die keinen Alkohol tranken, in Birkenstocksandalen rumliefen und sich in sektiererischen Verbänden engagierten.

•••

Mein Vater stammt aus Stuttgart, sein Vater war Schaffner bei der Deutschen Bahn gewesen, seine Mutter technische Zeichnerin. Er war ihr einziges Kind. Sein Verhältnis zu ihnen war kühl und förmlich.

Meine Großmutter hat mir oft stolz vom Bund Deutscher Mädel erzählt, bei dem sie in ihrer Jugend Mitglied gewesen war. Ich weiß noch, wie wir in den Tagen vor Weihnachten in der Stuttgarter Fußgängerzone auf eine Gruppe Kinder trafen, die »Jingle Bells« sangen, und meine Großmutter zu ihnen sagte, das sei ja alles ganz reizend, aber noch viel schöner wäre es, wenn sie ein deutsches Weihnachtslied singen könnten, zum Beispiel »O Tannenbaum« oder »Ihr Kinderlein kommet«.

Viele ihrer Sprüche wirkten bissig und gemein, ständig stieß sie einen vor den Kopf, sodass man ein Weilchen brauchte, bis man die passende Reaktion parat hatte, und dann war es meistens zu spät. Sie kommentierte es grundsätzlich, wenn ihr jemand über den Weg lief, der jüdisch aussah, oder besser gesagt: der so aussah, wie sie sich einen Juden vorstellte, mit blitzenden Augen und einer großen Nase. Was sie gar nicht ertragen konnte: wenn jemand Kaugummi kaute. »Mit Kaugummi im Mund«, sagte sie immer, »sieht man aus wie eine Kuh.« Knoblauchgeruch mochte sie auch nicht. Knoblauch war für sie ein orientalisches Gewürz und hatte in Deutschland nichts verloren.

Meine Großeltern waren keine Nazis – dafür waren sie im Dritten Reich zu jung gewesen –, aber sie sympathisierten offen mit rassistischem und völkischem Gedankengut. Vor allem meine Großmutter betonte bei jeder Gelegenheit, wie schön ihre Kindheit im Dritten Reich gewesen sei und wie dankbar sie für ihre autoritäre Erziehung sei. Von mir und meinen Schwestern erwartete sie Gehorsam, Anstand und Perfektion. Ein Anspruch, dem ich zu keinem Zeitpunkt gerecht wurde.

Mein Vater hatte ihre Ressentiments von klein auf unbewusst mitbekommen und verinnerlicht. Es muss völlig normal für ihn gewesen sein, er kannte es ja nicht anders. Wahrscheinlich hat er die Parolen erst nachgeplappert und irgendwann selbst geglaubt. Und als er auf einmal Töchter hatte, die er erziehen sollte, lag es nahe, sie mit den gleichen Sprüchen großzuziehen. Mir wurde von klein auf beigebracht, was ich ablehnen oder gutheißen musste.

Trotzdem hätte mein Vater nie gewollt, dass wir Skingirls werden, die von der Schule fliegen, auf Nazikonzerten rumhängen und sich ein Tattoo nach dem anderen stechen lassen. Ihm ging es von Anfang an darum, uns sein elitäres Verständnis deutscher Werte zu vermitteln: Disziplin, Gehorsam, Fleiß, Ehre, Heimatliebe. Wir sollten angesehene Berufe ergreifen und in gute Familien einheiraten. Und sollte dies nicht gelingen, hätte er sicher auch nichts dagegen gehabt, wenn wir genau wie er zum Zoll gegangen wären und Hundestaffeln trainiert hätten.

Von McDonalds bis Coca-Cola lehnten meine Eltern sämtliche Produkte ab, die aus Amerika kamen. Wir durften nicht »Handy« sagen, es hieß »Handtelefon«, Schlaghosen und Jeans waren verboten, ebenso T-Shirts und Pullover mit Aufdruck. Als Kind habe ich fast immer ein Dirndl oder eine geflickte Kordhose getragen, die ich von meiner älteren Schwester geerbt hatte, außerdem handgestrickte Pullover und Socken.

In der Kiste auf dem Speicher sind auch ein paar Fotos. Eines aus dem Sommer 1997 illustriert gut, wie es bei uns zu Hause zuging. Es zeigt mich und meine Schwestern bei der Brotzeit, alle im Dirndl mit geflochtenen Zöpfen, auf dem Tisch liegen Semmeln, Brezen und Gurken; neben uns zwei gesund aussehende blonde Lausbuben, vielleicht sechs oder sieben Jahre alt, Freunde der Familie, mit perfektem Scheitel, in weißen Hemden. Wenn man dieses Foto anschaut, kann man nicht glauben, dass es 1997 entstanden ist. Es könnte genauso gut aus den dreißiger Jahren stammen.

Neue Klamotten kauften wir so gut wie nie, und wenn doch, dann nur bei Aldi. Wir sollten auf keinen Fall verwöhnt werden, sondern von Anfang an Bescheidenheit lernen, mit wenigen Kleidungsstücken auskommen und alte Sachen auftragen. Eigentlich vernünftig, aber für mich war es schrecklich. Nie schlenderten wir am Samstag durch die Fußgängerzone, und wenn doch, dann nur ausnahmsweise in Begleitung meiner Großmutter mütterlicherseits und unter der Bedingung, dass wir unsere Einkäufe meinem Vater vorführten, damit er entscheiden konnte, ob wir sie behalten durften.

Nie durfte ich mir was aussuchen, wurde ich überrascht oder belohnt, immer hatte ich mit dem zufrieden zu sein, was mir gekauft, vorgesetzt oder hingelegt wurde. Eigentlich hatte ich nur Spielsachen aus den fünfziger Jahren: Puppen, die schon meiner Mutter gehört hatten, einen alten Kaufmannsladen, alles schöne Einzelstücke, für die man heute auf Ebay viel Geld bekäme, aber ich bin in den Neunzigern großgeworden und wusste durchaus, was meine Freundinnen zum Geburtstag oder zu Weihnachten geschenkt bekamen.

Wenn mein Vater nicht zu Hause war, durften wir Pumuckl- oder Bibi-Blocksberg-Kassetten hören. Wenn er da war, mussten wir still sein, dann hieß es: Pssst, Papa muss sich von der Arbeit erholen. Er selbst hörte alles Mögliche, von deutschen Märschen bis Bob Marley. Wenn ihm was gefiel, nahm er es nicht so genau. Bei uns war das anders. Als ich anfing, Hiphop zu hören, regte er sich schrecklich auf, ich solle das Gedudel ausmachen, das sei doch alles »Kaffernmusik« – Kaffer wurden während der Apartheid in Südafrika Schwarze genannt, der Begriff ist eindeutig rassistisch konnotiert.

Mein Kinderzimmer war weder schön noch gemütlich. Es war das kleinste Zimmer des Hauses, auf der Nordseite gelegen und mit ausrangierten olivgrünen Zollmöbeln eingerichtet. Das Bett war zu groß, der Kleiderschrank zu hoch, ich konnte mir nicht mal ohne fremde Hilfe eine frische Bluse nehmen. Ich weiß, andere Kinder haben nicht mal ein eigenes Zimmer, aber ich litt darunter, dass alles so lieblos und funktional wie in einer Gefängniszelle war.

Meine Mutter versuchte hin und wieder, mein Zimmer wohnlicher zu gestalten, geschafft hat sie es nie. Wenigstens durfte ich Tierposter aufhängen, das war ein kleiner Trost.

Heute kommt es mir so vor, als wären die karge Einrichtung, die alten Klamotten, überhaupt die Lieblosigkeit ein Erziehungsprogramm unseres Vaters gewesen, eine ausgeklügelte Methode, um uns abzuhärten und auf ein Leben in feindlicher Umgebung vorzubereiten. Kein schöner Gedanke, aber immer noch ein tröstlicher im Vergleich zur anderen Option: dass es ihm nämlich vollkommen egal war, ob wir eine schöne Kindheit hatten oder nicht.

•••

Meine Mutter stammt aus Niederbayern. Ihr Vater war Richter am Landgericht gewesen, ihre Mutter Hausfrau, eine typische deutsche Kleinfamilie: Mama, Papa, zwei Kinder. Ich bin sicher, meine Mutter ist liebevoll großgeworden; kleinbürgerlich und zufrieden.

Warum sie einen Mann wie meinen Vater geheiratet hat? Weil sie sich Hals über Kopf verschossen hat, als er auf einmal vor ihr stand. Sie begegneten sich das erste Mal bei einem landsmannschaftlichen Treffen, und wahrscheinlich ist ihr vor lauter Bewunderung nicht aufgefallen, wie narzisstisch er ist und was für merkwürdige Ansichten er vertritt. Dass er damals schon Mitglied in rechten Jugendorganisationen war, muss sie verdrängt haben.

Ihr Vater, mein Großvater, war zurückhaltend; ein stiller, feiner Mann, und dann stand auf einmal dieser Sprücheklopfer vor ihr, laut, cholerisch, selbstverliebt, aber auch charmant, charismatisch, immer im Mittelpunkt. Wenn mein Vater einen Raum betritt, ändert sich die Atmosphäre. Er hat Ausstrahlung auf andere Menschen, das habe ich oft mitbekommen. Er kann sagen, was er will, die Leute nehmen ihm seine Geschichten ab, wollen ihm gefallen und ihn zum Freund haben.

Manche seiner Geschichten hat er so oft erzählt, dass ich sie im Schlaf erzählen kann, zum Beispiel, wie er am Bahnhof in Budapest um ein Haar von einem »Zigeuner« ausgeraubt worden wäre:

»Der Zigeuner hat so getan, als würde er mir helfen wollen, den Koffer zu tragen, aber ich hab sofort gemerkt, dass er ihn klauen will. Ich hab dem Kerl meinen Ellbogen so gegen das Gesicht gehauen, dass er gegen den Zug geflogen und das Blut seine Wange runtergelaufen ist.«

So ungefähr hat er die kleine Anekdote zum Besten gegeben. Meine Mutter war ganz anders. Zurückhaltend, naiv und konfliktscheu. Vielleicht hat sie ihn deshalb schon nach ein paar Monaten geheiratet. Um endlich jemanden zu haben, der Stärke und Selbstbewusstsein ausstrahlte, der sie mitriss und an den sie sich anlehnen konnte.

Meine Großeltern mütterlicherseits hatten lange keine schlechte Meinung von meinem Vater. Wenn sie zu Besuch waren, zeigte er sich ja auch von seiner besten Seite. Aber eines Tages ging er zu weit: Als ich mich mal wieder weigerte, meinen Teller leer zu essen, stand er auf, drehte meinen Kinderstuhl um 180 Grad, sodass ich mit dem Rücken zum Tisch saß, und setzte sich zurück an seinen Platz. Er bestrafte mich, indem er mich ausgrenzte. Es war der Moment, in dem meine Großeltern zum ersten Mal eine Ahnung davon bekamen, wie ihr Schwiegersohn auch sein konnte.

Ich hatte von Anfang an ein engeres Verhältnis zu meiner Mutter als zu meinem Vater, der sich ohnehin lieber mit meinen Schwestern abgab, weil die alt genug waren, dass er ihnen seine merkwürdigen Theorien anvertrauen konnte. Mit Säuglingen und Kleinkindern konnte er nichts anfangen. Er fand sie langweilig, weil man nur mit ihnen spielen und nicht mit ihnen sprechen konnte. Meine Mutter kümmerte sich rund um die Uhr um uns. Sie weckte uns auf, kochte für uns, wusch unsere Sachen, spielte mit uns, brachte uns ins Bett. Nie im Leben hätte mein Vater zugelassen, dass wir in den ersten drei Jahren fremdbetreut werden.

Jahre später erzählte mir meine Mutter in einem sentimentalen Moment, dass ich die Nächte in den ersten Wochen nach der Geburt nicht bei ihnen im Schlafzimmer, sondern ganz alleine verbracht habe. Kinder gehörten ins Kinderzimmer, fand mein Vater, im Schlafzimmer der Eltern hätten sie nichts verloren. Ich tat mir wahnsinnig leid, als ich das hörte, stellte mir vor, wie ich einsam in meinem dunklen Zimmer lag und weinte, ohne dass mich jemand hörte.

Im Kindergarten wurde ich erneut Opfer seiner autoritären Erziehungsmethoden: In den Wochen vor Weihnachten wurde ein Engel für das Krippenspiel gesucht. Und weil ich lange, blonde Haare hatte, fiel die Wahl auf mich.

Stolz lief ich nach Hause. Ich konnte es nicht erwarten, meinen Eltern davon zu erzählen. Mein Vater war leider weniger begeistert, rief wütend im Kindergarten an und verbot der Leiterin, mich den Engel spielen zu lassen. Ob sie denn nicht wisse, dass ich konfessionslos sei.

Meine Eltern hatten zwar kirchlich geheiratet, aber nur, weil meine Großeltern darauf bestanden hatten. Danach war mein Vater sofort aus der Kirche ausgetreten. Ich wurde nicht mal mehr getauft. Eigentlich schade, weil ich glaube, dass es schön für Kinder ist, wenn sie sich an den Geschichten aus der Bibel orientieren können, aber ich habe es nie gelernt und vermisse es auch nicht.

Trotzdem, diesen Engel wollte ich unbedingt spielen, und als es mir verboten wurde, brach für mich eine Welt zusammen. Ich verstand nicht, was ich verbrochen hatte. Sie hatten mich doch ausgewählt, wegen der blonden Haare. Ich wäre der perfekte Engel gewesen.

In den Tagen danach war ich aggressiv und niedergeschlagen. Ich bockte, schrie und weinte, aber es nützte nichts. Wenn mein Vater ein Verbot ausgesprochen hatte, meinte er es ernst, dann gab es keine Gnade. Irgendwann beendete er die Angelegenheit:

»Jetzt hör endlich auf!«, schimpfte er. »Wir glauben dieses Zeug nicht und fertig!«

Seine Prinzipien waren rigoros. Alle mussten sich unterordnen und nach seiner Pfeife tanzen. Da er oft beruflich unterwegs war, legte er, wenn er zu Hause war, großen Wert darauf, dass wir die Mahlzeiten gemeinsam einnahmen. Vor allem die Abendessen liefen streng ritualisiert ab.

Wir mussten abwechselnd den Tisch decken und abräumen, teilweise mussten wir uns sogar melden, wenn wir etwas sagen wollten. Wir sollten auf keinen Fall zanken, auf der anderen Seite provozierte er uns ständig mit dummen Sprüchen, wodurch natürlich erst recht Streitereien entstanden.