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Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek 

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ISBN: 978-3-95894-068-0


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„Visuelle Pornographie zeigt eine für das Auge des Betrachters arrangierte und inszenierte Sexualität. Der Betrachter ist in der Inszenierung anwesend, sofern diese mit Blick auf seinen Blick erfolgt“

(Sven Lewandowski, Internetpornographie, 2003 – im Jahr der „Blicke“)



„Als sie das Theater erreicht und sich einen Platz erobert hatten, fieberte schon alles in wilder Lust. Alypius schloss die Pforten seiner Augen und verbot seinem Geiste, sich an die sündhaften Gräuel hinzugeben. Hätte er sich doch auch die Ohren verstopft! Denn als bei einem Zwischenfall im Kampfe das unbändige Geschrei der ganzen Menge auf ihn einbrauste, öffnete er die Augen, von der Neugier überwältigt, und als wäre er gerüstet, auch aus dem Anblick sich nichts zu machen, sei es was immer, und Herr über sich zu bleiben. Da ward er an der Seele mit schwererer Wunde geschlagen, als am Leib der andere. Denn kaum sah er das Blut, trank er auch schon wilde Grausamkeit in sich hinein, und er sah nicht weg, sondern fest dahin und trank die wilde Wut und wusste es nicht und lechzte sich an der Untat dieses Kampfes und berauschte sich in blutsüchtiger Wollust. Nein, er war nicht mehr derselbe, der gekommen war, sondern einer aus dem Haufen, in den er sich gemischt hatte, und der echte Genosse derer, die ihn hergeschleppt hatten. Brauch ich mehr zu sagen? Er schaute, schrie, flammte, er nahm von dort den Wahnsinn mit, der ihn stachelte, immer wiederzukommen.“ 

(Aurelius Augustinus, Confessiones)



„Das Antlitz ist Bedeutung, und zwar Bedeutung ohne Kontext ... Normalerweise ist man eine ‚Person‘: Man ist Professor an der Sorbonne, Vize-Präsident im Staatsrat, Sohn eines Soundso, alles das, was im Pass vermerkt ist, die Art, sich zu kleiden, sich zu präsentieren. Und jede Bedeutung, im üblichen Sinn des Begriffs, bezieht sich auf einen derartigen Kontext: Der Sinn einer Sache beruht in ihrer Beziehung zu etwas Anderem. Hier hingegen ist das Antlitz für sich allein Sinn. Du, das bist du ... Es ist das, was nicht ein Inhalt werden kann, den unser Denken umfassen könnte; es ist das Unenthaltbare, es führt uns darüber hinaus ... Die Beziehung zum Antlitz ist von vornherein ethischer Art. Das Antlitz ist das, was man nicht töten kann oder dessen Sinn zumindest darin besteht, zu sagen: ‚Du darfst nicht töten.‘“

(Emmanuel Levinas, Ethik und Unendlichkeit)

1


Otto vergewisserte sich, dass alle Kameras liefen. Die Spotlights verbreiteten eine enorme Hitze. Es war wichtig, dass alles genau ausgeleuchtet wurde. Er schwitzte. Zog sich den Pulli und die Hose aus. Hinter ihm die Männer an den Kameras und an den Leuchten machten blöde Witze. Die Schnapsflasche kreiste. Es wurde für seinen Geschmack zu viel geraucht.

Die junge Frau vor ihm war mit beiden Armen nach oben an die Heizungsrohre gefesselt. Ihre Beine waren seitlich an den Stuhlbeinen festgebunden. Sie war hübsch, auf die Weise der blonden sportlichen wohlhabenden jungen Frauen. Durchtrainiert und zugleich viel weiches Fleisch an den richtigen Stellen. Sexy. Deshalb war sie ausgesucht worden. Irgendwer aus der Maske hatte dick Lippenstift aufgetragen. Der Lippenstift verlief und war über die Ränder des Mundes hinaus verschmiert. Die langen Haare hingen ihr wirr in die Stirn. Eine der Kameras wurde nahe an ihr Gesicht herangefahren. Otto schlug sie brutal auf den Mund. Die Lippe platzte an einer Stelle auf und blutete etwas. Die Kamera wurde langsam in die Position der Totalen zurückgefahren. Die Frau schluchzte und zog ihren Schnodder hoch. Sie zerrte an ihren Handfesseln. Die locker geknüpfte Bluse ließ einen Blick aufs Dekolletee frei. Die Netzstrumpfhose über ihren langen Beinen war an mehreren Stellen gerissen. Die weiße Haut schimmerte durch. 

Otto spürte seine Erektion. Er trat blitzschnell auf den Stuhl zu und riss ihr die Bluse von oben an auf. Die Frau trug keinen Büstenhalter. Ihre großen festen Titten entfalteten sich. Otto ließ sich von der Maske den Lippenstift geben und malte ihren Brustwarzen einen Hof. Dann nahm er das Messer und schnitt über ihrer Scham ein großzügiges Loch in die Strumpfhose. Sie hatte kein Höschen an. Die Möse war unrasiert. Otto stellte sich neben den Stuhl und masturbierte die Frau, bis er an seinen Fingern spürte, dass sie feucht wurde und ihre Fotze sich öffnete. Er rieb sie weiter und ließ seinen Mittelfinger weit in ihr Loch eindringen. Dann massierte er konzentriert ihre Klitoris. Die Frau atmete schnell und stoßweise. 

Die Männer hinter den Kameras feixten. Sie zoomten auf ihr Gesicht, die Brüste und den Schambereich. Eine vierte Kamera blieb in der Totalen. Die Frau krümmte sich und kam schluchzend zum Orgasmus. 

Otto nahm die Peitsche vom Beistelltisch und schlug sie jetzt konzentriert auf die Brüste, vor allem auf die Brustwarzen. Lange rote Striemen bildeten sich auf dem zarten Fleisch. Die Frau wimmerte bei jedem Schlag auf. Jetzt nahm er einen Stock und schlug sie auf die Innenseite der Oberschenkel. Als er sie mit voller Wucht in die Scham schlug, wurde sie ohnmächtig. Otto nahm den Wassereimer und kippte ihr das eiskalte Wasser über den Kopf. Die Frau prustete, versuchte Luft zu bekommen. Otto baute sich vor ihr auf. Er packte ihren Schopf und zog ihren Kopf nach hinten. Mit der anderen Hand schlug sie hart auf den Mund, immer wieder. Ihre Lippen bluteten jetzt heftig. Als sie jammernd protestierte, beugte er sich zu ihr und sagte ihr leise, aber klar genug für die Mikrofone ins Ohr: „Bald stirbst du. Freust du dich?“ 


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Das Einzige, was Irene hören konnte, war das unregelmäßige Geräusch des Dieselmotors. Die Kisten mit Fisch, Spinat und Rindfleisch, die sich hinter ihrem Kopf stapelten, schwankten in jeder Kurve. Offenbar eine kleine Seitenstraße. Wie lange waren sie jetzt schon unterwegs? 

Sie stöhnte und veränderte ihre Lage. Die Druckschmerzen vom langen Liegen waren kaum auszuhalten. Alles tat ihr weh. Die Stellen an Hand- und Fußgelenken, an denen die Riemen ihr die Haut aufscheuerten. Der Rücken. Der Po. Diese Fahrt war endlos. Aber die heftigsten Schmerzen waren im Kopf. Sie vertrug den schlechten Whiskey nicht mehr, den sie ihr einflößten. Irgendwann wurde gehalten. Meistens nachts oder spätabends, auf jeden Fall im Dunkeln. Sie konnte die Umgebung nicht erkennen. Es ähnelte sich immer wieder. Karge Räume mit Stühlen oder Betten. Grelles Licht der Scheinwerfer und Kameras. Sie wurde vor jeder Prozedur festgebunden. Entweder an ein Gitter über dem Kopfende des Bettes oder mit den Unterschenkeln an den Stuhlbeinen. Immer so, dass sie ihre Scham nicht schützen konnte. Wenn sie sich zur Wehr setzte, nahmen sie den Trichter. Sie gossen so lange Whiskey in sie hinein, bis sie keine Luft mehr bekam. Was dann folgte, nahm sie wie durch einen Schleier wahr. Sie war zu betrunken, um sich an Einzelheiten zu erinnern. Vielleicht war das ihre Chance. Vielleicht war sie deshalb noch am Leben und nicht schon vollkommen verrückt. Keine Erinnerung an einzelne Szenen. Nur das grelle Licht für die Aufnahmen, die laufenden Kameras, das Bewusstsein, dass sie jetzt wieder nackt war und sich nicht wehren konnte. Sie spürte die Schmerzen in ihrem Unterleib und musste weinen. Der Wagen bremste scharf ab und kam zum Stehen.


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Oliver hatte die Redaktion erreicht. Er warf die halbangerauchte Zigarette weg. Auf dem Schreibtisch fand er einen Zettel von Frau Mennicke, der Sekretärin von Mahnke: Mahnke will Sie sehen. Und wo bleibt Ihr Beitrag über Ohlsdorf?

Mahnke rannte hektisch in seinem Büro umher. Die Ringe unter den Augen waren schwarz. „Setzen Sie sich, Herr Kienbaum.“ 

Herr Kienbaum hatte er gesagt. Es musste ernst sein.

„Krebs hatte gestern Nacht Koliken. Krankenhaus. Nierensteine. Fällt wochenlang aus. Sehen Sie, was hier los ist?“

Oliver wartete. Krebs hielt Kontakt zu Justiz und Polizei. Schrieb Berichte über publikumswirksame Prozesse der Stadt. Drogendealer, Entführer, aus Eifersucht mordende Ehefrauen, kleine Leuchten im Gewebe des organisierten Verbrechens, Kiezgrößen. Oliver hatte diese Beiträge schon gern gelesen, als er noch nicht zur Lokalredaktion des Hamburger Kuriers gehörte. Manchmal reißerisch, manchmal schwülstig, wenn es um das verkorkste Lebensschicksal von Kriminellen ging. Immer präzise recherchiert und mit Drive geschrieben. Krebs war immer präsent. Er wollte schneller sein als die Kollegen von der Konkurrenz. Hatte jede Menge Beziehungen zu Polizisten, vielleicht auch einige zu Größen von der dunklen Seite der Macht. 

„Tut mir leid, Kienbaum, Sie müssen ran. Wir haben jede Menge Ausfälle wegen der Grippewelle“. Oliver überlegte kurz. Er hatte in Krebs’ Arbeitsbereich keinerlei Erfahrung. Aber es war ihm nicht unrecht. Er brauchte die Ablenkung. Er hatte den Schreibtisch in der Redaktion gerade erst wieder bezogen. Mehr Arbeit, als er schaffen konnte, nicht nur wegen der Grippewelle. In der Redaktion brannte die Luft. Wolfgang Krebs krank – für das Betriebsklima eher ein Segen. Aber jetzt fehlte die Hälfte der Lokalredaktion.

„Ich weiß, das ist jetzt eine Überforderung. Ich sehe keine andere Möglichkeit. Sie übernehmen den Aufgabenbereich von Krebs. Zusätzlich. Solange er krank ist.“

Mahnke machte eine Pause. „Bitte.“

Oliver hatte keine Chance, in Ruhe seine Gedanken zu ordnen. Es ging auch gar nicht um die Frage, ob er sich schon in der Lage fühlte. Mahnke redete sofort weiter. „Vor sechs Stunden kam die Information rein beim Nachtdienst. Exklusiv für den Hamburger Kurier. Eine Mail ohne rekonstruierbaren Absender. Eine große Nummer ist ermordet worden. Okay, Kienbaum. Ich habe nicht vergessen, was in den letzten Wochen mit Ihnen los war. Ich würde Ihnen gerne Zeit gönnen. Aber es geht einfach nicht.“

Mahnke überlegte eine Weile. Er setzte sich endlich hin. Oliver hatte für einen Moment den Eindruck, dass er jetzt auch etwas sagen sollte. Mahnke redete schon weiter.

„Sie haben im Bereich Polizei und Justiz keine Erfahrung. Weiß ich, weiß ich. Herr Krebs hat Kenntnisse, Kontakte, Routine. Alles, was Sie nicht haben. Ist Ihre Feuertaufe, klar? Sie haben schon Interviews gemacht mit lokalpolitischen Größen. Sie haben Ahnung von Politik. Das hier ist was Anderes. Trotzdem. Ich traue Ihnen das zu. Sie können schnell arbeiten. Sie schreiben gut. Ich verlasse mich auf Sie. Sehen Sie zu, was Sie rauskriegen. Ich will Ihren Beitrag heute Nachmittag bei mir auf dem Schreibtisch.“

Mahnke wurde förmlich. Er stand auf. Oliver sah keine Möglichkeit, als sich ebenfalls zu erheben. Mahnke suchte mit müden Augen seinen Blick. „Alles Gute!“

Oliver ging zu seinem Schreibtisch. Die Blicke der Kollegen folgten ihm. In der Lokalredaktion hatte keiner ein eigenes Arbeitszimmer. Bis auf Mahnke. Keine Chance für Intimität. Oliver fand das nicht schlecht. Die Atmosphäre schreibender Kollegen war ansteckend. 

Oliver machte sich ein paar Notizen. Er horchte auf seinen Puls. Er war aufgeregt. Die Müdigkeit der letzten Nacht war wie weggeblasen. Er brauchte einen Plan. Als Erstes die Kollegin von der Nachtschicht. Er beschloss, den weiteren Schlachtplan davon abhängig zu machen, was er hier erfuhr.

Er würde jedenfalls den vorhin angefangenen Beitrag fertigstellen. Die Geschichte mit den Engeln. Interessanter, als er gedacht hatte. Sein Gesprächspartner von der Presseabteilung des Ohlsdorfer Friedhofs hatte mal Geschichte studiert. Der größten Friedhof Europas, wie er versicherte. Oliver hatte repräsentative Grabanlagen aus der Gründerzeit zu sehen bekommen. Mit und ohne Engel. Attraktive Frauengestalten aus den Sechziger-Jahren. Ein Sammelgrabstein von jungen Leuten, die an Aids gestorben waren. Am besten fand er die Engel. Ende des 19. Jahrhunderts durch Galvanisierungstechnik mit einer dünnen Bronzeschicht überzogen. Es gab fabrikmäßig vorgefertigte Figuren unterschiedlicher Preisklassen. Die Gesichtszüge, der zarte Schwung der Halspartie, die sanfte Geste der Hand eines dieser Engel hatte Oliver angerührt. In den Sechzigerjahren hatte die Friedhofsverwaltung hunderte von diesen Engeln aus dem Verkehr gezogen. Die Sechzigerjahre. Zeit des Modernisierungskahlschlags, nicht nur hier. Oliver machte sich auf dem Weg zur Kollegin aus der Nachtschicht innerlich ein paar Notizen.

Er klopfte vorsichtig. Frau Brüllsahm liebte es nicht, gestört zu werden. 

Melinda Brüllsahm war eine sehr spezielle Kollegin. Sie war bald fünfundsechzig, füllig, mit tiefblau geschminkten Wimpern und hochgetürmten platinblonden Haaren. Sie arbeitete gern allein. Der Grund war eine nicht enden wollende Konfliktgeschichte mit nahezu allen Kollegen. Melinda Brüllsahm hatte gern die Kontrolle über alles, was passierte. Genauer: Sie war herrschsüchtig. Sie arbeitete ausschließlich nachts. Das hatte bestimmt auch mit ihren persönlichen Lebensumständen zu tun. Darüber gab es in der Redaktion Gerüchte. Aber niemand hatte so guten Kontakt zu ihr, dass Genaueres zu erfahren war. Der eigentliche Grund für ihre Liebe zu den Nachtschichten war, dass es für alle Beteiligten so erträglicher war. 

Melinda Brüllsahm war anstrengend. Und sie war kompetent. Sie hatte einen klaren Blick fürs Wichtige. „Die Mail kam gegen fünf Uhr morgens rein. Genau um vier Uhr zweiundfünfzig. Sie kam nicht von der Polizei.“ 

„Aha. Seltsam.“ Oliver setzte sich auf den Stuhl schräg vor dem Schreibtisch. Melinda Brüllsahm brauchte den Schreibtisch zwischen sich und ihren Gesprächspartnern. Ihr Schreibtischstuhl war hochgedreht. Sie mochte es nicht, zu jemandem aufzusehen. 

„Ja, schon. Die Polizei würde eher anrufen. Die laden aber zu einer Pressekonferenz. Und erst dann, wenn sie mit den Ermittlungen so weit sind, dass sie gut dastehen. Nein. Die Mail hatte einige Grammatikfehler. Niemand mit Muttersprache Deutsch.“

Oliver überlegte. „Irgendwas, was auf Täterschaft hindeutet?“

„Schwer zu sagen. ‘In Simon-von-Utrecht-Straße liegt Leiche‘. Kommen und fotografieren, dann sind Sie erste.‘ Ich habe bei der Mordkommission in der Davidwache angerufen. Sie hatten die Information schon. Es kann genauso gut eine Frau vom Reinigungspersonal sein, die beim Putzen auf etwas gestoßen ist, was sie nicht wegwischen konnte.“

Komische Geschichte. Welches Interesse sollte eine Putzhilfe haben, eine Zeitungsredaktion über eine Leiche zu informieren? 

Simon-von-Utrecht-Straße parallel zur Reeperbahn war eine Durchgangstraße. Ein paar Bars, früher mal ein jüdisches Krankenhaus, das die Nazis zerstört hatten. Wenig Betrieb. Der Straßenstrich war auf den Steindamm umgezogen. „Reeperbahn, wenn ich dich heute so anseh’ ...“. Udo Lindenbergs Song zur Melodie von „Penny Lane“ hatte schon vor Jahren melancholisch den Niedergang des Kiezes besungen. Udo war anfallsweise ziemlich klarsichtig, was das dominierende Lebensgefühl in seiner Stadt Hamburg angeht. „Das Leben ist sahnig, die Leute sind tranig.“ 

Melinda Brüllsahm konnte nicht leiden, wenn ihre Gesprächspartner unkonzentriert waren. „Sie klauen mir die Zeit, junger Mann. Brauchen Sie noch was?“ Oliver versuchte beflissen, die Stimmung zu retten. „Ich fang gerade erst an, Frau Brüllsahm. Haben Sie noch etwas bemerkt? Ich brauch Ihre Hilfe.“

Melinda Brüllsahm war leicht umzustimmen. “Wollen Sie nicht wissen, um wen es sich handelt?“

„Wieso, wissen Sie das schon?“

„Ich habe die Kollegin von der Davidwache auf ihren klaren Menschenverstand angesprochen. Wir kriegen die Information ja sowieso. Für heute Abend haben sie eine Pressekonferenz angesetzt. Ich habe ihr versprechen müssen, dass der Hamburger Kurier bis dahin die Sperrfrist einhält. Es ist eine Bombe. Heiner Dressel heißt der Mann.“

Melinda Brüllsahm war sichtlich enttäuscht, als sie in Oliver‘ Gesicht weder Unverständnis noch Verwirrung entdecken konnte. „Kennen Sie den etwa?“

„Kennen wäre zu viel gesagt. Ich musste mal über ihn schreiben.“

Das war tatsächlich eine Nachricht.


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Heute wurde sie im Stehen angebunden. Die Seile hingen von der Decke, die Arme wurden nach oben auseinandergezogen, so dass die Brüste nach vorn herausstanden. Die Beine gespreizt. Sie hing schon ein paar Stunden so. Otto hatte sie vorbereitet. Er hatte ihr den Schnaps eingefüllt und diesmal jede Menge Wasser. Die Kameras sollten einfangen, wenn sie sich einnässte. Er hatte sie bis auf die Strapse ausgezogen und sie eine Weile lustlos mit dem Elektroschocker an ihrer Scham und an den Brustwarzen gefoltert. Dann hatte er sie systematisch ausgepeitscht. Ihr Körper war überall mit roten Striemen übersät. Besonders an den Innenseiten der Oberschenkel und an den Brüsten. Es bereitete ihm aber keine richtige Lust. Die Kameraleute waren auch entnervt. Die Frau war nicht sexuell erregt. Sie weinte die ganze Zeit. 

Otto hängte ihr jetzt die kleinen Gewichte ein. Erst in die Brustwarzen. Die Brüste wurden von dem Gewicht nach unten gezogen. Dann in die Schamlippen. Die Kameras waren nah dran. Die Schamlippen wurden runtergezogen und gedehnt, fast wie kleine Lappen. Die Frau weinte. Sie schrie nicht. Sie keuchte nicht. Sie war apathisch, sonst nichts. Als Otto sie zwischen ihren Schamlippen anfasste und ihre Klitoris erregen wollte, pisste sie ihm auf die Finger. Er konnte seine Hand gerade noch wegziehen, sonst wäre ihm die Pisse in den Ärmel gelaufen. Er schlug sie hart ins Gesicht. 

So ging das nicht. „Aus“! Die Kameras wurden zurückgefahren, die Spotlights gelöscht. Sofort glimmten an vielen Stellen des Raums die Feuerzeuge auf. Auch das noch. Musste das sein? Er hatte keine Lust, den Qualm zu ertragen. Aber er konnte nicht durchsetzen, dass die Crew während der Dreharbeiten das Rauchen einstellte. Vielleicht sollte er ein paar von den Leuten rausschmeißen. Aber die Männer wussten zu viel. 

Sie würden diese Frau eine Weile aus dem Programm nehmen müssen. Sie musste aufgepäppelt werden. Sie musste erregend aussehen und vor allem: Sie musste erregbar sein. Sie musste gegen ihren Willen erregt werden durch das, was er mit ihr machte. Sonst würden die Videos nichts einbringen. Erst recht nicht der finale Akt. Sie zu töten konnte nur dann den Geldfluss hochschrauben, wenn ihr Körper schön war in dem Moment, in dem er zerstört wurde. Die Kunden wollten eine Frau auf dem Höhepunkt ihrer Lust sehen, wenn er sie umbrachte. Und er selbst wollte schließlich auch was davon haben.  


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Wieder wusste Irene nicht, wo sie war. Was sollten diese ständigen Ortswechsel? Vor zwei Wochen hatte ihr eine Frau zu Essen gebracht, die Tschechisch gesprochen hatte. Wie lange war der Zusammenbruch des realen Sozialismus jetzt her? Knapp fünfzehn Jahre? Sie war zehn Jahre alt gewesen, als sie wieder nach Deutschland zurückkamen. Ihr Vater wollte die Chancen nicht verpassen, die sich mit dem Fall der Grenzen eröffneten. Jetzt war sie fünfundzwanzig. Kaum zu glauben, wenn sie jetzt an ihrem geschundenen Körper herabsah. Jetzt waren wieder deutsche Laute zu hören. Irene träumte heftig. Bilder aus ihrer Kindheit. Sie blieben manchmal auch tagsüber lebendig, dunkel und undeutlich. Das freundliche Gesicht des schwarzen Kindermädchens. Gelbes Gras, soweit das Auge reichte. Die Kudus. Die Trappen. Die Springböcke. Und dann dieser große endlose furchtbare Schmerz. Der Schwarze Tag. Der ganze Körper war nur noch Schmerz gewesen. Der Schmerz hatte alle anderen Erinnerungsbilder gelöscht. Danach hatte sie ihren Körper nicht mehr gespürt. Wie bei einer Nahtoderfahrung. Als hätte sie ihren Körper verlassen und würde irgendwie über ihm schweben und auf ihn heruntersehen. Und es war gar nicht mehr ihr Körper, dem das alles angetan wurde. 

Das lag weit zurück.

Und jetzt dieser Schock. Wie lange war das her? Vier Wochen? Wie immer hatte sie an der Raststätte „Harburger Berge“ angehalten. Blöder Tick, zugegeben. Sie kam an dieser Raststätte nicht vorbei, ohne sich einen Kaffee zu holen. Sie fuhr diese Strecke jede Woche. Von Lüneburg nach Hamburg und zurück. Der Ablauf war immer derselbe. Eine willkommene Unterbrechung, ehe die Stadt sie verschluckte. Die Leute hinter der Theke kannten sie und begrüßten sie freundlich. Seit ein paar Tagen war da dieses undeutliche Gefühl gewesen: Ich werde beobachtet. Ein grauer VW-Transporter gegenüber, ohne Fenster im Ladebereich. Wurden ihre Bewegungen verfolgt? 

Was für ein Blödsinn. Wurde sie schon wie ihre hypochondrische Mutter, die jede Krankheit bekam? Trotzdem musste sie an diesen Film denken. Da war Sandra Bullock von einem Irren lebendig begraben worden. Das Grauen hatte mit einer Ätherattacke auf einer Raststätte angefangen. 

Ja, das musste jetzt vier Wochen her sein. Die Nacht vorher war lang geworden. Im „Fass“, ihrer Lieblingskneipe in Lüneburg. Am nächsten Morgen war sie übermüdet losgefahren. Der Kaffee in der Raststätte hatte sie nicht wachgekriegt. Sie musste sich nochmal kurz ins Auto setzten. Nur ein paar Augenblicke die Augen zumachen. Da musste sie eingeschlafen sein. Ein paar Minuten vielleicht. Zu müde, die Autotüren von innen zu verriegeln. Das machte sie sonst eigentlich immer. Der Schlaf musste sie regelrecht überfallen haben. 

Sie war hilflos, als plötzlich die Tür aufgerissen wurde. Starr vor Schreck. Der ekelhafte Geruch des Äthers in dem Taschentuch, das ihr die Luft nahm. 

Sie krümmte sich zitternd zusammen. Draußen musste es wieder dunkel sein. Es wurde kühl. Aber es war nicht nur die Kälte draußen. Sie konnte nicht mehr. Nicht mehr lange. Sie spürte, wie sie abmagerte und verdreckte nach all den grausamen Minuten, Stunden, den Tagen und Wochen. Zuerst der Schock. Dann die unendliche Langsamkeit der Zeit in den ersten Tagen. Die immer wiederkehrenden Erniedrigungen und Quälereien, die grausame Routine. Wanderte sie wieder aus ihrem Körper aus? Sie wollte nicht. Sie wollte leben. Es war ihr grausamer Alltag. Wenn die Peiniger die Scheinwerfer aufrissen und ihr den Schnaps reingossen und die Kameras anlaufen ließen. Manchmal spürte sie nur noch Schmerz. Sie erkannte ihren Körper nicht mehr. Wenn sie sich über die mageren Schenkel und die schlaff werdenden Brüste strich, die überall von dem gezeichnet waren, was ihr angetan wurde. Ihr Körper hatte keine Kraft mehr. Sie wusste, was ihre Peiniger tun würden, wenn ihre Attraktivität erloschen war. Wenn sie ihr Internetpublikum ein letztes und endgültiges Mal aufgeilen würden. Sie spürte die Panik in sich aufsteigen. Und Trotz. Ein gutes Gefühl. Nein. Sie würde hier rauskommen. Lebend. Sie würde kooperieren. Sie würde wieder essen und trinken. Vor der Kamera mitspielen. Es würde ihr was einfallen. Sie würde hier nicht sterben. Und wenn, würde sie so viele von diesen Monstern mitnehmen wie möglich.


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Oliver erinnerte sich dunkel an den Beitrag, den er etwa vor einem halben Jahr über Dressel abgeliefert hatte. Es kam ihm unendlich lange her vor. Die Zeit vor dem Unfall, die Zeit ohne Träume und ohne Augen, die ihn verfolgten. Dressel war eine Größe im Milieu. Immobilienbaron vom Kiez, Investor, Betreiber des „Ekstase“, eine Art Eroscenter für gehobene Ansprüche. Dressel hatte die Sanierung ganzer Straßenzüge vorangetrieben. Er war allein auf St. Pauli Eigentümer von etwa 25 Immobilien im geschätzten Wert von mehreren hundert Millionen Euro. Der Sohn eines Klempnermeisters aus Sachsen hatte große Pläne. Auf einem brachliegenden Grundstück mit Elbblick wollte Dressel eine Rockarena mit 6000 Sitzen bauen.

Oliver schwang sich aufs Fahrrad und fuhr in die Simon-von-Utrecht-Straße. Das Gebäude Nummer 412 war ein fünfstöckiger Altbau, frisch renoviert, Jugendstil, Türmchen und Erker und jede Menge Stuckfassade. Nicht protzig. Stilvoll renoviert. Oliver sah sofort die rot-weißen Plastikbänder, mit denen der Zugang versperrt war. Er ignorierte die Absperrung. Er ging zum Hauseingang und wurde prompt von einem Uniformierten abgefangen. Der Mann ließ sich auf nichts ein. Auch nicht, als Oliver ihm seinen Presseausweis vor die Nase hielt. 

„Kommen Sie heute Abend zur Pressekonferenz. Hier kommen Sie nicht durch. Die Spurensicherung ist noch drin.“ 

„Es gibt ein berechtigtes Interesse der Öffentlichkeit.“ 

„Gehen sie bitte weiter.“ Der Polizist kam langsam auf ihn zu. 

Hier war nichts zu machen. Oliver kehrte auf dem Absatz um. Er nutzte den Weg auf dem Fahrrad, um ein paar Zigaretten zu rauchen. 

Wieder im Büro, versuchte Oliver Kollege Krebs im Krankenhaus anzurufen. „Herr Krebs ist noch nicht aus der Narkose erwacht. Sie können ihn frühestens morgen sprechen.“ 

Keine Chance. An Krebs’ Kontakte würde er so schnell nicht rankommen. 

Oliver holte sich eine Tasse Kaffee. Er versuchte sich genauer an das Interview mit Dressel zu erinnern. Immobilien, Bankverbindlichkeiten in zweistelliger Millionenhöhe, konzentriertes Interesse am Kiez. Und dann diese Bauprojekte, geplant oder schon realisiert. Die Sanierung ganzer Regionen in St. Pauli. Der Mann hatte sich im Interview als verdienstvoller Mitbürger inszeniert. Leichter Hauch von Sexgeschäft, das auch. Aber alles von der gehobenen Sorte. Ein Ehrenmann. Da war viel Geld im Spiel. Man konnte mit konkurrierenden Interessen rechnen. Vielleicht auch mit ausgemachten Feindschaften. Und jetzt war er ermordet worden. Möglicherweise eine ziemlich langweilige Geschichte: Mord aus geschäftlichen Gründen. Oliver notierte innerlich: mafiöse Verbindungen? Hinweise auf organisierte Kriminalität? Blöd, dass er nicht mit Wolfgang Krebs sprechen konnte. Den Beitrag bis heute Nachmittag fertig zu bekommen, war aussichtslos. Außerdem war die Pressekonferenz der Polizei erst für 18.00 Uhr angesetzt.

Oliver rief kurz bei Mahnke durch und schilderte ihm die Lage. Mahnke war verhandlungsbereit, wollte den Beitrag aber unbedingt bis 21.00 Uhr. Oliver sagte zu. Er machte sich daran, die Informationen zusammenzuschreiben, die er auch ohne Pressekonferenz zur Verfügung hatte.

Noch ein Kaffee. Er trank zu viel Kaffee. Das Bombardement aus Nikotin und Koffein machte seinem Kreislauf zu schaffen. Er beschloss, erst mal Mittagspause zu machen. Er verließ die Redaktion. Er hatte keine Lust, in der Innenstadt nach einem gemütlichen Plätzchen zu suchen. Dabei würde die ganze Mittagspause draufgehen. Beim Griechen gab es einen guten Mittagstisch, preiswert und schnell. Den Ouzo könnte er sich mittags ja sparen. Er musste sowieso ins Viertel zurück. So konnte er in der Wohnung vorbeizugucken. Vielleicht würde er in seinem „Archiv“ seinen Beitrag zu Dressel wiederfinden. Das Archiv, sein Arbeitsplatz. Besser: was davon übrig war. Oliver erzählte manchmal, er sei ein Messie. Das war fast immer ein Lacherfolg. Ihm war nicht nach Lachen zumute. Seit dem Unfall war sein Leben aus den Fugen. 

In zentralen Zonen war das Archiv noch übersichtlich. Analysen und Kommentare zur nationalen und internationalen Politik. Vor allem zur Lage im südlichen Afrika. Eine fast vollständige Übersicht über Erfolg und Niedergang der Revolution in Nicaragua. In den peripheren Bereichen des „Archivs“ herrschte bloß noch Chaos. Die Ordnungssysteme hatten sich aufgelöst. Er hatte alles abgeladen, was er nicht mehr brauchte. Berge von Zeit, Spiegel und Süddeutscher Zeitung. Dazwischen Asterix- und Mickymaus-Hefte, angelesene Bücher, Filmkritiken, vor allem Kritiken von Jazzkonzerten, Flyer aus Kinos und Kommentare zur Notwendigkeit einer nachhaltigen Ökonomie, Kataloge wie „Es gibt sie noch, die guten Dinge“. Er hatte den Überblick verloren. Er wollte nichts wegwerfen. Er konnte sich nicht trennen. Das war schon vorher sein Problem gewesen.

Oliver wollte nicht daran denken. Er schwang sich aufs Fahrrad. Er genoss es, wie ihm auf dem Weg an der Binnenalster der Wind durch die Haare fuhr.


2


Sie hatten in der Crew diskutiert und sich das Okay vom Boss geholt. Der Boss weilte mal wieder in Namibia. Seiner eigentlichen Heimat. Sie würden in diesem Fall vom normalen Verfahren abweichen. Die Rückmeldungen der Kunden waren eindeutig. Sie standen auf dieses Girl. Sie wollten Mona noch länger sehen. Es hatte nach der letzten Sendung einiges an Protesten gehagelt. Es ist nicht anregend, einer weinenden verstörten Frau zuzusehen, die auf jeden Reiz und jede Qual nur noch apathisch reagierte.

Sie brachten Mona in einem schicken Appartement unter. Küche und Dusche in der Wohneinheit. Kleines Schwimmbad im Haus. Das Anwesen lag an der Flensburger Förde. Weit und breit kein weiteres Gehöft, erst recht kein Dorf. Otto teilte die Crew auf. Der Gebäudekomplex war als Doppelhaus angelegt, Schwimmbad in der Mitte im Keller. Ein Teil der Crew war für Monas Versorgung und Bewachung zuständig, ein anderer für dieses renitente Weibsbild. Irene. Mit der würden sie kürzeren Prozess machen. Fünf Leute waren Stand-by, wenn zwischendurch noch eine Frau geliefert wurde. Der Einfachheit halber wurden jetzt alle Frauen in diesem Gebäude festgehalten. 

Mona wurde rund um die Uhr gefilmt. In der ganzen Wohnung waren Kameras installiert, die ihre Bewegungen verfolgten. Wie sie aß und schlief, las und sich streichelte, weinte und sich mit Alk volllaufen ließ. Die Kameraleute steuerten die Geräte von einer separaten Wohneinheit aus und sorgten dafür, dass sich Close-ups und Totalen aus verschiedenen Positionen zu einem anregenden Filmerlebnis verbinden ließen. Der Lifestream wurde alle zwei Minuten von einer anderen Internetadresse aus gesendet. Der Server stand in Russland. Die Sache war so bombensicher wie sie nur sein konnte.

Für Mona wurden neue sexy Accessoires besorgt. Strapse, Büstenhalter, Wollpulli, die eng auf der Haut lagen und ihre Figur betonten. Es wurde ein Koch eingestellt, der Salate und andere Speisen bereitete, die sie sich wünschen konnte. Sie durfte auch selbst in der Küche sein. Nach und nach kam sie wieder zu Kräften. Sie schwamm jeden Tag eine Stunde. Hörte auf, ständig zu weinen. Fing an, sich zu schminken und schick anzuziehen. 

Nach ein paar Tagen wurde Rex zu ihr ins Zimmer gelassen. Rex war der junge Rüde, mit dem sie im Auto unterwegs gewesen war, als sie sie eingefangen hatten. „Hunde sind gute Seelsorger!“ Die Wirkung war frappierend. Mona tollte mit Rex in der Wohnung herum. Jeden Tag durfte sie für eine Stunde unter Bewachung nach draußen, rannte mit dem verspielten Schäferhund im Garten um die Wette, schmiss Hölzchen, die er ihr wiederbrachte. 

Die Rückmeldungen der Kunden waren vom ersten Tag an positiv. Aber so langsam musste etwas passieren. Schließlich war das kein Kuschelfunk. Fürs erste ließen sie es so laufen. Monas Behandlung war sanft. Sie hängten sie täglich für eine halbe Stunde mit weit gespreizten Armen und Beinen in die Seile von der Decke. Otto schlug sie abwechselnd mit einem Bündel aus weichen Lederriemen auf die Brüste und zwischen die Beine, masturbierte sie und bearbeitete ihre Möse und Brustwarzen mit dem Elektroschocker. Der war niedrig programmiert. Entweder war Mona eine gute Schauspielerin und wollte zeigen, dass sie mitspielte. Oder sie empfand bei ihren Behandlungen wirklich Lust. 


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Der Raum war stockdunkel. Das machten sie jetzt schon seit Tagen so. Irene konnte sich mittlerweile im Dunklen zurechtfinden. Aber jedes Mal, wenn sie die Spotlights aufrissen und mit der Quälerei anfingen, war sie so geblendet, dass sie minutenlang nichts sehen konnte. Sie hörte, wie der Schlüssel ins Schloss der Stahltür geschoben wurde und kniff die Augen zusammen. Sie versuchte, die Augen vor dem grellen Licht zu schützen. Die Folterer waren diesmal zu zweit. Sie spürte, wie ihr brutal die Kleider vom Leib gerissen wurden und wie ihr die Arme nach hinten gefesselt wurden. Sie blinzelte und konnte mittlerweile schattenhaft erkennen, dass beide Männer Schweinsmasken über ihre Gesichter gezogen hatten. Wie passend. Das waren Schweine. Nein. Schweine würden sich nicht so mitleidlos und ohne Einfühlung an ihr vergehen. Sie merkte, wie sie an den Oberschenkeln und unter den Achseln angehoben wurde. Die Männer wuchteten sie auf diesen kleinen Tisch, der so ausgelegt war, dass ihre Oberschenkel und ihr Kopf überhingen. Sie wusste, was jetzt kommen würde. Ihre Oberschenkel wurden weit auseinandergedrückt. Jetzt konnte sie klarer sehen, was passierte. Sie wusste, dass eine der Kameras immer ihr Gesicht im Fokus hatte. Die Kunden dieser Art Filme wollten sehen, was den Körpern der Frauen angetan wurde. Sie wollten sich vor allem am Schrecken, am Schmerz, an der Qual in ihren Augen ergötzen. Sie konnte den Mann zwischen ihren Schenkeln jetzt gut sehen. Ihm hing die Hose in den Kniekehlen. Er rieb seinen Schwanz, bis er steif genug war, sie zu penetrieren. Diese Typen hatten ihren Spaß daran, sie zu nehmen, wenn ihre Vagina noch ganz eng und trocken war. Jetzt war dieses Arschloch so weit. Er rieb seinen Ständer mit Gleitcreme ein und schmierte ihr davon auch etwas zwischen die Schamlippen. Als er in sie eindrang, merkte sie, wie ihr Kopf an den Haaren gepackt und nach unten gerissen wurde. Hinter ihr stand noch einer. Sie schnappte nach Luft und sperrte unwillkürlich den Mund auf. Jäh spürte sie, wie ein klobiges halb erigiertes Stück männliches Fleisch in ihren Rachen geschoben wurde. Ekel schüttelte sie. Sie würgte und hatte Schwierigkeiten, Luft zu bekommen. Im selben Moment tat ihr die Vagina höllisch weh unter den Stößen eines viel zu langen und viel zu dünnen Schwanzes, der bei jedem Stoß schmerzend gegen ihren Muttermund stieß. Irene versuchte, ihre Geistesgegenwart zurückzugewinnen. Hundertmal, tausendmal hatte sie sich ausgemalt, was sie jetzt tun würde. Sie wartete, dass der Peiniger hinter ihrem Kopf sein Stück Fleisch soweit aus ihrem Hals gezogen hatte, dass sie seine Eichel auf ihrer Zunge spüren konnte. Sie biss mit aller Kraft zu. Sie genoss das erschreckte und schmerzerfüllte Brüllen hinter sich, als sich ihr Mund schnell mit Blut füllte. Die Männer würden sie jetzt fertigmachen, das wusste sie. Das war es wert.  


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Oliver nutzte die Zeit bis zur Pressekonferenz. Er schrieb den Beitrag über den Mord an Dressel so weit, wie das ohne konkrete Informationen zum Tathergang möglich war. Er hatte seinen damaligen Beitrag über Dressel im „Archiv“ tatsächlich wiedergefunden. Er hätte einfach „copy and paste“ machen und sich weitere Arbeit sparen könnten. Wollte er aber nicht. Das war eine richtige Krankheit, seitdem mit Schreibprogrammen gearbeitet wurde. Oliver hatte diese Unart immer wieder entdeckt, in wissenschaftlichen Aufsätzen, manchmal sogar in Büchern. Die Unverfrorenheit mancher Autoren war erschütternd. Gingen sie davon aus, dass ihre Texte sowieso nicht gelesen wurden? Oliver konnte sich richtiggehend darüber aufregen. Einmal Geschriebenes sollte in Frieden ruhen.

Er sah auf die Uhr. Fast siebzehn Uhr. Er schwang sich wieder aufs Fahrrad. Er musste unbedingt auf dem Weg noch einkaufen. Oliver hetzte mit dem Einkaufswagen durch die Gänge des EDEKA-Ladens. Er packte vor allem dauerhaft haltbare Lebensmittel ein, Peperoni-Salami, Ringsalami, Honig, Marmelade, an der Käsetheke ein Stück alten Gouda und als extravagante Zugabe ein Stückchen Briekäse. Der hielt sich nicht gut, aber Oliver mochte ihn gern. Er würde ihn schon aufbekommen, ehe er schlecht wurde. 

Vergammelte Lebensmittel. Das war ein ständiger Streitpunkt mit Verena gewesen in den Phasen, in denen sie zusammen gewohnt hatten. Nachdem er wieder angefangen hatte zu arbeiten, wurde dieses Problem nicht kleiner.

Mit der bisherigen Arbeit am Beitrag zu Dressel war Oliver zufrieden. Lebensgeschichte, wirtschaftliche Aktivitäten, Dressels Rolle in der Stadt, vor allem im Kiez. Er hatte im „Archiv“ in seinem Südafrika-Ordner zufällig einen Zeitungsbericht gefunden, den er in seinem damaligen Beitrag nicht verwendet hatte. Der Zeitungsausschnitt stammte aus dem April 1982. Es war eine kleine Nachricht aus dem hinteren Lokalteil. „Hamburger Geschäftsmann macht im südlichen Afrika Karriere.“ Die Nachricht war knapp gehalten. 

„Hamburg, Hotel Atlantic. Der Hamburger Geschäftsmann Heiner Dressel feierte gestern mit einer Gala seine Berufung in den Aufsichtsrat des ICMOR-Konzerns. ICMOR, ein Mischkonzern, der auch in Hamburg einen Firmensitz unterhält, hat seine Zentrale in Südafrika. Der Konzern ist in Namibia, das von der RSA verwaltet wird, an der Förderung von Zinn und Wolfram beteiligt. Die Versammlung von Persönlichkeiten aus Handel, Politik und Kultur der Hansestadt wurde von einer Demonstration gegen die Apartheidpolitik gestört. Die Polizei sprach von 200 Demonstranten. Ein Demonstrant wurde bei dem Versuch festgenommen, in das Foyer des Hotel Atlantic vorzudringen.“

Das war interessant. Oliver kamen Bilder aus einem Urlaub in den Sinn. Damals war er in Namibia gewesen. Das musste ungefähr 1995 gewesen sein, relativ kurz nach der Unabhängigkeit und dem Sieg der Befreiungsbewegung SWAPO. Genau, im Sommer 1995. Damals war er gemeinsam mit Verena losgefahren. In besseren Zeiten. Bilder von unendlichen Weiten, von Sandpisten, von Straußen und Kudus und Elefantenherden in der Etosha-Pfanne im Norden Namibias. Oliver hatte in den achtziger Jahren Nachrichten aus Südafrika zusammengetragen, um die Antiapartheidbewegung in der Bundesrepublik mit Material zu versorgen. Ob Dressel immer noch zu ICMOR gehörte? Dressel war Immobilienhai, Kiezgröße und Softporno-Producer gewesen. Und offenbar auch Rassist. Zumindest zur Zeit der Apartheid. Er hatte nichts dagegen gehabt, damals das Regime zu stützen. Was war nach 1990 bzw. 1994 aus diesen Verbindungen geworden? Oliver wusste, dass Wendehälse ohne Ende gab, auch hier. Genauso wie nach dem Ende des real existierenden Sozialismus und der Nazizeit.


Die Pressekonferenz fand in einem Raum der Innenbehörde statt. Eigentlich ungewöhnlich. Vielleicht ein Signal, dass die Stadtregierung den Fall wichtig nahm. Das Verfahren wurde mit gehörigem Pomp der Öffentlichkeit präsentiert. Oliver nahm in einer der hinteren Stuhlreihen Platz und sah sich um. Einiges hatte sich getan seit der Zeit, bevor er aus dem Kurier ausgeschieden war. Ausgeschieden war gar kein Ausdruck. Das waren also seine Kollegen in der Stadt. Manche Gesichter waren noch vertraut. Oliver nickte der Kollegin vom Abendblatt zu. Eigentlich wollte er mit der Springerpresse nichts zu tun haben. Aber diese Kollegin war in Ordnung. 

Jetzt kam der Einzug der Gladiatoren. Oliver war sofort konzentriert. Drei Figuren traten auf. Ein stellvertretender Staatsanwalt, ein Vertreter der Innenbehörde im mittleren Dienst und als leitende Kommissarin Verena Petri. 

Oliver entging nicht, dass Verena ihn in der Menge ebenfalls erkannt hatte. Ihr Blick hatte seinen gestreift, und einen winzigen Augenblick hatte sie gezögert. Aber sie hatte sich schnell wieder unter Kontrolle. Sie breitete geschäftsmäßig ihre Akten auf dem Tisch aus und ergriff das Wort.

Die bisherigen Ermittlungsergebnisse waren, fand Oliver, teils dürftig, teils übermäßig detailliert. Er achtete auf das, was weggelassen wurde. Dressels Beziehungen zu Südafrika und Namibia wurden nicht erwähnt, sein Engagement in der Sexindustrie ausführlich dargestellt. Das war interessant. Dressel hatte in diesem Geschäft nicht nur hochkulturell akzeptierte Interessen. Neben dem „Ekstase“ galt seine Vorliebe der Organisation und flächendeckenden Ausbeute des Straßenstrichs. Auf der Reeperbahn, aber auch auf dem Steindamm.

Wieso wurden solch brisante Details der Presse mitgeteilt? Vielleicht war das ja Kalkül. Eine große Nummer aus dem Milieu war ermordet worden. Jetzt begann das Rattenrennen um Einflussbereiche. Vielleicht wollte die Polizei den Markt aufwiegeln und gleichzeitig im Auge behalten. Oliver machte sich Notizen. Er würde seine Recherchen zu verschwundenen Frauen aus dem Straßenstrichmilieu nochmal durchgehen. 

Dressel war brutal abgeschlachtet worden. Man hatte ihn mit Drahtseilen an die Heizung seines Arbeitszimmers gefesselt und ihm die Zeigefinger abgeschnitten. An den Stümpfen wurden umfangreiche Blutungen festgesellt. Das war lange vor dem Todeszeitpunkt passiert. Stunden später hatte man ihm das Geschlechtsteil und die Zunge abgeschnitten. Die Zunge lag im Aschenbecher. Der Penis wurde ihm in den Rachen gestopft. Danach oder dabei wurde er mit Draht erdrosselt. 

Oliver notierte die Informationen und kämpfte seine Übelkeit nieder. Das waren hochgradig symbolische Körperstellen. Hatte man Dressel gefoltert und umgebracht, nachdem er etwas Wichtiges preisgegeben hatte? Oder nichts? Der Mörder hatte peinlich darauf geachtet, Körperöffnungen zu zerstören, aus denen etwas herausgekommen war und herauskommen konnte. Worte, aber auch Samenflüssigkeit. Die Auswahl dieser Körperorte war eine Mitteilung. Dressel wurde als Mann zerstört. Als Mann, der penetrieren, Herrschaft ausüben und Befehle geben konnte.

Du hast einfach zu viele Blockbuster gesehen. Oliver schmunzelte. Seine Großmutter hätte gesagt: Du liest zu viele Räuberpistolen. Der Hamburger Kurier war kein Blatt für reißerische Informationen. Er würde die Interessen des Verblichenen an erotischen Fragen erwähnen, auch wo sie das Maß des kulturell Gehobenen überschritten. Die Darstellung grausamer Details würde er der Konkurrenz überlassen. Originalton Mahnke: Der Hamburger Kurier bewahrt Stilsicherheit und Geschmack für ein Publikum, das auf Distanz zur Masse Wert legt.

„Ich möchte Sie auf ein wichtiges Detail hinweisen und Sie bitten, uns in Ihrer Berichterstattung zu helfen. Der Tatort ist ein Büro. Funktionale Einrichtung – Schreibtisch, Ablagen, Computer, Sitzecke. An einer Wand steht eine Couch, die der Ermordete vermutlich zur Entspannung benutzt hat. Wir haben unter der Couch einen Gegenstand gefunden, der hier nicht hergehört. Eine Kette. Sie hat einen auffälligen, künstlerisch übrigens nicht uninteressanten Anhänger.“ Verena zeigte die Kette ins Publikum. Der Anhänger war eine Holzschnitzarbeit. Eine Marienfigur. Eine Schutzmantelmadonna. Vielleicht aus der Barockzeit. Eine schöne Arbeit. Das Amulett war nicht groß. Die Köpfe der Hilfesuchenden waren trotzdem gut erkennbar, wie sie sich unter Marias Mantel geborgen hatten. 

Fotoapparate blitzten auf. Oliver machte eine Aufnahme mit dem Smartphone. Er würde der Bitte der Polizei entsprechen und dieses Detail herausstreichen. Komisch. Eine solche Kette am Tatort zurückzulassen war komplett unprofessionell. War der Täter gestört worden? 

Verena machte ihre Sache übrigens gut. Oliver war hingerissen. Sie trug knappsitzende Jeans und hohe Stiefel. Den ausgeschnittenen schwarzen Pulli hatte er ihr mal gekauft. In besseren Zeiten. Passend zu den roten Ohrringen waren die Lippen dunkel angemalt.

Verena. Die einzige kontinuierliche Frau in seinem Leben. Die einzige realistische Beziehung, trotz allem. Seit der Schulzeit. Seit der ersten gemeinsamen Nacht nach der Abifeier. Sie hatten sich ohne Angst und ohne Anmache geliebt. Verena hatte auf diesem Ausdruck bestanden: Nicht vögeln, ficken, nageln oder baggern oder was damals sonst in der Szene angesagt war. Sondern lieben. Wahrscheinlich war es das auch. Selbst wenn sie immer wieder auseinander und zusammengeraten waren, bis heute. Trotz zig abgeschleppter Kinobekanntschaften. Trotz der Affären in Zeiten, als Verena auf der anderen Seite der Barrikade stand. Er vermummter Demonstrant, vom Wasserwerfer am amerikanischen Stützpunkt Mutlangen bei einer Demonstration gegen die Pershing-II-Raketen kalt erwischt und danach wochenlang mit fieberhafter Bronchitis im Bett. Sie Polizeianwärterin bei den Einsatzkräften. Er hätte sie hinter dem Schild und unter dem Helm mit abgeklapptem Visier auch dann nicht erkannt, wenn er sich Mühe gegeben hätte. Hatte er aber nicht. Sie hatte ihn in den Tagen danach nicht besucht, als er mit 40 Grad Fieber im Bett lag. 


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Sie sorgten dafür, dass sie die Andere sehen konnte. Der Lifestream wurde ihr auf einen Bildschirm in die Zelle gelegt. Irene musste mit ansehen, wie diese Frau satt und lecker zu essen bekam, während sie selbst mit Wasser und dünner Suppe abgespeist wurde. Irene hungerte. Sie magerte ab. Sie bekam mit, dass sie die Andere nicht zu hart anfassten. Sie musste den ganzen Tag über den Lifestream in ihrer Zelle laufen lassen. Während der Behandlungen der Anderen wurde sie selbst festgebunden und zwischen die Beine geschlagen. Mit bloßer Hand oder mit Gerte. Dabei sorgten die Peiniger dafür, dass sie den Bildschirm im Blick hatte. Sie konzentrierte sich, sich nicht vor Schmerz und Ekel zu erbrechen. Sie wollte das Wenige, was sie zu essen bekam, unbedingt bei sich behalten. Wie lange lief das jetzt schon so? Sie hatte jedes Zeitgefühl verloren. Vielleicht drei Wochen. Nachdem sie ihrem Peiniger in den Schwanz gebissen hatte, hatten sie sie zusammengeschlagen. Sie hatte tagelang nichts sehen können. Der Mann, den sie verletzt hatte, war nicht wieder aufgetaucht. Sie musste lächeln, als sie das bemerkte. Trotz der Schmerzen. Manchmal konnte sie es vor Sehnsucht kaum aushalten. Veronika. Veronika musste mittlerweile alles in Bewegung gesetzt haben. Normalerweise telefonierten sie jeden Abend miteinander. Veronika hatte mit Sicherheit längst die Polizei benachrichtig. Spätestens als Irene nach drei Tagen nicht wieder zu Hause in Lüneburg war. Bestimmt. Wie sie Veronika vermisste. Die langen Filmnächte, wenn sie es sich gemütlich machten und mit zusammengezogenen Beinen vor dem Fernseher saßen. Die ausführlichen Frühstücke. Die Weise, wie Veronika einen Film nacherzählte, den sie am Abend zuvor im Kino gesehen hatte. Wie sie beim Telefonieren ihren Hals schräg hielt. Mit einer Frau zusammenleben heißt, du musst dir keine Sorgen machen, dass der Haushalt funktioniert. Das hatte etwas dermaßen Entlastendes, vor allem, seitdem sie berufstätig war. Sie hatte viele Kombinationen ausprobiert. Sie lebte am liebsten mit Frauen. Am liebsten mit dieser Frau. Nach und nach war das eine Liebesbeziehung geworden. Selbst wenn sie ab und zu Lust hatte, sich in einen Mann zu verlieben. Und Veronika auch. Es war wie eine Familie. Es war ihre Familie. Und Blackie, ihr Pferd. Veronika würde für das Pferd sorgen. 

Auch nach den Kollegen hatte sie Sehnsucht. Sie hatten sich schon oft lange nicht gesehen, wenn sie zu Feldforschungen unterwegs war. Diesmal war es anders. Sie hatte vorgehabt, wieder nach Neuguinea zu aufzubrechen. Sie wollte den Stamm aufsuchen, den Maurice Godelier in „Die Produktion der großen Männer“ untersucht hatte. Damals in den Fünfzigerjahren, bei ersten Kontakten mit weißen Händlern aus Australien, war die Lebensweise noch traditionell. Sie wollte untersuchen, wie stark traditionelle Rituale und soziale Rollen durch den Kontakt mit dem Westen verändert worden waren. Sie hatte den Flug schon gebucht. Sie hatte sich zärtlich von Veronika verabschiedet. Veronika war selber zu einer längeren Fahrt aufgebrochen. Komisch. Im Moment vermisste sie ihre Kollegen an der Uni mehr als die eigene Forschungsarbeit. Es war Frühling. In den Semesterferien ist die Uni immer am schönsten. Sie vermisste ihren Kater. Sie hatte solche Sehnsucht nach ihrem Schreibtisch. Nach Kinogehen. Nach Nudeln mit Gorgonzolasoße. Nach einem gemütlichen Abend beim Rotwein mit Freunden und Freundinnen. Das ganz normale Leben. 

Sie versuchte, sich in ihren klaren Phasen an Bücher zu erinnern oder an Filme. Sie sagte sich Gedichte vor, die sie liebte. Manchmal biblische Psalmen, die sie aus dem Religionsunterricht noch erinnern konnte, wenn auch nicht im genauen Wortlaut. „Sie umringen mich wie Stiere und Löwen. Sie reißen ihren Rachen wider mich auf. Mein Gaumen ist wie voller Scherben. Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Der Kraftvorrat wurde kleiner. Tagelang fühlte sie sich gar nicht mehr. Nur noch Leere. Das musste anders werden. Das würde anders werden. Sie würde hier nicht sterben. Wozu hatte sie früher trainiert? Das lag Jahre zurück, dass sie ein Selbstverteidigungstraining gemacht hatte. Trotzdem. Daran musste sie anknüpfen. Irene bewegte sich konzentriert und vorsichtig. Seit Tagen machte sie morgens gymnastische Übungen. Wenn sie sicher sein konnte, dass sie ungestört war.  


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Oliver fuhr in die Redaktion zurück. Er hatte nach anderthalb Stunden den Beitrag über Dressel abgeliefert. Er hatte sich auf die aktuellen Ermittlungen konzentriert und die am Tatort gefundene Kette als Aufmacher gewählt. Das Bild war brauchbar. Der Anhänger war gut zu sehen. Erstaunlich, wie präzise Aufnahmen mit Smartphone waren. Einige Hintergrunddaten zur Person Dressels waren nötig. Skandalinformationen hatte er weitgehend weggelassen, okay. Zum Stil des Hamburger Kuriers passte es, den lebensgeschichtlichen Hintergrund auszuleuchten. Der war in diesem Fall auch politisch brisant. Oliver hatte den Kontakten Dressels zu Südafrika und zu Namibia einen ganzen Absatz gewidmet. Dressel schien durch den politischen Umbruch nach 1994 in seinen Geschäften dort nicht beeinträchtigt worden zu sein.