Aus dem Englischen von Doris Hummel

Impressum

Die englische Originalausgabe White Bones

erschien 2013 im Verlag Head of Zeus Ltd.

Copyright © 2013 by Graham Masterton

Copyright © dieser Ausgabe 2017 by Festa Verlag, Leipzig

Lektorat: Alexander Rösch

Umschlaggestaltung: © Designomicon | Anke Koopmann, unter Verwendung von Motiven von iStock und shutterstock

Alle Rechte vorbehalten

eISBN 978-3-86552-559-8

www.Festa-Verlag.de

Ar scáth a chéile a mhaireas na daoine.

Die Menschen leben in den Schatten

ihrer Mitmenschen.

Irisches Sprichwort

1

John hatte noch nie so viele Nebelkrähen über der Farm kreisen sehen wie an diesem nassen Novembermorgen. Sein Vater hatte immer gesagt, wenn sich mehr als sieben Nebelkrähen versammelten, dann waren sie gekommen, um sich an einer menschlichen Tragödie zu ergötzen.

Tragödienwetter herrschte definitiv. Regenvorhänge zogen schon seit weit vor der Morgendämmerung über die Nagle Mountains und die Erde auf dem Feld im Nordwesten der Farm war so schwer, dass er drei Stunden gebraucht hatte, um es zu pflügen. Er machte mit dem Traktor gerade in der oberen Ecke kehrt, in unmittelbarer Nähe des kleinen Wäldchens, das den Namen Iollan’s Wood trug, als er sah, dass Gabriel ihm wie wild vom Tor aus zuwinkte.

John winkte zurück. Mein Gott, was wollte dieser Idiot denn jetzt schon wieder? Wenn man Gabriel eine Aufgabe übertrug, konnte man sie ebenso gut gleich selbst erledigen, weil er ständig nachfragte, was er als Nächstes tun sollte, ob man lieber Schrauben oder Nägel wollte und aus welchem Holz man es gern hätte. John pflügte in aller Ruhe weiter, wobei dicke Erdklumpen und klebriger Matsch gegen die Räder klatschten, aber Gabriel kämpfte sich bereits über den Acker auf ihn zu, noch immer energisch mit den Händen fuchtelnd, während die Krähen gereizt um ihn herumflatterten. Offensichtlich rief er ihm etwas zu, aber John konnte ihn nicht verstehen.

Während Gabriel in den alten, abgewetzten braunen Tweedklamotten und Gummistiefeln in seine Richtung schnaufte, schaltete John den Motor des Traktors aus und nahm die Ohrenschützer ab.

»Was ist denn los, Gabe? Hast du vergessen, mit welchem Ende der Schaufel du graben sollst?«

»Da sind Knochen, John! Knochen! So viele verfluchte Knochen, dass man sie gar nich’ zählen kann!«

John wischte sich mit dem Handrücken den Regen aus dem Gesicht. »Knochen? Wo? Was denn für Knochen?«

»Im Boden, John. Menschliche Knochen! Komm mit und schau’s dir selbst an! Der Schuppen sieht aus wie ’n verfluchter Friedhof!«

John stieg vom Traktor und landete knöcheltief im Matsch. Aus der Nähe roch Gabriel stark nach schalem Bier, aber John wusste sowieso, dass er während der Arbeit trank. Allerdings gab er sich unglaubliche Mühe, die Murphy’s-Dosen unter einem Haufen Sackleinen in der hinteren Ecke der Scheune zu verstecken.

»Wir ham in der Nähe vom Haus das Fundament gebuddelt, als der Kleine meinte, da wär was im Boden. Er hat dann mit den Fingern weitergegraben und plötzlich diesen menschlichen Schädel rausgeholt, der hatte die Augen voll Erde. Dann ham wir noch ’n bisschen weitergewühlt und noch mal vier Schädel und jede Menge Knochen gefunden, so was hast du noch nich’ gesehen. Beinknochen, Armknochen, Fingerknochen und Rippenknochen.«

John stakste mit langen Beinen in Richtung Tor. Er war groß, ein südländisch anmutender Typ mit dichtem schwarzem Haar. Durch sein attraktives Äußeres hätte man ihn durchaus für einen Spanier halten können. Er war erst seit einem Jahr wieder in Irland und es fiel ihm schwer, den Betrieb der Farm zu bewältigen. An einem sonnigen Morgen im Mai hatte er gerade die Tür der Wohnung in der Jones Street in San Francisco hinter sich abschließen wollen, als das Telefon geklingelt hatte. Seine Mutter war dran gewesen, um ihm mitzuteilen, dass sein Vater einen heftigen Schlaganfall erlitten hatte. Und dann, zwei Tage später, dass sein Vater tot war.

Er hatte nicht vorgehabt, nach Irland zurückzukehren, ganz zu schweigen davon, die Farm zu übernehmen. Aber seine Mutter hatte schlicht und ergreifend angenommen, dass er sich darum kümmerte, da er ihr ältester Sohn war. All seine Onkel und Tanten und Cousins und Cousinen hatten ihn begrüßt, als sei er nun das Oberhaupt der Familie Meagher. Er war noch einmal nach San Francisco zurückgeflogen, um sein Dotcom-Unternehmen für Alternativmedizin zu verkaufen und sich von seinen Freunden zu verabschieden – und hier war er nun und stapfte im steten Nieselregen durch das Tor von Meagher’s Farm, dem Biergeruch ausdünstenden Gabriel dicht auf den Fersen.

»Ich würd sagen, das war ’n Massenmord«, meinte Gabriel keuchend.

»Na, wir werden sehen.«

Das Farmhaus war ein breites, grün gestrichenes Gebäude mit grauem Schieferdach, an dessen Südostseite sechs oder sieben blattlose Ulmen standen wie eine peinlich berührte Gruppe nackter Badender. Eine steil abfallende Einfahrt führte zur Straße hinunter, die die Farm mit Ballyhooly im Norden und dem 18 Kilometer entfernten Cork City im Süden verband. John überquerte den verschlammten Asphalt im Hof und ging um das Haus herum. Gabriel und ein junger Kerl namens Finbar hatten dort einen verrotteten alten Futterschuppen abgerissen und hoben gerade das Fundament für ein moderneres Kesselhaus aus.

Sie hatten eine Fläche von knapp vier mal sechs Metern abgetragen. Die Erde war schwarz und grob und verströmte den sauren, markanten Geruch von Torf. Finbar stand auf der anderen Seite der Grube und hielt traurig eine Schaufel in der Hand. Ein dünner, bleichgesichtiger Junge mit kurz geschorenen Haaren, abstehenden Ohren und einem durchnässten grauen Pullover.

Auf dem Boden vor ihm, wie in einer Szene aus Pol Pots Kambodscha, lagen vier menschliche Schädel. Näher an der feuchten, mit Zement verputzten Wand des Farmhauses befand sich ein mit schlammbedeckten Menschenknochen gefülltes Loch.

John ging in die Hocke und starrte auf die Schädel, als rechne er damit, dass sie ihm eine Erklärung lieferten.

»Gott, Allmächtiger. Die müssen schon ziemlich lange hier liegen. An denen ist kein einziger Fetzen Fleisch mehr dran.«

»’n unmarkiertes Grab, würd ich sagen«, mutmaßte Gabriel. »’n paar Typen, die der IRA in die Quere gekommen sind.«

»Haben mir ’ne Scheißangst eingejagt«, sagte Finbar und wischte sich die Nase am Ärmel ab. »Ich hab hier gegraben und plötzlich hat dieser Schädel zu mir hochgegrinst wie mein alter Onkel Billy.«

John hob einen langen Eisennagel auf und stocherte damit in den Knochen herum. Er erkannte einen Kieferknochen, den Teil eines Brustkorbs und einen weiteren Schädel. Das bedeutete mindestens fünf Leichen. Es blieb ihnen nur eins übrig: Sie mussten die Garda verständigen.

»Du denkst nicht, dass dein Dad was davon gewusst hat?«, fragte Gabriel, als John zum Haus zurückging.

»Was meinst du damit? Natürlich hat er nichts davon gewusst.«

»Na ja, er war ’n treuer Republikaner, dein Dad.«

John blieb stehen und starrte ihn an. »Was willst du damit sagen?«

»Ich will gar nichts sagen, aber wenn gewisse Leute ’nen Ort gebraucht hätten, an dem sie gewisse Überreste verstecken können, die niemand je wiederfinden soll, hätte dein Dad ihnen möglicherweise diesen Gefallen getan, wenn du verstehst, was ich meine.«

»Oh, jetzt komm schon, Gabriel. Mein Dad hätte nie zugelassen, dass jemand Leichen auf seinem Grundstück verscharrt.«

»Da wär ich mir nich’ so sicher, John. Hier war’n auch mal gewisse andere Dinge versteckt, unter dem Kuhstall, für ’ne Weile.«

»Meinst du die Waffen?«

»Ich will ja nur sagen, dass es vielleicht für alle Beteiligten das Beste wäre, wenn wir einfach vergessen, worauf wir hier gestoßen sind. Sie sind doch sowieso schon tot und begraben, diese Typen, warum also ihre letzte Ruhe stören? Und dein Dad ist auch tot und begraben. Du willst doch sicher nicht, dass die Leute mit alten Geschichten seinen Ruf ruinieren, oder?«

»Gabe, das sind menschliche Überreste, verdammt noch mal. Wenn wir die einfach wieder einbuddeln, dann werden fünf Familien niemals erfahren, wohin ihre Söhne und Ehemänner verschwunden sind. Kannst du dir was Schlimmeres vorstellen?«

»Na schön, ich schätze, du hast recht. Aber es kommt mir trotzdem so vor, als ob wir ’nen Haufen Ärger riskieren, obwohl es gar nich’ nötig ist.«

John ging ins Haus. Im Inneren war es düster, und zu dieser Jahreszeit roch es immer feucht. Er zog die Stiefel aus und wusch sich in der kleinen Nische neben dem Flur die Hände. Dann betrat er die große, mit Natursteinplatten geflieste Küche, in der seine Mutter mit Backen beschäftigt war. Sie kam ihm in diesen Tagen mit ihrem weißen Haar, ihrem gekrümmten Rücken und den milchblassen Augen extrem unscheinbar vor. Sie siebte gerade Mehl für Rosinenbrot.

»Bist du mit dem Pflügen fertig, John?«, fragte sie.

»Noch nicht ganz. Ich muss mal telefonieren.«

Er zögerte. Sie blickte auf und musterte ihn stirnrunzelnd. »Ist alles in Ordnung?«

»Natürlich, Mom. Ich muss nur jemanden anrufen, das ist alles.«

»Du wolltest mich was fragen.« Ja, scharfsinnig war sie immer noch, seine Mutter.

»Dich was fragen? Nein. Vergiss es einfach.« Falls sein Vater der IRA wirklich erlaubt hatte, Leichen auf seinem Grund und Boden zu begraben, bezweifelte John, dass er es seiner Mutter anvertraut hatte. Was du nicht weißt, kann dir auch nicht den Schlaf rauben.

Er ging ins Wohnzimmer zu den mit Gobelinstickereien verzierten Möbeln und dem großen Kamin aus roten Ziegeln, in dem drei riesige Holzscheite knisterten, während Lucifer, der schwarze Labrador, mit unanständig weit gespreizten Beinen ausgestreckt auf dem Teppich lungerte. John nahm den Hörer des altmodischen schwarzen Telefons ab und wählte den Notruf.

»Hallo? Ich möchte mit der Garda sprechen. Mit jemandem, der was zu sagen hat. Ja sicher, hier ist John Meagher von Meagher’s Farm oben in Knocknadeenly. Wir haben hier ein paar Leichen ausgegraben.«

2

Es regnete sogar noch stärker, als Katie Maguire in ihrem mit Schlamm bespritzten silbernen Mondeo auf Meagher’s Farm eintraf. Sie konnte sehen, dass Detective Inspector Liam Fennessy bereits vor Ort war, zusammen mit zwei weiteren Detectives und drei oder vier uniformierten Gardaí, die ihre liebe Mühe hatten, in dem böigen Wind die leuchtend blauen Plastikplanen auszubreiten.

Sie stieg aus dem Wagen und stellte den Kragen ihres Regenmantels hoch, während sie das Hofgelände überquerte. Liam stand neben dem offenen Grab, die Hände in den Taschen des langen braunen Mantels mit Fischgrätenmuster. Er ließ sich vom Regen nicht davon abhalten, eine Zigarette zu rauchen. Detective Garda Patrick O’Sullivan hockte in einer Windjacke neben der Grube und spähte stirnrunzelnd und mit wissbegieriger Miene auf die Knochen hinunter, während Detective Sergeant Jimmy O’Rourke unter dem schützenden Farmhausdach stand und sich mit John Meagher unterhielt.

»Guten Tag, Superintendent«, grüßte Liam. Er war dünn und hohlwangig, hatte helles, nach hinten gegeltes Haar und eine runde, mit Tropfen übersäte Drahtgestellbrille. Er glich eher einem jungen James Joyce als einem Garda Inspector. »Sieht aus, als läge hier echte Knochenarbeit vor uns, was?«

»Gott, Allmächtiger.« So etwas hatte sie in ihrer gesamten Karriere noch nicht zu Gesicht bekommen. »Wie lange noch, bis das Team von der Spurensicherung eintrifft?«

»’ne halbe Stunde, würd ich sagen. Und der ehrbare Dr. Owen Reidy kommt morgen früh gleich als Erstes vorbei. Reidy der Ripper. Der schlingt sich deinen Zwölffingerdarm als Krawatte um den Hals, noch bevor du deinen letzten Atemzug getan hast.«

Katie schenkte ihm den Anflug eines Lächelns. »Haben Sie mit Superintendent O’Connell in Naas gesprochen?«

Jerry O’Connell leitete ›Operation Trace‹, deren Team die vergangenen neun Jahre damit zugebracht hatte, das Schicksal acht junger Frauen aufzuklären, die in den Countys im Osten von Irland spurlos verschwunden waren.

»Ich hab eine Nachricht hinterlassen, ja«, erwiderte Liam.

Katie schritt langsam um die Ausgrabung herum und versuchte in Gedanken, die Knochen zu sortieren, die kreuz und quer verstreut lagen, als habe jemand die Stäbchen eines Mikado-Spiels in die Luft geworfen, um sie willkürlich in der Erde zu verteilen. Sie erkannte mindestens drei Becken, zwei Brustknochen und unzählige Wirbel.

Sie war an Tote gewöhnt – jede Woche wurden drei oder vier bläulich-grüne Wasserleichen aus dem River Lee gefischt, hinzu kamen die schwarz angelaufenen, aufgedunsenen Junkies, die sie regelmäßig in der Lower Shandon Street fanden, und die Saufbrüder mit den dunkelroten Gesichtern, die in der Maylor Street in Ladeneingängen hingen und deren Herzen nach zu viel Paddy’s Whiskey und Unterkühlung den Dienst eingestellt hatten.

Aber das hier war etwas anderes. Es handelte sich um ein Abschlachten im großen Stil. Sie konnte das Grauen, das sich hier zugetragen hatte, förmlich riechen, vermengt mit dem Torfgestank der regengetränkten Erde.

Sergeant O’Rourke kam zu ihr herüber. Ein kleiner Mann mit sandfarbenem Haar und kantiger Kopfform, wie bei einer unvollendeten Skulptur.

»Was denken Sie, Jimmy?«

»So was hab ich in meinem Leben noch nicht gesehen, Ma’am, außer auf einem Gemälde bei Father Francis in St. Michael’s. Oben war der Himmel und unten die Hölle, Sie wissen schon, und genau so hat die Hölle ausgesehen. Nichts als Skelette, alle auf einem Haufen.«

»Das ist John Meagher, oder?«

»Richtig. John? Das ist Detective Superintendent Kathleen Maguire. Sie leitet die Ermittlungen.«

John streckte die Hand aus. »Oh, verstehe. Tut mir leid, ich wusste nicht, dass …«

»Schon in Ordnung, John«, versicherte Katie. »An Garda Síochána setzt sich als Arbeitgeber für Gleichstellung ein. Und gelegentlich reißt sie sich ein Bein aus, um besonders gleich zu sein.«

»Bislang gehen wir davon aus, dass es sechs Skelette sind, eventuell sogar sieben«, teilte Sergeant O’Rourke mit. »Kevin hat bisher 13 Fußgelenkknochen gezählt.«

»Haben Sie eine Ahnung, wie es dazu kommen konnte, dass diese Leichen hier begraben wurden?«, wandte sich Katie an John.

John schüttelte den Kopf. »Überhaupt keine. Nicht die geringste. Ich führe diese Farm jetzt seit 14 Monaten, und auf keinen Fall hätte sie jemand hier begraben können, seit ich den Betrieb übernommen habe.«

»Und was ist mit der Zeit, bevor Sie ihn übernommen haben?«

»Meagher’s Farm befindet sich seit 1935 in Familienbesitz. Ich kann mir wirklich nicht vorstellen, dass mein Vater hier Leichen vergraben hat. Warum sollte er das tun? Und mein Großvater genauso wenig.«

Katie nickte. »Hat sonst noch jemand Zutritt zu Ihrem Grundstück? Pachtbauern zum Beispiel, so was in der Art? Urlauber vielleicht? Oder Traveller?«

»Hier gibt’s niemanden außer mir, Gabriel und den Ryan-Brüdern, Denis und Bryan. Sie verrichten die allgemeinen Arbeiten, und Maureen O’Donovan hilft mir in der Molkerei.«

»Mit denen möchte ich dann auch noch sprechen.«

»Sicher, natürlich. Aber das Ganze ist ein einziges Rätsel, soweit es mich angeht. Ich bin zwar kein Experte, aber es sieht mir ganz danach aus, als seien diese Leute schon ziemlich lange tot.«

Katie erwiderte nichts, sondern starrte nur mit vor den Mund gepresster Hand auf die Knochen.

John wartete, bis Katie zur anderen Seite der Ausgrabung gegangen war, bevor er zu Sergeant O’Rourke sagte: »Ganz schön verspannt, die Gute, was?«

»Oh, eigentlich nicht. Aber sie ist äußerst humorlos, was Mord angeht, unser Superintendent Maguire. Sie sieht die komische Seite daran nicht, wenn Sie verstehen, was ich meine.«

John sah zu, wie sie die Knochen abschritt. Eine wirklich beeindruckende Frau, dachte er. Sie war etwa 1,65 Meter groß und möglicherweise vor nicht allzu langer Zeit 40 geworden. Kurze kupferrote Haare, blassgrüne Augen und scharf gemeißelte Wangenknochen. Sie verliehen ihr dieses typisch irische, elfenhafte Äußere, so als sei ihre Familie vor zehn Generationen mit dem Feenvolk verwandt gewesen – die Art von Frau, bei der man sich ertappt, wie man ein zweites Mal hinschaut, dann ein drittes. Plötzlich hob sie den Blick und erwischte ihn dabei, wie er sie musterte. Verlegen wandte er sich ab, als müsste er sich deswegen schuldig fühlen. Was hätte sie wohl erst mit ihm angestellt, wenn er tatsächlich gewusst hätte, warum diese Skelette hier begraben lagen?

Schließlich gesellte sie sich wieder zu ihm. Auf ihrem Haar glänzten Regentropfen. »Sie haben keine Geschichten gehört, dass hier in der Gegend jemand verschwunden ist? Nicht notwendigerweise in letzter Zeit. Nur etwas, das uns einen groben Anhaltspunkt gibt, wann diese Menschen gestorben sind.«

»Ich fürchte, ich hab nicht viel Zeit für die örtliche Gerüchteküche. Ich fahr hin und wieder runter nach Ballyvolane und gönn mir ein paar Bier im Fox and Hounds. Aber ich bin immer noch ein Fremder, soweit es die Einheimischen angeht. Was mich allerdings nicht wirklich überrascht. Ich verstehe den Cork-Dialekt kaum, und bevor ich hergekommen bin, wusste ich nicht mal, was Hurling überhaupt ist.«

»Gut, John«, sagte Katie. »Sie halten sich in den nächsten Tagen zur Verfügung, okay? Sobald wir die Möglichkeit hatten, den Fundort komplett zu untersuchen, und der Pathologe die Überreste im Labor hatte, wird sich ein Haufen neuer Fragen stellen, auf die wir eine Antwort brauchen.«

»Sicher, was immer ich tun kann.«

Katie ging zu ihrem Wagen zurück und schnappte sich das Handy. »Paul? Ich bin’s. Oben in Knocknadeenly. Ja, jemand hat hier irgendwelche Überreste gefunden. Ja, ich weiß … Hör mal, wie’s aussieht, werd ich erst spät nach Hause kommen. Im Gefrierschrank liegt noch Hähnchenpastete von Marks & Spencer. Du heizt den Ofen auf Stufe acht vor und schiebst sie rein. Ja. Na, du weißt doch, wie man eine Kartoffel schält, oder? Na schön, dann geh eben in den Pub, deine Entscheidung. Aber iss was Anständiges. Ich ruf später wieder an.«

Ein weißer Garda-Transporter rollte die Einfahrt herauf. Die Spurensicherung. Katie ging zurück zur Fundstelle und wartete, bis sie in ihre Schutzanzüge und Gummistiefel geschlüpft waren. Sie blickte auf den Knochenhaufen und fragte sich, wem in aller Welt sie wohl gehört hatten. Normalerweise ließ ein Tatort keine Fragen offen, wer wem was angetan hatte – und warum. Blutige Tranchiermesser im Spülbecken in der Küche. Strangulierte Babys mit grauen Gesichtern. Mädchen, die mit dem Kopf nach unten und dreckverschmierten Oberschenkeln in einem Graben lagen, mit ihren eigenen Schals erdrosselt.

Aber das hier war etwas vollkommen anderes, und solange sie nicht wusste, wie lange diese Menschen hier schon lagen, war es sinnlos, Spekulationen darüber anzustellen, wer sie aus welchen Gründen umgebracht haben mochte. Alles, was sie unmittelbar erkennen konnte, war, dass keiner der Schädel ein Einschussloch im Hinterkopf aufwies. Das wäre ein sehr starkes Indiz dafür gewesen, dass sie Opfer einer politischen Hinrichtung geworden waren, vielleicht sogar eines Rachemordes durch eine der örtlichen Gangs.

Auch wenn sie ›Operation Trace‹ aus rein protokollarischen Gründen über diese Skelette informieren mussten, glaubte sie nicht, dass ein Zusammenhang mit den Ermittlungen von Superintendent O’Connell bestand. Die Mädchen, nach denen er suchte, waren im Laufe von knapp zehn Jahren eins nach dem anderen verschwunden – das letzte im Juli 1998 –, und Katies erster Eindruck war, dass man diese Leichen alle zur selben Zeit vergraben hatte.

Liam gesellte sich zu ihr und bot ihr ein extrastarkes Pfefferminzbonbon an. »Was denken Sie? War es womöglich Meaghers Vater, der es getan hat?«

»Das wissen wir erst, wenn wir herausgefunden haben, wer all diese Menschen waren, wann sie gestorben sind und aus welchem Grund.«

»Sie suchen doch nicht etwa nach einem Motiv? Schauen Sie sich mal um … ein gottverlassener Ort wie dieser. Von morgens bis abends darum kämpfen, halbwegs anständig über die Runden zu kommen, und niemand, an dem man seine wirtschaftliche und sexuelle Frustration auslassen könnte, abgesehen vom Vieh oder einem hin und wieder vorbeikommenden Radfahrer, der einen Schlafplatz für die Nacht sucht. Erinnern Sie sich noch an diese Geschichte im Bed and Breakfast unten in Crosshaven? Dort waren es drei, in einen Wäscheschrank gestopft.«

Katie hob eine Hand, um ihre Augen vor dem Regen zu schützen. »Ich weiß auch nicht. Es ist nur so ein Gefühl. Ich möchte es zwar nicht vollkommen ausschließen, aber dieser Sache haftet etwas sehr Düsteres an. Die Art, wie die einzelnen Skelette ineinander verheddert sind … Es ist, als habe sie jemand vor dem Vergraben komplett zerlegt.«

Eine Reihe greller Blitze erhellte die blauen Plastikplanen. Der Fotograf hatte sich an die Arbeit gemacht, und nun stapfte auch das Team der Spurensicherung in Schutzanzügen herum und hielt akribisch die Positionen der einzelnen Schädel und Brustkörbe fest.

Einer von ihnen hob einen Oberschenkelknochen auf, von dessen Ende etwas zu baumeln schien. Dann beugte er sich nach unten und hob den nächsten auf, dann noch einen. Er untersuchte sie eine Weile, kam dann zu Katie und sagte: »Superintendent? Schauen Sie sich die hier mal an.«

Katie streifte enge Gummihandschuhe über und nahm einen der Knochen entgegen. Er war am oberen Ende durchbohrt, dort, wo er in die Hüftpfanne gepasst hätte. An der Stelle war ein kurzes Stück fettige Schnur durch die Öffnung gefädelt und zusammengebunden worden. Am Ende der Schnur baumelte eine kleine, puppenartige Figur, allem Anschein nach aus gewickeltem grauem Stoff gefertigt, in der sechs oder sieben rostige Nägel steckten. Alle Oberschenkelknochen waren auf dieselbe Weise durchbohrt, und an jedem einzelnen hing eine der winzigen Puppen.

»Was halten Sie davon, Liam?«, erkundigte sich Katie. »Schon mal irgendwann so was gesehen?«

Liam betrachtete die kleine Figur ausgiebig und schüttelte dann den Kopf. »Noch nie. Sieht aus wie eine von diesen Voodoo-Puppen, oder? Die, in die man Nadeln sticht, um sich an Leuten zu rächen.«

»Voodoo? Hier in Knocknadeenly?«

Der Kriminaltechniker nahm den Oberschenkelknochen an sich und machte sich wieder an die Arbeit. »Ich hab keine Ahnung, was hier passiert ist, Liam«, sagte Katie, »aber es als seltsam zu bezeichnen, wäre definitiv untertrieben.«

Im selben Moment näherte sich John und bot an: »Wie wär’s mit was zu trinken, Superintendent?«

Sie hätte alles für einen doppelten Wodka gegeben, antwortete jedoch stattdessen: »Einen Tee, danke. Ohne Milch, ohne Zucker.«

»Und für Sie, Inspector?«

»Drei Stück Zucker, bitte. Und nicht umrühren, wenn’s Ihnen nichts ausmacht. Ich bin ein großer Freund des klebrigen Satzes ganz zum Schluss.«

Allmählich klarte der Himmel von Westen her auf und die Farm wurde von wässrigem, grau getünchtem Sonnenlicht überflutet. Katie ging ins Haus, um sich mit Johns Mutter zu unterhalten. Die alte Frau saß im Wohnzimmer, eine teichgrüne Strickjacke um die Schultern, schaute sich eine Seifenoper im Fernsehen an und streichelte nebenbei den Hund. Ein großes Foto von einem weißhaarigen Mann, der fast exakt so aussah wie eine ältere Version von John, stand auf dem Tisch neben ihr, zusammen mit einer leeren Teetasse und einem überquellenden Aschenbecher.

»Ich muss Ihnen ein paar Fragen stellen, Mrs. Meagher.«

»Ach ja?«, erwiderte Johns Mutter, ohne die Augen vom Fernseher abzuwenden.

»Darf ich mich setzen?«

»Wenn Sie vorher Ihren Regenmantel ausziehen.«

»Selbstverständlich.« Katie streifte das nasse Kleidungsstück ab und legte es über die Lehne eines Holzstuhls hinter der Tür. Darunter trug sie einen schicken grauen Hosenanzug und eine kupferfarbene Bluse, die beinahe denselben Farbton aufwies wie ihr Haar. Sie setzte sich Mrs. Meagher gegenüber hin, die ihre Aufmerksamkeit jedoch weiterhin auf Fair City richtete. Im Wohnzimmer roch es nach Feuchtigkeit, Essen und Möbelpolitur mit Lavendel.

»Bisher haben wir die Überreste von acht Personen gefunden und wie es aussieht, könnten dort noch mehr liegen.«

»Gott sei ihren Seelen gnädig.«

»Sie haben nicht zufällig eine Ahnung, wer sie dort vergraben haben könnte?«

»Na ja, irgendjemand muss es gewesen sein, nicht wahr? Sie haben sich wohl kaum selbst vergraben.«

»Nein, Mrs. Meagher, das würde mich doch sehr überraschen. Aber ich möchte gern wissen, ob Sie mir sagen können, ob Ihr verstorbener Mann jemals in dem alten Futterschuppen gearbeitet hat.«

»Er ist da ständig rein- und rausgerannt. Die Tiere brauchten schließlich was zu fressen, nicht wahr?«

»Natürlich. Aber was ich meinte, war … Wissen Sie, ob er dort drin jemals etwas Ungewöhnliches gemacht hat? Bauarbeiten oder Grabungen, etwas in der Art?«

»Jesus Christus und sämtliche Apostel, Sie wollen doch nicht andeuten, dass mein Michael diese armen Seelen dort verscharrt hat, oder?«

»Ich versuche nur, mir eine Vorstellung davon zu verschaffen, wie die Opfer dort hingekommen sind, und wann.«

»Ich hab wirklich keine Ahnung. Es wär doch sehr viel Arbeit gewesen, nicht wahr, so viele Menschen zu vergraben, und Michael hätte für so etwas nie und nimmer Zeit gehabt. Er hat immer gesagt, er arbeitet härter als zwei Pferde und ein Esel obendrauf.«

»Hat er sich für Politik interessiert?«

»Ich weiß, was Sie meinen. Er hat An Phoblacht gelesen, aber für so was hatte er auch nie Zeit. Nicht für die Versammlungen. Ich hatte ja schon Mühe, ihn sonntags in die Kirche zu kriegen.«

»Hatte er besonders enge Freunde?«

»Einen oder zwei vielleicht, die er aus dem Pub kannte, dem Roundy House in Ballyhooly. Er hat mit ihnen Akkordeon gespielt, immer am Donnerstagabend. Das war das einzige Mal, dass er nicht auf der Farm war, donnerstagabends. Aber das waren ziemlich schwächliche alte Burschen, die beiden, die hätten keiner Fliege was zuleide tun können. Ganz zu schweigen davon, dass ihnen die Kraft gefehlt hätte, das arme Ding hinterher zu begraben.«

»War je ein ungewöhnlicher Besucher bei Ihnen zu Gast? Jemand, den Sie nicht persönlich kannten?«

Mrs. Meagher schüttelte den Kopf. »Michael hatte zwar gern seine Familie um sich, aber er war nicht der geselligste Mensch. Jedes Mal, wenn dieser fette Taugenichts von Father Morrissey zu Besuch kam und ich ihm ein Stück Kuchen oder ein Schinkensandwich angeboten habe, hat Michael hinterher gesagt, er hätte ihm am liebsten den Bauch aufgeschlitzt, um es sich zurückzuholen, weil er die ganze Zeit daran denken musste, wie viel harte Arbeit ihn jeder Mundvoll gekostet hat.«

»Ich verstehe. Würden Sie sagen, dass Michael ein schwieriger Mensch gewesen ist? Ich möchte nicht, dass Sie schlecht von ihm reden …«

Mrs. Meagher schniefte lautstark. »Er hatte seine festen Überzeugungen und keine Geduld mit Idioten. Aber nein … ach was … er war auch nicht schwieriger als jeder andere.« So als seien alle Menschen mehr oder weniger unmöglich.

»Hatte er längerfristige Streitigkeiten mit jemandem?«

»Was? Er hat ja tagein, tagaus kaum ein Wort mit anderen Menschen gesprochen, geschweige denn, dass er sich mit jemandem gestritten hätte.«

»Nur noch eine Frage. Haben Sie je davon gehört, dass in dieser Gegend jemand vermisst worden wäre? Nicht notwendigerweise in letzter Zeit, sondern überhaupt?«

»Vermisste Personen?« Mrs. Meagher wandte ihre Aufmerksamkeit zum ersten Mal vom Fernseher ab. »Nein, ich hab nie davon gehört, dass jemand vermisst wurde. Natürlich hat meine Mutter uns, als ich noch klein war, immer Geschichten von Leuten erzählt, die von den Feen geschnappt und ins Unsichtbare Königreich verschleppt wurden, aber das diente nur dem Zweck, uns Angst einzujagen, damit wir brav unsere Kartoffeln aufaßen.«

Katie lächelte und nickte. Dann sagte sie: »Ach ja, eins noch. Haben Sie schon mal so was gesehen?« Sie fasste in ihre Tasche und zog eine versiegelte Beweistüte aus Plastik heraus, in der sich eine der kleinen grauen Stoffpuppen befand.

»Was ist das denn?«

»Sie haben so was noch nie gesehen?«

»Das ist kein besonders gutes Spielzeug für ein Kind, nicht wahr? Voller Haken und alles.«

»Ich glaube nicht, dass es ein Spielzeug ist, Mrs. Meagher. Um ganz ehrlich zu sein, weiß ich nicht, worum es sich dabei handelt. Aber ich würde es vorziehen, dass Sie niemandem davon erzählen.«

»Warum sollte ich das tun?«

»Na ja, nur für den Fall, dass jemand fragt. Jemand von der Zeitung oder vom Fernsehen.«

Mrs. Meagher griff nach einer halb leeren Packung Carroll’s-Zigaretten und bot Katie eine an. »Nein? Na ja, ich sollte eigentlich auch nicht, wegen meiner Lunge. Der Doktor sagt, ich hab einen Schatten auf der Lunge.«

»Warum hören Sie dann nicht auf?«

Die alte Frau zündete ihre Zigarette an und blies einen langen Rauchfaden aus. »Aufhören? Warum in Gottes Namen sollte ich etwas versuchen, von dem ich ganz genau weiß, dass ich es niemals schaffen werde?«

3

Als es dunkel wurde, hatten die Kriminaltechniker elf menschliche Schädel und den Großteil der dazugehörigen Skelette ausgegraben – sowie 19 durchbohrte Oberschenkelknochen, an denen kleine graue Püppchen hingen. Die Ausgrabung war in jeder Phase fotografisch dokumentiert und die Position jedes einzelnen Knochens exakt mit kleinen weißen Fähnchen markiert und in einem Computerprotokoll festgehalten worden. Morgen, gleich bei Sonnenaufgang, würden sie mit der mühsamen Prozedur beginnen, die Überreste in Tüten zu verpacken und sie in die pathologische Abteilung des Cork University Hospital zu überführen. Dort würden sie in die Obhut von Dr. Owen Reidy übergeben, dem zuständigen Pathologen, der dafür extra aus Dublin einflog und seine schwarze Tasche und seine berüchtigte schlechte Laune mitbringen würde.

Liam kam auf sie zu, als Katie gerade das Haus verließ. »Und?«, hakte er nach und rieb sich die Hände.

»Nichts Neues. Es fällt schwer, zu glauben, dass John Meaghers Vater etwas damit zu tun hatte. Aber jemand hat es immerhin geschafft, ein Loch in den Boden seines Futterschuppens zu graben und elf Skelette darin zu verscharren, ganz zu schweigen davon, dass er auch noch die Oberschenkelknochen durchbohrt und sie mit diesen Püppchen dekoriert hat. Und wie derjenige das angestellt haben soll, ohne dass Michael Meagher etwas davon mitbekam, ist mir ein Rätsel. Laut Mrs. Meagher ist er da tagtäglich ein und aus gegangen, um Futter zu holen oder abzuladen.«

»Dann ist die Annahme naheliegend, dass er gewusst haben muss, was dort vor sich ging.«

»Und was schließen wir daraus? Dass er mit einem Exekutionskommando unter einer Decke steckte?«

»Ich glaube nicht, dass das Exekutionen waren«, erwiderte Liam. »Bei Exekutionen heißt es schließlich fast immer Fft! in den Hinterkopf. Und was ist mit diesen ganzen Puppen? Welches Exekutionskommando macht sich schon die Mühe, seine Opfer zu zerstückeln und Löcher in die Oberschenkel zu bohren? Die hätten einfach die Gräber ausgehoben, die Leichen reingeworfen und wären abgehauen. Aber selbst, wenn es tatsächlich eine Exekution war und Johns Vater die Leichen vergraben hat, können wir nicht notwendigerweise annehmen, dass er es freiwillig getan hat. Vielleicht haben sie ihm ja gedroht, dass er die Klappe halten soll, weil mit ihm sonst dasselbe passiert.«

Katie zog ein Taschentuch heraus und wischte sich die Nase ab. »Ich weiß nicht. Ich glaube, wir müssen woanders nach der Antwort suchen.«

»Na schön, aber behalten wir Michael Meagher auf der Rechnung. Bei diesen abgelegenen Farmen muss ich irgendwie immer an Texas Chainsaw Massacre denken. Der Regen, der Matsch und niemand, bei dem man sich seinen Kummer von der Seele reden könnte, nur die Schweine und die Kühe. Es ist gar nicht gut für die geistige Gesundheit eines Menschen, wenn er den ganzen Tag nur Schweinisch und Viehisch redet.«

Katie schaute auf ihre Uhr. »Für heute haben wir getan, was wir konnten. Lagebesprechung ist morgen früh um zehn, und zwar pünktlich. Können Sie Patrick bitten, in der Zwischenzeit eine umfassende Liste von allen vermissten Personen der letzten zehn Jahre im Bezirk North Cork zu erstellen? Sagen Sie ihm, dass er besonderes Augenmerk auf Fälle richten soll, bei denen ganze Gruppen verschwunden sind, und auf alle Radfahrer, Anhalter oder Backpacker. Die sind immer am verwundbarsten. Und Jimmy soll mit seinen Traveller-Freunden reden … Vielleicht wissen die ja was.«

»Und ich?«

»Sie wissen, worum ich Sie bitten werde. Sie gehen mit Eugene Ó Béara einen trinken.«

»Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass er mir was erzählen wird, oder?«

»Wenn seine paramilitärischen Kumpels von den Provos etwas mit dieser Sache zu tun hatten, dann nicht, nein. Aber mit etwas Glück bringen Sie ihn dazu, uns zu bestätigen, dass sie nichts damit zu tun hatten. Damit könnte ich mir einen Haufen Zeit und Ärger und ein paar nutzlos verballerte Hundert Euro Budget ersparen.«

4

Es war fast zehn, als Katie endlich zu Hause eintraf, durch das Tor ihres Einfamilienhauses in Cobh fuhr und den Mondeo neben Pauls Pajero mit Allradantrieb parkte. Der Regen fiel federleicht von Westen. Paul hatte die Vorhänge noch nicht zugezogen und als sie die Auffahrt hinaufging, konnte sie ihn im Wohnzimmer sehen, wo er auf und ab tigerte und dabei telefonierte. Sie klopfte mit dem Haustürschlüssel ans Fenster. Er hob zur Begrüßung sein Whiskeyglas.

Sie betrat das Haus und wurde sofort von Sergeant angesprungen, ihrem schwarzen Labrador, dessen Schwanz wie wild gegen die Heizung schlug, als sei sie eine Bodhrán-Trommel.

»Hallo, mein Junge, wie geht’s dir denn? War dein Daddy schon mit dir spazieren?«

»Hatte noch keine Zeit«, rief Paul. »Ich hab den ganzen Abend mit Dave MacSweeny gesprochen und versucht, die Angelegenheit mit diesem Youghal-Vertrag zu regeln. Ich geh gleich mit ihm raus.«

»Der arme Kerl. Der muss ja gleich platzen.«

Katie schlüpfte aus den Schuhen, hängte den Mantel auf und ging ins Wohnzimmer. Der Kristallleuchter ließ es angenehm hell erstrahlen und brachte die falschen Regency-Möbel, die zahlreichen rosa Kissen und das Weiß und Gold bestens zur Geltung. An den Wänden hingen goldgerahmte Reproduktionen, meist Küstenlandschaften mit Jachten, die sich im Wind neigten. Eine Ecke des Raums wurde von einem riesigen Sony-Flachbildfernseher eingenommen, auf dem ein Barometer in Form eines Schiffssteuerrads stand. Auf der anderen Seite sorgte eine große Kupfervase mit pink gefärbtem Pampasgras für einen Farbtupfer.

»Okay, Dave«, beendete Paul sein Telefonat. »Großartig. Wir sprechen uns dann morgen früh noch mal. Das ist richtig. Du hast mein Wort.«

Katie öffnete die weiße Kommode im Regency-Stil und holte eine Flasche Smirnoff Black Label heraus. Sie schenkte sich einen großzügigen Schluck in ein Glas aus geschliffenem Kristall ein und ging ans Fenster, um die Vorhänge zuzuziehen. Sergeant folgte ihr und schnupperte eifrig an ihren Füßen.

Paul schlang seine Arme um Katies Taille und gab ihr einen Kuss auf den Nacken. »Na, du? Wie ist es gelaufen? Ich hab dich um acht in den Nachrichten gesehen. Du sahst umwerfend aus. Wenn ich nicht schon mit dir verheiratet wäre, hätte ich beim Sender angerufen und nach deiner Telefonnummer gefragt.«

Sie drehte sich um und erwiderte den Kuss. »Dann hätte ich dich wegen Belästigung festnehmen lassen.«

Paul Maguire war ein kleiner, rundlich-weicher Mann, nur fünf oder sechs Zentimeter größer als sie, mit einem fülligen Gesicht und dunkelbraunem, lockigem Haar, das bis über den Kragen seines leuchtend grünen Hemds fiel – eine Art ›Vokuhila‹ im Stil der 80er. Seine Augen strahlten blau und traten ein wenig hervor. Er wirkte dauernd, als wolle er es ständig allen und jedem recht machen. Er war nicht immer übergewichtig gewesen. Als sie ihn vor siebeneinhalb Jahren geheiratet hatte, hatte er noch in Kragenweite 40 und Hosengröße 30 gepasst und bei der Glanmire Gaelic Athletic Association regelmäßig Gaelic Football gespielt.

Vor fünf Jahren hatte seine Baufirma jedoch einen Rückschlag nach dem anderen verkraften müssen und sein Selbstvertrauen hatte dadurch einen empfindlichen Schlag kassiert, von dem es sich nach wie vor nicht erholt hatte. Momentan verbrachte er den Großteil der Zeit damit, sich an schnellen, profitablen Geschäften zu versuchen – er handelte mit allem, von gebrauchten Toyotas bis hin zu günstigem Baumaterial. Es gab zu viele lange Nächte und zu viele Mittagessen im Pub mit Männern in breitschultrigen Anzügen von Gentleman’s Quarters, die behaupteten, sie könnten ihm für fast kein Geld so gut wie alles beschaffen.

»Hast du denn was gegessen?«

»Einen Schinken-Käse-Toast im O’Leary’s. Und eine Packung Erdnüsse.«

»Das ist doch keine anständige Mahlzeit. Du lieber Himmel.«

»Oh, mach dir deswegen keine Sorgen. Ich hatte keinen großen Appetit, wenn du’s genau wissen willst.«

»Den hat der Whiskey abgetötet, darum.«

»Jetzt komm schon, Katie, du weißt doch, unter welchem Druck ich in letzter Zeit stehe, seit ich diesen Deal mit Dave MacSweeny aushandle.«

»Dave MacSweeny ist wirklich nicht erste Wahl als vertrauenswürdiger Geschäftspartner. Ich weiß nicht, warum du dich überhaupt mit ihm abgibst.«

»Er hat nur das eine Mal eingesessen, und warum? Weil er ein gestohlenes Kirchenklavier in seinem Besitz hatte. Nicht gerade Al Capone, oder?«

»Er ist trotzdem ein Opportunist.«

Sie ging in die Küche, Sergeant noch immer dicht auf ihren Fersen.

Paul folgte ihr, und sie öffnete den Brotkasten und holte einen geschnittenen Laib Kleiebrot heraus. »So läuft es doch immer, oder? Ich bin mit dem einzigen weiblichen Detective Superintendent in ganz Irland verheiratet, und ganz egal, was ich unternehme, ich muss mich dabei wie ein Heiliger verhalten.«

»Nicht wie ein Heiliger, Paul. Nur wie ein gesetzestreuer Bürger, der sich auf keine Geschäfte mit Leuten einlässt, die Baufahrzeuge auf öffentlichen Baustellen kapern, Zigaretten über die Hafenmauer schmuggeln und ganze Lkw-Ladungen Autoreifen klauen.«

Paul sah frustriert zu, wie sie sich eine dicke Scheibe Red Cheddar abschnitt und ein paar Tomaten zerteilte. »Ich geb mein Bestes, Katie. Das weißt du. Aber ich kann schließlich nicht bei jedem, mit dem ich zusammenarbeite, die Referenzen checken, oder? Die würden mich sonst einfach links liegen lassen. Es ist schon schlimm genug, dass du Polizistin bist.«

Katie streute Salz auf ihr Sandwich und schnitt es in vier Teile. »Ist dir nie der Gedanke gekommen, dass die Tatsache, dass ich Polizistin bin, der Grund dafür sein könnte, warum sie Geschäfte mit dir machen? Wer kann dir schon was anhaben, egal ob Garda oder Gangster, wenn du Mr. Detective Superintendent Kathleen Maguire bist?«

Paul setzte zu einer Erwiderung an, überlegte es sich dann aber anders. Er folgte Kathleen zurück ins Wohnzimmer und stolperte dabei über Sergeant. »Würdest du vielleicht mal Platz machen, du verrückter Hund?«

Katie setzte sich, nahm einen großen Bissen von ihrem Sandwich und schaltete mit der Fernbedienung den Fernseher an. Paul setzte sich neben sie und meinte: »Wie dem auch sei, vergiss Dave MacSweeny. Wie war dein Tag? Was hat’s mit diesen ganzen Skeletten auf sich? In den Nachrichten haben sie gesagt, es seien fast ein Dutzend.«

Katies Mund war voller Brot, aber dank eines geradezu unheimlichen Timings tauchte im selben Moment ihr eigenes Gesicht auf dem Bildschirm auf, wie sie im düsteren Nachmittagslicht auf der Meagher’s Farm stand. Sie regelte die Lautstärke höher. »Wir können noch nicht sagen, wie lange diese Menschen schon hier begraben liegen oder wie sie gestorben sind. Noch wollen wir keine Möglichkeit ausschließen. Wir könnten es hier mit einer Massenhinrichtung zu tun haben, mit einer Reihe individueller Morde oder auch mit natürlichen Todesursachen. Zuerst müssen sämtliche Überreste von unserem Pathologen untersucht werden, und sobald er uns erste Hinweise auf den Todeszeitpunkt und die Ursache geben kann, versichere ich Ihnen, dass wir unsere Ermittlungen mit allergrößter Sorgfalt fortsetzen werden.«

»Da«, sagte Katie, »jetzt weißt du genauso viel wie ich.«

»Das ist alles? Ihr habt überhaupt keine Hinweise?«

»Nichts. Es könnte eine unschuldige Familie gewesen sein, die an Typhus gestorben ist und auf der Farm begraben wurde, weil sie sich keine Beerdigung leisten konnte. Oder es könnte sich um elf Typen handeln, die einen der bösen Jungs in Corks kriminellen Kreisen richtig sauer gemacht haben.«

»Ich hoffe, du willst mir damit nicht noch was anderes sagen.«

»Nein, Paul. Ich bin nur sehr müde, das ist alles. Wie wär’s, wenn du mit Sergeant Gassi gehst, damit er sein Geschäft verrichten kann, und wir hinterher ins Bett gehen, um ein bisschen Schlaf zu bekommen?«

Während Paul seinen Regenmantel anzog und mit Sergeant spazieren ging, schlurfte Katie in das kleine Zimmer im hinteren Teil des Hauses, in dem Schreibtisch und PC standen. Sie nannten es immer noch ›das Kinderzimmer‹, obwohl sie inzwischen die hellblaue Tapete abgerissen hatten und das Letzte, was an Klein Seamus erinnerte, ein Farbfoto war, entstanden an seinem ersten und einzigen Geburtstag.

Sie nahm ihren Kaliber-38-Revolver, eine nickelüberzogene Smith & Wesson, aus dem flachen Holster an der Hüfte und schloss ihn in der obersten Schublade des Schreibtischs ein. Anschließend setzte sie sich und starrte für eine lange Weile auf ihr Spiegelbild in dem grauen Monitor. Als sie noch klein gewesen war, hatte sie sich nachts oft auf die Fensterbank gesetzt, aus dem Fenster geschaut und sich vorgestellt, dass ein geisterhaftes Mädchen aus der Dunkelheit zu ihr hereinblickte. Manchmal hatte sie sich sogar mit ihrem Spiegelbild unterhalten. Wer bist du, warum schwebst du durch die Nacht und wieso siehst du so traurig aus?

Sie verstand zwar nicht wirklich, woran es lag, aber die heutige Entdeckung auf Meagher’s Farm hatte in ihr ein Gefühl tiefer innerer Unruhe ausgelöst … so, als ob bald etwas Schreckliches passieren würde. Ganz ähnlich wie im letzten Frühling, als die Küstenwache die Leiche einer rumänischen Frau gefunden hatte, die in ihrem bunten Kleid in der Carrigadda Bay an den Strand geschwemmt worden war. Im Lauf der darauffolgenden Wochen hatten sie überall entlang der Küste und bis nach Kinsale 37 weitere Tote entdeckt. Jede der Frauen hatte 2000 Pfund bezahlt, um sich illegal nach Irland schmuggeln zu lassen, aber dann hatte man sie einige Hundert Meter vor der Küste mit all ihren Habseligkeiten ins Meer geworfen, und keine von ihnen hatte schwimmen können.

In der Nacht wälzte sich Paul auf den Rücken und fing an zu schnarchen. Katie rammte ihm einen Ellenbogen in die Seite und zischte: »Halt die Klappe, ja?« Er hörte tatsächlich für eine Weile auf, fing dann aber von Neuem an, diesmal noch lauter. Sie vergrub ihren Kopf unter der Bettdecke und mühte sich ab, Schlaf zu finden, konnte das hohe, sich ständig wiederholende Sägen aber trotzdem weiter hören.

Dann spazierte sie auf einmal durch ein dunkles, tropfendes Schlachthaus. Ihr war gar nicht bewusst gewesen, wieder eingeschlafen zu sein. Irgendwo ganz in der Nähe konnte sie den schrillen Chor von Bandsägen hören, und das Geräusch von pfeifenden Männern bei der Arbeit.

Sie bog um eine Ecke und fand sich im eigentlichen Schlachtraum wieder. Fünf oder sechs Schlachter standen um Tische mit stählernen Tischplatten herum, trugen Lederschürzen und seltsam gefaltete Leinenmützen. Gleichgültig zerteilten sie die Kadaver und warfen die Stücke zur Seite. Die Arme auf einen Haufen, die Beine auf einen anderen, die Köpfe in die gegenüberliegende Ecke.

Katie ging auf die Männer zu, obwohl der Boden von dem Bindegewebe ganz schleimig war, und sie spürte, wie das Blut an ihren nackten Füßen klebte. Im Näherkommen erkannte sie, dass die Kadaver menschlich waren – Männer, Frauen und Kinder.

Sie stellte sich hinter einen der Schlachter und streckte eine Hand aus, um ihn an der Schulter zu berühren. »Aufhören«, formte sie mit den Lippen, aber es kam kein Laut heraus. Er legte einen abgetrennten Kopf vor sich hin, bereit, ihn in zwei Hälften zu zersägen.

»Aufhören«, wiederholte sie, noch immer stumm. Im selben Moment öffnete der abgetrennte Kopf die Augen und glotzte sie an. Er begann zu quasseln und zu brabbeln, und mit einem Schauer des Entsetzens wurde ihr bewusst, dass er ihr zu erklären versuchte, was sich auf Meagher’s Farm zugetragen hatte.

»Der Graue-Puppen-Mann! Sie müssen nach dem Graue-Puppen-Mann suchen!«

»Aufhören! Ich bin von der Polizei!«, schrie Katie den Schlachter an, aber er schob ohne Zögern den Kopf der Leiche in die Bandsäge. Das kreischende Geräusch von Stahl auf Knochen ertönte und Katies Gesicht wurde mit Blut bespritzt.

Sie schreckte aus dem Schlaf hoch. Paul schnarchte noch immer, und der Regen prasselte unablässig gegen das Fenster. Sie wartete ein paar Minuten, bevor sie aus dem Bett aufstand und in die Küche ging, um einen Schluck Mineralwasser zu trinken. Sie konnte ihr Spiegelbild in dem schwarzen Fenster erkennen, als sie direkt aus der Flasche trank. Da war er wieder, der Geist, und starrte sie an.

Du brauchst mal eine Pause!, ermahnte sie sich selbst. Sie und Paul hatten seit Februar keinen Urlaub mehr genommen, als sie für zehn Tage eine billige Pauschalreise nach Lanzarote gebucht hatten und es neun davon in einer Tour durchgeregnet hatte. Aber vielleicht brauchte sie ja auch eine ganz andere Art von Pause. Eine Pause von ihrem ganzen Leben. Eine Pause von all dem Schmerz und der Gewalt und dem Eintreten von Türen zu nasskalt riechenden Wohnungen. Eine Pause von ihren Schuldgefühlen wegen Klein Seamus.

Doch sie konnte diese elf Schädel einfach nicht verdrängen, unsortiert aufgereiht neben dem ausgehobenen Grab, in dem der Rest ihrer Körperteile verstreut lag. Und sie konnte die kleinen Stoffpuppen nicht vergessen, die von den Oberschenkelknochen baumelten. Elf Menschen, die Gerechtigkeit verdienten. Sie betete zu Gott, dass sie nicht allzu viel hatten leiden müssen.