Robert Louis Stevenson

Die Schatzinsel

 

 

Impressum

Covergestaltung: Gunter Pirntke

nach dem Originalcover der Ausgabe von Charles Scribner’s Sons

aus dem Jahr 1911

Illustration: George Roux

Übersetzer: Heinrich Conrad

Digitalisierung und Druckvorbereitung: Gunter Pirntke

BROKATBOOK Verlag Gunter Pirntke


2017


BROKATBOOK Verlag Gunter Pirntke 

Mail: brokatbook@aol.com / gunter.50@gmx.net

Gunter Pirntke

Altenberger Str. 47

01277 Dresden

 

 

Inhalt

Impressum

Erstes Buch: Der alte Seeräuber

1. Der alte Seebär im "Admiral Benbow"

2. Der Schwarze Hund kommt und verschwindet

3. Kapitel Der schwarze Brief.

4. Die Seemannskiste

5. Das Ende des blinden Mannes

6. Die Papiere des Kapitäns

Zweites Buch: Der Schiffskoch

7. Ich gehe nach Bristol

8. Die Wirtschaft zum "Alten Anker"

9. Pulver und Waffen

10. Die Seereise

11. Was ich im Apfelfass vernahm

12. Kriegsrat

Drittes Buch: Abenteuer auf dem Land

13. Wie es begann

14. Der erste Schlag

15. Ein Einsamer auf der Insel

Viertes Buch: Das Blockhaus

16. Wie das Schiff aufgegeben wurde

17. Das Schicksal der Jolle

18. Der erste Kampftag geht zu Ende

19. Die Besatzung des Blockhauses

20. Silver, der Unterhändler

21. Der Angriff

Fünftes Buch: Mein Seeabenteuer

22. Wie mein Seeabenteuer begann

23. Erlebnisse in der Ebbe

24. Die Irrfahrt im Korakel

25. Ich streiche den „lustigen Rüdiger“

26. Israel Hands

27. „Dublonen! Dublonen!“

Sechstes Buch: Kapitän Silver

28. Im feindlichen Lager

29. Wieder ein schwarzer Zettel

30. Auf Ehrenwort

31. Flint zeigt den Weg zum Schatz

32. Die Geisterstimme unter den Bäumen

33. Unerwartete Wendung

34. Der Beschluss

 

Erstes Buch: Der alte Seeräuber

1. Der alte Seebär im "Admiral Benbow"

 

Unser Gutsherr, Baron Trelawney, der Arzt Doktor Livesey und ihre Begleiter auf jener denkwürdigen Reise nach der Schatzinsel drängten mich, unsere Erlebnisse auf der Reise und alles, was man über die Insel weiß, niederzuschreiben und nichts zu verschweigen als ihre örtliche Lage. Es liegen dort noch ungehobene Schätze, die keinen Abenteurer verlocken sollen.

Ich folgte dem Wunsche aller und beginne mit der Zeit, als mein Vater noch das Wirtshaus "Zum Admiral Benbow"1 innehatte und der alte, wettergebräunte Seemann mit der tiefen brandroten Narbe im Gesicht, die von einem Säbelhieb herrührte, sich in unserem Hause einnistete.

Ich sehe ihn noch, als ob es gestern gewesen wäre, wie er im Schifferschritt vor unsre Haustür kam und ihm seine Seemannskiste auf einem Handwägelchen nachgefahren wurde. Er war ein großer, starker, unbeholfener Mensch, nussbraun im Gesicht, mit einem verlotterten Zopf, der ihm unordentlich über den Rücken baumelte. Er trug einen schmutzigen blauen Rock und hatte rauhe Hände mit unsauberen Fingernägeln. Die schlecht verheilte Narbe auf seiner linken Backe war schrecklich anzusehen. Ja, ich sehe ihn noch deutlich vor mir, wie er mit zusammengekniffenen Augen den Strand absuchte und dabei irgendeine Weise pfiff, bis es ihm einfiel, mit hoher, zittriger Fistelstimme das alte Matrosenlied anzustimmen:

"Fünfzehn Mann auf des toten Kerls Kiste! Jo ho ho und 'ne Buddel Rum!"

Das hat er dann oft genug gesungen. Sein Gesang war rau, die Weise falsch und unschön, als ob er am Gangspill2 geschult worden wäre. So kam er an, klopfte mit seinem ungefügen Knüppel an die Haustür und verlangte ein Glas Rum. Er bekam es, schlürfte langsam, als ob er sich ein sicheres Urteil über die Güte des Getränks bilden wollte. Dabei betrachtete er unausgesetzt die Klippen, sah auch einmal unser Wirtshausschild genau an. "Das ist eine nette Bucht", nickte er. "Euer Ausschank hat eine hübsche Lage. Viel Gäste hier, Maat?"3 Der Vater erwiderte, es seien leider nur wenige.

"Nun, dann ist das der richtige Ankerplatz für mich - hier wird beigelegt, Bursch!" rief er dem Gepäckträger zu. "Bring meine Kiste nach oben! - Ich will hier eine Zeitlang bleiben."

Er wandte sich dann an meinen Vater: "Ich bin ein einfacher Mann, gar nicht verwöhnt. Etwas Rum, Schinken und Eier und der Blick auf das Meer, das genügt mir. Wie Ihr mich nennen sollt? Nennt mich meinetwegen Kapitän. Aber ich merke schon, worauf es Euch ankommt: hier ...!" Damit warf er drei oder vier Goldstücke auf den Schenktisch. "Wenn das aufgebraucht ist, so sagt es mir." Das kam großartig und befehlend heraus. Und wirklich sah der Mann trotz seines schäbigen Aufzugs nicht wie ein gewöhnlicher Matrose aus, sondern eher wie ein Bootsmann oder ein Schiffsherr, der gewohnt ist, Gehorsam zu finden, wenn er nicht zuschlagen soll. Der Gepäckträger erzählte, der Fremde sei gestern mit der Post gekommen und im "König Georg" abgestiegen. Dort habe er sich nach den Wirtshäusern erkundigt, die längs des Bristolkanals lägen, und als er von dem unsrigen gehört hatte, dass es einsam sei und gut beleumundet, habe er sich entschlossen, hierher zu kommen. Das war aber auch alles, was wir erfahren konnten.

In der Regel war er sehr schweigsam. Tagsüber schlenderte er am Strand umher und stieg auf die Klippen, sein Taschenfernrohr immer unter dem Arm. Abends saß er in der Wirtsstube, dicht am Kamin, und trank Grog. Meist hatte er keine Lust zu antworten, wenn er angesprochen wurde. Manchmal wurde er über eine Störung wütend und blies durch die Nase, dass es wie ein Nebelhorn anzuhören war, und wir gewöhnten uns daran, ihn in Ruhe zu lassen. Wenn er von seinen Streifzügen zurückkam, fragte er regelmäßig, ob fremdes Schiffsvolk auf der Straße vorübergekommen wäre. Anfangs glaubten wir, dass er den Wunsch habe, mit seinesgleichen zu verkehren, sahen aber bald ein, dass er nur bestrebt war, Seeleuten aus dem Wege zu gehen. Zuweilen kam es doch vor, dass ein Matrose, der auf dem Landwege nach Bristol4 unterwegs war, bei uns einkehrte. Dann lugte der seltsame Mensch durch den Vorhang der Gaststubentür und sah sich den Mann genau an. Trat er dann ein, so setzte er sich auf seinen Platz und blieb mäuschenstill. Mir wurde die Sache von Tag zu Tag klarer, denn ich war sozusagen Teilhaber seiner Besorgnisse. Einmal hatte er mich beiseite genommen und mir einen Schilling zum Ersten jeden Monats versprochen, wenn ich fleißig Obacht geben wollte, ob ein Matrose mit einem Stelzfuß in Sicht käme. Und wenn es der Fall wäre, sollte ich es ihm gleich melden. Oft genug kam es vor, dass ich ihn am Monatsersten an meinen Lohn erinnern musste, aber dann fauchte er mich an, dass mir himmelangst wurde. Allein, kaum ging die Woche zu Ende, so wurde er anderen Sinnes, bereute seine Heftigkeit, gab mir mit grimmiger Güte meinen Schilling und mahnte mich, ja nach dem Manne mit dem Stelzfuß auszuschauen.

Ich brauche wohl kaum zu erwähnen, dass der seltsame Mann mit dem Holzfuß auch die Hauptperson meiner Träume wurde. In stürmischen Nächten, wenn das ganze Haus bebte und die Brandung gegen die Klippen donnerte, sah ich den Alten in tausend Formen und teuflischen Fratzen. Da sprang er mit einem Bein dahin, das andere fehlte bis zum Knie oder bis zur Hüfte, oder er hatte nur eins, das ihm in der Mitte des Körpers angewachsen war. So sprang er mir nach, verfolgte mich über Hecken und Zäune, über Stock und Stein, und, man darf mir's glauben, der Mann ließ mich meinen Monatsschilling sauer verdienen.

Aber während mich der unbekannte Stelzfuß Tag und Nacht in Angst und Schrecken hielt, hatte ich vor dem Kapitän nicht weniger Furcht. So ging es freilich allen, die ihn kennenlernten. An manchen Abenden nahm er mehr Rum zu sich, als er vertragen konnte. Dann saß er da und sang abscheuliche Seemannslieder, ohne jede Rücksicht auf die Anwesenden. Zuweilen fiel es ihm ein, für die ganze Gesellschaft Rum zu bestellen. Dafür mussten sie, wenn auch zitternd und bebend, seine Schandlieder anhören und den Kehrreim mitsingen. Und sie sangen mit, dass das Haus bebte, einer lauter als der andre, denn jeder fürchtete, ihn zu reizen, wenn er nicht mitmachte. Da erschallte so manchmal das "Jo ho ho" aus dem elenden Gesang von der Seemannskiste. Gerade bei dieser Gelegenheit erwies er sich als sehr empfindlich. Wenn er mit der Faust auf den Tisch schlug, musste alles ruhig sein. Dann konnte er wütend werden, wenn einer eine Frage an ihn richtete. Ein andermal empörte es ihn, dass ihn keiner fragte, weil er dann annahm, dass sie nicht aufpassten, wenn er ihnen etwas erzählte. Auch erlaubte er keinem, vorzeitig das Wirtshaus zu verlassen. Sie mussten warten, bis er selbst an der Abendunterhaltung genug hatte und taumelnd sein Schlafgemach aufsuchte.

Am meisten waren seine Geschichten gefürchtet. Da ging's noch gut, wenn er von Seestürmen erzählte, schlimmer, wenn er mit Behagen von Plankenlaufen, Kielholen5 und Hängen berichtete oder von gespenstischen Kraken mit Fangarmen und greulichen Riesenschildkröten, von Raub, Mord und Gewalttat in den spanischen Gewässern. Wenn man ihn hörte, so musste man annehmen, dass er sein Lebtag nur unter den erbärmlichsten Menschen gelebt habe, denen Gott erlaubt hatte, zur See zu gehen. War doch auch die Sprache, in der er sich ausdrückte, für die Zuhörer - einfache, unverdorbene Leute - so schrecklich wie die Greuel selbst, die er berichtete. Mein Vater war oft der Meinung, dass die Wirtschaft durch diesen Menschen zugrunde gerichtet werden müsse, denn die Leute würden bald aufhören zu kommen, um auf diese Art gepeinigt und zitternd vor Angst ins Bett geschickt zu werden. Aber ich glaube eher, dass die Anwesenheit des Unholds uns von Nutzen war. Er machte sie anfangs gruseln, nachdem sie sich aber an den Mann und seine Art gewöhnt hatten, fanden sie die seltsame Unterhaltung nicht unangenehm. Es war etwas Auffrischendes in ihrem öden, stillen Landleben, und die jüngeren Zuhörer taten sogar, als ob sie den Menschen bewundern müssten. Er wäre, sagten sie, ein richtiger "Seehund", ein echter, alter "Seebär", und er wäre von der Sorte, die das Vaterland geachtet und gefürchtet gemacht hätten auf allen Meeren.

In einer Beziehung freilich hatte der Vater recht. Der Kapitän blieb Woche für Woche und dann Monat für Monat in unserm Haus, und längst war das Geld verbraucht, das er damals bei seinem Eintritt hingeworfen hatte. Der Vater wagte es nicht, ihn zu mahnen, und als er sich dennoch ein Herz fasste und es tat, blies ihn der so schrecklich an, dass er flüchtete und den Versuch nicht wiederholte. Oft sah ich den Vater danach die Hände ringen und das schlechte Geschäft beklagen, und ich glaube, die Angst und der Verdruss darüber haben sein frühes Ende beschleunigt.

Solange der Kapitän bei uns war, nahm er keine Änderung in seiner Kleidung vor, nur einmal kaufte er einem Händler mehrere Paar Strümpfe ab. Als eine von den Krempen seines dreispitzigen Hutes herunterschlappte, ließ er sie liederlich hängen, obschon sie ihn bei windigem Wetter belästigen musste. Seinen schäbigen Rock pflegte er auf seiner Kammer selbst zu flicken, und dieser bestand schließlich aus zusammengestoppelten Lumpen. Niemals schrieb oder empfing er einen Brief, sprach auch mit niemandem außer den Nachbarn und mit denen nur, wenn er betrunken war. Die große Seemannskiste sah keiner von uns geöffnet.

Nur einer bot ihm die Stirn, und das war in der Zeit, als es mit meinem armen Vater schon zu Ende ging. Doktor Livesey kam eines Nachmittags ziemlich spät, um nach dem Kranken zu sehen. Die Mutter hatte dem Doktor ein Mahl vorgesetzt, und nachdem er gespeist hatte, ging er in das Gastzimmer, um da ein Pfeifchen zu rauchen und zu warten, bis sein Pferd aus dem nahen Dörfchen herbeigeführt wurde, denn wir hatten keine Stallung im Hause.

Ich folgte ihm dahin und stellte unwillkürlich Vergleiche an. Was für ein Unterschied zwischen dem feinen, sorgsam gepuderten Herrn mit seinen freundlichen Augen und dem gefälligen Benehmen und dem plumpen, ungefügen Bauernvolk um ihn herum! Und was für ein Abstand besonders zwischen dem hochgebildeten und würdigen Gentleman und dem verkommenen Saufbold in der Ecke, diesem elenden Taugenichts, der sicher nichts anderes als ein Seeräuber gewesen war!

Und der ließ sich in seinem wüsten Benehmen durch den Eintritt des feinen Mannes nicht im mindesten stören. Er flegelte sich nach wie vor herum und scheute sich nicht, mit unflätigen Gebärden sein Leiblied zu brüllen:

"Fünfzehn Mann auf des toten Kerls Kiste! Jo ho ho und 'ne Buddel Rum!"

Wir alle kannten das Lied und achteten nicht sonderlich darauf, aber Doktor Livesey war es etwas Neues, wenn auch nichts Angenehmes. Das konnte ich seinem Gesicht ansehen. Er schwieg einen Augenblick, sah den lärmenden Lumpen unwillig an und unterhielt sich dann ruhig weiter mit dem alten Gärtner Taylor über ein neues Heilverfahren für rheumatische Leiden. Den Kapitän machte sein Singsang aber immer frecher, immer verwegener, und zuletzt schlug er in seiner uns wohlbekannten Art mit der Faust auf den Tisch, und das bedeutete: Ruhe hier! Ich allein habe das Wort. Alle schwiegen ängstlich, nur nicht Doktor Livesey, der in seiner ruhigen und freundlichen Weise im Reden fortfuhr, wobei er ab und zu einen Zug aus seiner Pfeife tat.

Der Kapitän stierte den Arzt eine Weile an, schlug wieder auf den Tisch, machte fürchterliche Augen und brüllte:

"Ruhe da im Zwischendeck!"

Der Arzt sah gelassen über die Schulter den Wüterich an und fragte:

"Gilt das mir, was Ihr soeben sagtet?" Und als jener es mit einer Verwünschung bejahte, fuhr er fort:

"Wenn Ihr so fortfahrt, unvernünftig Rum zu trinken, so wird die Welt bald einen Halunken weniger haben."

Nun wurde die Wut des Trunkenen fürchterlich. Er sprang auf, zog sein Seemannsmesser, klappte es auf und machte Miene, den Arzt an die Wand zu spießen. Aber mit der größten Kaltblütigkeit und allen im Zimmer deutlich vernehmbar, auch ohne den Angreifer anders als über die Schulter anzusehen, sagte Doktor Livesey:

"Wenn Ihr nicht augenblicklich das Messer in Eure Tasche steckt, werde ich dafür sorgen, dass Ihr vom nächsten Gerichtshof zur Verantwortung gezogen und gehängt werdet."

Einige Augenblicke warf der Kapitän dem Doktor wütende Blicke zu, die dieser ruhig aushielt, dann wurde der "Seehund" auf einmal sehr klein, steckte das Messer ein, kroch auf seinen Platz und knurrte wie ein geprügelter Hund.

"Und nun, mein Herr", fuhr der Doktor fort, "da ich weiß, dass sich ein solcher Kerl wie Ihr in meinem Bezirk befindet, werde ich Tag und Nacht ein wachsames Auge auf Euch haben. Ich bin nicht allein Arzt, ich bin auch Behörde, und wenn gegen Euch die geringste Beschwerde erhoben wird, und wäre es nur, dass Ihr Euch, wie heute abend, rüpelhaft benehmt, so werde ich Mittel finden, um Euch zahm zu machen, und dafür sorgen, dass Ihr von hier wegkommt. Das mag Euch für heute genügen."

Jetzt wurde Liveseys Pferd gebracht, und er ritt davon. Der Kapitän muckte nicht mehr und ließ uns auch die kommenden Tage in Ruhe.

 

 

2. Der Schwarze Hund kommt und verschwindet

 

Es war nicht lange nach diesem Ereignis, dass sich etwas Merkwürdiges in unserem Hause zutrug, eine geheimnisvolle Begebenheit, die uns von dem Kapitän befreite, wenn auch nicht von den üblen Folgen seines Hierseins. Es war Winter geworden, ein eisigkalter Winter mit hartem Frostwetter und schweren Stürmen. Das wirkte nicht günstig auf den Gesundheitszustand meines armen Vaters, und wir mussten fürchten, dass er den nächsten Frühling nicht erleben werde. Er verfiel täglich mehr, und da die Mutter und ich die ganze Wirtschaft versorgen mussten, so hatten wir alle Hände voll zu tun und konnten uns um unsern ungebetenen Gast wenig kümmern.

Es war in der Frühe eines Januarmorgens. Draußen herrschte beißende Kälte, der Strand erschien weiß vom Reif, die Wellen bespülten sanft die Klippen, die Sonne stand tief und blass am Himmelsrand und beleuchtete nur schwach die Höhen am Meer. Früher als sonst war der Kapitän aufgestanden, um seinen Morgenspaziergang zu machen, der ihn an den Strand führte. Sein Säbel schlenkerte um die Beine und die Schöße seines blauen Rocks, den Hut hatte er in den Nacken geschoben, das messingne Fernrohr blinkte unter seinem linken Arme. In der bitteren Kälte folgte der Atem gleich einer Rauchsäule seiner Spur, sein Schnauben war hörbar, und er schien so verdrießlich, als ob er sich noch in Gedanken mit der Abfertigung durch Doktor Livesey beschäftige. Jetzt war er hinter dem Felsen verschwunden.

Die Mutter war oben bei dem kranken Vater, und ich deckte unten für den Kapitän den Frühstückstisch, weil ich ihn bald zurückerwartete. Da öffnete sich die Tür der Gaststube, und ein Mann trat ein, den ich, soweit ich mich erinnern konnte, noch nie gesehen hatte. Es war ein Mensch mit einem blassen, talgfarbigen Gesicht, dem, wie ich gleich bemerkte, zwei Finger der linken Hand fehlten. Er trug wie die Kapitäne und Steuerleute zur damaligen Zeit als Zeichen seines Ranges einen Säbel, aber es sah gar nicht so aus, als ob er damit umzugehen wisse. Ich gab seit langer Zeit acht auf Seeleute, ob sie nun ein Bein oder deren zwei besaßen, und was ich an dem da bemerkte, machte mich irre. Der sah wirklich nicht schiffermäßig aus, und dabei schien ihm doch ein gewisser Seegeruch anzuhaften.

Ich fragte ihn, was ihm zu Diensten stehe, und er bestellte einen Rum. Als ich aber gehen wollte, um das Verlangte zu holen, setzte er sich auf den Tisch und winkte mir, näher zu kommen. Ich blieb also stehen und hielt die Serviette in der Hand.

"Komm her, mein Bübchen", sagte er, "komm näher!"

Ich tat einen Schritt vorwärts.

"Ist hier für meinen Maat Bill gedeckt?" fragte er mit einem Seitenblick auf den Frühstückstisch.

Ich antwortete, dass ich seinen Maat Bill nicht kenne und dass das Frühstück für eine Person bestimmt sei, die im Hause wohne und die wir Kapitän zu nennen pflegen.

"Nun", sagte er, "mein Maat Bill lässt sich gern Kapitän nennen, doch das macht nichts. Hat er nicht einen mächtigen Schmiss auf der linken Backe? Und hat er nicht so - ein angenehmes Wesen, besonders, wenn er tüchtig getrunken hat? Siehst du, das hat er. Stimmt alles. Und er wohnt in diesem Haus?"

Ich sagte ihm, er wäre ausgegangen.

"Welchen Weg, mein Bübchen, welchen Weg?"

Ich zeigte ihm den Felsen, hinter dem der Kapitän verschwunden war, und sagte, dass er jeden Augenblick zurückkommen müsse. Nun musste ich noch mehrere andere Fragen beantworten. "Also er ist ausgegangen? Schöne Beschäftigung für meinen guten Maat Bill. Das wird ihm besser bekommen als das Trinken."

Diese Reden schienen mir nicht ganz aufrichtig gemeint zu sein, denn seine Mienen stimmten nicht zu den freundlichen Worten. Doch was ging's mich an? Schließlich konnte ich auch an der Sache nichts andern. Wie es mir schien, fing der Fremde jetzt an zu spionieren. Er trat vor die Haustür, ging um die ganze Wirtschaft herum, lugte in alle Ecken, suchte mit misstrauischen Blicken und kam mir mitunter vor wie die Katze, die eine Maus belauert. Einmal ging auch ich vor die Haustüre, aber er rief mich sofort zurück, und als ich seinem Wunsch nicht schnell genug folgte, kam ein schrecklicher Ausdruck in sein Gesicht. Er befahl mir, sofort hineinzugehen, und drohte so grässlich, dass ich vor Schreck in die Höhe sprang. Als er mich wieder im Zimmer hatte, fiel er in seinen alten Ton zurück, halb schmeichelnd, halb spöttisch. Er klopfte mir auf die Schulter, sagte mir, ich wäre ein guter Junge und er hätte gleich im Anfang eine rechte Zuneigung zu mir gehabt. "Ich habe auch einen Buben daheim", sagte er, "und der sieht dir täuschend ähnlich, könnte dein Bruder sein. Der ist mein Stolz und meine Freude. Aber ich will dir eins sagen, mein Zuckerbübchen, die Hauptsache für einen Jungen ist, dass er gehorchen kann. Gehorsam, mein Junge! Wenn du mit Bill gesegelt wärest, dann hättest du gewiss nicht gewartet, bis der Befehl zum zweiten Male kam. Bill hatte wirklich keine Lust, etwas zweimal anzuordnen, und die andern bei ihm auch nicht. Und sieh da, kommt da nicht mein alter Kamerad Bill? Richtig, er ist es, mit dem Fernglas unterm Arm. Lass uns hinter die Tür treten, mein Söhnchen! Es muss für den alten Knaben eine freudige Überraschung werden, wenn er mich erblickt."

Wir versteckten uns also hinter der Tür und warteten ab. Mir war es unbehaglich zumute und, wie es schien, dem Fremden ebenfalls. Er lockerte den Säbel in der Scheide und sah so bedrückt aus, als ob ihm etwas in der Kehle steckte und ihn würgte.

Endlich trat der Kapitän ein, schlug die Tür heftig zu, sah nicht nach rechts noch links, sondern schritt ohne weiteres auf seinen Frühstückstisch zu.

"Bill!" rief der Fremde mit einer Stimme, die recht mutig und zuversichtlich klingen sollte.

Der Kapitän drehte sich sogleich um und sah uns, und in einem Augenblick veränderte sich seine Gesichtsfarbe. Sie wurde weiß, und sein Blick zeigte einen solchen Schrecken, als ob er einen Geist, den Gottseibeiuns in Person oder sonst etwas Entsetzliches sähe. Der Mann tat mir leid, wie er auf einmal so alt und verfallen aussah.

"Na, Bill, du kennst mich doch! Du kennst doch wohl deinen alten Schiffskameraden?" fragte der Fremde.

Der Kapitän schnappte nach Luft.

"Schwarzer Hund?" fragte er.

"I, wer denn sonst?" antwortete der andere, sichtlich erleichtert. "Der Schwarze Hund, wie er leibt und lebt, der zu seinem alten Schiffsmaat als Besucher kommt in den "Admiral Benbow". Junge, Junge, was haben wir alles in der Zeit erlebt, seitdem ich meine beiden Krallen verloren habe." Er zeigte dabei die verstümmelte Hand, an der zwei Finger fehlten.

"Ihr habt mich demnach ausgekundschaftet, wie ich sehe", sagte der Kapitän. "Nun, da bin ich. Nur gleich heraus mit der Sprache! Was willst du?"

"Ja, so kenne ich dich wieder, Bill. Das ist ganz deine Art von früher her. Ich habe mir nur ein Glas Rum bestellt durch diesen netten Jungen da, den ich gleich gut leiden mochte. Lass uns gemütlich hinsitzen und uns unterhalten, wie es sich für alte Freunde und Schiffskameraden schickt."

Als ich mit dem Rum zurückkam, saßen die beiden sich am Frühstückstisch gegenüber. Der Fremde hockte seitwärts, so dass er mit dem einen Auge den Kapitän, mit dem andern die Tür festhalten konnte, die Tür für den Fall, dass es galt, mit Geschwindschritten Reißaus zu nehmen. Er ersuchte mich zu gehen, aber die Tür weit offen zu lassen. "Ich hab's nicht gern, dass einer jedes Wort aufschnappt, das man spricht", sagte er. Da ging ich hinter den Schanktisch und ließ sie reden, was sie wollten. Weil die Tür offen bleiben musste, konnte ich doch allerhand vernehmen. Anfänglich unterhielten sie sich leise und manierlich, nachher immer erregter, und ich konnte deutlich einige garstige Worte vom Kapitän hören.

"Nie und nimmer! Nein, nein!" schrie er einmal. "Kein Wort mehr davon! Und wenn's zum Baumeln kommt, dann sollen alle baumeln, alle, alle!" Dann plötzlich gab es einen schrecklichen Spektakel, laute Flüche und Drohungen, Tisch und Stühle fielen um, Tassen, Flaschen und Gläser zersprangen am Boden. Jetzt hörte ich, wie die Säbel gezogen wurden, wie sie sich klirrend trafen, hörte einen Schmerzensschrei und dann Getrappel. Ich sprang hinaus und sah, wie der Fremde in eiliger Flucht das Haus verließ und der Kapitän ihn hitzig verfolgte. Der Fremde hatte eine blutende Wunde an der Schulter. An der offenen Tür holte der Kapitän nochmals zu einem furchtbaren Schlag aus, der den Flüchtling vielleicht von oben bis unten gespalten hätte, aber Admiral Benbow mischte sich ein, unser Wirtshausschild. Da hinein fuhr der Säbel und machte eine tiefe Kerbe, die noch heutigentags zu sehen ist. Dieser verfehlte Hieb war das Ende des Kampfes. Der Schwarze Hund gewann einen Vorsprung, erreichte die Landstraße und war dank seiner flinken Beine nach einer halben Minute hinter den Höhenzügen verschwunden. Wie betäubt stand der Kapitän, starrte das Wirtshausschild an, fuhr sich ein paarmal über die Augen und ging zurück ins Gastzimmer.

"Jim", sagte er, "Rum!" Und wie er das herausbrachte, taumelte er und musste sich an der Wand halten.

"Seid Ihr verletzt?" fragte ich.

"Rum!" antwortete er. "Ich muss machen, dass ich von hier wegkomme. Rum! Rum!"

Ich lief, um ihm den Willen zu tun, war aber nach dem, was ich erlebt hatte, so erregt, dass ich ein Glas zerbrach und den Rum verschüttete. Gleich lief ich zurück, um ein Ersatzglas zu holen, da hörte ich im Gastzimmer einen schweren Fall. Erschrocken lief ich dahin. Da lag der Kapitän regungslos auf dem Fußboden. In dem Augenblick kam die Mutter die Treppe herunter, um mir zu helfen. Wir hielten seinen Kopf, da uns nichts Besseres einfiel. Er atmete laut, aber unregelmäßig, und seine Augen waren geschlossen. Das Gesicht sah schrecklich aus.

"Du meine Güte!" rief die Mutter. "Welch ein Elend für unser Haus! Und der Vater ist so krank!"

Wir wussten nicht, was wir anfangen sollten, konnten auch dem Kapitän auf keine Weise helfen. Wir glaubten, dass er im Kampf mit dem Fremden tödlich verunglückt sein müsse. Ich wollte ihm Rum einflößen, um ihn zu beleben, aber seine Zähne waren aufeinandergepresst und seine Kiefer eisenfest. Es war ein wahre Erlösung für uns, dass sich die Tür öffnete und Doktor Livesey eintrat, der dem schwerkranken Vater seinen Besuch abstatten wollte.

"Herr Doktor! Herr Doktor", riefen wir, "helft uns! Was sollen wir tun? Wo ist er verwundet?"

"Verwundet, der?" sagte der Arzt. "Der ist so wenig verwundet wie ihr und ich. Einen Schlaganfall hat er erlitten. Er wollte ja meine Warnung nicht hören. Nun, Mutter Hawkins, geht hinauf zu Eurem kranken Mann und sagt ihm nichts von dem Vorfall, wenn Ihr das fertigbringt. Ich für meinen Teil muss sehen, ob ich dieses dreifach elende Leben erhalten kann. Bring mir eine Schüssel, Jim!"

Ich brachte die Schüssel. Währenddessen hatte der Menschenfreund schon dem Daliegenden den Ärmel aufgeschnitten und den sehnigen, kräftigen Arm bloßgelegt. Ich sah, dass dieser nach Seemannsart tätowiert war. Da waren ein paar Aussprüche zu lesen: "Gut Glück Tag und Nacht" hieß einer, "Guten Wind für Billy Bones" ein anderer. Nahe der Schulter zeigte sich ein Bild des Galgens, an dem ein Mensch hing, und nach meiner Auffassung war die Zeichnung ohne Tadel ausgeführt.

"Ein prophetisches Schaustück", sagte der Arzt, indem er mit dem Finger darauf deutete. "Und nun, verehrtester Billy Bones, wollen wir doch einmal sehen, von welcher Farbe Euer Blut ist. Jim", sagte er zu mir, "kannst du Blut sehen?"

"Ja", sagte ich.

"Nun, dann halte die Schüssel!" Damit nahm er eine Lanzette und öffnete eine Ader.

Eine Menge Blut war abgezapft, als der Kapitän die Augen öffnete. Er erkannte zuerst den Arzt, dem er einen wütenden Blick zuwarf, dann sah er mich. Das beruhigte ihn. Er versuchte aufzustehen und rief: "Wo ist der Schwarze Hund!"

"Hier ist kein schwarzer Hund", antwortete der Arzt. "Ihr habt einen Schlaganfall vom vielen Rumtrinken erlitten. Ich habe es Euch vorhergesagt. Nun habe ich Euch, eigentlich gegen meinen Willen, noch einmal aus dem Grabe herausgezogen, aber hört, Meister Bones..."

"So heiße ich nicht", unterbrach ihn der Kranke.

"Es ist mir gleichgültig, wie Ihr heißt. Es ist eben der Name eines Freibeuters, von dem viel geredet wurde, und ich nenne Euch so, der Kürze wegen. Also, was ich Euch zu sagen habe, ist dies: Von einem Glas Rum sterbt Ihr noch nicht, aber ich weiß schon, wenn Ihr eins trinkt, so begehrt Ihr noch ein andres, und dann wieder eins und so fort. Und wenn Ihr mit dieser Gewohnheit nicht brecht, so seid Ihr geliefert, Geliefert, sage ich. Und nun gebt Euch Mühe! Ich will helfen, dass Ihr in Euer Bett kommt."

Es war ein Stück Arbeit, ihn mit vereinten Kräften zu Bett zu bringen. Da fiel er in die Kissen, als ob er ohnmächtig wäre.

"Also noch einmal", sagte der Doktor, "merkt, was ich Euch sage! Rum bedeutet für Euch den Tod."

Er nahm mich beim Arm und ging hinaus zu meinem Vater.

"Dieser Anfall will noch nicht viel bedeuten", sagte er zu mir, als er die Türe geschlossen hatte. "Ich habe ihm genug Blut abgezapft, dass er für eine Weile Ruhe hat, und das ist das beste für ihn und für dich auch. Ein zweiter Schlaganfall ist sein Tod. Richte dich darauf ein!"

 

3. Kapitel Der schwarze Brief.

 

Gegen Mittag trat ich mit einigen erfrischenden Getränken und lindernden Mitteln in das Zimmer des Kapitäns. Er lag noch beinahe so, wie wir ihn verlassen hatten, nur ein wenig höher, und erschien mir sowohl schwach wie hochgradig aufgeregt. "Jim," sagte er, "du bist der einzige hier, der noch etwas taugt, und du weißt, dass ich immer gut zu dir gewesen bin. Kein Monat ist vergangen, wo ich dir nicht eine Silbermünze gegeben hätte. Und nun, Maat, siehst du, geht es mir nicht zum besten, da mich alle verlassen haben. Nicht wahr, Jim, du bist ein guter Bursch, und wirst mir eine Flasche Rum bringen?" "Der Doktor - " begann ich. Er unterbrach mich jedoch, indem er den Doktor, wenn auch mit schwacher Stimme, herzlich verwünschte. "Doktoren sind nichts wie Quacksalber," sagte er, "und was weiß dieser Doktor wohl von alten Seefahrern. Ich bin an Orten gewesen, so heiß wie glühendes Pech, wo meine Schiffskameraden um mich herum vom gelben Fieber erfasst wurden und wie die Fliegen starben, wo das liebe Land von Erdbeben wie das Meer hin- und hergerollt wurde - was weiß dein Doktor von solchen Ländern - und ich habe die ganze Zeit von Rum gelebt, sage ich dir. Der Rum war mir Speise und Trank, und wenn ich jetzt nicht meinen Rum haben kann, so bin ich ein armes, altes Wrack auf einer Leeküste, mein Blut wird über dich kommen, Jim, und über jenen Quacksalber von einem Doktor." Und er stieß aufs neue ein Reihe von Verwünschungen aus. "Sieh, Jim," fuhr er in bittendem Tone fort, "wie meine Finger zittern, ich kann sie nicht stillhalten, ich habe an diesem gesegneten Tag noch keinen Tropfen genossen. Jener Doktor ist ein Hansnarr, das sage ich dir. Wenn ich nicht sofort ein Glas Rum bekomme, so werde ich verrückt, schon jetzt sehe ich Schreckgespenster. Ich sehe dort in der Ecke hinter dir ganz deutlich den alten 'Flint', und wenn der Anfall über mich kommt, oh Jim - ich bin ein Mann, der ein schlimmes Leben geführt hat, und werde Kain heraufbeschwören. Dein Doktor selbst sagte, ein Glas würde mir nicht schaden. Ich gebe dir eine goldene Guinee für eine Flasche, Jim." Er wurde immer aufgeregter, und dies beunruhigte mich meines Vaters wegen, der an jenem Tagen sehr schwach war und der Ruhe bedurfte. Ich erinnere mich zudem jetzt der Worte des Doktors, die der Kapitän mir anführte, wenngleich ich über das Angebot einer Belohnung ärgerlich war. "Ich will nichts von Ihrem Gelde haben," sagte ich, "zahlen Sie lieber das Geld, das Sie meinem Vater schuldig sind. Ich werde Ihnen ein Glas besorgen und nicht mehr." Als ich es ihm brachte, ergriff er es gierig und trank es auf einen Zug aus. "Ja, ja," sagte er, "jetzt ist mir schon besser, ganz bestimmt ist mir schon besser. Und nun, Maatchen, hat dir der Doktor gesagt, wie lang ich hier in dieser alten Koje liegen bleiben soll?" "Zum mindesten eine Woche," entgegnete ich. "Der Tausend," schrie er aus, "eine Woche! Das geht nicht. Bis dahin hätte ich den schwarzen Brief von ihnen. Die Halunken sind in diesem Augenblick schon tätig, den Wind aus mir zu nehmen - Halunken, die ihre Beute nicht zusammen halten konnten, und jetzt das Eigentum eines anderen plündern wollen. Ist das Seemannsbenehmen, so frage ich? Ich war jedoch von jeher sparsam, habe nie mein gutes Geld verschwendet oder es verloren und ich will ihnen noch einmal eine Nase drehen. Ich fürchte mich nicht vor ihnen." Während er diese Worte sprach, hatte er sich mit großer Schwierigkeit erhoben, indem er sich mit eisernem Griff, der mir fast einen Schmerzensschrei entlockte, an meine Schultern klammerte und seine Beine schwerfällig zu bewegen suchte. So herzhaft seine Worte aber auch gemeint waren, so standen sie doch in einem trübseligen Gegensatz zu der schwachen Stimme, mit der er sie aussprach. Auf dem Bettende sitzend hielt er wieder an. "Der Doktor hat mich übel zugerichtet," knurrte er. "Es braust in meinen Ohren. Lege mich wieder zurück." Ehe ich ihm noch behilflich sein konnte, war er schon auf seinen früheren Platz zurückgefallen, wo er eine Weile stumm liegen blieb. "Jim," sagte er endlich, "du hast heute jenen Seefahrer gesehen?" "Den 'schwarzen Hund'?" fragte ich. "Ja, den 'schwarzen Hund'," entgegnete er. "Er ist ein Bösewicht, es gibt aber noch schlimmere, die ihn anstifteten, hierher zu kommen. Nun höre, wenn ich von hier nicht weg kann und sie mir den schwarzen Brief zustellen, so wisse, dass es meine alte Seekiste ist, auf die sie es abgesehen haben. Du steigst alsdann auf ein Pferd - nicht wahr, du kannst reiten? - du steigst also auf ein Pferd und reitest - nun ja, meinetwegen - zu jenem unausstehlichen Prahlhans von Doktor, und ersuchst ihn, alle Hände, Magistratspersonen und Beamte, an Deck zu pfeifen, er werde im 'Admiral Benbow' die ganze Mannschaft vom alten Flint, alt und jung, soweit sie noch am Leben geblieben ist, aufheben. Ich war erster Maat beim alten Flint, und bin der einzige, der den Platz kennt. Er weihte mich in Savannah6 in das Geheimnis ein, als er, gerade so ich jetzt, im Sterben lag. Du wirst aber nichts verraten, so lange sie mir nicht den 'schwarzen Brief' zustellen oder so lange du nicht den 'schwarzen Hund' wieder siehst oder einen anderen Seefahrer, der ein Holzbein hat, Jim." "Aber was hat das mit dem 'schwarzen Brief' auf sich, Kapitän?" fragte ich. "Das ist ein Drohbrief, Maat. Ich werde dir mehr erzählen, wenn ich ihn bekomme. Halte aber dein Wetterauge auf, Jim, und ich werde dir die Hälfte abgeben, auf meine Ehre." Dann phantasierte er noch ein wenig, wobei seine Stimme immer schwächer wurde. Zuletzt reichte ich ihm noch seine Medizin, die er wie ein Kind mit der Bemerkung einnahm: "Wenn jemals ein Seemann solche Höllenmedizin nötig hatte, so bin ich es," worauf er in einen schweren, einer Ohnmacht ähnlichen Schlaf verfiel, und ich ihn verließ. Ich weiß nicht, was ich getan hätte, wenn alles gut abgelaufen wäre; wahrscheinlich hätte ich die ganze Geschichte dem Doktor erzählt, da ich mich in einer Sterbensangst befand, dass der Kapitän seine Offenherzigkeit bereuen und mich töten würde. Leider starb aber an jenem Abend ganz plötzlich mein armer Vater, und dieses traurige Ereignis drängte natürlich alle anderen Sachen in den Hintergrund. Unser Kummer, die Besuche der Nachbarn, die Vorbereitungen zum Begräbnis und dazwischen die Verrichtungen in der Gaststube, all dies ließ mir keine Zeit, an den Kapitän zu denken, geschweige denn, mich vor ihm zu fürchten. Er humpelte schon am nächsten Morgen wieder die Treppe hinunter, und nahm seine Mahlzeiten wie gewöhnlich ein, obwohl er wenig aß, aber mehr als sein übliche Portion Rum trank, die er sich selbst hinter dem Schenktisch hervorholte, wobei er so knurrte und durch die Nase blies, dass niemand ihm entgegenzutreten wagte. In der Nacht vor dem Begräbnis war er so betrunken wie nur je zuvor, und zu unserem Entsetzen stimmte er in unserem Trauerhause wieder seinen alten hässlichen Schiffsgesang an. Aber so schwach er auch war, empfanden wir doch alle die größte Furcht vor ihm, und der Doktor konnte uns nicht mehr beistehen, da er durch einen schweren Krankheitsfall viele Meilen weit über Land gerufen worden war und seit meines Vaters Tod unser Haus nicht mehr besucht hatte. Der Kapitän war, wie ich schon sagte, schwach und schien anstatt sich zu erholen, immer schwächer zu werden. Er kletterte die Treppen hinauf und herunter, ging aus dem Gastzimmer hinter den Ausschank und wieder zurück und steckte zuweilen auch seine Nase zur Thür hinaus, um den Salzgeruch der See einzuatmen. Wenn er sich hinauswagte, so hielt er sich an der Hausmauer fest und atmete dabei so schwer und schnell wie jemand, der einen steilen Berg ersteigt. Er ließ sich mit mir in keine vertraulichen Gespräche mehr ein, und ich glaube, dass er seine frühere Erzählung so gut wie vergessen hatte. Er war aber launenhafter und soweit seine körperliche Schwäche dies zuließ, gewalttätiger als je. Es sah wirklich gefährlich aus, wenn er, was er jetzt häufig tat, im betrunkenen Zustande seinen Säbel zog und die nackte Klinge vor sich auf den Tisch legte. Bei alledem kümmerte er sich jedoch wenig um seine Umgebung und schien fast ganz in Gedanken versunken und häufig geistesabwesend zu sein. So stimmte er zum Beispiel einmal zu unserer großen Verwunderung eine andere Melodie, eine Art ländliches Liebeslied, die er wohl in seiner Jugend gelernt hatte, ehe er noch zur See gegangen war. So kam der Tag nach dem Begräbnis meines Vaters herbei. Es war ein bitterkalter Nachmittag und etwa drei Uhr; ich stand einen Augenblick, noch ganz von der trüben Erinnerung an meinen dahingeschiedenen Vater erfüllt, vor der Tür, als ich langsam jemanden auf der Landstraße herankommen sah. Er war offenbar blind, denn er tastete sich vermittelst eines Stockes weiter und trug einen großen grünen Schirm über Augen und Nase. Er ging wie von Alter oder Schwäche gebückt und hatte ein Ungetüm von einem alten zerfetzten Seemantel mit einer Kappe an, der ihn geradezu entstellte. Nie zuvor hatte ich in meinem Leben einen so abscheulich aussehenden Menschen erblickt. Er hielt kurz vor dem Gasthause an, um dann mit leiernder Stimme die folgende Frage zu stellen: "Ein armer blinder Mann, der sein kostbares Augenlicht bei der tapferen Verteidigung seines Heimatlandes England verloren hat, Gott segne unseren guten König Georg! bittet einen edlen Menschenfreund ihm mitzuteilen, wo und in welchem Teil des Landes er sich jetzt befindet." "Ihr seid jetzt bei dem 'Admiral Benbow', mein guter Mann," sagte ich. "Ich höre eine Stimme -" entgegnete er, "eine junge Stimme. Wollt Ihr mir Eure Hand geben, mein lieber, junger Freund und mich hereinführen?" Ich streckte meine Hand aus, und das schreckliche, glattzüngige, augenlose Geschöpf umklammerte sie im nächsten Augenblick so fest wie ein Schraubstock. Erschrocken wollte ich sie wieder zurückziehen, der Blinde aber riß mich mit einem einzigen Ruck dicht an sich heran. "Nun Junge," sagte er, "führe mich zum Kapitän." "Herr," entgegnete ich, "auf mein Wort, ich wage es wirklich nicht." "Oh," spottete er, "sind das deine ganzen Bedenken? Führe mich schnell herein, oder ich breche dir den Arm." Mit diesen Worten versetzte er mir einen Stoß, bei dem ich vor Schmerz laut aufschrie. "Herr," sagte ich, "ich trage nur um Euretwillen Bedenken. Der Kapitän ist nicht mehr derselbe, wie früher, er hat jetzt immer eine nackte Säbelklinge in der Hand. Ein anderer Herr -" "Genug jetzt, Junge," unterbrach er mich, "und vorwärts marsch!" Nie zuvor hatte ich eine Stimme gehört, die so grausam, kalt und hässlich wie die des Blinden gewesen wäre. Sie erschreckte mich mehr, als seine Misshandlung und bewog mich, ihm sofort zu gehorchen. "Führe mich bis dicht vor ihn hin und rufe, sobald er mich sieht, aus: 'Bill, hier ist ein Freund von dir!' Wenn du mir nicht gehorchst, werde ich dies tun," und damit zwickte er mich, dass ich beinahe ohnmächtig geworden wäre. Indem ich die Tür öffnete und auf die Gaststube zuschritt, wo unser kranker alter Bukanier einen Rumrausch verschlief, lehnte sich der Blinde, der seinen eisernen Griff nicht löste, so schwer auf mich, dass ich die Last kaum zu tragen vermochte. Da ich jetzt aber vor dem blinden Bettler noch größere Furcht als vor dem Kapitän empfand, so öffnete ich die Tür und rief mit zitternder Stimme die mir aufgetragenen Worte in die Gaststube hinein.

 

Der arme Kapitän schlug seine Augen auf und ein einziger Blick genügte, um die Geister des Rums aus ihm zu vertreiben und ihn gänzlich zu ernüchtern. Der Ausdruck seines Gesichtes war nicht so sehr der eines erschrockenen als vielmehr eines sterbenskranken Menschen. Er versuchte aufzustehen, doch selbst dazu schien ihm die Kraft zu fehlen. "Sitzen geblieben, Bill, ganz ruhig Blut," sagte der Bettler. "Wenn ich auch nicht sehen kann, höre ich doch eine Feder zu Boden fallen. Geschäft ist Geschäft. Strecke deine linke Hand aus. Junge, fasse seine linke Hand und halte sie vor meine rechte." Beide gehorchten wir ihm buchstäblich, und ich sah ihn etwas aus der hohlen Hand, in der er seinen Stock hielt, in die Hand des Kapitäns legen, die sich sofort darüber schloß. "Und nun bin ich fertig," sagte der Blinde, indem er mich plötzlich losließ und mit unglaublicher Schnelligkeit zur Gaststube hinaus und auf die schlüpfte, von der ich, obwohl ganz starr vor Überraschung, das Klopfen seines Stockes noch lange vernahm.

Es verging einige Zeit, ehe wir, der Kapitän und ich, wieder unsere fünf Sinne bei einander hatten. Endlich aber und fast in demselben Augenblick ließ ich sein Handgelenk los, das ich noch immer festhielt, während er sich zu dem Gegenstand, den er in seiner Hand hielt, herabbeugte und ihn scharf betrachtete. "Zehn Uhr!" rief er aus. "Sechs Stunden Frist! Also Zeit genug, um ihnen noch einmal eine Nase zu drehen," und er sprang von seinem Stuhl auf. Aber noch während dieser Bewegung taumelte er, fuhr mit der Hand nach dem Hals, schwankte einen Augenblick und fiel dann mit einem eigentümlichen Geräusch der ganzen Länge nach vornüber auf den Boden. Ich eilte sofort zu ihm, indem ich gleichzeitig meine Mutter herbeirief. Alle Eile aber war vergebens, ein Schlaganfall hatte seinem Leben ein plötzliches Ende gemacht. Obwohl der Mann mir nie gefallen, hatte ich in der letzten Zeit angefangen, ihn zu bedauern, und ich brach - es ist schwer zu begreifen - sobald ich ihn tot vor mir liegen sah, in einen heftigen Tränenstrom aus. Es war der zweite Todesfall, den ich kennen lernte, und der Kummer um den ersten wohnte noch frisch in meinem Herzen.

 

4. Die Seemannskiste

 

Ich verlor keine Zeit, der Mutter alles mitzuteilen, was ich wusste. Vielleicht hätte ich das schon früher tun sollen. Nun wusste sie es, und wir begriffen, dass wir uns in einer heiklen und sogar gefährlichen Lage befanden. Von Rechts wegen gehörte uns ein Teil des Geldes, das der Verstorbene hinterließ - wenn er überhaupt Geld hinterließ -, aber es war nicht anzunehmen, dass die Bande, die seine Erbschaft antreten wollte, geneigt war, für die Schulden des Erblassers aufzukommen. Nach den Proben, die sie geschickt hatten, dem Schwarzen Hund und dem blinden Bettler, konnte man das nicht annehmen. Ich dachte an den Rat des Kapitäns, mir ein Pferd zu leihen und zu Doktor Livesey zu reiten, damit der kluge Herr Hilfe brächte. Dann blieb die Mutter allein im Haus und ohne Schutz, noch dazu bei einer Leiche. Das ging also nicht. Aber wir sahen auch ein, dass wir unmöglich länger hierbleiben konnten. Das Knistern der Kohlen im Küchenofen, das Ticken der Wanduhr erschreckte uns und vermehrte unsere Besorgnisse. Wir glaubten, in der Nachbarschaft Schritte zu hören. Es grauste mir vor der Leiche und wohl noch mehr vor dem blinden, schrecklichen Bettler, der vielleicht nicht weit von uns war und jeden Augenblick zurückkehren konnte. Mir standen die Haare zu Berge. Was tun? Etwas musste geschehen! Da entschlossen wir uns, im nahe gelegenen Dörfchen Rettung zu suchen. Gesagt, getan. Wie wir gingen und standen, barhäuptig, stürmten wir aus dem Haus in den kalten und nebligen Winterabend hinaus.

Das Dörfchen war nur ein paar hundert Schritte von uns entfernt. Dennoch konnten wir es von unserem Hause aus nicht sehen, denn es war vom nächsten Hügel verdeckt und lag an der benachbarten Bucht. Es war ein Trost zu wissen, dass es nicht in der Richtung lag, aus der der blinde Bettler gekommen und in die er sicher auch wieder zurückgekehrt war. Wir gingen nur wenige Minuten und blieben ein paarmal stehen, um zu horchen. Aber es war nichts Verdächtiges zu hören. Wir vernahmen nur das gewohnte sanfte Rauschen des Meeres und das Gekrächz einer Krähe im Walde.

Als wie den kleinen Ort erreichten, waren in den Häusern schon überall die Lichter angezündet, und ich freute mich, den gelben Schein aus Fenstern und Türen dringen zu sehen. Aber es zeigte sich bald, dass diese trauliche Helle das Beste von der Hilfe war, die wir zu erbitten kamen. Schande über Schande! Keiner der Männer im Dorf besaß den Mut, mit uns zum "Admiral Benbow" zu gehen, keiner! Je mehr wir von unserer Not und Gefahr erzählten, um so mehr klammerten sie sich, Männer, Frauen und Kinder, an ihre sichere Häuslichkeit. Der Name des Kapitäns Flint war mir fremd, aber einige Leute kannten ihn, und es graute ihnen bei der Erinnerung an ihn. Einige, die auf dem Feld gewesen waren, hatten auf dem Wege zum "Admiral Benbow" mehrere fremde Männer gesehen, höchst verdächtiges Volk. Sie hielten sie für Schmuggler und waren ihnen aus dem Wege gegangen. Einer schließlich hatte auf der Wanderung im sogenannten Möwenloch einen Lugger7 bemerkt, und jeder wusste doch, dass in dieser abgelegenen Bucht selten ein Schiff anlegte. Mit allem Hin- und Herreden erreichten wir nur, dass ein paar Männer - einer allein traute sich nicht - zu Doktor Livesey reiten wollten. Zur Verteidigung unsres Hauses verstand sich keiner.

Feigheit ist ansteckend, wie man sagt, aber es kommt auch vor, dass sie Kühnheit auslöst. Das zeigte sich bei meiner Mutter, die jetzt den Männern eine derbe Standrede hielt. Sie erklärte, sie wolle das viele Geld nicht verlieren, das sie beanspruchen könne und das ihrem vaterlosen Kind gehöre. "Und wenn keiner von Euch Mut hat", sagte sie, "Jim und ich, wir wagen es. Wir gehen dahin, woher wir kamen, und ihr hasenherzigen Kerle, ihr solltet euch schämen. Dank sind wir euch nicht schuldig. Wir müssen die Kiste öffnen und sollten wir darüber zugrunde gehen. Leiht mir nur Eure Ledertasche, Frau Crossley! Wir bringen sie wieder zurück mit dem Geld, das unser ist und das wir verlangen können."

Ich erklärte, mit der Mutter zurückkehren zu wollen, aber alle schrieen, unser Unternehmen wäre die reine Verrücktheit. Dennoch entschloss sich kein Mann, die paar Schritte mit uns zu gehen. Einer gab mir eine geladene Pistole für den Fall, dass wir angegriffen würden. Die Frauen baten uns, hierzubleiben und abzuwarten, und zwei Burschen bestiegen die Pferde, um den Doktor aufzusuchen. Das war alles, was wir erreichten.