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Emilio Lussu

Ein Jahr auf der Hochebene

Roman

Aus dem Italienischen und mit einem Nachwort von Claus Gatterer

Mit ausführlicher Biografie

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Inhalt

Vorwort zur Erstausgabe

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

NACHWORT ZUR DEUTSCHEN AUSGABE 1968

DIE MILITÄRISCHE LAGE JUNI 1916 BIS JULI 1917

Ausführliche Biografie

„J’ai plus de souvenirs que si j’avais mille ans.“

Baudelaire

Vorwort zur Erstausgabe

In diesem Buch wird der Leser weder einen Roman noch eine historische Darstellung finden. Stattdessen wurden hier persönliche Erinnerungen nach Möglichkeit geordnet und eingegrenzt auf eines der vier Kriegsjahre, an denen ich teilgenommen habe. Ich habe nur erzählt, was ich selbst gesehen habe und was mich besonders beeindruckt hat. Dabei habe ich mich nicht auf die Fantasie verlassen, sondern auf mein Gedächtnis. Einige Namen wurden zwar geändert, doch werden meine Kriegskameraden leicht imstande sein, die Menschen und die Ereignisse wiederzuerkennen. Meiner späteren Erfahrungen habe ich mich entledigt, und habe mir den Krieg so in Erinnerung gerufen, wie wir ihn wirklich erlebt haben, d. h. mit den Gedanken und Gefühlen von damals. Deshalb handelt es sich hier auch nicht um ein Werk mit einer bestimmten Tendenz, sondern nur um einen italienischen Augenzeugenbericht vom Weltkrieg. Anders als in Frankreich, Deutschland und England gibt es in Italien über den Krieg keine Bücher. Auch dieses wäre nicht geschrieben worden, wenn ich nicht für längere Zeit gezwungen gewesen wäre, untätig zu leben.

Clavadel-Davos, im April 1937

1

Ende Mai 1916 lag meine Brigade – sie bestand aus den Regimentern 399 und 400 – noch im Karst. Seit dem Beginn des Krieges hatte sie nur an dieser Front gekämpft. Das Leben dort war für uns zur Qual geworden. Jede Handbreit Boden erinnerte uns an ein Gefecht oder an die Gräber gefallener Kameraden. Wir hatten Schützengräben, Schützengräben und wieder Schützengräben erobert. Zuerst jene der Roten Katzen, dann jene der Schwarzen Katzen und schließlich jene der Grünen Katzen. Aber die Lage blieb unverändert. War ein Schützengraben genommen, musste der nächste erobert werden. Triest lag immer gleich fern, müde sich im Hafen spiegelnd. Unsere Artillerie wollte keinen Schuss auf die Stadt abfeuern. Doch unser Armeekommandant, der Herzog von Aosta, erwähnte Triest in all seinen Tagesbefehlen und Reden, um die Soldaten anzufeuern.

Der Herzog, ein Prinz des königlichen Hauses, war militärisch nicht sehr begabt, doch von einer großen literarischen Leidenschaft beseelt. Er und sein Generalstabschef ergänzten einander: Der eine verfasste die Reden, der andere trug sie vor. Der Herzog lernte sie auswendig und rezitierte sie in fehlerfreier Diktion, wobei er die Haltung altrömischer Redner annahm. Die ziemlich häufigen großen offiziellen Feiern wurden eigens für solche rednerischen Auftritte veranstaltet. Unglücklicherweise war der Generalstabschef kein Schriftsteller. So kam es, dass man in der Armee trotz allem den die Reden vortragenden General höher einschätzte als die Begabung des sie verfassenden Generalstabschefs. Der General hatte auch eine schöne Stimme. Davon abgesehen, war er reichlich unpopulär.

An einem Nachmittag im Mai erreichte uns die Nachricht, der Herzog habe – um die Brigade für die vielen Leiden und Opfer zu belohnen – angeordnet, uns für einige Monate zur Retablierung in die Etappe zu schicken. Auf diese Nachricht folgte der Befehl, wir sollten uns bereithalten, von einer anderen Brigade abgelöst zu werden. Die Nachricht musste also wahr sein. Die Soldaten nahmen sie freudig auf und ließen den Herzog hochleben. Endlich bemerkten sie, dass es gewisse Vorteile mit sich brachte, einen Prinzen des königlichen Hauses als Armeekommandanten zu haben. Nur einem solchen war es ja möglich, eine so lange Ruhezeit so fern der Front zu erwirken. Bis dahin hatten wir unseren Retablierungsturnus immer nur ein paar Kilometer hinter den Schützengräben, unter dem Feuer der feindlichen Artillerie verbracht. Der Koch des Divisionskommandanten habe es dem Diener des Obersten anvertraut – und das Gerücht hatte sich in Blitzeseile verbreitet –, dass die Retablierungszeit nach dem Willen des Herzogs in einer Stadt zu genießen sein werde. Zum ersten Mal während des ganzen Krieges begann der General populär zu werden. Sogleich erzählte man sich das Allerbeste über ihn, und es hieß sogar, der Herzog habe sich ernstlich mit dem General Cadorna gestritten, um die Ansprüche unserer Brigade zu verteidigen. Die Geschichte machte die Runde von Einheit zu Einheit und wurde überall geglaubt.

Die Brigade wurde abgelöst; noch in der gleichen Nacht stiegen wir in die Ebene hinunter. In zwei Etappen erreichten wir Aiello, ein Städtchen unweit der alten Grenze.

Unsere Freude war überwältigend. Endlich wieder leben! Was planten wir nicht alles! Nach Aiello würde es in eine große Stadt gehen. Vielleicht nach Udine – wer wusste das schon?

Zur Essenszeit rückten wir in Aiello ein, an der Spitze mein Bataillon, das dritte, dem die 12. Kompanie voranmarschierte.

Die 12. Kompanie wurde von einem Kavallerieoffizier geführt, dem Reserveoberleutnant Grisoni. Er war Ordonnanzoffizier unseres Brigadekommandeurs gewesen. Nachdem dieser, durch eine Granate verwundet, gestorben war, hatte Grisoni gebeten, in der Brigade bleiben zu dürfen. Nun diente er meinem Bataillon. Als Kavallerieoffizier konnte er nicht ohne Weiteres einer Infanterieeinheit zugeteilt werden, aber der Kavalleriebefehlshaber hatte ihm eine Sonderbewilligung erteilt und obendrein das Recht zugestanden, Pferd und Ordonnanz beizubehalten. Grisoni war in der ganzen Brigade bekannt. Am 21. August 1915 hatte er mit nur vierzig Freiwilligen in einem Handstreich den Zahn der Verwirrung, eine feste, von einem Bataillon Ungarn verteidigte, vorgeschobene Grabenstellung erobert. Die Aktion hatte extreme Kaltblütigkeit erfordert. Seine Berühmtheit wurde indes durch ein anderes Unternehmen begründet. Grisoni war eines Abends – wir lagen gerade in Ruhestellung und hatten ohne übertriebene Mäßigung einige piemontesische Weine durcheinander getrunken – gleichfalls handstreichartig hoch zu Ross in den Saal des Offizierskasinos eingedrungen, in dem gerade der Oberst mit den Offizieren des Regimentsstabes speiste. Grisoni sprach dabei kein Wort, doch schien das Pferd mit der militärischen Hierarchie vollkommen vertraut. Es vollführte heftig wiehernd einige Volten rund um den Obersten. Der Vorfall wurde sehr unterschiedlich beurteilt, und um ein Haar wäre der Oberleutnant zur Kavallerie zurückgeschickt worden.

Das Bataillon defilierte im Gleichschritt über den Platz vor dem Rathaus. Auf der Rathausseite standen der Kommandant der Brigade, der Regimentskommandant und die Vertreter der zivilen städtischen Behörden.

Die Kompanie an der Spitze, in Viererreihen marschierend, machte einen martialischen Eindruck. Die Soldaten waren über und über verdreckt, doch gerade die Felduniform ließ die Parade noch feierlicher erscheinen. Auf der Höhe der Obrigkeit angelangt, richtete sich Grisoni in den Steigbügeln kerzengerade auf und befahl, zur Kompanie gewandt:

„Links schaut!“

Es war der Gruß für den Brigadekommandanten.

Es war aber auch das vereinbarte Zeichen für den ersten Zug, in Aktion zu treten. Sogleich erklang eine sorgsam einstudierte Marschmusik. Die Trompete, eine große, blecherne Kaffeekanne, schmetterte das Habtacht-Signal, und ein Akkord unterschiedlichster Instrumente fiel ein. In der Mehrzahl handelte es sich dabei um improvisierte Instrumente, die sehr viel Lärm erzeugten und solcherart den Marschtritt begleiteten. Als Tschinellen dienten die Deckel der Essgeschirre. Die Trommeln waren Reste alter, unbrauchbar gewordener Trainfässer, die fachmännisch zugerichtet worden waren. Statt der Klarinetten, Flöten und Kornette gab es nur die hohlen Fäuste: Aber die Spezialisten verstanden es, bald diesen, bald jenen Finger hebend, überaus eindrucksvolle Töne hervorzubringen. Insgesamt ergab dies eine wundervolle Komposition kriegerischer Heiterkeit.

Das Gesicht des Brigadekommandanten verfinsterte sich zunächst, aber schließlich lächelte er. Er war ein vernünftiger Mann. Also erschien es ihm nicht ungehörig, dass Soldaten, die das ganze Jahr in Dreck und Feuer gelebt hatten, sich ein derartiges Vergnügen erlaubten, wenn es auch gegen das Reglement verstieß.

Das ganze Regiment quartierte sich in Aiello ein.

Am Nachmittag lud der Bürgermeister die Offiziere zum Umtrunk. Mit bebender Stimme las er seine Ansprache ab: „Es ist mir eine große Ehre … Im ruhmreichen Krieg, den das italienische Volk kämpft, unter der genialen und heldenmütigen Führung Seiner Majestät des Königs …“ Beim Wort König nahmen wir pflichtgemäß, unter knallendem, gleichzeitigem Zusammenschlagen der Hacken und Sporen, Habtacht-Stellung ein. Der plötzliche Lärm des militärischen Saluts hallte im Rathaussaal wie ein Schuss. Der Bürgermeister hatte als ahnungsloser Zivilist nicht voraussehen können, dass die beiläufige Erwähnung des Monarchen eine derart dröhnende Loyalitätsbekundung auslösen würde. Er war ein würdiger Mann und hätte, wäre er darauf vorbereitet gewesen, diesen patriotischen Akt sicherlich gebührend gewürdigt. Aber so wurde er völlig überrascht; er zuckte zusammen, vollführte einen kleinen Sprung, der ihn um einige Zentimeter über sein Körpermaß hinaushob, und wurde kreidebleich. Sein Blick ruhte unsicher auf der Gruppe der bewegungslosen Offiziere. Er wartete. Das Blatt mit der aufgesetzten Rede war ihm aus der Hand gefallen und lag wie ein armer Sünder zu seinen Füßen. Der Oberst lächelte; er tat es sichtlich aus ehrlicher Freude, befriedigt von der Tatsache, dass hier die Überlegenheit der militärischen Autorität über die zivile – wenn auch nur vorübergehend – in so eindeutiger Form bekundet worden war. Mit dem Ausdruck verhaltenen Stolzes, den keiner sich aneignen kann, der nicht lange Zeit Truppen befehligt hat, glitt sein Blick vom Bürgermeister zu uns und wieder zurück zum Bürgermeister. Der Oberst war entschlossen, jenem Funken Bosheit, der auch im Herzen des mildesten Menschen glimmt, nachzugeben und den Bürgermeister noch nachhaltiger zu beeindrucken. Er kommandierte:

„Meine Herren Offiziere, es lebe der König!“

„Es lebe der König!“, wiederholten wir. Wir brüllten den Satz, als wäre er eine einzige Silbe.

Entgegen den Erwartungen des Obersten zuckte der Bürgermeister mit keiner Wimper, sondern brüllte mit uns.

Der Bürgermeister war ein Mann von Welt. Er hatte seine Sicherheit wiedergewonnen, hob das Blatt auf und setzte die Rede fort: „Wir werden siegen, wie dies im Buch des Schicksals geschrieben steht …“

Sicherlich hätte niemand, auch der Bürgermeister nicht, zu sagen gewusst, wo man dieses Buch hätte finden können, und noch weniger, was in dem unauffindbaren Buch wirklich geschrieben stand. Die Phrase löste keine besondere Reaktion aus. Dagegen nahm die Aufmerksamkeit bei den folgenden Sätzen beträchtlich zu:

„Der Krieg ist nicht so hart, wie wir ihn uns gewöhnlich vorstellen. Als ich heute Morgen Ihre Soldaten festlich in die Stadt einziehen sah, unter dem Klang der heitersten Fanfare, die es gibt, wurde mir klar – und die ganze Bevölkerung begriff es mit mir–, dass der Krieg auch seine schönen Seiten, seine Reize hat …“

Der Kavallerieoberleutnant salutierte unter großem Sporengeklirr, als wäre das Kompliment in erster Linie ihm zugedacht. Der Bürgermeister setzte fort:

„Edle und hehre Aspekte. Unglücklich derjenige, der sie nicht wahrnimmt. Denn, meine Herren, es ist schön, fürs Vaterland zu sterben …“

Diese Anspielung gefiel niemandem, nicht einmal dem Obersten. Die Sentenz war klassisch, doch schien uns der Bürgermeister nicht der geeignete Mann zu sein, um uns literarisch über den Wert des Todes – und wäre er noch so ruhmreich – zu belehren. Auch die Form, in welcher der Bürgermeister die Sentenz vorgebracht hatte, war unglücklich. Es war uns, als hätte er sagen wollen: „Tot seid ihr schöner.“ Ein guter Teil der Offiziere räusperte sich und fixierte den Bürgermeister mit arrogantem Blick. Der Kavallerieoberleutnant ließ nervös die Sporen klirren.

Wahrscheinlich begriff der Bürgermeister, was in uns vorging, denn er beeilte sich, die Rede mit einem korrekten Toast auf den König abzuschließen:

„Es lebe unser ruhmreicher König, der Spross eines soldatischen Geschlechts!“

Der Kavallerieoberleutnant stand dem großen Tisch voller Champagnerkelche am nächsten. Er ergriff rasch ein noch volles Glas, hob es und rief:

„Es lebe der König der Pokale!“

Das traf den Obersten wie ein Herzschuss. Verblüfft starrte er auf den Oberleutnant, als wollte er Augen und Ohren nicht trauen. Dann sah er der Reihe nach die Offiziere an, sich ihrer Zeugenschaft versichernd, und sagte mehr betrübt als streng:

„Oberleutnant Grisoni, Sie haben auch heute zu viel getrunken. Wollen Sie den Saal verlassen und meine Befehle erwarten.“

Der Oberleutnant schlug die Sporen zusammen, erstarrte im Habtacht, trat einen Schritt zurück und salutierte:

„Jawohl, Herr Oberst!“ Und verschwand, die Reitgerte unterm Arm, sichtlich befriedigt.

2

Der Chormeister stimmte an:

„Quel mazzolin di fiori …“

Der Chor der Kompanie fiel ein:

„Che vien dalla montagna …“

Mit dem Gesang kam neues Leben in die müden Soldaten. Wir marschierten seit drei Tagen. Die lange Unbeweglichkeit des Stellungskrieges im Karst hatte zur Folge, dass wir zu großen Anstrengungen nicht mehr fähig waren. Der Marsch wurde für alle zur Qual. Der einzige Gedanke, der uns tröstete, war, dass es in die Berge ging.

Die Retablierung in Aiello hatte nicht einmal eine Woche gedauert. Die Österreicher hatten zwischen dem Monte Pasubio und dem Lagarinatal eine große Offensive vorgetragen. Sie hatten die Front bei Höhe 12 durchstoßen und standen nun am Rand der Hochebene von Asiago. Die Brigade hatte die Ruhequartiere verlassen; mit der Bahn hatten wir die weite venezianische Ebene durchquert, und nun strebten wir in Eilmärschen der Hochfläche zu.

Der Gesang wurde lebhafter. Aber trotzdem hing jeder seinen eigenen Gedanken nach. Mit dem Leben in den Gräben war es nun aus. Nun würden wir, so hatte man uns gesagt, im Bewegungskampf zum Gegenangriff ansetzen. Und dies im Gebirge. Endlich! Wir hatten unter uns vom Krieg in den Bergen immer als von einer Art privilegierter Ruhe gesprochen. Also sollten auch wir endlich Bäume, Wälder und Quellen sehen, Täler und stille Winkel, die uns mit großem, schattigem Frieden umfangen würden. Die schreckliche, nackte Steinwüste des Karstes würden wir vergessen können, die Öde, in der es keinen Tropfen Wasser gab und keinen Grashalm, die immer und überall gleichförmig war, die nirgendwo natürlichen Schutz bot, nur da und dort ein Loch, die Dolinen, die wie magnetisch die schweren Brocken der Artillerie anzogen. Wie oft waren wir in grausigem Durcheinander in diese Löcher gestürzt, Menschen und Maultiere, Lebende und Tote. Nun würden wir uns endlich in Stunden der Muße niederlegen und ausstrecken können, in der Sonne dösen, hinter einem Baum schlafen, ohne gesehen und von einer Kugel im Bein geweckt zu werden. Von den Gipfeln der Berge aus würden wir endlich Horizonte und Landschaften bewundern können und nicht immerfort nur Grabenwände und das Gewirr der Drahtverhaue anstarren müssen. Endlich würden wir erlöst sein von dem elenden Leben, das man fünfzig oder zehn Meter vom feindlichen Graben entfernt lebt, in einer grausamen Nachbarschaft mit sich ständig wiederholenden Nahkämpfen, mit Bajonettangriffen, krepierenden Handgranaten und dem Gewehrfeuer von einer Schießscharte zur anderen. Wir würden nun nicht mehr einer den anderen töten, Tag für Tag, ohne Spur von Hass. Der Bewegungskrieg, das würde etwas anderes sein. Kluges Manövrieren, zweihunderttausend, dreihunderttausend Gefangene, einfach so, an einem einzigen Tag, ohne schreckliches Massenabschlachten, nur dank einer genialen strategischen Zangenbewegung. Und wer weiß, vielleicht brachte eine derartige Operation den Sieg, der den Krieg beenden würde.

Er hatte nur einen Nachteil, der Bewegungskrieg: dass man marschieren musste, immerzu marschieren.

Ein Kavallerieregiment kreuzte unseren Weg; wir mussten stehen bleiben, um es vorüberziehen zu lassen. Sie hatten es gut, sie durften reiten. Wir merkten jedoch bald, dass auch sie todmüde waren.

„Schaut euch den Krieg der feinen Herren an!“, riefen die Soldaten den gebeugt in den Sätteln hängenden Lancieri zu. Diese riefen zurück:

„Seid froh, dass ihr marschieren könnt! Wir sind immer zu Pferd, immer! Niemals auf den eigenen Beinen. Und wir müssen erst für uns sorgen und dann auch noch für die Pferde. Was für ein Leben!“

Das Kavallerieregiment war vorbeigezogen. Die Kompanie begann wieder zu singen.

Die Straße war nun mit Flüchtlingen verstopft. Keine lebende Seele war auf der Hochebene von Asiago geblieben. Die Bevölkerung der Sieben Gemeinden ergoss sich in allgemeinem Wirrwarr talwärts. Auf Ochsenkarren saßen Greise, Frauen und Kinder; Maultiere schleppten das bisschen Hausrat, das man aus den überstürzt dem Feind überlassenen Häusern gerettet hatte. Die Bauern, die ihre Äcker verlassen hatten, waren wie Schiffbrüchige. Keiner weinte, aber ihre Augen waren leer und hohl. Es war ein trauriger Zug. Die schwerfälligen, langsamen Karren glichen einem Leichenzug.

Unsere Kolonne hörte auf zu singen und marschierte schweigend weiter. Es war nichts zu hören außer unserem Marschtritt und dem Kreischen der Räder.

Dieses Schauspiel war neu für uns. Im Karst waren wir die Angreifer gewesen, und die Bauern, die vor unserem Vormarsch flüchteten und ihre Häuser im Stich ließen, waren Slawen. Wir hatten keinen von ihnen zu Gesicht bekommen.

Nun kam ein Wagen, der länger war als die anderen. Auf zwei Strohsäcken kauerten eine alte Frau, eine junge Mutter und zwei Kinder. Vorne saß ein alter Bauer, mit baumelnden Beinen, die Leitseile des Ochsengespanns fest in der Hand. Er hielt die Tiere an und bat einen Soldaten um Tabak für seine Pfeife.

„Da, Großvater, raucht!“, rief ihm der an der Spitze marschierende Korporal zu und drückte ihm, ohne stehen zu bleiben, seinen ganzen Tabakvorrat in die Hand.

Die Soldaten folgten seinem Beispiel. Verdutzt schaute der Alte, die Hände voller Tabakpäckchen und Zigarren, auf so viel unverhofften Reichtum. Die Kolonne marschierte schweigend weiter. Als wäre allen ein Befehl erteilt worden, warfen auch die nachfolgenden Soldaten ihren Tabak auf den Wagen. Verwirrt fragte der Alte:

„Und was werdet ihr nun rauchen, Kinder?“

Die Frage zerriss die Stille. Ein Soldat stimmte, als sollte dies die Antwort sein, ein heiteres Liedchen aus dem Marschrepertoire an, und die Kompanie fiel im Chor ein. Ich behielt unverwandt zio Francesco im Auge, der mir zunächst marschierte. Er war der älteste Soldat der Kompanie, er hatte schon den libyschen Krieg mitgemacht. Die Kameraden nannten ihn zio Francesco, einmal, weil er der Älteste war, zum anderen, weil er zu Hause fünf Kinder hatte. Er marschierte im Schritt, dem Rhythmus des Liedes folgend, und sang wie die anderen mit lauter Stimme. Sein Tritt war schwer unter dem Gewicht des Tornisters. In seinem Gesicht war keine Spur von Freude zu entdecken. Die heiteren Worte des Liedes kamen wie etwas Fremdartiges über seine Lippen. Zio Francesco war eine Sache, sein Gesang eine andere. Den Kopf gebeugt, den Blick starr auf den Boden gerichtet, schien er irgendwo weit weg zu sein, fern dem Marsch, fern den Kameraden.

„Öffnen!“, riefen einige aus der Mitte der Kompanie, „Platz! Der Herr Oberst kommt!“

Ich wandte mich um. Der Oberst ritt, gefolgt vom Adjutanten, mitten durch die Kolonne. Wir hatten die Reihen schon auseinandergezogen, um den Zug der Flüchtlinge durchzulassen. Auf der Straße war nicht viel freier Raum. So rückten wir noch dichter an den Straßenrand, doch war der Oberst gleichwohl gezwungen, im Schritt zu reiten, damit das Pferd nicht die Fuhrwerke oder die Soldaten streifte.

Als der Oberst auf meiner Höhe angekommen war, sagte er, dass er froh sei, die Soldaten in so heiterer Stimmung zu sehen. Er gab mir zwanzig Lire, die ich unter den Sängern verteilen sollte. Als er eben weiterreiten wollte, bemerkte er zio Francesco; das Alter, die Stimme und die Haltung des Mannes hatten seine Aufmerksamkeit erregt.

Er fragte mich, wer dieser Soldat sei. Ich antwortete, er sei ein Bauer, irgendwoher aus dem Süden, und fügte noch einige Belanglosigkeiten hinzu.

„Ein guter Soldat?“, forschte der Oberst.

„Ein ausgezeichneter.“

„Da haben Sie noch fünf Lire, für ihn, nur für ihn.“

Zio Francesco merkte, dass von ihm geredet wurde. Er hob die Augen; ohne eine Miene zu verziehen, marschierte er singend weiter. Der Oberst schlug ihm mit der Hand auf die Schulter und entfernte sich. Die Kunde über das Geschenk verbreitete sich im Nu, und der Gesang wurde lebhafter.

„O pescator di Londra …“, stimmte der Vorsänger an.

„Bionda, mia bella bionda …“, sang der Chor.

Mit gesenktem Kopf und lauter Stimme sang zio Francesco weiter. Die Flüchtlinge auf den Karren schauten teilnahmslos durch uns hindurch. Das Kreischen der Räder im Schotter ergab eine jammervolle Begleitung zum fröhlichen Gesang.

Vor der Abenddämmerung erreichten wir unser Ziel.

Der Tag war noch warm. Die Soldaten warfen sich außerhalb der Zelte ins Gras. Sie ruhten aus. Die müdesten schoben die Arme unter den Nacken, lagen lang gestreckt, ohne sich zu rühren, und schauten in den im Abendrot erglühenden Himmel. Andere redeten mit leiser Stimme. Ein paar sangen die klagenden Lieder ihrer Heimatdörfer. Nur die Wachen schritten ihre Runden um das Lager. Als der Feldwebel einen Korb voller Weinflaschen und Tabak brachte, kam wieder Leben in die Reihen. Er hatte die zwanzig Lire bis auf den letzten Centesimo ausgegeben. Im Krieg denkt man nicht an morgen. Die Flaschen gingen von Hand zu Hand.

„Auf das Wohl des Obersten!“

„Auf das Wohl des Obersten!“

Nur eine jugendliche Stimme hob sich feindselig von den anderen ab: „Auf das Wohl der Hure, die seine Mutter war!“

Die Kameraden protestierten.

„Möchtest du etwa, dass der Oberst dir statt des Weins zwei Kugeln in den Bauch jagt?“

Ungesehen beobachtete ich die Szene. Der Soldat antwortete nicht; er blieb liegen und wollte auch nicht trinken. Ich erkannte ihn. Sicherlich hatte er mit dem Obersten nie auch nur das Geringste zu tun gehabt.

Nach und nach wurden die Stimmen wieder leiser. Nun war zio Francesco am Wort; er sprach ernst, wie ein Patriarch. Die anderen hörten ihm zu und rauchten dabei.

„In meinem ganzen Leben habe ich noch nicht fünf Lire auf einmal verdient, niemals. Nicht einmal in einer Woche habe ich fünf Lire verdient. Ja, manchmal, zur Zeit des Kornschneidens, wenn man im Akkord arbeitete, vom ersten Licht des Tages bis zur Abenddämmerung, ununterbrochen.“

Ich entfernte mich. Es war Zeit, zum Essen ins Offizierskasino zu gehen.

3

Am Rand der Hochebene, in tausend Meter Höhe, herrschte ein heilloses Durcheinander. Wir kamen am 5. Juni durch das Frenzelatal dort an. Wir waren von Valstagna aufgebrochen und hatten aus Sicherheitsgründen eine Vorhut vorausmarschieren lassen; es bestand nämlich überhaupt keine Klarheit darüber, wo die Unseren und wo die Österreicher standen. Das Regiment bezog Stellung zwischen den Hängen von Stoccareddo und der Straße Gallio-Foza. Mein Bataillon lag in Buso, einem winzigen Nest, das vor dem Ausgang des Frenzelatals liegt. Die vorgeschobenen Posten wurden, wie der Zufall es wollte, im Becken gegen Ronchi hin aufgestellt, an jenen Wegen, die von den feindlichen Vorhuten benützt werden konnten. Das wenige, das wir wussten, war, dass die Österreicher das Assatal durchquert und Asiago eingenommen hatten und dass sie nun fächerförmig bereits diesseits von Gallio vorwärts drängten. Zwischen ihnen und uns, erfuhr ich, befanden sich noch ein paar versprengte italienische Einheiten. Eines stand fest: Der Feind nützte den Erfolg kühn aus. Im Becken von Asiago wurden zahlreiche Feldbatterien bei helllichtem Tag hin und her verschoben. Die von den Unseren zerstörte Brücke über die Assa war von den Österreichern innerhalb weniger Tage wiederaufgebaut worden. Unsere ganze Artillerie war dem Feind in die Hände gefallen. Wir hatten nicht ein einziges Geschütz auf der ganzen Hochebene. Nur von Fort Lisser, einer alten, bereits 1915 geschleiften Festung, feuerten zwei 149er-Geschütze. Sie schossen regelmäßig auf die Unseren. Glücklicherweise waren sehr viele Granaten Blindgänger; so hatten wir keine Verluste. Einige Tage danach erhielt jenes Fort von unseren Frontberichterstattern den Ehrentitel Löwe der Hochebene.

Der Bataillonskommandant schickte mich mit einem Zug in die Gegend von Stoccareddo. Ich hatte den Auftrag, zu der einen oder anderen Einheit unserer Armee, die sich dort oben herumtreiben mochte, Verbindung herzustellen und den Feind zu erkunden. Da ich befürchten musste, in die Hände der Österreicher zu fallen, hatte ich um eine ganze Kompanie gebeten. Der Major wollte mir dagegen nur einen Halbzug mitgeben. Schließlich einigten wir uns auf eine mittlere Lösung, und ich erhielt einen ganzen Zug.

Die Sonne war schon untergegangen, als ich nördlich von Stoccareddo auf ein Bataillon des Infanterieregiments 301 stieß. Es wurde von einem Oberstleutnant um die Fünfzig kommandiert, den ich im Freien antraf, an einem roh aus Ästen gezimmerten Tischchen sitzend, eine Flasche Kognak in der Hand. Er bot mir ein Gläschen an.

„Vielen Dank“, sagte ich, „ich trinke keinen Schnaps.“

„Sie trinken keinen Schnaps?“, fragte der Oberstleutnant besorgt. Er holte ein Notizbuch aus der Tasche des Uniformrockes und trug ein: „Oberleutnant, Abstinenzler in Schnaps, kennengelernt. 5. Juni 1916.“ Er ließ mich meinen Namen wiederholen, den ich ihm schon bei der Vorstellung gesagt hatte, und ergänzte die Eintragung. Um keine Zeit zu verlieren, sagte ich ihm gleich, welcher dienstliche Auftrag mich zu ihm geführt hatte. Er wollte jedoch, ehe er antwortete, einige Details über mein Leben und mein Studium erfahren. Ich sagte ihm, dass ich Reserveoffizier sei und dass ich die Universität bei Kriegsausbruch verlassen hätte. Was ihn jedoch am meisten beschäftigte, war die Frage des Schnapses.

„Sollten Sie am Ende irgendeiner religiösen Sekte angehören?“, forschte er.

„Nein“, antwortete ich lachend, „weshalb sollte ich?“

„Seltsam, außerordentlich seltsam. Und Wein? Trinken Sie Wein?“

„Ein wenig, bei Tisch, so beim Essen.“

Ich fragte wieder nach den Stellungen des Feindes und nach den unseren. Der Oberstleutnant aber hatte es nicht eilig. Er trank wieder ein Gläschen, dann begleitete er mich, sehr langsam, zu einem etwa fünfzig Meter weiter vorn liegenden Beobachtungsstand; dabei behielt er Flasche und Glas fest in der Hand. Er tat dies bestimmt aus reiner Zerstreutheit, denn am Beobachtungsstand trank er keinen Schluck.

Vom Beobachtungsstand aus hatte man noch einen deutlichen Überblick, denn die letzten Strahlen der Sonne gaben genügend Licht. Ganz hinten, im Norden, etwa dreißig Kilometer in der Luftlinie, die Höhe 12; gegenüber die Bergkette, aus welcher der Monte Zebio emporragte, die Kämme von Gallio und ganz rechts, alle anderen Gipfel überragend, der Monte Fior. Zwischen uns und den Gipfeln das Becken von Asiago; tiefer, direkt zu unseren Füßen, das kleinere Becken von Ronchi.

„Wo sind die Österreicher also?“, fragte ich.

„Oh, das weiß ich nicht. Das weiß kein Mensch. Sie sind irgendwo uns gegenüber. Sie könnten aber von einem Augenblick zum anderen auch in unserem Rücken stehen. Dies hängt von den Umständen ab. Gewiss ist nur, dass sie überall sind und dass es hier außer meinem Bataillon keine italienischen Truppen mehr gibt.“

Ich erkundigte mich nach den Verhältnissen auf dem höchsten Berg, den er mir als Monte Fior bezeichnet hatte. „Dort sind noch die Unseren. Das steht fest. Die Österreicher sind noch nicht dorthin gekommen. Der Berg ist zweitausend Meter hoch. Deshalb nennen ihn unsere Kommandostellen den Schlüssel zur Hochebene.“

Der Oberstleutnant erläuterte mir die Positionen, wobei er die Kognakflasche anstelle des Zeigefingers benützte. Immer wieder führte er die Flasche zum Gläschen, als wollte er sich einschenken, doch brach er die Bewegung jedes Mal rechtzeitig wieder ab, und das Glas blieb leer.

„Auf diesem Schlüssel hat die Führung, um ihn nicht zu verlieren, an die zwanzig Bataillone versammelt. Aber da, wo die Tür ist, sind wir, alle zusammengenommen, nicht mehr als vier Katzen. Das Ganze ist natürlich eine enorme Dummheit. Aber in den Lehrbüchern steht geschrieben, dass man dem Feind den Durchmarsch durch ein Tal verwehren kann, wenn man die das Tal beherrschende Höhe besetzt hält. Sehen Sie da unten den Ausgang des Frenzelatals, da unter uns? Von da bis zum Monte Fior werden es etwa vier oder fünf Kilometer Luftlinie sein. Wenn die Österreicher hier am Talausgang durchbrechen, bei der Tür also, dann können sie eine ganze Armee durchschleusen. Und der Schlüssel bleibt an der Wand hängen. Trinken Sie? Wie? Wirklich nicht?“

„Ich habe den Eindruck, dass die Österreicher, wenn wir dort oben zwanzig Bataillone haben, hier wirklich nicht durchkommen werden.“

„Und wie sollten unsere Bataillone dort oben dies verhindern? Mit der Artillerie? Aber sie haben doch kein einziges Geschütz und werden auch nie eines haben, weil es keine geeigneten Wege gibt. Maschinengewehre und Karabiner sind bei solchen Entfernungen nutzlose Waffen. Und weiter? Nichts weiter. Denn wenn man auf unserer Seite auch dumm ist, so ist damit nicht gesagt, dass die feindlichen Stäbe intelligenter sind. Die Kriegskunst ist für alle gleich. Sie werden sehen, dass die Österreicher den Monte Fior angreifen werden, mit vierzig Bataillonen, wenn es sein muss, und völlig sinnlos. Und dann werden wir gleichgezogen haben. Das ist Kriegskunst.“

Das Gespräch interessierte mich, doch brach die Nacht herein, und ich wollte den Rückweg nicht in völliger Dunkelheit machen. Auf der ausgebreiteten Landkarte bemühte ich mich, die Orientierungspunkte festzuhalten.

„Sie trinken also nicht?“

Der Oberstleutnant verließ den Beobachtungsstand und sagte in spöttischem Ton:

„Verlassen Sie sich nicht auf Landkarten. Sonst kann es Ihnen passieren, dass Sie Ihr Regiment nicht mehr finden. Glauben Sie mir, einem alten Berufsoffizier. Ich habe den ganzen Afrikafeldzug mitgemacht. Bei Adua sind wir besiegt worden, weil wir Landkarten hatten. Dank diesen Landkarten sind wir nach Westen geraten, anstatt nach Osten anzugreifen. Das ist so, als griffe man Venedig an, obwohl man auf Verona vorstoßen sollte. Im Gebirge sind Karten nur für jene lesbar, die die Gegend kennen, weil sie da geboren und aufgewachsen sind. Aber diejenigen, die das Terrain ohnehin kennen, brauchen die Karten nicht.“

Wir gingen zurück zum Bataillonsgefechtsstand. Er setzte sich wieder zu dem Tischchen aus Ästen und trank nacheinander zwei Gläschen, das erste auf mein Wohl, das zweite auf das seine. Ich dankte ihm. Dann machte ich mich an der Spitze des Zuges, der auf mich gewartet hatte, wieder auf den Weg zurück zum Regiment.

Die Theorien des Oberstleutnants waren offensichtlich nicht ganz aus der Luft gegriffen. An jenem Abend verirrte ich mich auf dem Rückweg. Das wäre nicht geschehen, wenn ich einfach den Hinweg zurückgegangen wäre. Doch war es schon spät, und ich suchte eine Abkürzung, da mir die Landstraße nach Buso zu lang erschien. Der Weg, für den ich mich entschieden hatte, führte zur Gänze durch den Wald, und dort war es schon recht finster. In der Nähe einer Wegkreuzung, in einem hügeligen und mit Unterholz bestandenen Gelände, empfing uns eine Gewehrsalve. Zu spät bemerkte ich nun, dass wir nach links geraten waren, statt uns nach rechts in Richtung auf das Frenzelatal zu halten.

„Nieder!“, schrie ich. „Nach rechts halten und hinlegen!“ Der Zug warf sich zu Boden; mühsam krochen wir voran. Wir lagen zwar unter Beschuss, doch geschützt vom Gelände und vom dichten Wald. Das Niederholz deckte uns vollkommen.

„Verdammte Ungarn“, fluchte der Unteroffizier, der an meiner Seite war. „Sie haben mir ein Loch in den Arm geschossen.“

„Ungarn?“, murmelte ich.

„Ja, Herr Oberleutnant. Ich hab’ einen gesehen, stehend. Er hat den Klee auf der Hose.“

„Sie irren“, sagte ich, „es sind Bosniaken.“

Beim Divisionskommando hatte man uns nämlich gesagt, die feindliche Vorhut bestehe aus bosnischen Truppen. Die Bosniaken trugen keinen Klee an der Uniform.

Der Zug lag bäuchlings hingestreckt und feuerte ruhig und ohne Hast. Der Unteroffizier verband sich den verletzten Arm. Ein Soldat half ihm dabei. Die zahlenmäßige Überlegenheit der Truppe, die uns gegenüberlag, war offensichtlich. Nach dem Feuer zu schließen, musste es sich wenigstens um eine Kompanie handeln. Hätte sie uns angegriffen, wären wir glatt erdrückt worden. Ich ließ die Bajonette aufpflanzen und durchsagen, die Soldaten sollten sich zum Gegenangriff bereithalten.

Gleichwohl war ich besorgt. Mein Befehl lautete, mir gegen den linken Flügel hin Klarheit über die zu verschaffen, und nicht, mich in Gefechte einzulassen. Der Zug war als Begleitschutz gegen überraschend auftauchende feindliche Patrouillen gedacht und war keine Einheit, die imstande gewesen wäre, in einem Zusammenstoß mit einer solchen Übermacht zu bestehen. Ich beschloss also den Rückzug.

Das feindliche Feuer war nach der ersten Nervosität dünner geworden. Es fielen nur noch vereinzelte Schüsse. Um den Lärm, den wir beim Absetzen machen mussten, zu tarnen, befahl ich, eine Handgranate zu werfen. Der mir zunächst stehende Soldat machte die Granate in aller Ruhe scharf, kontrollierte, sie in der Hand haltend, das Funktionieren der Zündung, dann schnellte er empor und warf die Granate hoch, sodass ihr Flug nicht vom Geäst der Bäume behindert werden konnte.

Die Handgranate explodierte exakt im Fallen, mit einem Krachen, das sich im Wald noch schauerlicher ausnahm. Die Splitter wirbelten durch die Nacht, fauchend und pfeifend, wie das Miauen vieler Katzen. Es war unser erster Handgranatenwurf auf der Hochebene. Für einen Augenblick war es still. Dann erhob sich aus der feindlichen Linie eine sonore Stimme, italienisch:

„Hol euch der Teufel!“

Das Feuer nahm wieder an Heftigkeit zu. Uns gegenüber stieg eine Leuchtkugel sehr hoch in den Nachthimmel und erhellte den Wald und das ganze Tal von Ronchi. Wir steckten die Nasen ins Gras und machten uns dünn wie Laub.

„Vielleicht“, dachte ich, „hat der Unteroffizier recht. Das müssen Ungarn von der Adriaküste sein. Die Bosniaken sprechen sicherlich kein Italienisch.“

Der Rückzug wurde in Gruppen durchgeführt; wer an der Reihe war, setzte sich rückwärts ab, das Ganze sehr langsam, damit nicht der Kontakt untereinander verlorenging. Es herrschte nunmehr pechschwarze Nacht, und es war schwierig, sich einigermaßen geordnet fortzubewegen.

Wir benötigten mehr als eine Stunde, ehe wir uns, außer Schussweite, weiter hinten in Sicherheit sammeln konnten. Die vierte Gruppe hatte sich als letzte abgesetzt. Sie brachte einen Gefangenen mit. Im Lichtschein der Leuchtkugel war ein einzelner Mann, der sich zwischen uns und dem Feind befunden hatte, mit erhobenen Händen auf uns zugekommen. Die Gruppe hatte ihn beobachtet und ihn, kaum dass die Leuchtkugel abgebrannt war, gefangengenommen. Ein Gefangener war genau das, was wir brauchten, um einiges über den Feind zu erfahren. Ich war glücklich.

„Ich werde dafür sorgen, dass ihr eine Belohnung bekommt!“, sagte ich zum Korporal der vierten Gruppe.

Der Gefangene, der ohne Waffen war, stand, von zwei Soldaten an den Armen festgehalten, inmitten der Gruppe. Niemand sprach ein Wort, weder der Gefangene noch die anderen. Jeder war von der Nutzlosigkeit einer Konversation in einer fremden Sprache überzeugt. Es ergab sich jedoch auch so, im Dunkeln und im Schweigen, jene eigenartige Form von Sympathie, die sich stets unter solchen Umständen einzustellen pflegt. Die Sieger wollen den Besiegten auf die eine oder die andere Art ihre Großmut beweisen, die Besiegten akzeptieren die Gesten der Güte, um nicht überheblich zu erscheinen. Der Gefangene aß also die Schokolade, die ihm die Soldaten zugesteckt hatten, und als ich, da wir in Sicherheit waren, das Rauchen erlaubte, rauchte auch er eine ihm angebotene Zigarette. Ich ordnete einen Appell an, um mich zu vergewissern, dass keiner, verwundet oder versprengt, zurückgeblieben sei, und knipste die Taschenlampe an.

„Der ist ja von unserm Regiment!“, rief der Unteroffizier, der gerade den Verband am Arm in Ordnung brachte und zwischen mir und dem Gefangenen stand.

„Wer ist von unserm Regiment?“, fragte ich zerstreut.

„Teufel, Teufel, Teufel!“, murmelte der Korporal der vierten Gruppe.

Der Schein der Taschenlampe traf das Gesicht des Gefangenen: Verblüfft, mit geweiteten Pupillen, starrte er uns an. Die Zigarette war ihm aus dem Mund gefallen. Er trug unsere Uniform. Auf der Kappe die Nummer unseres Regiments: 399; die Aufschläge unserer Brigade und auf den Schulterklappen die Nummer der Kompanie, der neunten, die zu unserem Bataillon gehörte.

„Wie heißt du?“, fragte ich.

„Marrasi Giuseppe“, antwortete er zerknirscht.

Ich fragte nach den Namen des Kompaniechefs und des Zugsführers, und er nannte sie. Es waren die Namen meiner Bataillonskameraden.

„Wie hast du’s angestellt, dass du so mitten unter uns geraten bist?“

„Ich habe mich verirrt!“

„Hat also die neunte Kompanie auf uns geschossen?“

„Jawohl, Herr Oberleutnant.“

Nach dem Appell setzten wir unseren Weg fort, diesmal über die Landstraße. Der Soldat der neunten Kompanie unterhielt sich mit den Kameraden.

„Das ist dir danebengegangen, was?“

„Du meintest wohl, der Krieg wäre für dich vorbei, du Hundesohn. Gib zu, dass du ein Auge hergeben würdest, wenn wir Österreicher wären?“

Marrasi protestierte.

„Aber nein, aber nein, ich sag’ euch doch …“

„Ein solcher Saumagen. Frisst meine Schokolade wie ein richtiger Österreicher. Die wirst du mir zurückgeben!“

4

Das Bataillon lag vier Tage lang zwischen Buso und der Straße Gallio-Foza, immer in Berührung mit den feindlichen Vorhuten. Die Österreicher waren gegenüber dem Eingang zum Frenzelatal stehen geblieben und zogen nun alle Kräfte gegen den Monte Fior zusammen. Zu dessen Verteidigung waren vorwiegend Alpinibataillone eingesetzt: das Bataillon Val Maira, das Bataillon Sieben Gemeinden, das Bataillon Bassano und andere, deren Namen mir entfallen sind. Es waren durchwegs Bataillone, deren Angehörige aus dem oberen Veneto stammten. Sie kämpften also zu Hause. Außerdem standen da ein Infanterieregiment und ein paar zugeteilte Bataillone. Auch das erste und das zweite Bataillon unseres Regiments waren eiligst an die Kampflinie geworfen worden. Mein Bataillon stieg als letztes auf, nachdem es von anderen Einheiten, die durch das Frenzelatal nachgerückt waren, abgelöst worden war. Der Bataillonsadjutant war schwer verwundet worden. Ich hatte bis dahin die zehnte Kompanie geführt und wurde nun zum Bataillonsadjutanten ernannt.

Bald nach Mitternacht brachen wir von Foza auf. Der Brigadekommandant verabschiedete sich persönlich von uns. In ein paar Tagen wollte er uns oben wieder treffen. Einer seiner Söhne kämpfte in einem Alpinibataillon.

Wir stiegen auf, in Schützenreihe, über einen holprigen, steinigen Steig. Der Kampflärm um den Monte Fior drang nicht bis zu uns. Der Wind trug ihn nach links, gegen das Assatal hin. In der Stille der Nacht hörte man nichts als unsere Schritte und den metallischen Schlag der Stahlspitzen unserer Bergstöcke. Hin und wieder huschte der milchige Lichtschein einer Leuchtkugel über uns hinweg. Von der anderen Seite, zur Rechten, von den Hängen des Monte Tonderecar, drang das ferne Geheul der Füchse herüber, ein heiseres Winseln, das wie bösartiges Gelächter klang.

Der gewundene Steig führte auf die Lora-Alm, eine kleine, baumlose aber grasreiche Mulde, die sich unter den Gipfeln des Monte Fior auftat. Den oberen Rand der Mulde bildeten die Kämme des Monte Fior, die gegen den Monte Tonderecar hin abfielen. Die Spitze des Bataillons erreichte die Höhe im ersten Morgengrauen, als eben eine Kolonne mit Verwundeten den Abstieg begann; sie waren auf der Alm versorgt und auf Bahren gelegt worden. Die Mulde öffnete sich vor uns in saftigem Grün: eine friedliche Oase, da und dort, zwischen Gesträuch und Gestein, noch ein paar Schneeflecken. Der Major wollte das Bataillon, das allmählich aufschloss, wieder sammeln und neu gliedern.

Das Gewehrfeuer war nun deutlich zu vernehmen. Der Gipfel des Monte Fior war nur ein paar hundert Meter von uns entfernt, wir konnten ihn jedoch, da wir zu nahe am Hang waren, nicht sehen. Es fielen nur vereinzelt Schüsse. Der Major hatte eine große Landkarte auf dem Boden ausgebreitet, und rauchend studierte er sie. Plötzlich begannen zwei Maschinengewehre von der Höhe her auf uns zu schießen. Der Major ließ die Karte liegen und stürzte an die Spitze des Bataillons, um es in gedecktes Gelände zurückzuführen. Im Nu zerstreuten wir uns und verschwanden hinter den Felsen.