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Über den Autor
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Klaus Kordon, geboren 1943 in Berlin, studierte Volkswirtschaft und unternahm als Exportkaufmann zahlreiche Reisen nach Afrika und Asien. Heute lebt er als freier Schriftsteller in Berlin. Seine Bücher wurden in viele Sprachen übersetzt und zahlreich ausgezeichnet. Für sein Gesamtwerk erhielt Klaus Kordon den Alex-Wedding-Preis der Akademie der Künste zu Berlin und Brandenburg, den Großen Preis der Deutschen Akademie für Kinderund Jugendliteratur und den Sonderpreis 2016 des Deutschen Jugendliteraturpreises.
Bei Beltz & Gelberg erschienen unter anderem die berühmte »Trilogie der Wendepunkte« mit den Romanen Die Roten Matrosen, Mit dem Rücken zur Wand und Der erste Frühling, sowie die »Jacobi Saga« mit den Romanen 1848. Die Geschichte von Jette und Frieder, Fünf Finger hat die Hand und Im Spinnennetz. Das Karussell ist die Vorgeschichte zum autobiographisch gefärbten Roman Krokodil im Nacken, der mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet wurde.
Impressum
Die „Trilogie der Wendepunkte“ von Klaus Kordon umfasst die Romane
Die roten Matrosen oder Ein vergessener Winter
Mit dem Rücken zur Wand
Der erste Frühling

Den Roman Der erste Frühling gibt es auch als gekürzte Schulausgabe (Gulliver TB 78885); dazu lieferbar: Der erste Frühling – Arbeitsheft für Lehrer/-innen
ISBN 978-3-407-99112-6
Beltz Medien-Service, Postfach 10 05 65, 69445 Weinheim Kostenloser Download: www.beltz.de/lehrer
Dieses Buch ist erhältlich als:
ISBN 978-3-407-78923-5 Print
ISBN 978-3-407-74842-3 E-Book (EPUB)
© 1999 Gulliver
in der Verlagsgruppe Beltz · Weinheim Basel
Werderstraße 10, 69469 Weinheim
Alle Rechte vorbehalten
© 1993 Beltz & Gelberg
Neue Rechtschreibung
Einbandgestaltung: Max Bartholl
Einbandfoto und Foto S. 2/3: akg Berlin
E-Book: publish4you, Bad Tennstedt
Weitere Informationen zu unseren Autoren und Titeln finden Sie unter: www.beltz.de

Inhalt

1. TEIL
WER WEISS, OB WIR UNS WIEDERSEHEN
Klappe zu, Affe tot!
Stark und stolz
Vater – Mutter – Kind
Verräter
Kein Himmel mehr, kein Leben
Zu weit oben
Eine fremde Frau
U-Boote
Wenn alles vorüber ist
Die Ehrlich und die Müllerin
2. TEIL
DER IWAN
Schlimmer als der Tod
Helden – und Feiglinge?
Dawai! Dawai!
Hitler kaputt!
Mein Heiner
Im Tunnel
Jewreka
Der schöne Goebbels
Nicht weit von Leningrad
Sieger und Besiegte
3. TEIL
STEINBLUMEN
Wir leben, wir atmen
Der Mann im Hof
Kameraden, wir sind frei!
Kuckuckskinder
Wer nichts riskiert …
Die rote Rieke
Sauer is nich süße
Was in Erinnerung bleibt
Herr Richter, was spricht er?
4. TEIL
DRACHEN STEIGEN LASSEN
Gebhardt & Co.
Eine bessere Welt
Der größte Schuft im ganzen Land
Auf die Zukunft
Spinnereien
EPILOG
NACHWORT
ANHANG
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Berlin, Februar 1945. Deutschland befindet sich im sechsten Kriegsjahr, die Stadt ist bereits zu großen Teilen zerstört. Die Rote Armee der Sowjetunion hat die deutsche Wehrmacht bis zur Oder zurückgedrängt und steht achtzig Kilometer vor Berlin. Im Westen haben britische und amerikanische Truppen den Rhein überschritten. Alle großen Berliner Bahnhöfe sind von Zügen verstopft, voll mit Flüchtlingen aus den deutschen Ostgebieten.
Viele Mütter sind mit ihren Kindern aufs Land hinaus geflüchtet, Schulen für Kinder bis zu vierzehn Jahren wurden bereits vor über einem Jahr evakuiert. Doch noch immer leben zweieinhalb Millionen Menschen in der Stadt: Frauen, alte Männer und tausende Jungen und Mädchen. Nacht für Nacht und Tag für Tag flüchten sie vor den Luftangriffen der englischen und amerikanischen Bomberpiloten in die Luftschutzkeller.
Die Nazi-Führung gibt Durchhalteparolen aus. Bis zur letzten Patrone, bis zum letzten Atemzug soll gekämpft werden. Wenn das deutsche Volk nicht fähig sei, in diesem Krieg zu siegen, so möge es eben untergehen, verkündet der deutsche Reichskanzler im Bunker unter der Reichskanzlei, denn: »Was jetzt noch lebt, ist nichts mehr wert.«

1. TEIL
WER WEISS, OB WIR UNS WIEDERSEHEN

Klappe zu, Affe tot!

Änne ist noch nicht wieder eingeschlafen, da gibt es den zweiten Alarm in dieser Nacht.
»Verflucht!« Der Großvater richtet sich gleich auf, greift nach dem Feuerzeug und zündet die Kerze an, die auf seinem Nachttisch steht. Dann zieht er sich die Hose über. Er macht das sehr geschickt mit seinem einen Arm; Hemd und Unterwäsche hatte er nach dem vorangegangenen Alarm gar nicht erst ausgezogen.
Änne bleibt noch liegen. Wie sie es hasst, dieses an- und abschwellende Heulen der Sirene! Fast wäre es ihr lieber, sie hätte schon geschlafen, dann wäre sie wenigstens mal kurz weg gewesen – das einzig Gute an so einer Nacht der Alarme.
Der Großvater wendet sich zu ihr um. »Beeil dich, Mäuseken! Musst ja doch raus.« Und damit dreht er schon an seinem kleinen, selbst gebastelten Akku-Radio, mit dem er auch bei Stromsperre Nachrichten empfangen kann. Es rauscht und knistert in dem kleinen Kasten, dann hört Änne eine Männerstimme sagen, dass sich starke Bomberverbände über dem Raum Hannover/ Braunschweig im Anflug auf Berlin befänden. Mit einem schweren Luftangriff sei zu rechnen. Also »Schwer 15«; das heißt, in fünfzehn Minuten sind die Bomber da.
Sie gibt sich einen Ruck, steht auf, streift Kleid und Pullover über, zieht auch gleich den Mantel an und schnappt sich ihren kleinen, braunen Koffer mit den abgestoßenen Ecken, den sie gar nicht mehr auspackt, weil sich das für die paar Stunden, in denen kein Alarm ist, nicht lohnt. Was ihr wichtig ist, befindet sich in diesem Koffer, dazu die wärmste Kleidung und die dickste Unterwäsche, die sie besitzt.
»Wo ist Groma?«
 
»In der Küche. Weißt doch, wenn der erste Alarm nach zwölf kommt, kann sie danach sowieso nicht mehr einschlafen.«
Nachtalarme kommen fast nie vor zwölf. Es soll Leute geben, die sich vor Mitternacht gar nicht mehr hinlegen, nur um dieses ewige Gewecktwerden zu vermeiden. Die Großmutter geht lieber früh ins Bett und sitzt dafür zwischen den einzelnen Alarmen in der Küche, liest die Zeitung, räufelt Wolle auf oder strickt.
»Soll ich dir die Schuhe zubinden?«
»Frag doch nicht erst lange.«
Mit nur einer Hand die Schuhe zuzubinden, schafft der Gropa nicht. Änne stellt ihren Koffer noch mal weg, kniet sich vor dem Großvater hin, knöpft an jedem Schuh einen festen Knoten und zieht eine Doppelschleife. Danach hebt sie am Fenster das Verdunkelungsrollo ein Stück in die Höhe.
Es ist eine helle, sternenklare Nacht, die Piloten haben gute Sicht. Aber noch sind keine Bomber zu sehen, nur die Lichtfinger der Scheinwerfer auf ihrer hektischen Suche nach ihnen huschen schon über den nachtschwarzen Himmel. Das erinnert Änne jedes Mal an einen unheimlichen, gespenstischen Tanz irgendwelcher fernen Götter, die sich über sie lustig machen. Das endlose Sirenengeheul ist die Musik dazu. Es dröhnt und dröhnt, bis es richtig wehtut – im Kopf und im Herzen.
»Biste fertig?« Der Großvater stellt das Radio aus, setzt sich die Schirmmütze seiner Dienstuniform aufs schüttere Haar und zieht die dicke, schwere Winterjoppe an, die ebenfalls zu seiner Dienstuniform gehört. Es ist keine besondere Uniform, nur die eines Wachmannes der Firma Borsig, für die der Gropa nun schon seit vielen Jahren arbeitet. Aber Uniform ist Uniform, passiert mal was, sagt der Gropa, wird man darin mit mehr Respekt behandelt.
Änne weiß nicht genau, was der Gropa mit dem »passiert mal was« meint. Im Moment will sie das auch gar nicht wissen, greift sich nur ihren Koffer und späht weiter unterm Rollo hindurch.
 
Es ist so still im Hof. Überall ist es dunkel, kein einziges Licht ist zu sehen. Komisch, dass ihr das gerade heute auffällt. Wo Licht ist, sind Menschen – und die werden bombardiert. Also wird verdunkelt. Alles ganz normal.
»Nu aber los!« Der Gropa schiebt sie in den Flur hinaus, löscht die Kerze und nimmt ebenfalls seinen Koffer mit. In der Küchentür wartet schon die Groma. Sie hat bereits ihren dicken, braunen Wintermantel angezogen und hält ihr Bündel in der Hand. »Am liebsten würde ich gar nicht erst runtergehen«, sagt sie matt. »Kann diesen Kellermief nicht mehr ertragen.«
Das sagt die Groma jede Nacht. Sie hasst das Herumhocken im Luftschutzkeller, weil sie dort nichts anderes tun kann als abzuwarten, ob ihr eine Bombe auf den Kopf fällt oder nicht. Sie habe in ihrem Leben schon viel aushalten müssen, hat sie mal zu Änne gesagt, dem aber habe sie entgegensehen können. Die Bombe, die sie eines Tages vielleicht trifft, während sie im Luftschutzkeller hockt, wird sie nicht sehen.
»Was ist bloß los mit euch?« Jetzt verliert der Gropa endgültig die Geduld. »Ist euch der Krieg langweilig geworden? Wartet nur ab, die da oben werden euch schon noch munter kriegen.«
Änne ist nicht »langweilig« geworden, es geht ihr wie der Groma: Sie fühlt sich müde, unsäglich müde! Seit über vier Jahren laufen sie nun schon in den Luftschutzkeller hinunter; sie kann sich kaum noch daran erinnern, dass es irgendwann keinen Fliegeralarm gab. Früher jedoch gab es zwischendurch Tage, in denen sie in Ruhe gelassen wurden. Seit Neujahr hat sich das geändert. Jetzt gibt es jede Nacht und jeden Tag Alarm. Nachts kommen die Engländer, tagsüber die Amerikaner. Mal sind es leichte Angriffe, mal schwere. Und je mehr Angriffe es gibt, desto größer wird die Angst der dicht an dicht im Keller sitzenden Leute. Oft glaubt sie, diese Angst sogar riechen zu können, und dann wird ihr richtig schlecht davon.
»Los! Los! Nützt ja alles nichts. Jammern können wir, wenn der Krieg vorbei ist.« Der Gropa schiebt Änne und die Großmutter ins dunkle Treppenhaus, das allein vom Mondlicht, das durch die Fenster dringt, ein wenig erhellt wird, und drückt der Groma seinen Koffer in die Hand. Danach läuft er die Treppe zu Mutter Schencks Dachkammer hoch. Die bereits über achtzigjährige, halb blinde Frau kann die Treppe nicht mehr allein hinabsteigen, erst recht nicht ohne Licht, also holt er sie jedes Mal bei Fliegeralarm vor ihrer Tür ab.
Änne stellt noch schnell den vollen Wassereimer vor die offene Wohnungstür, damit die Tür nicht zufällt und die Brandwache oder das Löschkommando hineinkann, falls ihr Haus von Brandbomben getroffen werden sollte, dann folgt sie der Großmutter die Treppe hinab. »Haste wenigstens ’n bisschen schlafen können?«, will die Groma wissen.
»Nee«, gibt Änne müde zur Antwort. Doch dann schämt sie sich ihrer Muffigkeit. »Und du?«, fragt sie vorsichtig. »Haste den blauen Pullover fertig?«
»Nein.« Die Groma seufzt. »Konnte mich auf nichts konzentrieren, hab immerzu an die arme Klara denken müssen.«
Die alte Tante Klara war Gromas Freundin seit ihrer Jugend. Immer haben die beiden Frauen einander geholfen, ihr ganzes Leben lang. Und in den letzten Monaten haben sie sich bei jedem Abschied gegenseitig aufgemuntert: »Bleib übrig, Mädchen!« Nun ist Großmutters Klara bei einem Bombenangriff ums Leben gekommen. Eine ganze Stunde lang stand die Groma gestern vor dem zerbombten Haus und sprach mit Tante Klaras Nachbarn, weil sie unbedingt wissen wollte, wie ihre Freundin gestorben ist. Danach sagte sie den ganzen Abend kein Wort mehr.
»Schönen guten Morgen allerseits! Alles frisch und munter? Na, das wird den fetten Herrn Meier aber freuen.«
Im zweiten Stock wartet wie immer Lisa Paulig. Änne muss ihr beim Tragen ihres Kinderwagens helfen. Koffer und Kinderwagen sind ein bisschen viel für die junge Frau, und liegt Kläuschen nicht in seinem Wagen, macht er im Keller kein Auge zu.
 
Änne drückt der Groma auch noch ihren Koffer in die Hand, dann packt sie den Kinderwagen an der Vorderachse. Mit dem fetten Herrn Meier hat die Paulig den Reichsmarschall Göring gemeint, der mal gesagt hat, wenn auch nur ein einziges feindliches Flugzeug auf deutsches Territorium vordringe, wolle er Meier heißen. Inzwischen ist die halbe Stadt zerstört und es gibt kaum noch was zu essen, der Reichsmarschall aber hat sich immer noch nicht umtaufen lassen und ist noch genauso dick wie vor dem Krieg.
»Sei doch nicht immer so laut, Lisa«, bittet die Groma die junge Frau, während sie sich mit ihrem Bündel und den beiden Koffern die Treppe hinabmüht. »Bringst uns noch alle ins Gefängnis.«
»Na und? Da müssen sie Kläuschen wenigstens verpflegen.« Das ist typisch Lisa Paulig. Immer kess, immer frech. Die Groma sagt oft, die Paulig werde ihre große Klappe eines Tages vielleicht noch mal bitter bereuen. Der Gropa schmunzelt darüber nur. Er mag die Paulig sehr, nennt sie eine Frau mit Charakter.
»Und wie geht’s Kläuschen?«, fragt Änne leise. Frau Pauligs Baby hat schon seit ein paar Tagen Fieber.
»Wie’s Heldenbabys, die alle halbe Stunde aus dem Schlaf gerissen werden, nun mal so geht – natürlich prima!« Es schwingen viel Angst und Sorge mit in Lisa Pauligs Stimme, nicht nur Spott. Als sie kurz darauf die Bärwald begrüßt, die gerade im ersten Stock aus der Tür tritt, scherzt sie jedoch schon wieder: »Morgen, gnä’ Frau! Schon gefrühstückt?«
»Sie mit Ihrer Schandschnauze!«, schimpft die Bärwald, die wieder mal alles mit anhören musste, gleich los. »Wenn Sie schon auf sich und andere keine Rücksicht nehmen, denken Sie doch wenigstens an Ihr Kind.«
»An mein Kläuschen denke ich von früh bis spät und nachts träume ich auch noch von ihm. Da machen Sie sich mal keine Sorgen.«
Lisa Pauligs Mann ist gefallen. Drei Wochen vor Kläuschens Geburt erfuhr die Paulig davon. Erst hat sie viel geweint, dann, als Kläuschen endlich da war, hat sie zu schimpfen begonnen. Alle Bitten ihrer Nachbarn, sich doch nicht ins Unglück zu stürzen, nützten nichts.
Die Bärwald ist viel vorsichtiger. Ihr Ludwig, der auch an der Front ist, habe immer wieder zu ihr gesagt, wer überleben will, muss schweigen können, hat sie der Groma mal erzählt. Es reicht aber nicht, nichts Falsches zu sagen. Sie darf auch nichts Falsches mit anhören, wenn sie sich nicht in Gefahr bringen will. Deshalb ärgert es sie, wenn die Paulig in ihrer Anwesenheit solche Reden führt. Soll sie die junge Frau etwa anzeigen, eine Kriegerwitwe mit Säugling, nur damit sie abgesichert ist und nicht eines Tages von der Gestapo geholt und »wegtransportiert« wird? Nein, so was könne sie nicht. Von der Paulig aber sei es unverantwortlich, sie immer wieder in Schwierigkeiten zu bringen.
Doch auch sonst unterscheiden sich die beiden Frauen sehr. Als Mutter eines Kleinkindes muss die Paulig nicht arbeiten gehen, obwohl sie früher Fabrikarbeiterin war. Die immer sehr korrekt angezogene und jedes Staubfusselchen hassende Bärwald hat früher nie gearbeitet, weil sie aber keine Kinder hat, ist sie in einer Fabrik dienstverpflichtet, die Feldkabel für die Wehrmacht herstellt. Da muss sie mehrere Maschinen gleichzeitig bedienen und arbeitet jeden Tag von sechs Uhr früh bis sechs Uhr abends. Und natürlich wird auch unter den Fabrikfrauen viel geschimpft und sie darf es nicht hören. Darunter leidet sie sehr, und manchmal sieht es so aus, als nähme sie es der Paulig übel, dass sie nun »ihre« Arbeit machen muss.
»Tempo! Tempo!« In seiner alten, schon sehr abgewetzten Lederjacke mit der roten Armbinde und dem grauen Stahlhelm auf dem Kopf steht der Sauer vor dem Kellereingang und weist den Männern und Frauen, die mit Koffern, Kinderwagen, Bündeln und Kindern an den Händen über den Hof gelaufen kommen, mit seiner abgedunkelten Taschenlampe den Weg.
Es ist so warm, als ob es schon Frühling wäre. Änne ist beim Laufen über die Höfe ins Schwitzen gekommen. Sie schaut kurz zum Himmel hoch, ob schon was zu sehen ist, lauscht, ob erste Einschläge zu hören sind, und stellt dann schnell den Koffer ab, um ihren Mantelkragen zu öffnen. Dabei muss sie aufpassen, dass die Bärwald sie nicht umrennt. Die Leute vom vierten Hof erreichen den Keller fast immer als Letzte, kriegen also, wenn sie nicht aufpassen, nur noch Stehplätze, wie die Bärwald oft scherzt. In Wahrheit jedoch haben längst alle ihre angestammten Plätze, und die Bärwald drängelt nur deshalb so, weil sie beim Laufen über die Höfe immerzu an die Geschichte von der Frau aus der Gartenstraße denken muss. Was der passiert ist, ging im ganzen Kiez herum: Sie lief auch gerade über den Hof, um noch als Letzte in den Luftschutzkeller zu gelangen, als plötzlich eine Bombe in den Hof fiel und ein Splitter davon ihr den Kopf »abrasierte«. Eine furchtbare Geschichte. Änne hat schon oft davon geträumt und im Traum laut zu schreien begonnen. Die Groma musste sie dann jedes Mal wecken und mit zu sich ins Bett nehmen, um sie zu beruhigen.
»Tempo! Tempo! Tempo!«, drängt der Sauer weiter, obwohl sich vor dem Keller bereits eine lange Schlange gebildet hat, weil immer nur zwei nebeneinander die enge Kellertreppe hinuntersteigen können. Und natürlich hat er’s mal wieder auf die alte Frau Ehrlich abgesehen, die stets erst lange zögert, bevor sie in den Keller geht. Für die Ehrlich ist der Luftschutzraum nichts als ein Massengrab. Immer hat sie Angst, dass das Haus mal auf sie rauffällt, wie sie sagt. Deshalb würde sie die Nacht viel lieber auf einer Bank am Pappelplatz zubringen, als irgendwann bei lebendigem Leib begraben zu werden. Steht sie vor dem Kellereingang, beginnt sie gleich zu zittern. Muss sie die Stufen runter, versagen ihr die Beine. Den Sauer, der immer will, dass alles reibungslos klappt, ärgert das. Hat die alte Frau die dreizehn Stufen zum Luftschutzraum endlich geschafft, macht er jedes Mal denselben blöden Scherz: »Ehrlich währt am längsten, was?«
Änne mag den Sauer nicht. Es gibt so viele Leute, die Angst haben, im Keller verschüttet zu werden; nur wer keine Phantasie hat, hat keine Angst, sagt die Groma immer. Doch der Mann in der Lederjacke und mit dem Stahlhelm auf dem kahlen Kopf ist in allem so ekelhaft gründlich. Vermisst er jemanden im Keller, geht er gleich durch alle Wohnungen und sucht ihn. Es ist verboten, bei Fliegeralarm nicht in den Keller zu gehen. Dass derjenige nur sein eigenes Leben aufs Spiel setzt, interessiert den Sauer nicht. Genauso streng kontrolliert er alle Leute, die nicht im Haus wohnen und trotzdem in den Keller wollen – weil sie gerade irgendwo zu Besuch oder in der Straße unterwegs waren, als die Sirene losheulte. Juden dürfen überhaupt nicht in Luftschutzkeller, Fahnenflüchtige auch nicht. Würde wirklich mal ein Deserteur in ihrem Keller Zuflucht suchen, müsste er den anzeigen, genauso wie Juden, die keinen Stern tragen.
»Tempo! Tempo! Tempo!«
Der Sauer kann einfach nicht den Mund halten, obwohl die Mieter aus den verschiedenen Treppenaufgängen sich doch ganz von selbst beeilen und nun schon fast alle drin sind im Keller. Änne hilft der Paulig, Kläuschens Wagen die Treppe runterzutragen, dann steht sie wieder vor dem gelben Schild mit dem roten Pfeil und der Aufschrift Zum Luftschutzraum, das wie ein leuchtender Fleck an der kalkweißen Kellerwand hängt. Auch von diesem Schild hat sie schon mal geträumt. Da fing der rote Pfeil auf einmal an zu wackeln und die Mauern stürzten ein. Die Steine, die sie unter sich begruben, waren wie aus Watte so weich, trotzdem nahmen sie ihr die Luft. Sie glaubte, sie müsste ersticken, und schrie, bis die Großeltern sie weckten und wieder zu sich nahmen. Sie hasst diese Träume, aber sie kann nichts dagegen tun, immer wieder träumt sie solch schlimmes Zeug.
 
Hinter der Stahltür, die zum Luftschutzraum führt, brennen Kerzen. Das sieht gespenstisch aus, diese vielen Kerzen in der schwarzen Kellerfinsternis. Und die bleichen, übernächtigten Gesichter derer, die bereits auf ihren Plätzen sitzen, lassen den Keller auch nicht gemütlicher erscheinen.
Still nimmt Änne ihren Platz ein, den gleich rechts neben der Tür, und die Groma setzt sich neben sie. An der Wand gegenüber hängt ein Kalender. Den guckt Änne jedes Mal als Erstes an. Freitag, 2. Februar 1945, steht da noch, dabei ist es längst nach Mitternacht. Erst wenn der Sauer die Stahltür geschlossen hat, wird er das alte Kalenderblatt abreißen – und sie damit wieder einen Tag geschafft haben. Leider weiß sie nicht, wie viele Tage sie noch »schaffen« muss, bevor der Krieg zu Ende ist – falls der Gropa Recht hat und er tatsächlich bald zu Ende geht. So richtig kann sie sich das nämlich gar nicht vorstellen. Fast solange sie denken kann, ist Krieg. Er begann in jenem September, bevor sie sieben wurde und die Jungen sich aus Ästen und Holzleisten Pistolen und Gewehre bastelten und Deutsche und Polen spielten. Später spielten sie dann auch noch Deutsche und Engländer, Deutsche und Franzosen, Deutsche und Russen, Deutsche und Amerikaner. Ein Jahr später fielen im Wedding die ersten Bomben, und unter den Kindern wurde es Mode, Bombensplitter zu tauschen. Je nach Art, Größe und Zacken galten sie als wertvoll oder weniger wertvoll. Wiederum ein Jahr später wurde in der Schule ein neues Spiel erfunden: »Häuser treffen«. Es ging so ähnlich wie Schiffe versenken und machte ihr große Angst, weil die Kinder den Häusern Nummern aus ihrer Straße gaben. Nun sind fünfeinhalb Jahre um und noch immer ist Krieg. Aber wie wird alles werden, wenn er wirklich bald vorbei sein sollte? Wird es wieder so sein wie in der goldenen Friedenszeit, von der die Bärwald so oft schwärmt? Sie, Änne, weiß nur eins: dass dann bald Gudrun, ihre beste Freundin, in die Stadt zurückkehren wird und sie wieder gemeinsam zur Schule gehen werden. Darauf freut sie sich schon; Gudrun und sie sind ja so was wie zwei linke Latschen. Immer haben sie zusammengesteckt und bestimmt wird es dann wieder so sein.
Ännes Blick fällt auf das Kohlenklau-Plakat. Darauf ist ein dicker, schnurrbärtiger Einbrecher zu sehen, der dem deutschen Volk Gewehre klaut. In Wahrheit jedoch geht’s darum, dass Gas gespart werden soll, damit die Kohlen, die vor dem Kohlenklau gerettet werden, für die Herstellung von Waffen verwendet werden können.
Über dem Kohlenklau-Plakat hängt das Feind-hört-mit-Plakat. Ein großer, dunkler Schatten mit Hut ist darauf abgebildet, der die Leute daran erinnern soll, dass überall Spione ihr Unwesen treiben. Sogar im Luftschutzkeller. Gleich daneben hat der Sauer einen Denkspruch befestigt, den er selbst geschrieben hat: Treue ist das Mark der Ehre! Heinrich Himmler.
Dieser Zettel erinnert Änne jedes Mal an die Schule. Dort hing in jedem Klassenraum so ein Spruch. Der in ihrer Klasse lautete Harte Zeiten, harte Pflichten, harte Herzen. Den hat sie nie verstanden. Was sollte an harten Herzen denn gut sein? Der Lelek, ihr Klassenlehrer, hatte der Klasse zwar erklärt, im Überlebenskampf gegen den Bolschewismus müsse das deutsche Volk menschliche Gefühle wie Mitleid und Nächstenliebe für einige Zeit hintanstellen, weil es ja schließlich auf Leben und Tod gehe. Sie verstand den Spruch trotzdem nicht. Hartherzigkeit war doch früher immer etwas Schlechtes gewesen. Da brauchte sie nur an das Kriegswinterhilfswerk zu denken, als sie ständig für die Armen und Bedürftigen sammeln mussten. Ist so was denn überhaupt möglich, zu den eigenen Leuten mild und freundlich zu sein, zu allen anderen aber hartherzig?
Vor ein paar Monaten legte der Gropa mal seine Arbeitsbrote aufs Straßenpflaster, kurz bevor ein Trupp Ostarbeiterinnen vorübergeführt wurde. Das waren alles Frauen aus Russland oder der Ukraine – also Feinde –, der Großvater hatte trotzdem Mitleid. Es war ja deutlich zu sehen, dass die Frauen schon halb verhungert waren …
 
»Jetzt aber mal ’n bissken flott! Die Tommys warten nicht ewig.«
Da alle anderen Hausbewohner bereits im Keller versammelt sind, kann der Sauer nur noch den Großvater und Mutter Schenck gemeint haben. Die alte Frau setzt stets sehr vorsichtig Fuß um Fuß, es dauert ewig, bis sie über die Höfe und dann die Kellertreppe herunter ist. Aber was soll der Gropa machen? Soll er Mutter Schenck etwa tragen mit seinem einen Arm?
Wie immer antwortet der Großvater nichts, weil er sich über den Sauer prinzipiell nicht aufregt. Ungeduldig wartet Änne, bis sie Mutter Schenck und den Gropa auf der Kellertreppe hört, erst dann atmet sie auf.
»Na bitte!«, sagt der Gropa, als Mutter Schenck endlich sitzt.
»Haben wir’s wieder mal geschafft. In einer Nacht zweimal die Treppen rauf und runter ist kein Kinderspiel, wenn man nicht mehr siebzehn ist, nicht wahr?«
Die halb blinde, schwer atmende Frau nickt nur still. Sie hat ein beinahe mehlweißes, sehr faltiges Gesicht und erinnert Änne manchmal an einen scheuen Vogel. Trotzdem mag sie Mutter Schenck und muss oft daran denken, wie sie voriges Jahr zum ersten Mal zu ihnen kam. Es war im Sommer, und eigentlich war sie nur gekommen, um nach ihrem Sohn Heiner zu fragen. Leider hatten die Großeltern schon ewig nichts mehr von jenem Heiner Schenck gehört, der mal mit dem Vater befreundet gewesen war, wussten nur, dass er vor vielen Jahren nach Moskau gegangen war. Mit den Russen aber war Krieg, wie sollte Mutter Schenck da seine Adresse herausfinden? Und durfte sie ihrem Sohn denn überhaupt in ein feindliches Land schreiben?
Die Großeltern konnten ihr keinen Rat geben und die alte Frau ging wieder. Nach ein paar Tagen aber stand sie erneut vor ihrer Tür. Es tue ihr so gut, mit Leuten zu reden, die ihren Sohn noch kennen, sagte sie, doch natürlich wolle sie niemandem zur Last fallen. Und so war sie immer wieder gekommen und hatte nach ihrem Sohn gefragt, nur um über ihn reden zu können.
 
Eines Abends, es war gerade Fliegeralarm, ließ die Groma sie dann nicht mehr fort, sondern quartierte sie gleich nach der Entwarnung in der Dachkammer ein. Mutter Schenck war ja schon so blind und verwirrt, bei jeder ihrer Fahrten in die Stadt konnte ihr was zustoßen.
»Alles im Kasten?« Der Sauer blickt sich im finsteren Keller um, als könnte er die Anwesenheit aller Mieter mit einem einzigen Blick überprüfen. »Na dann: Klappe zu, Affe tot!« Und damit schließt er wie so oft in all den Jahren zuvor die schwere Stahltür und legt die beiden großen Hebel um. Danach setzt er sich auf seinen Platz, nimmt aufatmend den Stahlhelm ab und wischt sich mit dem Taschentuch den Schweiß vom Kopf.
Sofort ist es Änne wieder, als sei die Luft stickiger geworden. Solange die Tür offen steht, nimmt es ihr nicht den Atem. Ist sie zu und hat der Sauer seinen Spruch gesagt, kommt es ihr jedes Mal vor, als sei der »Affe« wirklich »tot«. Erst wenn der Sauer die Tür wieder öffnet, geht das Leben weiter. Wenn sie dann noch leben.
 
Die erste Viertelstunde ist vorüber und Einschläge waren noch keine zu hören. Das ist oft so, dass sie viel zu früh im Keller sitzen. »Besser als zu spät«, sagt der Gropa dann jedes Mal, um sie zu beruhigen. Heute hat er das noch nicht gesagt, heute ist er mit seinen Gedanken ganz woanders.
Änne schließt die Augen und lehnt den Kopf an die Wand. So kann sie sich einreden, schlafen zu wollen. In Wirklichkeit kann sie so am besten auf Einschläge lauschen. Sind sie nah oder fern, muss sie sich sehr fürchten oder nur ein wenig? Mitten in ihren Gedanken reißt sie die Augen wieder auf. Der Sauer! Schon wieder glotzt er sie so an. Früher hat er sich nie viel um sie gekümmert, seit ein paar Wochen scheint er sich ständig Gedanken über sie zu machen.
Der Sauer ist nur nebenbei Luftschutzwart, hauptsächlich ist er Blockwart und für die Häuser Nr. 36, 37 und 38 zuständig. Er hält also »einige gesunde Macht« in seinen Händen, wie er mal zur Paulig gesagt hat, und hat das früher oft ausgenutzt. In letzter Zeit jedoch ist der glatzköpfige Mann mit dem runden, immer ein wenig rötlichen Gesicht ruhiger geworden, drückt nun auch mal ein Auge zu, wenn jemand ohne Kennkarte oder irgendeinen anderen Ausweis in ihren Keller will. Doch weshalb schaut er seit neuestem ausgerechnet sie so oft an?
Es ist mit das Schlimmste für Änne, dass sie dem Sauer im Keller immer direkt gegenübersitzt. Es gibt ja nur eine Möglichkeit, diesem Blick zu entfliehen: die Augen schnell wieder zu schließen und erneut den Kopf an die Wand zu lehnen. Doch das macht sie auch nicht froh. Sie weiß ja, dass er sie weiter ansieht, und ist diesem Blick schutzlos ausgeliefert.
»Willste denn gar nicht mehr zur Schule gehen? Da versäumste doch viel zu viel, wenn du immer nur bei deinen Großeltern rumhockst.«
Der Sauer! Nun hat er sie sogar angesprochen. Verblüfft starrt Änne den glatzköpfigen Mann an. Macht er sich darüber Gedanken? Will er nur wissen, weshalb sie nicht mit der Schule aufs Land evakuiert worden ist?
»Sie wird nach dem Krieg wieder zur Schule gehen«, antwortet der Gropa sofort. »Sie ist krank, das wissen Sie doch. Und lange kann das ja nun nicht mehr dauern, bis alles wieder seine Ordnung hat.«
Die Paulig lacht leise. Sie weiß, was der Gropa damit ausdrücken wollte. Und natürlich kann sich auch der Sauer denken, dass der Gropa eine ganz andere Ordnung als die jetzige gemeint hat. Da er aber in letzter Zeit so milde gestimmt ist, hakt er nicht nach.
Dafür ist der alte Herr Schnipkoweit hellhörig geworden, der gleich neben dem Sauer sitzt und wie immer seinen Koffer auf dem Schoß hält, als trüge er darin einen Goldschatz mit sich herum. »Was soll das heißen?«, fragt er mit unsicherem Blick.
 
»Na, dass der Krieg bald zu Ende ist.« Lisa Paulig nimmt Kläuschen aus dem Kinderwagen, öffnet Mantel und Bluse und gibt ihrem Sohn die Brust. Dabei grinst sie den Schnipkoweit an. Dass der Krieg bald zu Ende ist, kann zweierlei bedeuten: Er ist bald zu Ende, weil Deutschland ihn gewonnen hat – oder er ist zu Ende, weil Deutschland ihn verloren hat. Dass Deutschland den Krieg gewinnt, sagen alle. Das muss man sagen, der zerstörten Stadt, dem näher rückenden Feind und den vielen Luftangriffen zum Trotz. Wer sagt, dass Deutschland den Krieg verliert, ist ein Verräter; der kann eingesperrt oder gleich erschossen werden.
»Halten Sie mich bloß nicht für dumm!« Der Schnipkoweit ist Lisa Pauligs scharfer Zunge nicht gewachsen, fällt aber immer wieder auf die junge Frau herein. »Weiß genau, was Sie denken.«
»Wie schön für Sie!« Die Paulig seufzt bekümmert, während Kläuschen an ihrer Brust schmatzt, als müsse er nur kräftig genug ziehen, um mehr herauszubekommen. »Unsereins weiß nämlich schon längst nicht mehr, was er denken soll.«
Irgendwo wird leise gekichert, und der Gropa, der als junger Mann selbst Soldat war und im Krieg seinen Arm verloren hat, nickt der Paulig freundlich zu und sagt laut: »Natürlich ist der Krieg bald zu Ende. Noch ’n paar Wochen, und die Amis und Tommys müssen sich ihre Häuser selber mitbringen, wenn se noch was zum Zerstören haben wollen.«
Den Schnipkoweit macht auch diese Äußerung nervös. Wenn es nichts mehr zum Zerstören gibt, muss der Krieg ja verloren sein. »Das ist doch zersetzend«, giftet er den Sauer an. »Wie können Sie da ruhig zuhören?«
»Hab nichts Zersetzendes gehört«, knurrt der Sauer nur müde zurück.
»Richtig!« Lisa Paulig lacht hell auf. »Wo alles in Schutt und Asche zerfällt, was will man denn da noch zersetzen?«
Nun wird es still im Keller. Das war zu deutlich, so was darf ein Blockwart nicht überhören. Lässt der Sauer sich diese Bemerkung gefallen, hat er den Krieg endgültig verloren gegeben.
Der Sauer ist nicht sehr glücklich darüber, dass die Paulig ihn in diese Lage gebracht hat. »Überlegen Sie doch, was Sie sagen!«, bittet er sie. »Hab ja für alles Verständnis und Sie als Kriegerwitwe mit Ihrem kleinen Sohn haben es bestimmt nicht gerade leicht. Doch es gibt für alles eine Grenze.«
Also hat der Sauer sich diese Bemerkung gefallen lassen!
Überall wird gegrinst und auch der Gropa schmunzelt. Er kennt den Sauer schon seit vielen Jahren und war von dessen wundersamer Wandlung nicht sehr überrascht. Ganz früher, so erzählte er der Paulig an dem Tag, als sich der Sauer sein Führerbärtchen abrasierte, habe der Sauer einen Kaiser-Wilhelm-Bart getragen. Als sein Adolf an die Macht kam, habe er sich den gestutzt. Nun sei der Bart ganz ab und Sauers nackte Birne erinnere ihn an einen Schneckenkopp. Und passe das denn nicht auch sehr gut? Einer wie der Sauer sei doch viel zu schlau, um bis zum Schluss für seinen Führer den Kopf hinzuhalten. Also ziehe er ihn, wenn’s brenzlig wird, rechtzeitig zurück – geradeso wie eine Schnecke.
Die Paulig, von der ja alle wissen, dass der Sauer ganz abgöttisch in sie verliebt ist, obwohl er fast ihr Großvater sein könnte, probierte den neuen Sauer daraufhin gleich mal aus. Lang und breit erzählte sie von ihrem Onkel Gustav, der erster Parteigenosse von Weißensee gewesen sei. Der Trick klappte. Noch wenige Wochen zuvor hätte sich der Sauer vor ihr damit gebrüstet, dass auch er eine sehr niedrige Mitgliedsnummer in seinem Parteiausweis stehen habe und mehrfach als alter Kämpfer ausgezeichnet worden sei. Jetzt konnten ihm alle ansehen, dass er am liebsten nicht nur kein alter Kämpfer, sondern gar kein Kämpfer mehr gewesen wäre.
Da! Das erste Pfeifen, ein Zischen, die Explosion.
»Na endlich!«, spottet Lisa Paulig böse. »Ich dachte schon, heute machen se nur Spaß.«
 
Still kriecht Änne in sich zusammen. Der erste Einschlag war zum Glück sehr weit entfernt, aber wird das so bleiben?
Da! Der nächste! Und dann noch einer und noch einer, bis das Pfeifen, Zischen und Krachen der verschiedenen Bomben in ein einziges Getöse übergeht.
»Händchen halten, Köpfchen senken und an Adolf Hitler denken«, flüstert irgendwer im Hintergrund voll bösem Spott.
»Wer war das?«, fährt der Schnipkoweit gleich wieder auf. Doch natürlich ist die Frau, die diesen Kindergartenvers aufgesagt hat, nicht so dumm, sich zu melden. Ärgerlich murmelt der Schnipkoweit was von feigen Elementen, die das Licht der Wahrheit scheuen, dann lauscht er wieder auf das Krachen, Bersten und Gewummer in der Ferne.
Trotz ihrer Angst hat Änne Mitleid mit dem alten Mann, der sich so seriös zu kleiden versucht und doch immer ein bisschen schmuddlig wirkt. Sie weiß selbst nicht, warum, aus irgendeinem Grund mag sie den Mann mit den dicken Tränensäcken unter den Augen, über den im Haus so viel gelästert wird. Sein Gerede über Volksschädlinge und Schmarotzer, Meckerer und Miesmacher hat sie nie sehr ernst nehmen können. Wörter, die beim Sauer früher sehr bedrohlich klangen, bekommen beim Schnipkoweit immer etwas Flehendes. Es weiß ja jeder: Der August Schnipkoweit ist einsam, deshalb will er, dass alle Menschen im Land, auf jeden Fall aber die aus der Ackerstraße 37, eine einzige große Volksgemeinschaft sind. Jeder müsse für den anderen da sein, wünscht er sich, jeder habe für das große Ganze Opfer zu bringen. Er selbst hat viele Opfer gebracht. Drei Söhne sind im Krieg gefallen, eine Tochter ist bei einem Bombenangriff ums Leben gekommen. Nun hat er, der schon lange Witwer ist, nur noch einen Sohn an der Front und zwei Töchter, die sich aber nicht um ihren Vater kümmern. Für den Schnipkoweit ist der Tod seiner vier Kinder sein ganz persönliches Blutopfer, auf das er sehr stolz ist. Zweifelt jemand am Sinn dieses Opfers, ist er in seinen Augen ein Verräter.
 
Da! Dieser Einschlag war schon näher. Sofort wird es totenstill im Keller und Änne muss wieder an jene Nacht im Sommer vor zwei Jahren denken. Damals war der Wedding Hauptangriffsziel, da gab’s viermal nacheinander Alarm, und jedes Mal, wenn Bomben abgeworfen wurden, zitterten die Kellermauern. Sie hatten noch Glück, ihr Haus wurde nicht getroffen, aber tags darauf haben überall in den Straßen Leichen gelegen …
Wieder ein Einschlag! Diesmal so nahe, dass die Mauern zu schwanken beginnen. Änne spürt, wie ihr die Angst die Luft nimmt. Außerdem ist der Keller gleich wieder voller Mörtelstaub, überall wird gehustet.
Lisa Paulig hält es nicht länger aus. »Heiliger Sankt Florian«, versucht sie, die Leute im Keller aufzuheitern, »schütz unser Haus, zünd andere an.«
Doch niemand verzieht das Gesicht, keinem ist nach Scherzen zumute. Ein paar kleine Kinder beginnen zu weinen, andere, die schon laufen können, wollen runter vom Schoß ihrer Mutter und sich wie sonst durch die Gänge tasten, um den Erwachsenen in die Gesichter zu schauen, als würden sie so erfahren, was hier mit ihnen geschieht. Ihre Mütter jedoch pressen sie an sich, als könnten sie sie auf diese Weise besser beschützen.
Als Änne noch kleiner war, hat der Gropa ihr in solchen Situationen immer Geschichten erzählt. Es waren selbst ausgedachte Geschichten, sehr märchenhaft und sehr spannend. Dafür ist sie nun längst zu alt. Der Gropa merkte es, als sie sich eines Tages nicht mehr ablenken ließ. Er verstummte und legte tröstend den Arm um sie. Das hat er vorhin wieder getan. Immer wenn die ersten Einschläge zu hören sind, legt er den Arm um sie. Und dann lehnt sie sich an ihn und ist wieder das kleine Mädchen von damals.
 

Stark und stolz

 
Die dritte Angriffswelle ist vorüber und nun ist schon seit längerer Zeit alles ruhig. Zwischen den einzelnen Luftangriffen waren der Sauer und der Hermann Giese aus dem Vorderhaus, der heute Brandwache hat, auf den Höfen und der Straße draußen, um zu sehen, ob ihr Haus oder eines aus der Nachbarschaft etwas abbekommen hat. Wenn sie zurückkamen, machten sie jedes Mal beruhigende Gesichter. In der näheren Umgebung habe sich nichts verändert, sagten sie, in einigen Nachbarstraßen allerdings hätten Sprengbomben schwere Schäden angerichtet und Flammen seien auch zu sehen gewesen.
Der Schnipkoweit wird immer nervöser. Schon nach der zweiten Welle hoffte er, dass für diese Nacht alles vorbei sei. Nun geht er alle paar Minuten an den Entlüftungsschacht und lauscht. Dann flackern jedes Mal die Kerzen. Doch auch dort ist nichts zu hören, keine weiteren Einschläge, keine Entwarnung.
»Wer jetzt noch lebt, ist selber schuld«, witzelt irgendwo jemand. »Bomben sind schließlich genug gefallen.«
Gleich schaut der Schnipkoweit wieder den Sauer an. »Haben Sie das gehört?«
Doch der Schneckenkopp kümmert sich nicht um den Schnipkoweit. Seine Augen ruhen schon wieder auf Änne. »Wie alt biste denn jetzt eigentlich?«
»Zwölf Jahre, drei Monate und vier Tage.« Das mit den vier Tagen stimmt nicht, das hätte sie so schnell gar nicht ausrechnen können. Es soll dem Sauer nur zeigen, wie sehr er ihr mit seiner Fragerei und der dauernden Anguckerei auf den Wecker fällt.
Der Sauer bleibt freundlich. »Schön, dass du so gut rechnen kannst. Und was ist das für eine seltsame Krankheit, die du da hast? Man sieht dir gar nichts an. Bist doch ein kerngesundes deutsches Mädel mit deinen langen, blonden Zöpfen.«
»Gesund« ist Sauers Lieblingswort. So wie beim Schnipkoweit vieles »bluternst« gemeint ist, so mag der Sauer das Gesunde.
 
Mal redet er vom gesunden deutschen Volksempfinden, mal vom gesunden Geist, der nur in einem gesunden Körper stecken könne, mal vom gesunden deutschen Geschmack. Will er sagen, dass etwas ganz besonders gesund ist, nennt er es kerngesund; ein Wort, das Änne stets an Kernseife denken lässt.
»Sie hat Glasknochen«, antwortet der Großvater ganz ruhig für Änne. »Wenn Sie das ärztliche Attest sehen wollen, bitte schön, liegt bei mir in der Schublade. Und was die blonden Haare betrifft, die sind echt. Hat sie von ihrer Mutter. Oder wollen Sie auch den Ariernachweis sehen? Der liegt ebenfalls in der Schublade, gleich neben den Impfausweisen.«
Der Gropa ziept an seinen Schnurrbarthaaren, spielt dem Sauer die Ruhe also nur vor. Dieses Ziepen verrät ihn immer. All seine Wut und seinen Kummer lässt er an seinem Schnauzer aus und macht damit oft auch die Groma nervös. Jetzt jedoch achtet sie nicht darauf. »Was haben Sie denn neuerdings immer mit dem Mädel?«, fährt sie den Sauer an. »Passt Ihnen irgendwas nicht?«
»Wie kommen Sie denn auf so was? Hab doch bloß gefragt.« Der Sauer macht ein unschuldiges Gesicht. »Interessiert einen doch, woran das Mädel leidet. Hab sie ja aufwachsen sehen. Weiß noch genau, wie sie an der Hand ihrer Oma die ersten Schritte gemacht hat – und jetzt ist sie schon fast erwachsen und mit so einer bösen Krankheit bestraft.«
Sofort blickt Änne zur Seite. Gespräche über ihre Krankheit machen sie jedes Mal unsicher. Richtig schuldig fühlt sie sich dann, obwohl sie für ihre Knochen schließlich nichts kann. Sie weiß ja nicht mal genau, was das ist: Glasknochen. Zwar ist sie ziemlich dünn, aber das sind viele Mädchen ihres Alters. Schon vor zwei Jahren, als sie Jungmädel werden sollte, stellte Dr. Velbert diese Knochen an ihr fest, und das bedeutete, dass sie nicht nur von der Jugenddienstpflicht, sondern auch vom Sportunterricht befreit wurde. Wenn einer sie hart anfasst, heißt es, bricht er ihr alle Knochen. Und auch falls sie sich ganz von selbst was bricht, heile das ewig nicht wieder zusammen. Ob das stimmt, weiß sie nicht. Sie hat sich noch nie was gebrochen. Diese Krankheit aber stempelte sie zur Außenseiterin. Fuhren Gudrun und die anderen Mädchen aus der Mädelschaft zu Geländespielen an einen See, musste sie zu Hause bleiben … Straff sollen deutsche Mädchen sein, aber nicht stramm, herb, aber nicht derb, so heißt es im BDM. Sie ist weder straff noch stramm, herb oder derb, das Einzige, was »deutsch« an ihr ist, ist ihr blondes Haar.
»Wo nur unsere Wunderwaffen bleiben!« Die Paulig weiß, wie sehr Änne Gespräche über ihre Krankheit hasst. Also lenkt sie von dem Thema ab, indem sie sich ein bisschen mit dem Schnipkoweit beschäftigt. Der beißt auch prompt an und macht sein schlaues Gesicht. »Denken Sie bloß nicht, ich wüsste nicht, was Sie damit sagen wollen.«
»Was denn?«
»Na, dass es gar keine neuen Waffen gibt.«
»So? Glauben Sie das wirklich?«
»Sie glauben das, nicht ich!« Jetzt riecht der Schnipkoweit die Falle. Vor Erregung läuft er rot an. »Unterstellen Sie mir doch nicht solche Lügen.«
Die Paulig spielt die Enttäuschte. »Was man auch sagt, immer kommt’s falsch an. Und sagt man was Falsches, isses auch nicht richtig.«
Darauf fällt dem Schnipkoweit keine Erwiderung ein. Zornig tut er, als wollte er vor der Entwarnung noch ein bisschen schlafen, und Änne kann wieder an Gudrun denken, die nun schon seit über einem Jahr fort ist aus Berlin.
Als Gudrun vor zwei Jahren bei den Jungmädeln aufgenommen wurde, konnte sie von der Schulhofmauer aus alles beobachten. »Jungmädel wollen wir sein«, gelobten die zehnjährigen Mädchen, die da in Reih und Glied auf dem Schulhof angetreten waren. »Klare Augen wollen wir haben und tätige Hände. Stark und stolz wollen wir werden …« Sie fand das sehr schön, all diese strahlenden Mädchengesichter, die von nun an dazugehörten, und war sehr traurig, keine von ihnen zu sein und nicht so eine schöne Kletterweste tragen zu dürfen. Aber natürlich gab sie das nicht zu, lästerte nur, BDM heiße nicht Bund Deutscher Mädel, sondern Bald Deutsche Mutter. Und als Gudrun über die vielen Aufmärsche und Appelle zu schimpfen begann, an denen sie teilnehmen musste, war sie richtig froh: Alles war bei den Jungmädeln also auch nicht schön …
Kläuschen schreit. Mitten aus dem Schlaf heraus kräht er los, als hätte er etwas Böses geträumt. Die Paulig nimmt ihn aus dem Wagen und presst sein Köpfchen an ihr Gesicht. »Ja doch! Ja doch! Ist ja gut! Gleich kommt die Entwarnung.« Doch das tröstet Kläuschen nicht; er schreit und schreit, als wollte er allen verkünden, wie wütend er darüber ist, schon wieder so lange im Keller bleiben zu müssen. Sein Kopf schwillt dabei ganz rot an. Hört er nicht bald auf zu schreien, platzt ihm bestimmt wieder ein Augenäderchen und danach ist das ganze Auge voller Blut.
»Hab schon verstanden.« Die Paulig nimmt einen von ihren selbst gebastelten Beruhigungsschnullern, schiebt ihn Kläuschen in den Mund – und sofort ist der kleine Junge still. Änne muss lachen. Lisa Pauligs Beruhigungsschnuller sind eine tolle Sache. Weil es längst keine echten Schnuller mehr zu kaufen gibt, nimmt sie einfach einen Flaschennuckel, füllt ihn mit ein klein wenig Zucker oder Kunsthonig und steckt von innen einen Korken drauf. Dadurch ist der Schnuller so süß, dass Kläuschen vor Glück und Überraschung jedes Mal die Augen aufreißt, wenn er ihn in den Mund gesteckt bekommt.
»Schade, dass es so was für unsereins nicht auch gibt.« Die Groma schmunzelt. »Wäre schön, wenn man sich so einfach ruhig stellen könnte.«
Ein paar Leute nicken verständnisvoll und Änne schließt wieder die Augen. Schon bald sieht sie neue Bilder vor sich: Gudrun und sie im Sommer auf der Wiese im Humboldthain, Gudrun und sie beim Schwimmen im Hallenbad Gartenstraße, Gudrun und sie nebeneinander in der Schulbank, Gudrun und sie im Kino und danach auf dem Heimweg als Marika Rökk: »Ich brauche keine Millionen, ich brauch kein’ Pfennig zum Glück. Ich brauche weiter nichts als nur Musik, Musik, Musik …« Wenn Gudrun wüsste, welche Sehnsucht sie nach ihr hat, ob sie dann öfter schreiben würde?
»Wollen Sie mal sehen? Ist in der Ukraine aufgenommen. Mein Karl vor etwa drei Jahren.«
Die Zernicke reicht mal wieder Fotos herum, und Kurtchen Tetzlaff, der blasse junge Mann mit dem schmalen Gesicht, traut sich nicht, ihr zu sagen, dass er die Fotos längst kennt. Die Zernicke hat nun schon so lange keine Post mehr bekommen, die Briefe jedoch, die sie an die letzte Feldpostnummer ihres Sohnes schickte, kamen nicht zurück. Deshalb hofft sie, dass ihr Karl noch lebt, und solange sie keine neuen Fotos von ihm hat, zeigt sie eben die alten herum.
»Sie sind ja kein Soldat, Herr Kurtchen«, sagt sie nun. »Aber stellen Sie sich nur mal vor, wenn mein Karl und seine Kameraden mal nichts zu essen haben, schmeißen sie einfach eine Handgranate in einen Teich und schwups, schon haben sie die Pfanne voller Fische.«
Kurtchen Tetzlaff nickt freundlich, alle anderen verziehen die Gesichter: Früher, als nur wenig Bomben fielen und die Angst noch nicht so groß war, saßen oft Heimaturlauber in ihrem Keller, die ähnliche Geschichten erzählten. Inzwischen hat sich das geändert. Sitzt jetzt mal einer von der Front bei ihnen, ist er meistens sehr schweigsam; wird er nach seiner Einschätzung der Kriegslage gefragt, gibt er nur unwillig Auskunft. Nur die Zernicke tut noch so, als erlebe ihr Sohn ein lustiges Frontabenteuer nach dem anderen. Nachdem sie so früh ihren Mann verloren hat, ist ihr Sohn ihr Ein und Alles. Wenn er fällt, dann fällt sie auch, sagt die Bärwald immer.
Änne kennt all die Erwachsenen um sich herum nun schon so gut, als wäre sie verwandt mit ihnen. Sie sitzt ja Tag für Tag und Nacht für Nacht mit ihnen im Keller, weiß, wie sie aussehen, wenn sie Angst haben, und wie sie reden, wenn sie ihre Sorgen nicht mehr für sich behalten können. Manchmal glaubt sie sogar zu wissen, was sie denken. Auch die ihr früher so fremde Frau Zernicke mit dem trockenen, strengen Gesicht und der ewigen Hakenkreuzbrosche am Blusenkragen ist ihr inzwischen sehr vertraut geworden. Sie weiß, dass sie eifriges Mitglied der NS-Frauenschaft ist, sich freiwillig als Krankenschwester dienstverpflichten ließ und den Führer verehrt, als wollte sie ihn heiraten. Im Krankenhaus müsse sie viel arbeiten, heißt es, und alle Ärzte sollen von ihrer Tüchtigkeit nur so schwärmen. Allein wenn es um ihren Sohn geht, kapiert die Zernicke nichts; dann kann nicht wahr sein, was nicht wahr sein darf, wie der alte Herr Zimmermann das nennt, der mit der Zernicke Tür an Tür wohnt und immer im Streit mit ihr liegt.
»Darf ich Kläuschen ein bisschen spazieren tragen?«
Änne fragt das so plötzlich, dass alle mitbekommen, dass sie keine Lust auf weitere Karl-Geschichten hat. Die Paulig lächelt ihr verständnisvoll zu, dann legt sie Änne das Baby in den Arm und Änne steht gleich auf und wandert langsam mit Kläuschen zwischen all den dicht an dicht sitzenden Menschen hindurch.
 
Auch im hinteren Teil des Kellers haben die Männer und Frauen Kerzen auf die Koffer geklebt und genau wie weiter vorn tragen auch hier viele nur Trainingsanzüge unter den Mänteln und Joppen. Es lohnt nicht, sich jedes Mal erst lange anzuziehen, wenn zwei- oder dreimal in der Nacht Alarm kommt.
»Na, Änne? Tut dir mal wieder der Hintern weh?« Die Leute hier sind es schon gewöhnt, dass sie mit Kläuschen ab und zu vorbeikommt. Immer wenn ihr das Gerede der Erwachsenen zu viel wird, vertritt sie sich ein bisschen die Beine. Aber natürlich macht sie das nur, solange oben alles still bleibt. Nur dann wird ja so viel erzählt, gestritten, gespottet oder gelästert; vorhin, während der Einschläge, waren alle ganz still.
 
Zärtlich presst sie Kläuschen an sich. Er ist kein hübsches Baby, guckt oft sehr verkniffen, aber er ist ein Baby und riecht gut und sie mag nun mal kleine Kinder. Außerdem: Wie sollte Kläuschen denn nicht verkniffen gucken, wo er doch jede Nacht ein paar Mal aus dem Schlaf gerissen wird und manchmal halbe Tage im dunklen, stickigen Luftschutzkeller verbringen muss? Und dazu all dieser Geruch von Angstschweiß um ihn herum. Vielleicht kriegen Babys mehr mit, als die Erwachsenen denken. Aus einer dunklen Ecke dringt leises Lachen zu Änne hin. Dort sitzt die dicke Reimann aus dem zweiten Hof, die sich die Zeit am liebsten mit Witzeerzählen vertreibt. Gleich neben ihr die winzige Frau Gruber, die manchmal über die Reimann so lachen muss, dass ihre Lachtränen zu echten werden. Sie lacht ja nur so laut, um ihren Mann und ihren Sohn vergessen zu können, die voriges Jahr innerhalb eines einzigen Monats gefallen sind.
ist von ’ner Dampfwalze überfahren worden. Ist das nicht herrlich – dass ihm dabei nischt passiert ist?«