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Hermann Fürst ist der erfolgreichste deutsche Schriftsteller seiner Zeit. Weit mehr als sechs Millionen verkaufter Bücher, da hält keiner mit, auch der Thomas Mann nicht. Im März 1945 ist die Front nur noch wenige Kilometer von seiner heimatlichen Burg am Rhein entfernt. Doch noch bevor die Brücke bei Remagen in einem dramatischen Einsatz bezwungen wird und die Amerikaner unter der Führung von Leutnant Rob Wiseman ihr Frontlazarett in die Burg der Fürsts verlegen, stirbt der Schriftsteller. Rob lässt sich mit Erika, der Schwiegertochter Fürsts, ein. Die Wisemans waren als jüdisch-deutsche Familie in die USA ausgewandert und wurden später als Handelsunternehmer erfolgreich; auch Rob gelingt nach der Rückkehr aus dem Krieg der berufliche Aufstieg. Doch kurz vor dem Karrierehöhepunkt steigt er aus dem Unternehmen aus und macht sich als Start-up-Finanzier im Silicon Valley selbstständig. In diesem Moment taucht plötzlich Friedemann Fürst, der einzige Sohn Erikas, bei ihm auf. Rob ahnt, dass Friedemann sein Sohn ist. Er steht vor einer schweren Entscheidung.

»J. R. Bechtle weiß, wie man Spannung aufbaut. Sein Roman bietet Sex & Crime – filmreife Dialoge und einen historisch relevanten Hintergrund. Rasantes Kopfkino für schlaflose Nächte.«

Schwäbische Zeitung über 1995 – Rue de Grenelle

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Meiner Mutter
Irene Bechtle

Aber dort, wo sie wohnen, im Tal, der Älteren eine, der Klagen, nimmt sich des Jünglings an, wenn er fragt: – Wir waren, sagt sie, ein Großes Geschlecht, einmal, wir Klagen. Die Väter trieben den Bergbau dort in dem großen Gebirg; bei Menschen findest du manchmal ein Stück geschliffenes Ur-Leid oder, aus altem Vulkan, schlackig versteinerten Zorn. Ja, der stammte von dort. Einst waren wir reich. –

Rainer Maria Rilke, Duineser Elegien

Inhalt

Teil I – 1945 bis 1947

1. Der Fürst

2. Remagen

3. Die Burg

4. Das Lazarett

5. Erika

6. Kriegsende

7. Westküste

8. Der Neubeginn

Teil II – 1969 bis 1971

9. San Francisco

10. München

11. San Francisco

12. Familientreffen

13. Berkeley

14. West Point, Nebraska

15. Deutschland

Teil III – 1996 bis 1999

16. Pia

17. Björn Stohlen

18. Hanna

19. Der Kauf

20. Mount Shasta

21. Miriam

22. Der Bruder

23. Burghochzeit

I

1945 bis 1947

1.
Der Fürst

Seit Wochen hat er nicht einen einzigen Satz geschrieben. Er, der erfolgreichste Schriftsteller seiner Zeit. Weit mehr als sechs Millionen verkaufter Bücher, da hält keiner mit, auch der Thomas Mann nicht, niemand.

Warum er gerade jetzt an Mann denkt, den selbstgefälligen Intellektuellen? Der ihn und seine Romane, wenn überhaupt, dann nur herablassend, mit einer demütigenden Bemerkung abtun würde? Ihre gegensätzlichen Visionen von Deutschland: seine die des kaiserlich-nationalistisch geprägten Bürgertums, Manns die einer neuen Republik; seine mit dem Ersten Weltkrieg zerstört und später den neuen Gegebenheiten opportunistisch angepasst, die von Mann verkommen zu einer politischen Illusion angesichts des Erfolgs der Nationalsozialisten.

Dennoch begibt er sich, wie jeden Tag, gegen zehn Uhr morgens in sein Arbeitszimmer. Jeder weiß, dass es dann ruhig sein muss in der Oberen Burg, auf Zehenspitzen an seinem Zimmer vorbei, auch sonst allenfalls ein Flüstern, die lärmenden Enkel abgeschirmt im unteren Stock. Nur Bismarck, seinen rauhaarigen Deutsch Drahthaar, duldet er bei sich schläfrig in seiner Ecke.

Niemand fragt ihn, woran er gerade hinter verschlossener Tür arbeitet. Er ist niemandem Rechenschaft schuldig. Manchmal ertappt er sich dabei, gedankenlos in die Stille zu horchen, Gott weiß wie lange, vergeblich nach einer der Stimmen seiner Söhne suchend, die ihm früher oft wieder neuen Auftrieb gaben: er, der hoch über allem schwebende Adler, sie, seine drei ungestümen Falken. Jetzt sind sie draußen an den Kriegsfronten verstreut, nur spärlich dringen Nachrichten von ihnen zu ihm, seit Langem sind es keine guten mehr.

Die Tischlampe wirft ein blasses Licht über seine Schreibmatte auf dem schweren dunkelbraunen Eichentisch. Unentschlossen steht er hinter seinem Arbeitssessel, abwesend streichen seine Hände über die glatte Lehne. Die Leere der vergangenen Wochen. Unfähig hat er nach Worten, nach einem Sinn gesucht, etwas neu zu sagen oder etwas wieder und diesmal eindringlicher auszudrücken. Seine Augen streifen über die Andenken und Ehrungen, die Bilder und Fotografien, Preise und Würdigungen, die dicht gedrängt den Schreibtisch füllen. Sein Blick verweilt auf dem Bild seiner blonden Frau, der Opernsängerin. Ungewollt breitet sich ein Lächeln über sein Gesicht aus bei der Erinnerung an ihren triumphalen ersten Auftritt in Berlin in der Rolle des Evchens in Wagners Die Meistersinger. Welten und Ewigkeiten liegt das zurück. Er denkt an ihre gemeinsam gefochtenen Schlachten auf dem Weg zu seinem Ruhm, dem unsicheren Ruhm des Künstlers, über dessen Vergänglichkeit ihn die erfolgreichen Jahrzehnte getäuscht haben.

Und doch war es rückblickend ein glückliches Leben, er will sich nicht beklagen, angetrieben von einem zähen Arbeitswillen und geleitet von festen, untrüglichen Idealen. Es wurde ihm nichts geschenkt, die unzähligen Klippen, die es immer wieder zu überwinden gab. Aber sein Optimismus, der Glaube an sich und vor allen Dingen seine Lebensfreude halfen ihm aus noch so verzweifelten Situationen heraus. Diese Burg am Rhein ist der Lohn für alles, sein Märchenschloss, der ruhende Pol seines unstet tastenden Lebens, in der Öffnung der Rheinebene zwischen Honnef und Unkel gelegen, mit dem Blick auf das Siebengebirge und den Drachenfels, dem Rolandsbogen auf dem gegenüberliegenden Rheinufer, ein Leben im Herzen der deutschen Sagen.

Das hat er sich alles selbst erschaffen, mit Hilfe seiner Frau, ja, aber sonst schuldet er niemandem etwas. Das Glück hat dabei eine Rolle gespielt. Das sprichwörtliche Glück des Hermann Fürst. Aber es kam nie ohne harte Arbeit und Selbstzweifeln. Sein Glück musste erst verdient werden.

Er lässt die Stuhllehne los und begibt sich hinüber ans Fenster. Sein Blick fällt in den winterlich kahlen Park. Kein Schnee, nur silbern der Reif der vergangenen Nacht. Graue Nebelschwaden haben sich in den Ästen der Buchen und Kastanien verfangen, regenschwarze Rinde umwickelt die Bäume, kalter Frost liegt auf dem Dach der Terrasse, die er vom ersten Stock der Burg aus übersieht. Es ist Ende Januar. Das Jahr 1945 steht mit dem Zusammenbruch der deutschen Verteidigung in den Ardennen unter einem schlechten Omen. Unversehens hat dieser Krieg ein anderes Gesicht bekommen.

Er lehnt in der Fenstereinbuchtung und horcht angestrengt nach draußen. Aber nur stumpfe winterliche Stille, der Park liegt leblos, er hört keinen Laut. Und doch, wie eine Ahnung, auch wenn seine Ohren es noch nicht fassen können, das anrollende Getöse der fremden Armeen. Nur noch die Eifel dazwischen, bis der Krieg mit all seiner ehrlosen Barbarei wieder am gegenüberliegenden Rheinufer steht. Zum zweiten Mal in seinem Leben.

Wie er gealtert ist! Kein Verteidigungswille regt sich in ihm, kein wütendes Aufbäumen, allenfalls Resignation, aber auch das nicht einmal. Er hält den Atem an, um besser zu hören. Die Front ist über hundert Kilometer entfernt, und dennoch, der Lärm des Kriegs hat ihn erreicht. Zu trügerisch ist die Stille dieses winterlich vor sich hindämmernden Dorfs am Rhein. Er hat die Verwüstungen im vorigen Krieg erlebt, die aufgerissenen Körper, die erstickten Hoffnungen in den ausgebrannten Städten. Er weiß, dass es diesmal endgültig das Ende seiner Welt bedeuten wird.

Vergeblich sucht er den Drang in sich, der ihn zum Schreibtisch zwingen würde, endlich seine Feder zu ergreifen, seine Waffe, um mit seinen aufwühlenden Aufrufen einen letzten verzweifelten Widerstand in der Bevölkerung zu wecken. Wie anders war das, war er, im vorigen großen Krieg, in dem er unermüdlich in den Schützengräben oder hinter der Front, wohin immer er gerufen wurde, seine mitreißenden Verse über Vaterland, Familie und Freiheit vorgetragen hatte. Spontan verfasste er vor den einfachen Soldaten in vorderster Linie Gedichte über die Helden um ihn und ihre Heldentaten. In seinen erhabensten Stunden begleitete er den Kaiser an die Front und deklamierte seine Aufrufe. Damals wusste er, wofür er kämpfte, wofür all die ehrbaren Helden in seinen Büchern standen. Nichts davon ist geblieben, an das er sich jetzt noch klammern könnte.

Dass ihm gerade heute Thomas Mann nicht mehr aus dem Kopf gehen will! Er erinnert sich noch deutlich, wie er ihn damals im Jahre 1933 verurteilt hatte, als Mann Deutschland den Rücken kehrte. Hermann Fürst hatte ihm keine Träne nachgeweint, so anders in seiner schriftstellerischen Auffassung als er und dann dieser stechende Hochmut. Aber es lag auch eine Verunsicherung in der Aburteilung des anderen: Mann hatte sich bekannt und die Konsequenz daraus gezogen, er stand zu seinen Überzeugungen, genau wie die aufrechten Protagonisten in Hermann Fürsts Büchern ohne Zögern immer alles für die Verteidigung ihrer Werte einsetzten. Aber Hermann Fürst hatte in diesem Moment geschwankt, das weiß er, hatte sich dann die nationalsozialistische Fahne übergestreift, übereifrig und laut. Vielleicht auch aus Sorge, und das war ihm so auch angedeutet worden, dass andernfalls seine Bücher, die das Hehre und Aufrichtige verteidigen sollten, auf die Liste der Verfemten gesetzt und öffentlich verbrannt werden würden. Er war sich erst sicher, dass man seiner Bekehrung Glauben geschenkt hatte, als ihm der Führer im Dezember 1934 zu seinem sechzigsten Geburtstag ein Glückwunschtelegramm sandte.

Aus dem holländischen Exil hatte ihm damals auch der Kaiser seine Glückwünsche übermittelt. Für Hermann Fürst bestand, trotz seiner äußeren Wendung, nie ein Zweifel, wo er hingehörte: Seine großen Romane waren während der Kaiserzeit entstanden, und er hielt diese Zeit später in seinen Büchern in der Person des energischen Industrieherrn oder des strebsamen Besitzbürgers aufrecht. Dort gehörte er hin, das war sein Deutschland.

Er schüttelt langsam den Kopf. Seine Augen wandern ziellos über den frostigen Burgpark vor ihm. Als ob das, wofür er sich mit all seiner Energie eingesetzt hatte, brutal vor seinen Augen zerstört worden wäre.

Lange steht er so gedankenverloren am Fenster. Schließlich wendet er sich wieder dem Schreibtisch zu. Aber er wird auch an diesem Morgen kein Wort zu Papier bringen. Unentschlossen begibt er sich in seine in einer erkerartigen Ausbuchtung im rückwärtigen Teil des Raums gelegene Bibliothek. Seine Bücher, Gedichtbände und Theaterstücke, mit Übersetzungen in vielen Sprachen, füllen eine ganze Regalwand. Liebevoll streichen seine Finger über die Buchrücken. Die vom Rhein, das erste Buch, mit dem er Aufsehen erregt hatte, Die Burg und ihre Kinder, Das große Sehnen und Die Wissenkamps, sein größter Erfolg. Er nimmt sich die Prunkausgabe zur fünfhunderttausendsten Auflage von Die Montenbrucks und ihre Frauen heraus. Er hatte das Buch im Jahr 1916 noch in den Schützengräben begonnen, die Geschichte des deutschen Stahls, der Krupps und der Möglichkeiten menschlicher Leistung. Wenn es ihm gegeben gewesen wäre, nur ein einziges Buch zu schreiben, dann Die Montenbrucks.

Er setzt sich in einen der schweren schwarzen Ledersessel am Kaffeetisch in der Sitzecke linksseitlich in seinem Zimmer. In der Mitte des Tischs in einem silbernen Bilderrahmen das Porträt Adolf Hitlers, das ihm anlässlich eines Empfangs in Berlin vom Führer persönlich überreicht worden war. Es steht auf einer runden Häkeldecke, die, wie ihm erstmals auffällt, an den Fransen angegilbt ist. Die muss er schnellstens auswechseln lassen, bevor er die nächsten Besucher hier empfängt, denkt er, man kann heute nicht vorsichtig genug sein, um eventuellen Rückschlüssen vorzubeugen.

Er öffnet Die Montenbrucks und liest laut den ersten Satz: »Die Faust des Vierzehnjährigen saß dem scheltenden Mann mitten zwischen den Augen.« Er erinnert sich deutlich an das Gefühl, als er diese Zeilen damals formulierte, in der verworrenen Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, in der Vorstellung, das Festgefahrene und Falsche zu zerschlagen. Der junge Faustschlag stand für einen Aufbruch in eine geordnete und bessere Welt. Der jugendliche Held, der sein Leben lang unermüdlich gegen dogmatische Bilder und Vorurteile kämpfen sollte!

Hermann Fürst lehnt sich in seinem Sessel zurück. Er hält die Augen geschlossen, als wolle er diese Gefühle von damals noch einmal tief nachempfinden und in sich wirken lassen. Plötzlich schnellt er auf und starrt auf das Hitlerbild, einige Sekunden, vielleicht auch länger, dann schmettert er seine geballte rechte Faust in das zerberstende Bild. Im Geist sieht er den Vierzehnjährigen vor sich, der ihm aufmunternd zunickt.

»Was ist denn hier für ein Krach?« Es dauert nicht lange, bis Minnie, seine Frau, ins Zimmer stürzt, sich über sein striktes Verbot hinwegsetzt, ihn unter keinen Umständen bei der Arbeit zu stören. »Du blutest ja!«

Erst jetzt bemerkt er das Blut an seiner Hand, die Glassplitter in den Fingern, die Blutflecken auf der Häkeldecke.

»Ich hole sofort den Arzt, bleib hier sitzen. Kann man dich denn selbst in deinem Arbeitszimmer nicht mehr unbeaufsichtigt lassen!«

Sie legt ein Handtuch unter die von Blut tropfende Hand. Ihr Blick eher besorgt als verärgert, er meint sogar, ein Lächeln darin zu entdecken, wie er es in ihren Augen seit Langem nicht mehr gesehen hat.

Dr. Westermann, der Hausarzt der Familie, blickt auf den aufrecht im Sessel vor ihm sitzenden Mann. Das volle, weiß gewellte Haar über der stolzen Denkerstirn, der schwungvolle Schnurrbart und die direkten, aufmerksamen Augen. Fürst, denkt der Arzt, dem Namen macht er alle Ehre.

»Das hat man davon, wenn man sich die falschen Gegner aussucht.« Dr. Westermann weist augenzwinkernd auf das zertrümmerte Führerporträt. »Zum Glück nur eine oberflächliche Verletzung. Ich muss sie mit Jod desinfizieren, das tut weh, aber ganz straflos darf das Ganze auch nicht ablaufen!«

Der alte Dichter verzieht keine Miene. »Schmerzen, was soll’s! Nur sparen Sie am Verband, Herr Doktor, damit ich noch schreiben kann. Endlich verspüre ich den Drang dazu wieder in mir.«

»Ich schlage vor, Sie ruhen sich erst Mal eine Weile aus. Und vor allem räumen Sie die Scherben weg, bevor das jemand sieht.«

Spielt er auf Erika an, die Frau von Albrecht, dem ältesten Fürst-Sohn, die mit den SS-Männern Bekanntschaft geschlossen hat, die in der Unteren Burg im Dorf einquartiert sind? So etwas spricht sich im Dorf schnell herum. Man kann nie wissen, wozu das einmal gut ist, in dieser Zeit, hat Erika sich gegen die Vorwürfe der Familie verteidigt. Aber der Dichter hält Minnie vom Aufräumen der Scherben ab.

»Dafür ist Blut geflossen, lass mich das noch ein wenig auskosten.«

Nach dem Mittagessen legt er sich hin, zufrieden wie seit Langem nicht mehr. Als er aufwacht, horcht er vergeblich nach dem in der Ferne tobenden Kriegslärm, er vernimmt nur das Heulen des Winds gegen die Scheiben der Burg. Er muss wieder schreiben, dieses neue Buch beginnen, bei dem es um die Überwindung der Schmach seines fehlgeleiteten Deutschlands gehen wird, geschrieben mit der Begeisterung und Überzeugungskraft seiner jungen Jahre. In den Büchern seit seinem Bekenntnis zum Nationalsozialismus war er nicht mehr er selbst, war nicht ehrlich, insbesondere nicht zu seinen Lesern. Er wird sich nicht nochmals verstellen, nein, hier in diesem Buch wird er neue Zeichen setzen, einen lebensbejahenden Wegweiser, wie man es von ihm gewohnt war, dem Falschen und den Verführern die Stirn bieten. Auf diese Weise hatte er zu Beginn seiner Karriere seine Leser erobert und begeistert. So, hofft er, wird es noch einmal sein.

»Ich brauche dringend frische Luft! Wer geht mit mir hinaus?«

Bismarck springt aufgeregt an ihm hoch. Er blickt zu seiner Tochter Pia.

»Muss das sein, bei diesem Wetter?«, antwortet sie.

Hermann Fürst ist immer noch eine beeindruckende Erscheinung, so wie er auf der Terrasse vor den Stufen zum Park steht, auf seinen Stock mit dem elfenbeinernen Knauf gestützt, mit einem schwarzen Umhang, Wollschal und Hut, die langen Haarsträhnen darunter schlohweiß.

Er saugt die erfrischend kühle Luft tief in sich auf. Dann läuft er die vertrauten Wege in seinem Park ab, an den vom Gärtner gegen die Kälte schützend mit Tannenzweigen abgedeckten Blumenbeeten vorbei. Das entleerte Schwimmbad gähnt ihn an in stumpfem Blau. Seine besondere Liebe gilt den Bäumen: Ahorn, Birken, Buchen und ein in dieser Gegend seltener Ginkobaum. Eine prächtige, weit ausladende Rotbuche vor dem Gärtnerhaus. Auf der Wiese vor dem Burghaus stehen drei hochgewachsene Platanen mit fleckiger Rinde, die, von der Sonne beschienen, südliche Gefühle in ihm wecken. Schweigend beobachtet er zwei Dohlen in den nackten Ästen der Kastanien. Boten des Dunkels, die, wenn sie in seinen Büchern auftauchen, das nächste Unheil ankündigen.

»Ich könnte mich stundenlang mit den Bäumen unterhalten. Sie stehen über der Zeit, besonders unserer Zeit.«

»Und sind ohne Widerworte, natürlich gefällt dir das.«

»Im Gegensatz zu dir und deinen Brüdern!«

Dabei ist er stolz auf seine vier Kinder. Allen voran Pia, das Kriegsmädchen, 1916 geboren. Seit zwei Jahren ist sie mit einem Franken aus Bayreuth verheiratet, ein Offizier, der mit seiner Division irgendwo an der Ostfront liegt, seit Wochen hat man nichts von ihm gehört. Und seine drei Jungen. Jetzt Männer, die sie, in den Krieg gerufen, über Nacht geworden sind.

»Wenn ich das hier betrachte, diesen wunderbaren Besitz, muss ich an meine Eltern denken, einfache, aber ehrliche und tüchtige Menschen, die in einem bescheidenen Haus in einer Arbeitersiedlung in Barmen lebten. Für sie war es ein schrecklicher Gedanke, dass der Sohn seine gesicherte Stellung bei der Farbenfabrik in Leverkusen für diese dünnbrettrige Künstlerwelt aufgeben würde. Aber dann hättest du das Leuchten in ihren Augen beim Applaus zu meinem ersten Theaterstück im Stadttheater Wuppertal sehen sollen. Der Arbeiterstolz, den habe ich von ihnen.«

Er blickt zu Pia, klein und zierlich, ihre Figur wie früher die der Mutter, aber mit seinem rötlichen, dichten Haar. Nur der Schuss Überheblichkeit stört ihn an ihr. Sie laufen an der den Park umgebenden Mauer entlang, die die Burgbewohner von dem umliegenden Dorf abschirmt, an versteckten Lauben vorbei, dann um das Rosenrondell mit der Skulptur von Siegfried im Kampf mit dem Drachen in seiner Mitte. Er braucht heute länger als sonst für seine gewohnte Runde im Park.

»Diese Burg und das Stadthaus in Düsseldorf, das ist das Ergebnis der Millionen verkaufter Bücher. Ja, alles ist schwieriger geworden in diesem Krieg, aber es fehlt uns hier an nichts. Aber letztlich sind das Äußerlichkeiten, am wichtigsten ist und bleibt die Familie, sie ist mein wirkliches Lebenswerk, das sich fortsetzen wird über zukünftige Generationen hinweg, durch dich und deine Brüder. Arbeitswille und Aufrichtigkeit, darauf kommt es an, egal, was aus dem Besitz wird. Genau davon leben meine Bücher: die unumstößlichen Werte der Familie, die Traditionen, zu denen sie sich bekennen. Das ist nicht selbstverständlich, sondern muss von jeder Generation neu geschaffen werden. Das gilt auch für euch, die Burgkinder.«

»Wir werden dich nicht enttäuschen, Vater.«

Er bleibt stehen, blickt mit einem schwer zu deutenden Lächeln auf die mittelalterliche Burg zurück.

»Mein neues Buch beginnt wieder mit einem Faustschlag, der die Wandlung in eine neue und bessere Welt einleitet. Im Mittelpunkt steht eine Familie, die, nachdem sie selbst Mitläufer war, die Verzerrungen der Welt um sie herum entlarvt. Und wir, die Fürsts, werden das von nun an beispielhaft vorleben.« Er macht eine Pause. »Jetzt wird es doch kühl. Übrigens, weiterhin keine Nachricht von deinem Johannes?«

»Nein, aber Nachrichten von der Ostfront fließen immer zäher.«

Ihm gefällt das nicht, die Ungewissheit über sein Schicksal und auch das seiner Söhne, von denen er immerhin gelegentlich hört. Außerdem dieses ungute Gefühl, das ihn angesichts der Kontakte seiner Schwiegertochter Erika zur SS beschleicht. Jedenfalls, die Entscheidung für das nächste Buch ist gefallen. Er wird seinen Beitrag zu einem konstruktiven Neuanfang leisten.

Am frühen Abend sitzt er mit Minnie im Wohnzimmer. Die Vorhänge sind zugezogen, eine angenehme Wärme verbreitet sich im Gelb der Lampen. Draußen regnet es, im Laufe der Nacht soll der Regen in Schnee übergehen. Er fühlt die Behaglichkeit dieses mit weichen Teppichen ausgelegten Zimmers. Am anderen Ende des Raums steht eine Gruppe von Biedermeiermöbeln um ein geschwungenes Sofa. An den Seiten antike Kommoden, auf denen sich Jugendstilfiguren, Büsten und verschnörkelte Skulpturen reihen. Die Wände dicht mit Bildern behängt, die meisten von Künstlern, mit denen er befreundet ist. Neben dem Kamin zwei großformatige Porträts von ihm und Minnie. Dominierend auf einer Wand für sich sein bedeutendstes Gemälde, ein Ölbild von William Turner, das er vor Jahren in London erstanden hat. Eine unruhige Meeresszene. Er weist auf das Bild.

»Der Sturm, Minnie, er tobt auch wieder in mir, er ist wie ein Geschenk des Himmels.«

»Ich mache mir Sorgen, dein Gesicht ist ungewöhnlich gerötet.«

»Ach, Minnie, unser Leben fängt erst richtig an. Noch einmal die Chance, Vorbild zu sein, neue Wege aufzuzeigen, wenn das kein Grund zum Feiern ist. Hol doch unten aus dem Keller zwei Flaschen Niedersberger Apothekchen, mein bester Wein. Dieses Glücksgefühl war zu lange tief in mir verschüttet. Und ruf die anderen, ich möchte nicht alleine feiern.«

Minnie steht bereits in der Tür, als er sie nochmals zu sich zurückwinkt.

»Halt, erst einen Kuss. Wann habe ich dich zuletzt in den Armen gehalten, Mädchen?«

So klang er vor fast fünfzig Jahren, dieselben Worte, derselbe Tonfall.

»Wir sind noch jung!«, ruft er ihr hinterher. Er blickt ihr zufrieden nach, mit ihrem hochgesteckten Haar, dem Geruch wohlduftender Seife an ihr, aufrecht, ihr Körper kaum von den Jahren und den vier Geburten gezeichnet.

Die nackten Glühlampen leuchten die Kellerräume spärlich aus. Im ersten Raum liegt ein Berg Kohle auf dem steinernen Fußboden, an der Wand gestapelt Kaminholz. Die Decke ist erdverkrustet, von Spinnweben überzogen. Eine Treppe führt in den Kartoffelkeller hinunter, auf den Regalen steht das Eingemachte des letzten Sommers. Minnie hat für die schweren Zeiten vorgesorgt. Für ihren Künstler ist alles selbstverständlich, was für sie tagelange harte Arbeit bedeutet. Aber es reicht, um über den Winter zu kommen. Die nächste Treppe führt in das unterste Kellergewölbe, den Weinkeller, ein modriger düsterer Raum, aber gut bestückt, auch jetzt noch. Was kann schon passieren, solange wir Wein haben, hatte Hermann Fürst seine Zukäufe in der Vergangenheit gerechtfertigt. Diese rheinische Seele! Sie blickt lächelnd um sich; wenn er recht hat, brauchen sie sich um die Zukunft keine Sorgen zu machen.

Minnie kehrt mit den zwei Flaschen zurück. Er muss sich heute wirklich gut fühlen, denkt sie, den trinkt er sonst nur zu besonderen Anlässen. Im Vorbeigehen hört sie aus der Küche das Lärmen der Enkelkinder, das Töchterchen und der Sohn ihres mittleren Sohnes Erhart, mit ihrer Mutter Karin beim Abendessen.

»Karin, komm ins Wohnzimmer, der Fürst will feiern, und bring die Kinder mit, damit sie ihn einmal bei guter Laune erleben«, ruft sie der Schwiegertochter zu.

Auch sie fühlt sich nach langer Zeit endlich entspannt und gut gelaunt, ein plötzlicher Stimmungsumschwung nach dem Vorfall mit dem Führerporträt heute Vormittag. Ganz wohl ist ihr allerdings nicht bei dem Gedanken, immer eher die Ängstliche, aber sie verdrängt schnell den Anflug von Besorgtheit.

Hermann Fürst sitzt in seinem Sessel genau so, wie sie ihn verlassen hat, den Kopf vielleicht ein wenig zur Seite geneigt. Seine Augen seltsam ruhig, eine friedliche Stimmung umgibt ihn.

»Hermann, deine zwei Flaschen, die letzten von dieser Sorte.«

Er antwortet ihr nicht, zeigt keinerlei Reaktion.

»Hermann, bist du in Ordnung?«

Erst jetzt bemerkt sie den halb geöffneten, leicht hängenden und teilweise von den Bartspitzen verdeckten Mund.

»Hermann!«

Sie stürzt zu dem regungslosen Mann, greift eine seiner schlaffen Hände und lässt sie entsetzt fallen.

»Mein Gott, das darf nicht wahr sein!«, murmelt sie.

»Ich höre, wir feiern. Ich muss nur noch schnell ins Dorf zur Unteren Burg, bin aber gleich wieder zurück«, ruft Erika ihr vom Gang aus zu.

»Warte, Erika, geh bitte zu Doktor Westermann, er muss sofort kommen!«

»Das soll Karin machen, ich bin verabredet.«

»Der Vater atmet nicht mehr!«

Erika bleibt im Türrahmen stehen, die Hände vor dem Mund. »Um Gottes willen«, stöhnt sie, starrt ein oder zwei Sekunden entgeistert auf die über den regungslosen Körper geneigte alte Frau, dann eilt sie davon.

»Mutter, was ist los?« Atemlos stürzt Karin in das Zimmer. Sie schüttelt ihren Schwiegervater, tätschelt sein Gesicht, sucht einen Puls am Hals, an seinem Handgelenk, dann blickt sie wortlos die Schwiegermutter an.

»Er war in bester Stimmung, als er mich in den Weinkeller geschickt hat. Er wollte sein neues Buch feiern, das Buch der Zukunft.«

»Schläft der Opa schon?«

Die dreijährige Eva schmiegt sich an ihre Mutter, als Pia, vom Lärm aufgeschreckt, ins Wohnzimmer kommt. Minnie und Karin weichen auseinander, um ihr den Blick auf den Vater zu öffnen. Die Tochter steht stumm vor ihm, so friedlich sieht doch kein Toter aus, denkt sie, aber als sie ihn umarmt, spürt sie seine Leblosigkeit. Laut schluchzend löst sie sich von ihm, blickt hilflos fragend ihre Mutter an. Im selben Augenblick hören sie Schritte vom Treppenhaus, Doktor Westermann, seine braune abgenutzte Medizinertasche in der Hand, hinter ihm Erika auf ihren Stöckelabsätzen.

»Bei ihnen ist heute aber was los!«, begrüßt der Arzt Minnie Fürst, dann beugt er sich über den Körper. Er presst zwei Finger suchend gegen den Hals, schüttelt den Kopf von Hermann Fürst, legt sein Ohr an sein Herz und horcht in ihn hinein. Atemlose Stille, ihre Blicke verfolgen ängstlich jede seiner Handlungen, ein winziger Funke Hoffnung und doch eindeutig die Furcht, dass er, was sie alle sehen, nur bestätigen kann. Er nimmt die verbundene Hand, sucht auch hier vergeblich einen Puls, dann blickt er bohrend in die noch offenen Augen, die hohl ins Leere starren. Der Schnauzer hängt schlaff, ein Tropfen Speichel glänzt in den Barthaaren. Sein Mund ist verzogen, als ob er mit einem Lächeln gestorben wäre. Der Arzt schiebt die Lider über die mattblauen Pupillen, dann wendet er sich ernst der Witwe zu.

»Mein Beileid, Frau Fürst.«

»Nein, nein, das darf nicht sein!« Erika heult auf und wirft sich über den Toten.

»Geh von meinem Vater weg!« Pia drängt ihre Schwägerin zur Seite.

»Als ob er dir allein gehört!«

»Ich bitte euch!«, weist Minnie die beiden zurecht. »Gott, er war so glücklich heute bei der Vorstellung, das Leben noch einmal von vorne zu beginnen, und nun das.«

»Wahrscheinlich ein Herzinfarkt. Er hat nicht gelitten«, sagt der Arzt.

Minnie blickt den Arzt an, schüttelt den Kopf beim Gedanken an das Wechselbad der Gefühle von heute.

»Nehmen Sie die beiden Weinflaschen mit, Herr Doktor Westermann, die eine für den Besuch heute Mittag, die andere für diesen. Hier wird vorerst nichts getrunken.«

Am folgenden Tag, zwischen Kriegsberichterstattung und Durchhalteparolen, geben Radiosender der Bevölkerung den Tod des Schriftstellers bekannt. Einer der großen deutschen Dichter, der wie kaum ein anderer die Gemüter seiner Zeitgenossen zu bewegen wusste! Die Nachrufe erwähnen die lange Liste seiner Erfolgsromane und Theaterstücke, seinen Einsatz für Deutschland während des vorigen Kriegs, sein unermüdliches Streiten für ein ungeteiltes Rheinland nach dem Zusammenbruch und die Zielstrebigkeit und Aufrichtigkeit seiner Romanfiguren, die gerade in den düsteren Zeiten den Deutschen Hoffnung und Richtung geben konnten. Seine neueren Bücher finden kaum Erwähnung.

Hermann Fürst liegt aufgebahrt in der Kapelle der Burg, im zitternden Schein einer einsamen Kerze, der den Kopf des Dichters wie im Leben erscheinen lässt. Bismarck wacht zusammengerollt zu seinen Füßen. Minnie Fürst sitzt abends alleine bei dem Toten, wenn die Besucher aus dem Dorf und von weither die Burg wieder verlassen haben. So nahe waren sie und Hermann Fürst sich seit Langem nicht mehr wie jetzt in dieser Stille vor dem mit weißen Nelken geschmückten Altar. Minnie Fürst fühlt dabei nichts, eine fast wohltuende Leere durchdringt sie, solange sie hier ungestört mit ihm zusammen ist.

Erika führt auch ihren Bekannten von der SS in die Kapelle. Er hatte sie schon längere Zeit gedrängt, ihm den bekannten Dichter vorzustellen. Seit Tagen hatte sie ihn hingehalten, nun steht er ihm die letzte Ehre erweisend gegenüber. Bismarck baut sich knurrend vor dem fremden Besucher auf.

»Scheißhund«, brummt der SS-Mann, ohne sich weiter zu nähern.

»Wenn es dich interessiert, zeige ich dir sein Arbeitszimmer«, bietet Erika beim Verlassen des Andachtsraums an. »Gestern hat er dort noch wie jeden Tag geschrieben. Das ist alles so unvorstellbar.«

Sie betreten den verwaisten Raum. Der große Schreibtisch aus Eiche steht auf der rechten Seite zum Fenster hin mit den Erinnerungen eines aufregenden Lebens. Sie blicken in den Büchereiflügel vor ihnen, auf einem Podest in der Mitte der Bibliothek die Nachbildung eines Viermastseglers. Hermann Fürst war an vielen Orten gewesen, mehrmals in den USA, hatte an der Columbia Universität in New York und der Universität in Berkeley aus seinen Werken gelesen, als Botschafter in deutscher Sache. Auf der linken Seite des Raums befindet sich die Ledergarnitur, das Sofa, auf dem er gerne seinen Mittagsschlaf gehalten hatte.

Auf dem Kaffeetisch steht noch das zertrümmerte Hitlerporträt. Der SS-Mann erstarrt beim Anblick des Führerfotos und des zerbrochenen Glases. Er nickt stumm vor sich hin, dann schaut er Erika fragend an. Sie streichelt sanft seinen Arm. Ohne einen weiteren Kommentar verlässt er die Burg.

2.
Remagen

Die Soldaten der 9th Armored Division hatten in wochenlangen zermürbenden Stellungskämpfen in den Ardennen die Wirklichkeit dieses Krieges kennengelernt, die brutal anders aussah als ihr harmloses Training zu Hause im Fort Riley in Kansas. Es hatte herbe Verluste gegeben, aber es blieb keine Zeit zum Nachdenken, das war Krieg, und, diese Überzeugung hatten sie aus Amerika mitgebracht, es war ein notwendiger, gerechter Krieg.

Tag für Tag liegt die hügelige Eifellandschaft in graue Nebelschwaden gehüllt. Der regnerische, nasskalte Februar hält den weiteren Vormarsch der alliierten Truppen auf. Das Dunkel der Tage geht scheinbar nahtlos in das Dunkel der Nächte über. In der Kantine stößt Leutnant Rob Wiseman, verantwortlich für den organisatorischen Ablauf des Frontlazaretts, auf Leutnant Karl Timmermann, Kommandant eines Zugs des 27th Armored Infantry Battallion, das zur 9th Armored Division gehört. Sie hatten sich auf der Überfahrt nach Europa kennengelernt, trotz aller Gegensätzlichkeiten waren sie sich sympathisch – Rob Wiseman, der Millionärssohn aus San Francisco, der für den Krieg den Beginn seines MBA-Studiums in Harvard verschieben musste, und Timmermann, ein typisches Produkt des Mittleren Westens, aufgewachsen in West Point, einem Dorf in Nebraska, hundertzwanzig Kilometer von Omaha entfernt.

»Wieder auf deutschem Boden, daran muss ich mich erst gewöhnen«, sagt Timmermann.

»Dann warst du schon einmal in Deutschland?« Wiseman blickt ihn erstaunt an.

»Ich wurde hier geboren. Mein Vater war im Ersten Weltkrieg in Koblenz am Rhein stationiert, nicht weit von hier. Er verliebte sich in eine Deutsche aus Frankfurt. Um sie zu heiraten, beging er Fahnenflucht. Erst viele Jahre später durften meine Eltern wieder nach Nebraska in die Heimat meines Vaters zurückkehren. Sie hatten es schwer, das unehrenhafte Ausscheiden aus der Armee hat meinen Vater sein Leben lang verfolgt.«

»Mein Urgroßvater stammt auch aus Deutschland, aus einem Dorf in der Nähe von Bamberg, wenn du weißt, wo das ist. Er wanderte nach Kalifornien aus, in der Zeit des Goldrausches, war erfolgreich, und das hat sich bis heute in unserer Familie fortgesetzt. Die Schicksale der Auswanderer haben viele Gesichter.«

»Man kann es sich nicht aussuchen.«

»Ich weiß nicht, Karl, die eine Hälfte des Schicksals wird dir zugeteilt, aber die andere hängt von dir ab.«

»Du meinst, ich habe eine fünfzigprozentige Chance, etwas aus meinem Leben zu machen?«

»Genau, ich habe auch nicht mehr. Es kommt darauf an, was du aus diesen fünfzig Prozent machst.«

Timmermann blickt zweifelnd in die dunklen, ihn freundlich musternden Augen seines Kameraden.

»Ich glaube, die ersten fünfzig Prozent erleichtern oder erschweren die zweiten fünfzig, je nachdem, aber auf sie kommt es letztlich an.«

Leutnant John Grimball, Zugführer im 14. Panzerbataillon, gesellt sich zu ihnen. Bevor er eingezogen wurde, war er Rechtsanwalt. Er ist stets bestens informiert.

»Ich habe gehört, es soll weitergehen. Der Plan ist, dass General Patton mit der Dritten Armee im Süden in Richtung Koblenz und Frankfurt und Feldmarschall Montgomery im Norden über Holland nach Deutschland eindringen werden. General Hoges wird mit der Ersten Armee einschließlich unserer Division unmittelbar auf Köln und Bonn vorrücken. Patton und Montgomery haben die Hauptrolle, wir sind die Statisten. Dann kommt der Rhein und das große Fragezeichen, wie und wo wir den überqueren können.«

Aber die geplante Offensive kommt nur stockend ins Rollen. Regenfälle und Schneeschmelze lassen die kleinen Bäche und Flüsse der Eifel anschwellen, die Wehrmacht hat Staudämme gesprengt, und das Wasser überschwemmt weite Flächen in der Angriffslinie der Alliierten. Mitte Februar schließlich kommt die Vorwärtsbewegung in Schwung, der Sturm zum Rhein beginnt.

»Fast hätten wir bei Düsseldorf eine Brücke über den Rhein erwischt!«, erzählt General Leonard, der kommandierende General der 9th Armored Division, Rob Wiseman bei einer Inspektion des Lazaretts. »Unsere Leute hatten einige Deutsch sprechende Soldaten in Wehrmachtsuniformen gesteckt und ihre Fahrzeuge als deutsche getarnt. Sie kamen unbemerkt an verschiedenen deutschen Einheiten vorbei, aber dann fielen sie doch einer Motorradpatrouille auf, die sich nicht täuschen ließ und den Luftschutzwart warnen konnte, der die Brücke vor unseren Truppen hochgehen ließ. Weiter nördlich bei Uerdingen wurde ebenfalls die Rheinbrücke in letzter Minute vor den Augen amerikanischer Truppen zerstört.«

»Sir, liegen vor uns nicht auch einige Brücken? Leutnant Timmermann spricht Deutsch, wir könnten das doch ebenso versuchen.«

»Richtig, eine in Bonn und eine bei Remagen. Aber bis wir dort ankommen, Wiseman, sind die gesprengt. Auf den Trick mit der Verkleidung fallen die Deutschen nicht ein zweites Mal rein. Wenn die so blöd wären, wäre der Krieg schon lange vorbei.«

»Sie überschätzen die vermeintlich Klugen, Sir, die begehen meistens die größten Dummheiten.«

»Nur gut, dass wir Sie mit Ihrer Klugheit hinter der Front haben, Wiseman. Übrigens, wir werden das Lazarett morgen nach vorne verlegen, in die Schule von Meckenheim. Von dort können Sie die Truppen bis Remagen und Sinzig versorgen, unsere beiden nächsten Ziele.«

Rob Wiseman salutiert seinem General. Harvard Business School, denkt der bei sich, die Typen lasse ich gerne vor mir strammstehen.

Am folgenden Tag verlegt Wiseman sein Lazarett wie befohlen in die Räumlichkeiten der Schule von Meckenheim. Unmittelbar gegenüber der Schule befindet sich die Befehlszentrale der A Kompanie des 27th Armored Infantry Battallion. Abends trifft Rob dort auf Karl Timmermann.

»Ich habe gehört, du bist jetzt Kompaniechef. Gratuliere, Karl!«

»So hatten sich das meine Vorgänger auch vorgestellt. Leutnant Swisher wurde am 1. März schwer verwundet, sein Nachfolger Leutnant Edwards ist nach vier Tagen gefallen, und dessen Nachfolger, Captain Kriner, hat es heute morgen erwischt. Die Ablösung erfolgt in immer kürzerer Folge, ich hoffe, ich werde wenigstens den Rhein noch sehen.«

Am nächsten Morgen nimmt Timmermann in seiner neuen Rolle als Kompaniechef an seiner ersten Einsatzbesprechung im Quartier von Colonel Engeman teil, dem Kommandanten der Panzerkräfte, die den Vormarsch der 9th Armored Division zum Rhein anführen.

»Ich will es kurz machen, gestern war gestern, heute liegt ein schwerer Tag vor uns. Timmermann, Sie übernehmen die Vorhut für die Panzerverbände.« Engeman schaut sich um, sein Blick fällt auf John Grimball. »Grimball, Sie konnten sich mit Ihren Pershing-Panzern in den vergangenen Tagen ausruhen, jedenfalls kam mir das so vor, Sie gehen nach vorne mit Timmermanns Einheiten. Sonst noch Fragen?« Keiner der Anwesenden rührt sich. »Also dann los, unser erstes Ziel heißt Remagen, unmittelbar am Rhein gelegen, dann geht es den Rhein aufwärts nach Sinzig. Dort treffen wir, wenn alles nach Plan läuft, mit Pattons Truppen zusammen.«

Beim Hinausgehen schaut Engeman kurz seinen neuen Kommandanten Timmermann an. Verlässliche Augen in dem kernigen Gesicht des Mannes aus Nebraska, denkt er bei sich.

Timmermann bespricht die seiner Einheit zugeteilte Rolle mit seinen drei Unterkommandanten. Gestern war er noch einer von ihnen, schwirrt es ihm durch den Kopf, heute plötzlich Kommandant. So schnell geht das, und so schnell kann es auch schon wieder vorbei sein.

Bei der Abfahrt tritt Rob Wiseman an Timmermanns Jeep.

»Hals- und Beinbruch, Kommandant. Bis heute Abend, dann trinken wir am Rhein eine Flasche Rheinwein zusammen.«

Timmermann verteilt die drei Züge seine Kompanie abschirmend um John Grimballs Panzereinheit. Leutnant Jim Burrows übernimmt mit seinem Infanteriezug die Spitze. Der bedächtige Angestellte aus New Jersey lässt sich nur selten aus der Ruhe bringen. Mike Chinchar und sein Zug decken die rechte Flanke der vorrückenden Truppen ab, Sergeant Joe DeLisio die linke Seite. Timmermann in seinem Jeep ist allgegenwärtig.

Gegen elf Uhr erreicht die Spitze der Kolonne Birresdorf, von wo ein direkter Weg den Berg hinunter nach Remagen führt. Aus den Häusern wehen weiße Fahnen, verängstigte Blicke der Einwohner, hauptsächlich Frauen und Kinder. Timmermann setzt den Vormarsch in Richtung Remagen fort. Bei der nächsten Kurve hält er abrupt an. Unter ihm im Tal fließt friedlich der Rhein, der sagenumwobene Fluss, grau im Grau des Tages. Timmermann traut seinen Augen nicht, als er rheinaufwärts von Remagen unversehrt die Ludendorff-Brücke erblickt, ein im Bogen über den Rhein gespanntes Stahlgerippe. Wie ein Geschenk des Himmels, mit dem niemand gerechnet hatte, das in keiner der Vorwärtsstrategien des Stabes auftaucht.

»Verdammt noch mal!« Burrows und Grimball schließen zu ihrem Kommandanten auf. Sie verfolgen stumm das Treiben auf der Brücke, in Luftlinie kaum mehr als einen Kilometer entfernt. Deutsches Militär drängt zwischen Zivilisten, Kindern und Frauen auf die gegenüberliegende Rheinseite.

Colonel Engeman rast kurz darauf in einem Jeep zu ihrem Beobachtungspunkt. Ein Augenblick ungläubigen Staunens. Unbeweglich das Gesicht von Karl Timmermann, aber seine Augen leuchten.

»Die Soldaten, die wir auf die andere Seite entkommen lassen, können wieder kämpfen. Das spricht für den sofortigen Einsatz von Artillerie. Andererseits, wenn wir es schaffen sollten, die Brücke einzunehmen, bevor sie die in die Luft jagen, hätten wir freie Fahrt über den Rhein. Mal sehen, was General Leonard dazu meint, er sollte jeden Augenblick hier sein.« Es klingt fast wie ein Selbstgespräch, aber dann verfällt Engeman ohne Übergang in seinen harten Befehlston: »Um zur Brücke zu kommen, müssen wir erst Remagen einnehmen. Timmermann, beginnen Sie sofort mit dem Angriff auf Remagen, Grimball, Sie geben Panzerschutz! Jetzt ist es ein Uhr, wir sehen uns an der Brücke wieder! Und beeilt euch, um fünf ist es dunkel, bisher ging alles sowieso viel zu langsam!«

Die Soldaten bewegen sich zögerlich zur Stadt hinunter, das Gewehr im Anschlag, schützend gegen die Hauswände gepresst. Kurz nach zwei Uhr ist Remagen fest in amerikanischer Hand. Timmermann und seine Truppe wenden sich der weiterhin unzerstörten Rheinbrücke zu. Plötzlich gibt es vor ihnen eine Explosion, aufgewirbelte Erde und Felsbrocken fliegen umher. Ein zehn Meter breiter Krater vor der Auffahrt zur Brücke zwingt Grimballs Panzer zum Anhalten.

»Was jetzt?«, wendet er sich an Timmermann.

Sie beobachten, wie die Flüchtenden in den Tunnel verschwinden, in den die Brücke auf der gegenüberliegenden Seite des Rheins in den Berg mündet. Inzwischen ist es drei Uhr, niemand scheint zu wissen, wie es weitergehen soll. Schließlich stößt General Leonard zu der Vorhut bei der Brücke.

»Wir haben in Erfahrung gebracht, dass die Deutschen die Brücke punkt vier Uhr hochgehen lassen wollen. Timmermann, Sie und Ihre Kompanie geben den Männern des Ingenieursbataillons Deckung, vielleicht gelingt es denen noch rechtzeitig, die Sprengladung zu entschärfen. Wir belegen die andere Seite mit einer phosphorsauren Rauchwand, das sollte die dort in dem Tunnel zurückhalten.«

Ein Selbstmordkommando, wie es im Buche steht, denkt Timmermann. Er schaut die Soldaten um sich herum an. Jung gealterte Gesichter aus den Farmen des Mittleren Westens, den Fabriken von Michigan und Ohio, den Bürotürmen in New York City oder den Schulen und Universitäten Amerikas. Aber Befehl ist Befehl, deswegen ist er hier.

Hugh Mott, ein furchtloser, dunkelhaariger Ingenieur aus Nashville, Tennessee, blickt ihn ungeduldig an. Er und die zwei fähigsten Männer seiner Ingenieurseinheit, Eugene Dorland, ein Steinmetz aus Kansas, und John Reynolds, ein Textilarbeiter aus North Carolina, warten auf den Einsatzbefehl.

»Also los geht’s, Leute, über den Rhein! …« Timmermann wird von einer heftigen Explosion auf der gegenüberliegenden Seite unterbrochen. Die Brücke hebt sich vor ihnen, einige Planken fliegen durch die Luft, aber dann sinkt sie in ihr Fundament zurück, als wollte sie nur einmal tief durchatmen. Rauchwolken verhüllen die andere Seite der Brücke. Eine unheimliche Stille folgt dem betäubenden Lärm.

»Verdammt, das war doch erst auf vier Uhr angesagt, auf die Deutschen ist auch kein Verlass mehr! Aber egal, vorwärts, solange die Brücke noch steht«, befiehlt Timmermann. »Chinchars Zug vorneweg, danach DeLisio, Burrows und seine Leute bilden den Schluss. Ich bleibe mit vorne.«

Im Vorbeigehen flüstert er Jim Burrows zu: »Jim, du als Offizier befiehlst die letzte unserer Einheiten über die Brücke. Ich vorne und du hinten. Falls vorne etwas schiefläuft, musst du sofort das Kommando übernehmen.«

Plötzlich bemerkt er Rob Wiseman neben einem der Pershing-Panzer. »Was machst du denn hier? Ist es dir in Meckenheim zu langweilig geworden?«

»Ein Krankenträger mehr kann nie schaden. Du kannst also unbesorgt auf die Brücke, ich bringe dich im Notfall zurück. Allerdings, irgendwann müsst ihr los.«

Timmermann blickt ihn kopfschüttelnd an, diesen Typ, dem niemand befohlen hat, hier an vorderster Front mit dabei zu sein. Mit einer abrupten Handbewegung weist er seine Kompanie an, ihm zu folgen. Auf der Brücke überrascht sie Maschinengewehrfeuer aus einem der Türme. Grimball schießt mit seinem Pershing-Panzer ein Loch in den Turm, sofort kehrt Ruhe ein. Dennoch bewegen sich die Infanteristen nur zögerlich vorwärts, denn die große Explosion kommt, das wissen sie alle. Hugh Mott, dem Ingenieur, geht alles viel zu langsam: »Macht mehr Dampf, Leute, sonst finden wir das Dynamit nie, bevor es hochgeht.«

Etwa nach einem Drittel der Brücke wird Chinchars Zug durch die wieder erstarkten Schützen aus dem Turm erneut mit Beschuss belegt. Timmermann winkt DeLisio zu sich.

»Joe, übernimm die Führung, und bring die im Turm zum Schweigen!«

Der untersetzte Feldwebel aus der Bronx nickt seinem Kommandanten zu, eine unzweideutige Kopfbewegung zu seinem Zug. »Leute, jeder mir nach. Je schneller wir die andere Seite erreichen, umso schneller sind wir von dieser verdammten Brücke runter.«

Etwa in der Mitte der Brücke entdecken Mott und seine Ingenieure an den Metallträgern unter dem Stahlgerippe vier Dynamitsprengsätze. Der Ingenieur aus Nashville schwingt sich über die Brüstung und klettert unter die Brücke. Atemlos arbeiten er und seine beiden Helfer mit ihren Zangen, bis die Ladungen tief unter ihnen im Rhein aufklatschen. Über ihnen dröhnen die harten Stiefel der Infanteristen, und über allem die feste Stimme Timmermanns: »Leute, los, mehr Tempo!«

Kurz vor den zweiten Turm und nahe der anderen Seite der Brücke werden sie von einer Maschinengewehrsalve überrascht. Einer von Burrows’ Soldaten sinkt zusammen, aus seiner Wunde quillt Blut, laute Rufe nach Sanitätern ertönen. Kurz darauf taucht Rob Wiseman mit einer Tragbahre auf, kniet sich untersuchend neben den Verletzten, dann hebt er ihn vorsichtig mit einem anderen Sanitäter auf die Bahre und trägt ihn zwischen den nach vorne drängenden Truppen in Richtung Remagen.