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Westend Verlag

Ebook Edition

Jörg Bibow, Heiner Flassbeck

Das Euro-Desaster

Wie deutsche Wirtschaftspolitik die Eurozone in den Abgrund treibt

Westend Verlag

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ISBN 9-783-86489-709-2

© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2018

Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin

Satz und Datenkonvertierung: Publikations Atelier, Dreieich

Inhalt

Vorwort
1 Fiskalische Austeritätspolitik und Lohnsenkung: eine fatale Kombination als »Anpassungsprogramm« in den Eurokrisenländern
1.1 Die offizielle Krisendiagnose und ihre Schwächen
Wirtschaftspolitisches Versagen erster Klasse
Verfehlte Austeritätspolitik und der »Multiplikatorstreit«
1.2 Anpassung durch »interne Abwertung«
Zum Lernprozess des IWF beim Problem der internen Abwertung
1.3 Nachfrageentwicklung in den Krisenländern
Griechenland
Portugal
Spanien
Italien
Lettland
Irland
Zypern
Versagen von Mainstream-Theorie und neoliberaler Wirtschaftspolitik
1.4 Empfehlungen für die Krisenpolitik in den »Programmländern« und für eine alternative Wirtschaftspolitik für die EWU insgesamt
2 Die Euro-Herausforderung: Die Wirtschaftspolitik der vier großen Schicksalsstaaten
2.1 Anhaltendes Siechtum der Eurozone
2.2 Vom »Wirtschaftswunder« zum »deutschen Modell«
2.3 Vom »kranken Mann des Euro« zum vermeintlichen Superstar
2.4 Das französische Modell und Frankreichs Euro-Herausforderung heute
2.5 Die Krise Italiens und die Gefahr des Euroausstiegs
2.6 Was ist dran an der Erholung Spaniens?
2.7 Strukturreformen an der fehlkonstruierten Währungsunion sind notwendig
2.8 Europas Währungsunion und die funktionierende Währungsunion der USA im Vergleich
2.9 Plädoyer für eine Abkehr vom Neoliberalismus
Literatur
Anmerkungen

Anmerkungen

1 Fiskalische Austeritätspolitik und Lohnsenkung: eine fatale Kombination als »Anpassungsprogramm« in den Eurokrisenländern

1 Diese Art von Einschätzung entspricht üblichen Mainstream-Vorstellungen zu vermeintlich gleichgewichtigen Kapitalströmen, die aus dieser Sicht zur Einkommenskonvergenz beitragen sollen (siehe zum Beispiel: Ahearne et alii 2007; Schmitz und von Hagen 2011).

2 Reformen des SWP im Jahr 2005 hatten diesen zunächst »flexibler« machen sollen. Reformen seit der Krise zielten in die andere Richtung: in 2011 die »Six Pack« Direktive, in 2012 der Europäische Fiskalpakt (»fiscal compact«) und in 2013 die »Two-Pack«-Direktive. Aus den bisherigen Erfahrungen darf man folgern, dass das Fiskalregime der EWU eine wirksame makroökonomische Steuerung nicht begünstigt. Positiv ist anzumerken, dass die Europäische Kommission Ermessensspielräume hat, Scha-densbegrenzung zu betreiben, indem sie eine strikte Anwendung der Regeln aussetzt. Kritisch hierzu sind zum Beispiel: Arestis und Sawyer 2003; Hein und Truger 2007; Truger 2013; Andrle et alii 2015; Terzi 2016.

3 Siehe auch: Guajardo et alii 2011, Auerbach und Gorodnichenko 2012a/b, Baum et alii 2012, DeLong und Summers 2012, OECD 2012; Riera-Crichton et alii 2014, Carnot und de Castro 2015. Gechert und Will 2012 und Gechert et alii 2014 liefern einen ausführlichen Überblick zur empirischen Multiplikatorforschung. Ein kürzlicher Blog-Beitrag von Geoff Tily zu Staatsausgabenkürzungen in OECD-Ländern bringt die ganze Angelegenheit sehr gut auf den Punkt (Tily 2016): »Cuts have greatly damaged economic growth – to a far greater extent than anticipated. … Given the political constraints under which they operate, the IMF and OECD have now come as close as they might to saying that cuts policies have failed.«

4 Der IWF bezieht im World Economic Outlook vom Oktober 2010 keine klare Stellung zu dieser Frage, bezeichnet die Forschungspapiere zur Hypothese der expansiven Austeritätspolitik als »extremely influential« (IWF 2010: 94). Für einen weiteren wichtigen Glaubenssatz, wonach öffentliche Schulden das Wachstum verlangsamen würden, lieferten Reinhart und Rogoff (2010) ähnlich fragwürdige empirische Evidenz. Siehe kritisch hierzu Panizza und Presbitero (2012).

5 Abbildung 2 zeigt zwei Kerninflationsraten. Die eine (»Kern 1«) klammert Energie, Nahrungsmittel sowie Alkohol- und Tabakprodukte aus. Die andere (»Kern 2«) schließt zusätzlich auch den »Tax-Push«-Inflationsbeitrag aus, den Beitrag, den Änderungen indirekter Steuern und staatlich administrierter Preise auf die Headline-Inflationsentwicklung haben. »Kern 2« ist ein gutes Maß des von heimischen Märkten erzeugten Inflationsdrucks.

6 Wird das erwartete Ergebnis in der Realität nicht beobachtet, so folgert der neoklassische Mainstream-Ökonom reflexartig, dass »Strukturprobleme« die Anpassung verhindert hätten, und fordert ebenso reflexartig »Strukturreformen«, die etwaige vermeintlich störende »Rigiditäten« beseitigen sollten, damit die widerspenstige Wirtschaftswirklichkeit besser der wundersam flexiblen Märchenwelt de neoklassischen Mainstreamtheorie entsprechen würde. Ein ernsthafter Ökonom dagegen versucht Fehler in der herrschenden Theorie zu identifizieren, um die Theorie der Wirtschaftswirklichkeit anzupassen. Das war Keynes’ Anliegen in seiner General Theory – es ist auch das Anliegen dieses Buchs.

7 In der Praxis entspricht diese Kompensation dem Verhalten einer Zentralbank mit Inflationsziel, die bei unter die Zielinflationsrate sinkender (prognostizierter) Inflation ihre Zinsen senkt. Diese Art der Anpassung ist im Fall der Eurokrisenländer schon deshalb ausgeschlossen, weil diese keine eigene Geldpolitik haben. Gali und Monacelli (2016) haben diese Erkenntnis von Keynes kürzlich wiederentdeckt.

8 Irving Fisher (1933) ist bekannt für seine auf diesen Ideen und den Erfahrungen der Großen Depression aufbauenden Theorie der Schuldendeflation (»debt deflation«). Sie stehen auch im Mittelpunkt von Hyman Minskys (1975) »Instabilitätshypothese des Finanzsystems«.

9 Selbst der IWF (2016a) hat eingestanden, dass Strukturreformen dieser Art unter rezessiven Bedingungen negative Nachfrage- und Beschäftigungseffekte haben.

10 Eggertsson und Krugman 2012 betonen den sofortigen Zwang zum Schuldenabbau überschuldeter Haushalte als Faktor, der den privaten Konsum stark drosseln kann. Der frühere Chefökonom der Bank of England Charlie Bean hielt es für realistisch (Bean 1998, S. 361): »If the reform involves reductions in the generosity of unemployment benefits, lower minimum wages or reductions in worker bargaining strength, it may be associated with a short-run decline in consumption as labour income falls. Similarly, while investment should increase in the medium run because of the reduction in wage pressure and the consequent increase in profitability, it is unlikely that such an increase in investment will occur immediately, especially if investment is irreversible, because there is an option value to waiting to see what happens (Dixit and Pindyck, 1994). So any increase in aggregate demand would need to come from either the public or foreign sectors, i.e., a fiscal expansion or a monetary relaxation leading to a currency depreciation and an improvement in competitiveness.«

11 Im Fall Irlands ist die Betrachtung der BIP-Entwicklung aufgrund von Verzerrungen, die mit der Standortwahl vieler großer multinationaler Unternehmen aus unternehmenssteuerlichen Motiven zusammenhängen – der jüngste Steuerstreit um die US-Firma Apple ist hier nur die Spitze des Eisbergs –, besonders trügerisch. Revisionen des Statistischen Amts Irlands im Juli 2016 machten dies besonders deutlich: Danach soll das irische BIP im Jahr 2015 um gut 26 Prozent gewachsen sein. Ende 2014 hatte es den Vorkrisenstand nur um rund fünf Prozent übertroffen, Ende 2015 war Irlands Wirtschaftsleistung dagegen vermeintlich um etwa ein Drittel höher. Die irischen privaten Haushalte jedenfalls ziehen aus diesen Steuertricks multinationaler Unternehmen nur sehr begrenzten Nutzen.

12 Obwohl Irland nur ein sehr kleines EWU-Mitgliedsland ist, führt die ex­treme Verzerrung von Irlands BIP im letzten Jahr zu einer signifikanten Beschönigung des Ergebnisses der EWU insgesamt.

13 Zur Vereinfachung verwenden wir jetzt im Folgenden zumeist Jahresdaten des IWF.

14 Dieser Effekt ergibt sich direkt aus den Wertpapierkäufen der Federal Reserve bei Umsetzung ihrer QE-Geldpolitik, denn die Zinsen auf diese Schulden werden an das Schatzamt als Gewinnabführung der Zentralbank zurücküberwiesen und indirekt durch das sinkende Marktzinsniveau und entsprechende niedrigere Zahlungen des US-Schatzamts an die Anleger in diese Papiere weitergegeben.

15 Ein vom Statistischen Amt Griechenlands veröffentlichter Lohnindex zeigt eine Lohndeflation von über 20 Prozentpunkten an.

16 Seit der globalen Finanzkrise haben Mainstream-Ökonomen einige Anstrengungen unternommen, diese grobe Peinlichkeit zu beheben und Standard-DSGE-Modelle um eine Art von Finanzsystem zu ergänzen. So kommt eine jüngst veröffentlichte Studie von Gourinchas et alii 2016 mittels eines solchen Modells auch prompt zu dem Ergebnis, dass Sparpolitik nur die Hälfte des griechischen BIP-Einbruchs erklären würde, die andere Hälfte dagegen auf die Verschlechterung der Finanzierungsbedingungen für Staat und Wirtschaft zurückginge. Diese Erkenntnis ist wirklich ganz wunderbar, zumal die Mainstream-Forscher natürlich gleichzeitig die üblichen Ratschläge für mehr Strukturreformen und schnellere Preisanpassungen abgeben. Die Rolle von Lohnkürzungen und Deflation in der griechischen Krise, die in der Tat auch eine Bankenkrise beinhaltet, wird nicht einmal ansatzweise problematisiert.

17 Ein von Istat veröffentlichter nationaler Tariflohnindex zeigt sogar für die letzten Jahre weiterhin leicht steigende Löhne an, während der hier verwendete, aus der vierteljährlichen BIP-Statistik abgeleitete Index Stagnation signalisiert.

2 Die Euro-Herausforderung: Die Wirtschaftspolitik der vier großen Schicksalsstaaten

1 Der wirtschaftspolitische Diskurs, speziell zu makroökonomischen Themen und Deutschlands Wirtschaftspolitik, stur verfolgt und verteidigt durch Finanzminister Schäuble (2010, 2011, 2013), wird im Ausland als höchst eigentümlich wahrgenommen. Siehe Economist 2014, Bofinger 2016, Feld et alii 2015, Münchau 2014, Wolf 2013.

2 Dieses Zitat Erhards bringt nicht nur den Kern des deutschen Modells und die subtile Rolle innerer Disziplin zum Ausdruck. Man darf hier mit einiger Erheiterung auch Erhards Bemerkungen zur wirtschaftspolitischen Beeinflussung von Handelsströmen sowie seine Kommunikation mit der Zen­tralbank an sich hervorheben. Erhard gilt gemeinhin als Vertreter des Ordoliberalismus, wonach staatliche Eingriffe in Marktprozesse prinzipiell abzulehnen sind, der Staat vielmehr eine Ordnung befreiter Märkte herzustellen und zu sichern hat. Dazu wird das Euckensche »Primat der Währungspolitik« in Deutschland – fälschlicherweise – immer mit dem heiligen Prinzip der Zentralbankunabhängigkeit in Verbindung gebracht und Ludwig Erhard als Verfechter eben dieser Unabhängigkeit verehrt und gepriesen. Man stelle sich einmal einen solchen »Appell« von Wolfgang Schäuble an Mario Draghi vor. (Zur deutschen Währungsmythologie siehe Bibow 2009a, 2010, 2017.)

3 Fanatische Befürworter von Preisstabilität – also extrem niedriger Inflationsraten von unter zwei Prozent – wie etwa Otmar Issing (2001) können ganze Bücher mit den vermeintlichen wohlfahrtserhöhenden Wirkungen der Preisstabilität füllen. Die externe Bedeutung dieses Faktors im deutschen Modell bleibt dabei regelmäßig unerwähnt.

4 Eine Volkswirtschaft lässt sich in die vier Sektoren – Unternehmen, private Haushalte, Staat und Ausland – unterteilen. Die Summe der »Finanzierungssalden« (aus Einkommen und Ausgaben) dieser vier Sektoren muss logisch zwingend immer null ergeben; die Weltwirtschaft kann nur so viel verdienen, wie sie ausgibt. Wir werden auf dieses Konzept und seine Anwendung zur Analyse der Fehlentwicklungen in Europa weiter unten zurückkommen.

5 Die Bundesbank machte noch einen weiteren gravierenden Fehler: Sie missdeutete die Entwicklung der Geldmenge M3 und die Verfehlung ihres Geldmengenziels. Vom Konzept her den Ideen Milton Friedmans völlig widersprechend, ist M3 ein »breites« monetäres Aggregat: Es enthält verzinsliche Termin- und Spareinlagen. Als die Bundesbank den kurzfristigen Zins auf zehn Prozent erhöhte, erkannten die Banken, dass die Bundesbank »Overkill« betrieb und ihren geldpolitischen Kurs in der sich abzeichnenden Rezession schon bald wieder ändern würde. Sie kauften also Anleihen am Markt: Die Anleihekurse stiegen, die langfristigen Zinsen fielen, und die Zinsstrukturkurve wurde invers. Genau das macht aber Termin- und Spareinlagen für den Privatanleger nur noch interessanter. Im Ergebnis überschießt die Geldmenge M3 also ihr Ziel, aber die »monetaristische« Bundesbank versteht nicht, was sie angerichtet hat (Bibow 2005). Der Engländer nennt ein solches Vorgehen treffend: »Roasting a pig by burning the house down.«

6 Bibow (2012a) hat diese Situation als Deutschlands »Euro-Trilemma« bezeichnet, da die folgenden drei Ziele Deutschlands nicht miteinander vereinbar sind: permanente Handelsüberschüsse, eine Währungsunion, die Transfers und Bailouts ausschließt, und eine unabhängige Zentralbank, die »sich nicht die Finger schmutzig macht«. Die »unkonventionelle« Geldpolitik der EZB ist das Einzige und Letzte, was bis heute noch zwischen Deutschland und einer expliziten Euro-Transferunion steht. Wir werden auf diesen Punkt zurückkommen (Bibow 2016a).

7 Das Konzept »struktureller« Defizitquoten basiert auf der wirtschaftstheoretisch wichtigen Idee der Bereinigung um den Konjunktureinfluss auf die Haushaltslage. Anders ausgedrückt: Man versucht, die Haushaltsposition bei Vollbeschäftigung und Erreichung der »potenziellen« Wirtschaftskraft zu schätzen. Spezifische empirische Maße dieses Konzepts sind ähnlich wie Schätzungen des potenziellen Outputs allerdings mit sehr hoher Vorsicht zu genießen, da zum Beispiel Annahmen zur Trendberechnung durch statistische Filter (beziehungsweise die »Willkür« des untersuchenden Forschers) einen kritischen Einfluss auf die geschätzten Größen haben. Auch für die hier gezeigten Maße des IWF gilt dies. Vorsichtig interpretiert liefern Zeitreihen der strukturellen Defizite zumindest grobe Anhaltspunkte zum Timing der Fiskalpolitik.

8 Zu erwähnen ist die im Jahr 2013 begonnene »Steuergutschrift für Wettbewerb und Beschäftigung« (»Crédit d’Impôt pour la Compétitivité et l’Emploi«, CICE). Vermarktet als wirtschaftspolitisches Aushängeschild von Präsident Hollande brachte diese Maßnahme französischen Unternehmen eine Lohnnebenkostenentlastung. Auch Deutschland hatte eine sogenannte »fiskalische Abwertung« im Rahmen der Mehrwertsteuererhöhung von 2007 bei gleichzeitiger Senkung der Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung unternommen.

9 Und dafür mehren sich tagtäglich die Anzeichen. Angekündigt wurden sehr umfangreiche Ausgabenkürzungen verbunden mit Steuersenkungen – Maßnahmen, die in ihrer Gesamtheit eine Belastung der Binnennachfrage und Umverteilung von unten nach oben zu bewirken drohen (Charrel 2017). Ebenfalls angekündigt wurden Arbeitsmarktreformen »im deutschen Stil« (Chassany 2017). Der IWF (2017) hat in seiner jüngsten Konsultation auch bereits seinen Segen für diese Marschroute verkündet.

10 Die Summe der sektoralen Finanzierungssalden muss logisch zwingend immer null ergeben. Also muss die Summe der drei inländischen Sektoren dem Saldo des betreffenden Landes gegenüber dem Rest der Welt entsprechen. Volkswirtschaftliche Statistiken sind allerdings immer nur Schätzungen. Auch bei der Messung internationaler Transaktionen gibt es viele Lücken und Fehler. Besonders für Frankreich zeigt sich eine signifikante Diskrepanz zwischen den in der Zahlungsbilanzstatistik ausgewiesenen Leistungsbilanzsalden und den hier gezeigten Finanzierungssalden des Sektors Ausland.

11 Die insbesondere in Deutschland über die HypoVereinsbank aktive UniCredit Gruppe ist die Ausnahme.

12 Vergleicht man die Entwicklung der deutschen (Netto-)Auslandsposition mit der Entwicklung einer hypothetischen Auslandsposition, wie sie sich aus kumulierten Leistungsbilanzüberschüssen seit den 2000ern ergeben hätte, so klafft eine gewaltige Lücke zwischen beiden Größen. Bis Ende 2011 hatten sich Deutschlands so geschätzte Vermögensverluste auf 21 Prozent des BIP (knapp 600 Milliarden Euro) belaufen (Bibow 2013b). Bis Ende 2014 errechnet sich eine Lücke von 25 Prozent des BIP und rund 700 Milliarden Euro (Bibow 2016b). Bislang nicht realisierte Buchgewinne und -verluste können dabei eine erhebliche Bedeutung haben. Laut der Europäischen Kommission (2012) war allerdings der größte Teil der Vermögensverluste tatsächlich in den Jahren 2007 bis 2008 realisiert worden, als Deutschland im Zusammenhang mit der amerikanischen »Subprime«-Hypothekenkrise aufgrund hoher Bestände an verbrieften Geldmarktpapieren international zu den größten Verlierern zählte. Die Deutsche Bundesbank (2011) beschreibt den Einfluss der zur Abwicklung der insolventen deutschen Banken WestLB und Hypo Real Estate (mit der Dubliner Tochter »Depfa« Deutsche Pfandbriefbank) errichteten Abwicklungsinstitutionen (»Erste Abwicklungsanstalt« und »FMS Wertmanagement«) auf die deutsche Zahlungsbilanz.

13 Mitte Juli 2017 hat UniCredit den Verkauf notleidender Kredite im Umfang von knapp 18 Milliarden Euro abgeschlossen. Reuters (2017) berichtet, dass UniCredit hierzu die Vermögenswerte auf nur 13 Prozent abschreiben musste, was einen entsprechend hohen Abschreibungsbedarf impliziert, sofern UniCredit hierfür nicht zuvor bereits Risikorücklagen gebildet hatte. Der durchschnittliche Buchwert notleidender Kredite italienischer Banken, also netto nach Rücklagenbildung, liegt bei rund 50 Prozent (Setser 2017). Der verbleibende Gesamtumfang notleidender Kredite im italienischen Bankensystem wird auf brutto 300 Milliarden Euro geschätzt. Das gesamte Eigenkapital des italienischen Bankensystems liegt unter 200 Milliarden Euro.

14 Es gibt allerdings eine sogenannte »Schuldengrenze«, die in den letzten Jahren aus unlauteren Motiven von der Kongressmehrheit politisch missbraucht wurde.

15 In einer Rede in London im März 2012 erteilte Bundesbankpräsident Jens Weidmann einer symmetrischen Anpassung eine klare Absage. Die deutsche Sichtweise erfordere vielmehr, argumentierte er, dass sich allein die Defizitländer anpassen, diese müssten schließlich ihre verlorene Wettbewerbsfähigkeit wiederherstellen. Für ihn stellte sich das Problem in der Frage (Weidmann 2012): »How can Europe succeed in this world if we willingly give up our hard-won competitiveness?« Selbst heute noch wehren sich die deutschen Verantwortlichen gegen die zaghaften Ratschläge des IWF (2017b), die interne Anpassung der Eurozone stärker zu unterstützen, und zwar mit der Entschuldigung, man könne mit der Wirtschaftspolitik Marktprozesse nicht beeinflussen. Natürlich könnte man direkt damit beginnen, die deutsche Beamtenbesoldung kräftig zu erhöhen – das hat man in die andere Richtung zwecks Lohnmoderation und Sparpolitik schließlich auch beharrlich betreiben können. Dazu könnte man auch ein »Bündnis für den Euro« organisieren, um eine nationale Agenda für stärkere Lohnerhöhungen zu inspirieren, genauso wie man ab Mitte der 1990er Jahre eine nationale Agenda zur Lohnmoderation erschuf, etwa durch das »Bündnis für Arbeit«.

Vorwort

Über Wolfgang Schäuble ist nach seinem Ausscheiden als Bundesfinanzminister viel geschrieben worden. Der deutsche Mainstream hat den Mann, den schon vorher praktisch niemand kritisieren wollte, in den Himmel gehoben. Er habe Eurostaaten gerettet und als Erster den deutschen Staatshaushalt konsolidiert.

Wir haben uns in diesem Buch im Detail mit der Entwicklung der Krisenstaaten im Euroraum beschäftigt und kommen zu einer etwas anderen Würdigung. Will man sie in einem Satz bündeln, würde unsere Schlussfolgerung heißen: Er hat Eurostaaten an den Abgrund getrieben und exakt zum falschen Zeitpunkt zugelassen, dass der deutsche Staatshaushalt einen Überschuss ausweist.

Der frühere Bundesfinanzminister hat mehr als jeder Finanzminister zuvor die wirtschaftliche Entwicklung in Europa zu verantworten. Und die Ergebnisse sind schlicht katastrophal. Nicht nur, dass Europa viel weniger gewachsen ist, als es möglich gewesen wäre. In Sachen Arbeitslosigkeit liegt Europa heute gemäß den offiziellen Zahlen noch immer bei neun Prozent, während sich ein vergleichbarer Wirtschaftsraum wie die USA mit deutlich unter fünf Prozent historischen Tiefstständen nähert. Das Niveau der Arbeitslosigkeit in ganz Südeuropa einschließlich Frankreichs ist immer noch extrem hoch – und das liegt nicht an verkrusteten Arbeitsmärkten, sondern allein an geringer Wachstumsdynamik.

Europa ist aber nicht kaum gewachsen und weist hohe Arbeitslosigkeit auf, es hat auch sein Inflationsziel nicht erreicht. Die EZB kämpft seit Jahren mit Null- beziehungsweise Negativzinsen gegen deflationäre Tendenzen. Das wird in Deutschland heftig kritisiert, aber man will gleichzeitig nicht wahrhaben, dass es die deutsche Lohndeflation unter Rot-Grün war, die den Keim der Deflation in die Europäische Währungsunion eingepflanzt hat.

Das bedeutet nichts anderes, als dass alle makroökonomischen Ziele weit davon entfernt sind, erreicht zu werden. Die Austeritätspolitik, wie sie unmittelbar nach Beginn der Krise von Deutschland als Krisenmanager verordnet wurde, war schlicht absurd. Man hätte die Vorgaben des Stabilitäts- und Wachstumspaktes niemals extrem restriktiv ausgestalten dürfen, und man hätte niemals versuchen dürfen, diese Vorgaben einzuhalten.

Zudem – und das ist sogar noch wichtiger und unsere Hauptkritik in diesem Buch – hat die Eurogruppe die Krisenländer dazu getrieben, die Arbeitsmärkte zu »flexibilisieren«, was nichts anderes hieß, als »zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit« die Löhne zu senken. Das war der Kardinalfehler, weil es unmittelbar zu einem starken Rückgang der Binnennachfrage führte und deswegen zu weiter steigender Arbeitslosigkeit, statt, wie von der Eurogruppe, dem IWF und Schäuble erwartet, die Arbeitslosigkeit zu senken.

Genau an diesem Punkt zeigt sich, wie fatal der Glaube des Mainstreams an die Validität des neoklassischen Arbeitsmarktmodells war und ist. Nur wer dieses Modell komplett über Bord wirft, hat eine Chance, eine angemessene Diagnose mit einer funktionierenden Therapie zu verbinden. Wir zeigen dazu die Alternative sowie die angemessene Politik in solchen Krisenfällen.

Dieses Buch konnte nur durch die großzügige Unterstützung von zwei Arbeitskammern realisiert werden: Die Chambre des salariés in Luxemburg hat sich mit unbürokratischem Engagement in die Bresche geworfen und es ermöglicht, die umfangreichen Untersuchungen, die für dieses Buch notwendig waren, durchzuführen. Aber auch die Arbeitskammer des Saarlandes hat das in ihren Möglichkeiten Stehende getan, um in Kooperation mit den Luxemburger Kollegen das Gesamtprojekt zu ermöglichen. Dafür danken wir den beiden Kammern – nicht ohne den Hinweis, wie wichtig es ist, solche Institutionen zu haben, die es auch der Arbeitnehmerseite ermöglicht, unabhängige Studien zu einem so zentralen Thema in Auftrag zu geben.

1 Fiskalische Austeritätspolitik und Lohnsenkung: eine fatale Kombination als »Anpassungsprogramm« in den Eurokrisenländern

In diesem Buch geht es um die konkreten Auswirkungen der Politik der Eurogruppe und der sogenannten Troika auf die Eurokrisenländer. Bis heute haben die meisten Beobachter nicht verstanden, was dort passiert ist und warum der Einbruch der Produktion so gewaltig war. Das liegt daran, dass überwiegend nicht gesehen wird, welch fatale Entwicklung von den Lohnsenkungen ausging, die mit staatlicher Austeritätspolitik kombiniert wurden. Im Fokus des ersten Teils stehen die Eurokrisenländer und ihre Erfahrungen in der Zeit seit 2008.

Die Europäische Währungsunion (EWU) befindet sich seit 2008 in einer Dauerkrise. Davon sind zwar nicht alle Mitgliedsländer gleichermaßen stark betroffen, aber der Fortbestand des Euro ist weiterhin infrage gestellt. Die Wirtschaftspolitik der Eurozone hat offensichtlich eklatant versagt, vermag es aber nicht, das einzugestehen und Konsequenzen für eine neue Politik zu ziehen. Schob man die Verantwortung für die Krise zunächst auf die Finanzmärkte, wurde danach – nahezu übergangslos – die »verantwortungslose« Fiskalpolitik bestimmter Mitgliedsländer als vermeintliche Krisenursache identifiziert, die Krise wurde zur »Staatsschuldenkrise« umgedeutet. Daraufhin wurde, fast reflexartig, eine allgemeine Austeritätspolitik eingefordert, begleitet von »Strukturreformen« zur Erhöhung der »Flexibilität« der Wirtschaft in der Zukunft. Schließlich entdeckte man den Verlust von Wettbewerbsfähigkeit als das allen Krisenländern gemeinsame kritische Manko. Dieses sollte nach der offiziellen Lesart der Eurogruppe durch Lohnsenkungen sowie Maßnahmen zur Arbeitsmarktflexibilisierung behoben werden.

Die Troika-Anpassungsprogramme, die im Zuge der Krisenbekämpfung entwickelt wurden, enthielten eine Kombination von fiskalischer Austeritätspolitik (oder staatlicher Sparpolitik) und Lohnsenkungspolitik. Durch diese Politikmischung sollten die Eurokrisenländer sowohl ihr internes als auch externes Gleichgewicht wiederherstellen. Ein internes Gleichgewicht ist durch Vollbeschäftigung, Preisstabilität und nachhaltige öffentliche Finanzen gekennzeichnet, ein externes Gleichgewicht durch eine nachhaltige Position der Leistungs- und Auslandsvermögensbilanz.

Staatliche Sparpolitik zielt primär auf die Nachhaltigkeit der öffentlichen Finanzen. Ob bei der Verwirklichung dieses Zieles negative Wirkungen auf Beschäftigung und Preisstabilität auftreten können und in welchem Ausmaß, wird in der Literatur kontrovers diskutiert. Diese Frage betrifft Höhe und Vorzeichen des »Multiplikators«, der wir uns hier widmen wollen. Lohnsenkungspolitik dagegen zielt primär auf das externe Gleichgewicht, auf die Wiederherstellung der Wettbewerbsfähigkeit. Innerhalb einer Währungsunion kann dies nicht durch Wechselkursabwertung, sondern nur durch »interne Abwertung« geschehen, also einer Verbesserung des nationalen Lohnstückkostenniveaus im Vergleich zu den Handelspartnern. Aus der Sicht der Protagonisten dieser kombinierten Anpassungsstrategie würden möglichst flexible Löhne, begünstigt durch entsprechende Strukturreformen, etwaige Schäden der Sparpolitik begrenzen helfen. Unterstellt wird hierbei offenbar, dass Lohnsenkungen zu schnellen Beschäftigungsgewinnen führen.

Wir bezweifeln die bei dieser kombinierten Anpassungsstrategie unterstellte Kompensation negativer Beschäftigungswirkungen grundsätzlich. Wir argumentieren, dass diese Hypothese auf einem Trugschluss beruht, der sich aus dem zentralen Schwachpunkt der Mainstream-Arbeitsmarkttheorie resultiert. Unsere Gegenhypothese lautet, dass Lohnsenkungspolitik die ohnehin zu erwartenden negativen Wirkungen fiskalischer Austeritätspolitik auf Nachfrage- und Beschäftigungsentwicklung verstärken wird. Sollte diese Anpassung in einem deflationären Wirtschaftsumfeld passieren, ist sogar noch mit zusätzlichen Belastungsfaktoren für die Konjunktur und die Beschäftigung zu rechnen.

Betrachtet man die Tiefe und Dauer des wirtschaftlichen Einbruchs in der Folge des kombinierten Einsatzes von Spar- und Lohnsenkungspolitik in den Jahren 2010 bis 2013, so ist die Prima-facie-Evidenz für unsere Gegenhypothese geradezu erdrückend. Beschäftigungs- und Inflationsentwicklung in der Eurozone belegen das Scheitern der gewählten Wirtschaftspolitik zweifelsohne. Die Arbeitslosigkeit verharrt bis heute auf einem extrem hohen Niveau. Löhne und Preise steigen kaum, oder es herrscht sogar offene Deflation. Die Eurozone insgesamt wandelt seit geraumer Zeit am Abgrund einer Deflation. Nur deswegen hat selbst die EZB nach langem Zögern im letzten Jahr doch noch ein Programm der »quantitativen Lockerung« (QE) aufgelegt, um Inflation und Inflationserwartungen zu erhöhen. Doch auf die erwünschten inflationären Wirkungen wartet man weiterhin, während auch die sogenannte »Erholung« der Wirtschaft kraftlos, fragil und unausgewogen bleibt. Generell besteht ein grotesker Widerspruch zwischen einer Wirtschaftspolitik, die einerseits die Löhne senken, andererseits aber die Inflation erhöhen will.

Vertreter der offiziellen Wirtschaftspolitik wenden ein, dass es gewisse »Erfolgsgeschichten« gegeben habe. Und einflussreiche Forscher und Berater der Wirtschaftspolitik (zum Beispiel des IWF) reden sich damit heraus, dass man die Multiplikatoren leider »unterschätzt« habe. Das klingt so, als sei man heute schlauer, habe aus Fehlern gelernt. Auch das ist zu bezweifeln, denn die eigentlichen Gründe für das Scheitern der Politik werden überhaupt nicht weiter hinterfragt.

Ziel unserer Untersuchung ist es daher, theoretisch zu begründen und empirisch zu belegen, dass die in den Eurokrisenländern verfolgte Politik, Lohnsenkungen – als Mittel zur Wiederherstellung der Wettbewerbsfähigkeit – und fiskalische Austerität zu kombinieren, maßgeblich war für Tiefe und Dauer des beobachteten Einbruchs. Dieser Nachweis ist von großer Bedeutung für zukünftige Anpassungsprogramme und auch, um ein grundsätzliches Überdenken der Wirtschaftspolitik der Eurozone anzuregen. Schließlich ist die Eurokrise bis heute ungelöst.

1.1 Die offizielle Krisendiagnose und ihre Schwächen

Wirtschaftspolitisches Versagen erster Klasse

Seit 2008 ist die weltwirtschaftliche Entwicklung durch vielfache Krisen und Instabilitäten gekennzeichnet. Kaum ein Land oder eine Region der Welt konnte in dieser Zeit eine wirklich befriedigende Wirtschaftsentwicklung erzielen. Unter den westlichen Industrieländern sticht die Eurozone allerdings als die Region hervor, die sich am schlechtesten von der globalen Finanzkrise (2008 bis 2009) und anschließenden Eurokrise (seit 2010) erholt hat – ein Prozess, der bis heute nicht abgeschlossen ist. Zum Jahresende 2015 hat das Bruttoinlandsprodukt (BIP) der Eurozone gerade wieder das Vorkrisenniveau von Anfang 2008 erreicht – das entspricht acht Jahren Nullwachstum. Das ist ein trauriger Rekord, der selbst die Erfahrungen Japans seit 1991 in den Schatten stellt. Genauer gesagt lag die Binnennachfrage in der Eurozone selbst zum Jahresende 2015 immer noch circa drei Prozent unterhalb ihres Vorkrisenniveaus. Die Lücke zwischen BIP und Binnennachfrage entspricht dem mittlerweile sehr hohen Leistungsbilanzüberschuss der Eurozone, der sich seit dem Beginn der Krise aufgebaut hat. Dieser Überschuss zeigt, dass die Eurozone in dieser Zeit sogar von weltwirtschaftlichen Wachstumsimpulsen profitiert hat, die eigene Wirtschaftsentwicklung wäre ansonsten noch schwächer ausgefallen.

Die außergewöhnlich schlechte Wirtschaftsentwicklung der Eurozone hatte sicher eine Reihe von Ursachen. Angesichts der katas­trophalen Ergebnisse sollte es aber außer Frage stehen, dass die Europäische Währungsunion (EWU) fehlkonstruiert ist und die Wirtschaftspolitik eklatant versagt hat. Dennoch ist leider festzustellen, dass die politisch Verantwortlichen bis heute nicht die notwendigen Schlüsse aus dieser Erfahrung gezogen und eine grundlegende Korrektur der Wirtschaftspolitik eingeleitet haben. Die Reformen der Regimearchitektur der Währungsunion blieben halbherzig und gingen zum Teil sogar in die falsche Richtung. Die Wirtschaftspolitik der Eurozone hat sich weiterhin hartnäckig und unbeirrbar auf nur zwei Dinge konzentriert: die Konsolidierung der Staatsfinanzen und die Wiederherstellung beziehungsweise Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit, und zwar durch Druck auf die Löhne in den Krisenländern.

Wenngleich es heute außer Frage stehen müsste, dass diese Wirtschaftspolitik eklatant versagt hat, findet eine kritische Auseinandersetzung mit ihrem Scheitern in der politischen Debatte speziell in Deutschland, dem zunehmend hegemonialen Mitgliedsland der EU/EWU, bis heute nicht statt. Zunehmend labil wird dagegen die politische Situation in denjenigen Euro-Mitgliedsländern, die deutlich stärker als Deutschland von der Krise erfasst wurden – wobei Deutschland mancherorts sogar immer mehr im Verdacht steht, von der Eurokrise auf Kosten seiner Partner zu profitieren. Die Eurozone ist gespalten, die Partner driften auseinander. Die Wirtschaftspolitik der EWU bedarf einer dringenden und grundlegenden Kursänderung, um ihr endgültiges Scheitern noch zu verhindern.

Krisenbekämpfung kann nur erfolgreich sein, wenn sie auf einer angemessenen Ursachendiagnose beruht. Die offizielle Krisendia­gnose weist eklatante Schwächen auf, das Versagen der Wirtschaftspolitik ist so gesehen wenig überraschend. Es scheint fast, man sei im Kreis der politisch Verantwortlichen weiterhin in erster Linie darum bemüht, das eigene krasse Versagen schönzureden. Ums Schönreden der Entwicklung ging es auch bereits vor dem Ausbruch der Krise. Otmar Issing, der erste Chefökonom der EZB (1999 bis 2006), der zuvor selbige Funktion bei der Deutschen Bundesbank ausgeübt hatte, erklärte in einer Rede im Jahr 2005 (Issing 2005):

»On the eve of the changeover, I wrote a commentary on diversity and monetary policy in the euro area. To the question whether a single one-size monetary policy could fit all parties involved – be they national entities, social partners or economic actors – my answer was: ›One size must fit all‹. The political decision on the creation of EMU had resolved all discussions on whether monetary union should precede or follow political unity and the fulfilment of the criteria for an optimum currency area. Today, in light of the evidence gathered so far in the euro area, I am more confident in saying: One size does fit all!«

Die Theorie optimaler Währungsräume ist auf sogenannte asymmetrische Schocks fokussiert. Diese können eine spezielle Gefahr für eine Währungsunion darstellen, weil die gemeinsame Geldpolitik und der gemeinsame Wechselkurs als Mittel zur Bekämpfung von Schocks ungeeignet sind, die die einzelnen Mitgliedsländer recht unterschiedlich betreffen. Sich auf diese Theorie berufend, hatten viele Ökonomen die Euro-Währungsunion als ein hoch riskantes politisches Projekt angesehen. Gegen Ende seiner Amtszeit als EZB-Chefökonom erklärte Issing in obiger Rede, dass sich Befürchtungen über nichtnachhaltige Divergenzen innerhalb der Währungsunion als unbegründet erwiesen hätten, die Euro-Währungsunion würde viel besser funktionieren, als erwartet worden war, das Projekt sei ein großer Erfolg. Insbesondere die einheitliche Geldpolitik würde allen Mitgliedsländern passen. Otmar Issing muss laut geträumt haben.

Deutschland durchlebte vor der Krise unter dem Euro eine Dauer­stagnation der Binnennachfrage, allein die Exporte dienten als Motor des mageren Wachstums. Andere Euroländer dagegen, speziell die späteren Eurokrisenländer, wiesen eine sehr starke Binnenkonjunktur auf. Die einheitliche Geldpolitik der EZB wirkte zum Beispiel in Spanien sehr expansiv: Kredite sprudelten, Immobilienpreise kletterten rasant, Konsum und Löhne wuchsen stark. In Deutschland wurde die staatlich konzertierte »Lohnmoderation« von Konsumstagnation und fallenden Immobilienpreisen begleitet, während Deutschlands Banken kaum heimisches Geschäft hatten. Bei einheitlicher Geldpolitik sind solche divergierenden Prozesse selbstverstärkend, die Wettbewerbspositionen driften auseinander, und die Ungleichgewichte in den Handelsbilanzen und Auslandsvermögenspositionen schwellen immer weiter an.

Forschungspublikationen der EZB aus jener Zeit bezeugen, dass der Zentralbank Divergenzen der nationalen Lohnstückkostenentwicklung und entsprechend anschwellende Handels- und Leistungsbilanzungleichgewichte innerhalb der Währungsunion nicht vollständig entgangen waren. Im Monatsbericht vom Mai 2005 urteilte sie hierzu jedoch unbesorgt (EZB 2005, S. 77):

»The competitiveness (›real exchange rate‹) channel, although slow to build up, eventually becomes the dominating adjustment factor.«1

Ähnliche (Fehl-)Urteile finden sich auch in den periodischen Finanzsystemstabilitätsberichten der EZB, die noch bis zum Ausbruch der Krise jegliches Bewusstsein für die Brisanz der Situation vermissen ließen. So schrieb die EZB im Dezember 2006 hierzu (EZB 2006b, S. 9):

»With the euro area financial system in a generally healthy condition and the economic outlook remaining relatively favourable, the most likely prospect is that financial system stability will be maintained in the period ahead.«

Sogar nach dem Ausbruch der Finanzmarktstörungen im August 2007 brauchten die Verantwortlichen noch einige Zeit, um die akut drohenden Gefahren für die Eurozone überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Den krönenden Abschluss dieser Art von offizieller Schönrederei lieferte dann Joaquín Almunia, EU-Kommissar für Wirtschaft und Finanzen, der zum zehnjährigen Jubiläum der Währungsunion folgenden Lobgesang anstimmte (Almunia 2008: iii):

»A full decade after Europe’s leaders took the decision to launch the euro, we have good reason to be proud of our single currency. The Economic and Monetary Union (EMU) and the euro are a major success. For its member countries, EMU has anchored macroeconomic stability, and increased cross border trade, financial integration and investment. For the EU as a whole, the euro is a keystone of further economic integration and a potent symbol of our growing political unity. And for the world, the euro is a major new pillar in the international monetary system and a pole of stability for the global economy. As the euro area enlarges in the coming years, its benefits will increasingly spread to the new EU members that joined in 2004 and 2007.«

Diese Worte wurden im Frühjahr 2008 veröffentlicht, also rund ein dreiviertel Jahr nach dem Ausbruch der Unruhen auf den Euro-Geldmärkten. Bereits am 9. August 2007 hatte sich die EZB zum ersten Mal gezwungen gesehen, den Banken auf den Euro-Geldmärkten mittels Feinsteuerungsoperationen mit rund 90 Milliarden Euro Liquidität zur Hilfe zu eilen. Im März und Juni hatte sie zuvor ihre Leitzinsen jedoch um jeweils 25 Basispunkte erhöht und dabei auch noch weitere Zinsschritte angedeutet.

Seit dem Frühjahr 2007 war eine Krise im sogenannten »Subprime« -egment der amerikanischen Immobilien- und Hypothekenmärkte zur Gewissheit geworden. Unsicherheit herrschte nur noch darüber, wie weit diese Krise letztlich im internationalen Finanzsystem streuen würde. Klar war allerdings von Beginn an, dass europäische Banken sehr hohe Risikopositionen auf dem US-Hypothekenmarkt eingegangen waren. Dem akuten Ausbruch von Unruhen auf den Euro-Geldmärkten im August 2007 waren zum Beispiel entsprechende Probleme der deutschen IKB Bank sowie der französischen BNP Paribas vorausgegangen.

Mit anderen Worten, spätestens ab dem Sommer 2007 mussten die europäischen Behörden davon ausgehen, dass den europäischen Banken schwere Verluste aus ihren US-Engagements drohten. Sie mussten dazu auch mit hausgemachten Bankenproblemen rechnen, da laut Einschätzung der EZB auch auf den Immobilienmärkten der Eurozone fast zeitgleich mit den USA eine Trendwende stattfand. Ergänzend kann man hier noch erwähnen, dass die offiziellen Berichte der EZB und EU-Kommission gezeigt hatten, dass Kapitalströme und externe Ungleichgewichte der neuen EU-Mitgliedsländer in Zentral- und Osteuropa Ausmaße erreicht hatten, welche die Situation in früheren Krisenregionen Lateinamerikas und Südostasiens um ein Vielfaches übertrafen. Auch hieran waren die Banken der Eurozone, wie überall bekannt war, maßgeblich beteiligt gewesen (EZB 2006a).

Aber die wirtschaftspolitischen Akteure der Eurozone zogen es damals vor, wegzuschauen und Schönwetterreden zu halten. Die EZB, wie stets und immer allein von Sorgen um vermutete Inflationsrisiken geplagt, erhöhte noch im Juli 2008 ihre Leitzinsen und deutete in ihrer Kommunikation weitere Straffungen ihres geldpolitischen Kurses an. Bundesbankpräsident Axel Weber zeigte sich auch im Juni 2008 noch überzeugt (Weber 2008, S. 6–7):

»The euro area remains on solid fundamentals with regard to real economic growth. This view is underlined by the Eurosystem staff projections published yesterday. And also the outlook on Germany as laid out in the Bundesbank forecast published today supports this assessment.«

Die Europäische Kommission hatte im Frühjahr 2008 zwar ihre Wachstumsprognose für die Eurozone wegen der Finanzmarktunruhen, steigender Rohstoffpreise und weil die USA am Rande einer Rezession standen, auf 1,7 Prozent für das Jahr 2008 sowie 1,5 Prozent für 2009 zurückgenommen. Sie befand aber immer noch:

»The EU economy holds up relatively well due to sound fundamentals.«

Auch dieser Verweis auf solide Fundamentaldaten muss im Nachhinein natürlich besonders verwundern, bedenkt man, wie sehr EZB und EU-Kommission seit der Krise auf die zwingende Notwendigkeit weitreichender Strukturreformen gedrängt haben.

Der Zusammenbruch der US-Investmentbank Lehman Brothers am 15. September 2008 traf die wirtschaftspolitischen Schlafwandler der Eurozone dann wie ein Schlag. Die Banken Europas und der USA standen im Zentrum der internationalen Finanzkrise, die, wie man dann schnell begriff, die akute Gefahr einer Weltwirtschaftskrise in sich trug. Die Situation auf den Finanzmärkten und der Einbruch der Wirtschaftstätigkeit war gravierend genug, die wirtschaftspolitischen Akteure der wichtigsten Volkswirtschaften der Welt zu geeintem Handeln zu bewegen. Die EZB beteiligte sich im Oktober 2008 an einer international koordinierten Zinssenkungsrunde. Die Europäische Kommission unterbreitete noch im November 2008 einen »European Economic Recovery Plan«, ein fiskalpolitisches Konjunkturprogramm im Umfang von 200 Milliarden Euro. Im Rahmen der G20 war die EU an den auf den G20-Gipfeln in Washington im November 2008 und London im April 2009 gefassten Beschlüssen zur Bekämpfung der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise beteiligt. Man einigte sich unter anderem auf fiskalpolitische Expansion, Vermeidung von Handelsrestriktionen, Re-Regulierung der Banken und Finanzmärkte sowie auf eine Aufstockung der Schlagkraft des Internationalen Währungsfonds, um der nunmehr auch viele Entwicklungsländer betreffenden Krise wirksam begegnen zu können (UNCTAD 2009, Bibow 2012b).