© 2018, Septime Verlag, Wien

Alle Rechte vorbehalten.

 

Zitat aus:

Nietzsche, Friedrich: Der Antichrist. Versuch einer Kritik des Christentums. Frankfurt am Main 1986, S. 85.

 

Lektorat: Elisabeth Schöberl

Umschlag: Jürgen Schütz

Umschlagbild: © fotolia – Peerawat

EPUB-Konvertierung: Esther Unterhofer

ISBN: 978-3-903061-61-3

 

Printversion: Hardcover, Schutzumschlag, Lesebändchen

ISBN: 978-3-902711-77-9

 

 

www.septime-verlag.at

www.facebook.com/septimeverlag

www.twitter.com/septimeverlag

 

 

 

 

Corinna Antelmann

wurde 1969 in Bremen geboren und lebt heute mit ihrem Mann und zwei Töchtern in Linz. Nach ihrem Studium (Film, Literatur, Musik) arbeitete sie in der Theaterwerkstatt Hannover und der Trickompany Hamburg, inzwischen ist sie als freie Autorin und Dozentin für Storytelling tätig. Corinna Antelmann erhielt u. a. den »Frau-Ava-Literaturpreis« (2013) und das »Kranichsteiner Jugendliteratur-Stipendium« (2015), ihr Jugendbuch Der Rabe ist Acht wurde mit dem »White Raven« ausgezeichnet. Bei Septime veröffentlicht Corinna Antelmann ihre Romane.

 

Klappentext

Eine verletzende Bemerkung des Liebhabers, ein Missverständnis mit dem Ehemann, Unstimmigkeiten mit dem Verleger – es sind zunächst läppisch scheinende Vorfälle, die der Autorin Lisa unerwartet die Beengtheit ihres Daseins aufzeigen. Doch ihren Gefühlen weicht sie aus und macht, was sie seit jeher macht, wenn sie irritiert ist. Sie zieht sich in ihren Kopf zurück. Der Kopf ist für sie Schutzraum und Gefängnis zugleich.
Im Rattern des Gedankenrades fühlt Lisa sich sicher. Emsig spinnt sie sich ein immer aberwitzigeres Netz von Gedankenfäden, die um Schriftstellerei und Bibliotheken, um Frausein und Mutterschaft, um Sexualität und romantische Liebe, um Glauben, Psyche und Fremdheit kreisen. Gleichzeitig spürt sie die Not, die sie in dem Gespinst gefangen hält, und erkennt darin die grundsätzliche Begrenztheit des Menschen. 
Nach drei Tagen und drei Nächten, die Lisa in ihrem Kopf festhängt, erlebt sie unerwartet einen Moment der Offenbarung, der sie von ihrer fundamentalen Einsamkeit erlöst.

 

 

Corinna Antelmann

Drei Tage drei Nächte

Roman | Septime Verlag

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Das Volk, das in Finsternis saß,

hat ein großes Licht gesehen; und denen,

die saßen am Ort und im Schatten des Todes,

ist ein Licht aufgegangen.

(Mt 4,16)

 

 

I. Freitag

 

 

Eine Frau wacht auf und schaut aus dem Fenster, denke ich und denke außerdem: Diese Frau bin ich. Zeit, meinem Schädel-Gefängnis zu entkommen. Zu lange schon lebe ich hinter diesen beiden Guck-Löchern, in denen die Augäpfel kleben, um ihren minimalen Bruchteil an Welt zu erschauen. Alle leben wir in unseren Köpfen, stecken darin fest und versuchen nur selten, aus diesem beengten Nest heraus mehr als die zerhackstückten Ausschnitte zu erhaschen, die sich um den Kopf scharen, immer nur um den Kopf herum. Ein kurzes Blinzeln, ansonsten hübsch geborgen zwischen den Schädelknochen. Dort mag es zwar unbequem sein, aber sicher, und die anderen sind immer die anderen und bleiben die anderen.

 

Auf dem Weg von meinem Büro, oder wie ich es bei mir nenne: meinem Schreibatelier, zu meiner Mittagspause sehe ich meinen Liebhaber vor der Auslage des Buchladens am Hauptplatz stehen und ich stelle mich neben ihn, mit einer heute leicht angeknickten, heiteren Gelassenheit, die ich mühsam zu aktivieren suche. Kaum hat er wahrgenommen, dass ich es bin, die sich zu ihm gesellt, gesteht er unvermittelt, dass er sich verliebt habe, was mich allerdings nur mäßig aus dem Gleichgewicht bringt, weil er sich in Zeiten, in denen er nicht mehr weiß, wie er sein Leben gestalten soll, stets eine Liebe im Außen sucht, diesen Mechanismus kenne ich bereits, zumindest aus Erzählungen, seinen Erzählungen, und zu guter Letzt habe ich diesen Mechanismus ja am eigenen Leib erfahren, auch wenn ich gehofft haben sollte, kein Mechanismus zu sein, sondern seine wahre >.< Liebe; ins Schleudern gerate ich, als er nun hinzufügt, er habe sich in eine Siebzehnjährige verliebt. Seine Beichte schockiert mich, und da der Schock sich ihm offenbar ohne Worte vermittelt, wird er traurig, denn er hatte nur ehrlich sein wollen und sagt das jetzt auch: Dass er gedacht habe, wir könnten befreundet sein und einander alles sagen, was wir fühlten, außerdem trage sie aufreizende Shorts, da dürfe sich niemand, auch ich nicht, wundern, dass er das als Aufforderung verstehe, und außerdem werde die Liebe zu der Siebzehnjährigen ohnehin platonisch bleiben, aber selbst wenn: kein Grund zur Panik. Dass ich mich nicht wundern dürfe, könne ich nicht akzeptieren, sage wiederum ich, nein, das kann ich nicht akzeptieren, schließlich sei er ein alter Sack, also ungefähr so alt wie ich, und die Kleidung eines jungen Mädchens verantwortlich machen zu wollen für das Zutagetreten ungeahnter Gelüste, das wirke wie ein Argument aus präfeministischer Zeit, in einer solchen wir uns möglicherweise noch immer bewegten, und was das heißen solle: aufreizend? Da lacht er und meint, das wisse ich sehr genau, aber sein Lächeln wirkt abstoßend heute; der Ausdruck erinnert mich an etwas und ist nicht in dem Maße charmant, wie ich es bisher von ihm gewohnt war, und auch wenn er eines Tages mein Freund werden könnte, so widert mich sein Ausdruck jetzt an. Die kurzen oder langen Shorts eines anderen Menschen sollten ihn im Grunde genommen ebenso wenig interessieren wie mich und überhaupt: Warum muss er seine Wünsche auf eine Siebzehnjährige projizieren, die unschuldig >.< ist und auf ihre Weise Kind, aber Letzteres glaubt er mir nicht, weil er meint, ich sähe nicht, was er sieht, also den Blick, den sie ihm zuwirft und den ich im Übrigen auch nicht sehen will, wenn er mich fragen würde, was er tunlichst unterlässt, also verabschiede ich mich übereilt, er weiß, dass es übereilt ist, und schaut mir nach wie ein zu Unrecht Verurteilter. Als ich den Platz überquere, um in die Pfarrgasse zu gelangen, fühle ich mich endgültig wie ein geknicktes Rohr, ein Zustand, der sich bereits vor der Begegnung mit meinem nunmehr ehemaligen Liebhaber angekündigt hatte, und mein Missmut verheddert sich in dem lieblos auf den Gehsteig geworfenen Unrat, in zerfledderten Saft-Packungen, Dosen und ausgeblichenen Einkaufstüten, die in diesem Land, in das ich vom Norden Deutschlands migriert bin, Sackerl heißen würden; sie unterbrechen meinen Weg und bringen mich nicht weiter, sodass ich stehen bleibe. Ich könnte mir eine der Plastiktüten überstülpen, um qualvoll in ihr zu ersticken, denke ich in einem Anflug von Todessehnsucht, aber die Todessehnsucht ist nur eine Sehnsucht von vielen, und deshalb lasse ich sie links liegen. Das Eckchen der Tüte verfängt sich in meinem Absatz und ich denke, warum kann nicht einmal jemand kommen und Ordnung schaffen, verdammt noch mal? So ein Saustall, gereinigt sollte er werden; der Müll muss raus. Der Ruf nach Ordnung ist mir neu und vermutlich ein Hinweis auf das eigene Unsortiert-Sein, wie ich bereits als Siebzehnjährige mit der den Siebzehnjährigen eigenen jugendlichen Arroganz meiner Mutter gegenüber behauptet habe, um ihr sodann auseinanderzusetzen, sie solle mich bitte schön in Ruhe lassen mit ihrem Ordnungswahn, der allein von innerer Unaufgeräumtheit zeuge, denn wer im Inneren Frieden spüre, dem mache äußeres Chaos nichts aus. So sagte ich damals und warf meine ausgelesene Fernsehzeitschrift zum sechshundertsechsundsechzigsten Mal auf den Fußboden, wo sie liegen geblieben wäre, wenn Mama sie nicht weggeräumt hätte.

Mama, Mama, immer diese Mamas.

Jetzt aber begreift mein überforderter Kopf eine leere Orangensaft-Packung als unüberwindbares Hindernis, sodass ich denke, warum räumen die nicht mal die Tüten weg, ohne zu wissen, wer diese die in diesem Falle sein sollen, die Mamas vielleicht, nur treiben sich Mamas nicht auf den Straßen herum, außer der einen Sorte Mama, der ich angehöre und die sich noch immer, oder immer wieder, auf der Suche nach dem jung gebliebenen Ich befindet. Das jung gebliebene Ich ist ja Teil von uns; nur aus dem Spiegel blickt es uns nicht länger entgegen oder zumindest anders, als wir es erinnern beziehungsweise von innen her sehen, und das reißt eine merkwürdige Diskrepanz zwischen dem Sein und dem Fühlen der im Laufe der Zeit Gealterten auf, die dann vermutlich zu solchen Verirrungen führt, mit geiferndem Blick auf Siebzehnjährige von Liebe zu schwadronieren. Die Sehnsucht des älter werdenden Ichs nach dem jungen Ich mit der Liebe zu einem real existierenden jungen Menschenkörper zu verwechseln, ist mir persönlich fremd, das scheint anderen Frauen ebenso zu gehen, wieder anderen hingegen nicht, aber erst neulich hörte ich ein weltweit bekanntes, alterndes Model in einem Interview äußern: »Was soll ich als Vierzigjährige mit einem Bubi?« Dass Frauen im Allgemeinen niemals solche Verirrungen verspüren, denen zum Beispiel mein ehemaliger Liebhaber momentan ausgesetzt ist, darf dagegen als Mythos gelten, nehme ich an, und wird nur deshalb als vermeintlich geltender Konsens angenommen, weil kaum jemand einem anderen Menschen zuhört, sodass niemand von der Verirrung des jeweils anderen weiß, im Gegensatz zu mir, die ich jetzt über die Verwirrung meines ehemaligen Liebhabers informiert bin, dem ich ungefragt zuhören musste, und von einer Freundin erfuhr ich jüngst, dass sie sich in den Freund ihres Sohnes verguckt habe. Aber gewöhnlich sitzen alle dem Glauben auf und wollen zudem in ihm verharren, dass Mamis, statt in den Straßen zu tanzen, am liebsten zu Hause sitzen, ohne Jux und Tollerei, in den aufgeräumten Wohnzimmern, wo sie immerfort Frieden verspüren. So lange, bis die Kinder das Wohnzimmer verwüsten, nehme ich an, bis das Unterste zuoberst liegt, und wenn diese Kinder ermahnt werden, bitte die Zeitschriften zusammenzuräumen, schauen sie dir ins Gesicht und sagen: »Stell dich nicht so an; das ist nur Zeichen des eigenen Unsortiert-Seins.« An diesen Mütter-Frieden zu glauben, schafft eine gewisse Orientierung, aber keine Wahrheit >.<, und ohne Wahrheit gibt es keine Veränderung und ohne Veränderung kein menschliches Wachstum, und da hocken wir bereits mittendrin in dem Schlamassel, in dem wir langsam verschlamasselt werden, weil all die einmal entstandenen und im Folgenden sorgsam gehegten Bilder von Mann und Frau und Mutter und Vater via Magazinen und Internetseiten und Facebook-Profilen über ihre Halbwertzeit hinaus aufrechterhalten werden, um ein Minimum an verlorener Stabilität zu suggerieren. Und neben diesen ausnahmslos gequirlten Bildern, die über uns ausgeschüttet werden, gibt es zusätzlich die eigenen Erfahrungen, die in unseren verschieden behaarten und geformten Köpfen zu Steinchen verklumpt sind, um dort fortwährend aneinanderzuscheppern und dich langsam, aber sicher in den Wahnsinn zu treiben. Über das tatsächliche Innenleben der Mütter aber spricht niemand, und dennoch wissen alle Bescheid, die sich, wie ich selbst, unerwartet schnell zu einer sogenannten reifen Frau ausgewachsen haben, deren Reife innerhalb eines auf Unterdrückung basierenden, patriarchalen Gesellschaftssystems jedoch statt als Merkmal neuer Macht immer nur als abzulehnender Altersprozess betrachtet wird, in einem Gesellschaftssystem nämlich, in dem die Machtfrage ohnehin geklärt scheint, nur nicht zugunsten der Frau und damit genau genommen auch nicht zugunsten der Menschheit. Womöglich ließe sich hier ein systemischer Fehler ausmachen, zumindest mir stellt es sich momentan so dar, dass die Ordnung der Welt sich zu meinen Ungunsten entwickelt, und deshalb kann ich nur sagen: Ein Leben als reife Frau im Europa der Gegenwart, nein, danke, das ist kein Spaß heutzutage. »Du magst reif sein«, sagte mein ehemaliger Liebhaber erst letzte Woche, als wir uns im Café Traxlmayr trafen, in dem er jetzt vermutlich mit einer anderen sitzt, »aber interessant, weil du erotisch bist, auch ohne mit den Wimpern klimpern zu müssen.« So formulierte er es, das fällt mir jetzt ein, erotisch, aha, aha, soso, glaubt er ernsthaft, es sei wichtig, erotisch sein zu wollen? Womöglich in den Augen von jemandem, der nicht weiß, wohin mit seiner Sexualität, sobald er die vierzig überschritten hat, weshalb es ihm als eine gute Idee erscheint, an der Jugend zu schmarotzen, statt über seine eigene Ehefrau herzufallen, nur so zum Beispiel. Ich bezweifle, dass er ihr noch guttut, also der Ehefrau, aber danach habe ich ihn nicht gefragt, denn bei diesem letzten Gespräch vor einer Woche war von der, nenn es: neuen Liebe, meines nicht mehr neuen Liebhabers noch keine Rede gewesen; außerdem bin ich verdammt noch mal diskret und beiße mich für diese Diskretion gleichzeitig in den Hintern. Die Frage nach der Ehefrau wäre eine interessante Frage gewesen, denn hier gäbe es endlich etwas zu lernen, das spüre ich: über Mann und Frau, die Ehe, das Abkapseln, die Hinwendung, Distanz und Verbindung, den Menschen als solchen, das Hin-und-her-Schieben menschlicher Sehnsüchte von dem einen zum anderen, von einem Platz auf den nächsten, auf Leerstellen, die unbesetzt sind von allem anderen und erobert werden wollen, dadurch, dass du das Maul auftust, wenn es angezeigt ist: der Frau gegenüber, der Freundin, den Kindern, den körpereigenen Zellen oder auch den Enzymen, die immer erst dann aktiviert werden, wenn ihre Dienste vonnöten sind, ähnlich wie mein mir liebster und höchstpersönlicher Bibliothekar Gerhard, dessen Dienst ebenfalls dann und wann von dringendster Notwendigkeit ist.

 

Das ist vollkommen uninteressant, sagt Gerhard, nicht einmal ausreichend interessant, um als Literatur verhandelt zu werden und anschließend in der Bibliothek zu landen.

Literatur interessiert ohnehin keine Socke, erwidere ich und bin froh, dass Gerhard sich endlich zu Wort gemeldet hat, außer die Bibliothekarinnen und Bibliothekare vielleicht.

 

»Einspruch«, höre ich meine Lektorin im Geiste einwenden, allerdings nicht, um inhaltlich zu widersprechen, wie ich sodann feststelle, sondern um zu verkünden, dass sie dieses Gendern wahnsinnig mache. Wendungen wie Bibliothekarinnen und Bibliothekare produzierten Wortmonster, die den Text zu verschlingen drohten. Ich ignoriere den Einwand, denn sie sitzt zu Hause, statt neben mir auf der Gasse zu stehen, und die Alternative zum Gendern gefällt mir nicht; auch sie produziert Monster, das Monster der Ignoranz, das droht, meine Existenz zu verschlingen, und wer möchte schon unerwähnt und unsichtbar und zerknickt bis gebrochen durch das Leben marschieren? Ich einige mich mit mir, in Zukunft die männliche Form zugunsten der weiblichen zu fressen und die Worte in voller und vollkommener weiblicher Schönheit zu formen, denn in der Weiblichkeit ist der Mann ohnehin mit enthalten.

Aufgemampft.

Und wenn ich recht habe und die Literatur keine Socke interessiert, kann ich schreiben, wie ich will, oder warum nicht gleich: aufhören zu schreiben, denn im Grunde wäre es in diesem Falle sinnlos, weiterhin Literatur produzieren zu wollen, so sinnlos wie die Verpackungen, die hier herumliegen, um mir den Weg abzuschneiden. Gott, hilf, denke ich, aber Gottes Hilfe anzurufen erscheint mir als zu kompliziert für eine schnelle Rettung aus den Tiefen meines kurzfristig aufgetretenen Elends, also erinnere ich mich der Kraft meiner einfach anzurufenden Dienstleister und rufe Gerhard auf dem Handy an.

»Gerhard, hilf!«, sage ich, ja, ich schreie beinahe, »du musst das geknickte Rohr aufrichten!«

»Meines?«, scherzt er, aber natürlich >.< weiß er, dass ich mit dem Bild vom Rohr niemanden anderen als mich selbst beschreibe, also redet er mir zu, »halte durch, Liebes, und lass dich nicht in Gedankengewebe hineinfallen, in denen du dich womöglich verheddern wirst.«

So gut kennt er mich, dass er weiß, die Gedankenteppiche sind das Einzige, was mir zur Verfügung steht, um nicht auseinanderzufallen oder zumindest weich zu fallen.

»Es stimmt, Gerhard, du weißt, dass es so ist: Das Rettungsboot liegt im Schädel, fest verankert in der Abstraktion.«

Da lacht er und ich falle in das Lachen ein.

»Ist es jetzt besser?«, fragt er und ich sage: »Viel besser.«

Nachdem ich aufgelegt habe, überwinde ich den Müll, gehe die Gasse bis zum Pfarrplatz hinunter und setze mich ins Café Meier, um meinen täglichen Mittagstisch einzunehmen, wie ich es mir vorgenommen hatte. Gewohnheiten sind der inneren Sortierung gewöhnlich sehr zuträglich, sie bieten eine ähnliche Orientierung, wie es die unhinterfragten Wahrheiten tun, nur überzeugender. Ich sinke gegen die Rückenlehne, atme durch und beobachte das Paar am Nachbartisch, das in ein Gespräch vertieft ist. Dabei fällt mir unglücklicherweise das Gespräch ein, das ich gestern mit meinem Schauspieler-Mann führte und das meiner Todessehnsucht den ersten Kick gegeben haben dürfte, wenn ich es einmal so dramatisch ausdrücken darf. Auf dem Sofa sitzend, teilten wir uns einen Schluck Wein und brachen ein Stückchen Brot, so wie wir es gern tun während unseres persönlichen Abendmahls, nachdem wir die Tochter ins Bett gebracht haben. Und weil wir dort so gemütlich beisammen saßen, nutzte ich die Gelegenheit und offenbarte ihm in einem Anflug von Mangelgefühl (oder Aufrichtigkeit), dass mir das Gefühl der leidenschaftlichen Liebe, ich nannte es der Einfachheit halber das Gefühl der romantischen Liebe, fehlen würde, so schmerzlich fehlen, dass ich mir am liebsten einen Liebhaber nehmen würde. Das sagte ich, weil ich dachte, es wäre besser, mich ihm zu offenbaren, als meine Sehnsüchte heimlich vor mir her zu schleppen oder mich zu verbiegen oder weiterhin ein Doppelleben zu führen, was meiner Persönlichkeitsstruktur auf eine Art entspricht, gleichzeitig jedoch schmerzlich ist, weil ich mit meinem protestantischen Geist kaum in den Spiegel schauen kann, sobald ich das Gefühl habe, Schuld >.< auf mich geladen zu haben. Das sind so Kategorien, die dich ein Leben lang begleiten, vielleicht sogar über den Tod bis in die Ewigkeit hinein, da manche Taten nicht automatisch durch den Tod bereinigt werden, wenn es stimmt, was wir von karmischen Zusammenhängen her zu wissen glauben: Einmal auf sich geladene Schuld wiegt schwer. Jedenfalls hatte ich mich gestern Abend aus solchen oder ähnlichen Überlegungen heraus zu einer Form der Beichte durchgerungen, meinem ehemaligen Liebhaber nicht unähnlich, ohne das Beichten gewohnt zu sein, obwohl es auch bei uns, oben im Norden, wo die meisten Leute protestantisch sind, eine Form der Beichte gibt, die Brüder-Beichte, nur weiß kaum jemand, worum es dabei geht. Das Prinzip der Brüder-Beichte besteht darin, dass der Nächste, der Bruder oder die Schwester, dir vergeben kann, und nicht nur der Priester im festlichen Gewand. Deshalb ist das Sofa für eine Protestantin nicht der schlechteste Platz für die Beichte, besser als ein Stuhl, und der Schauspieler-Mann ein würdiger Beichtvater, auch wenn er selbst als Junge durch und durch, vom Herz bis unters Schädeldach, katholisch gewesen ist und nun, seit er dem abgeschworen hat, die Beichte scheut. Mir aber gefällt die Idee der Beichte, denn sie folgt ja der Idee der Vergebung und der zweiten Chance. Deshalb offenbarte ich meinem Schauspieler-Mann meine geheimen Sehnsüchte, aber in einer Weise war meine Beichte absurd, denn beim Beichten schwingt allein die Erwartung mit, dass dein Gegenüber dir deine Schuldgefühle abnimmt oder sonst etwas tut, damit es dir besser geht mit dem Sachverhalt, den du zu beichten bereit bist, richtig, Gerhard? Zum Beispiel hätte ich noch so hehr >.< tun können oder christlich, oder nenn es schlicht: offen, letzten Endes war diese Beichte nicht frei von der Hoffnung, die möglicherweise nur ein geschöntes Wort für Erwartung ist, dass der andere, also in diesem Falle mein Schauspieler-Mann, mir diese Sehnsüchte erfüllen könnte, von denen ich daherschwadronierte, also in gewisser Hinsicht den Erfüllungsgehilfen meiner Sehnsucht spielen würde. Spielen kann er. Dementsprechend groß war die Enttäuschung, dass mein Schauspieler-Mann, obwohl soeben von romantischer Liebe in ihrem frischesten Sinne die Rede gewesen war, davon absah, sich dementsprechend und erwartungsgemäß auf mich zu werfen, um mir das Gefühl zu geben, auch als langjährige Ehefrau und Mutter seines Kindes, trotz allem, in erster Linie eine begehrenswerte Frau zu sein, was mein Schauspieler-Mann sicher ebenso sehen würde, soweit ich das beurteilen kann, also: von außen. Statt jedoch den Beweis dafür zu liefern, dass er die begehrenswerte Frau in mir sieht, wurde er ernst und sagte: »Sei nicht böse, Lisa, aber wenn ich ehrlich bin, denke ich gerade darüber nach, ob wir nicht eine Beziehungspause einlegen sollten.« Dass er meinen Sehnsuchtsgelüsten nicht auf die von mir gewünschte, erwartete Art begegnete, kam für mich überraschend, denn ich weiß ja, dass er mit mir als Frau, im Sinne von: auch als Mutter und Ehefrau weiterhin begehrenswert zu sein, nie ein Problem hatte, da es für ihn, so wage ich zu behaupten, nie einen Widerspruch zwischen dem sexuellen Bild der Frau und dem heiligen Bild der Mutter gab, also er sich nicht dieses starre Bild von Mutter einverleibt hatte, das so manchen Mann, will ich einer mir jüngst berichteten Geschichte Glauben schenken, dazu bringt, die einst begehrlich Geliebte nach der Geburt des ersten Kindes mit einer merkwürdig verbogenen Logik entsexualisieren zu müssen, eine Störung, die dem sogenannten Madonna-Hure-Syndrom zugeordnet werden könnte, verkürzt und vereinfacht dargestellt jedenfalls, genau weiß ich das nicht, da ich trotz meiner Neigung, möglicherweise auch: Fähigkeit, nie Psychologin geworden bin. Dennoch vermute ich den Ursprung der Freiheit, die mein Schauspieler-Mann in der Angelegenheit Madonna-Hure gewöhnlich an den Tag legt, also mir in den Jahrzehnten unserer Ehe bisher demonstrierte, darin, dass er rechtzeitig dem Katholizismus abgeschworen hat, aber diese Ergründung möglicher Ursachen für das Fehlen verkorkster Frauenbilder stützt sich allein auf Vermutungen, denn vielleicht entspricht seine Haltung der Norm >.<, und andere Sichtweisen auf den Komplex Frau-Mutter-Heilige sind in Wahrheit >.< nur wenigen Einzelnen zuzuordnen, wie in diesem einen Falle, der mir zu Ohren gekommen ist, weil ich an diesem Tag dem einen bestimmten Mann zufällig mein Ohr geschenkt habe. Innerlich warte ich darauf, dass Gerhard mich unterbricht; schließlich hatte ich zugesagt, mich nicht in abstrakte Gedanken einspinnen zu wollen.

 

Richtig, bestätigt er, warum machst du es dann?, und ich entgegne: Es ist das Einzige, was ich kann.

Und wo führt das hin?

Muss es irgendwo hinführen?, frage ich.

Das findet er witzig.

 

Das plötzliche Auftauchen der Möglichkeit einer Beziehungspause während unseres abendlichen Ehegespräches klang befremdlich in meinen Ohren und auch mein Schauspieler-Mann erschien mir mit einem Male fremd, weil er unsere Gewohnheiten durchbrach und mir durch den unerwarteten Einwand meine gewisse ungewisse Orientierung entzog, denn gewöhnlich >.< bin ich diejenige, die einen Begriff wie Beziehungspause in den gemeinsam bewohnten Raum stellt, im Grunde meines bisher unverkorkst anmutenden Herzens allerdings mit der alleinigen Absicht, die Partnerschaft beleben zu wollen, jedenfalls, wenn du mich fragst und nicht meinen Gelegenheitscoach, der solche Komm!-und-Geh!-Spielchen seiner Berufung gemäß anders bewerten würde als ich. Trotz allem amüsierte mich das Wort Beziehungspause und rettete mich vor dem Gefühl, augenblicklich zu erlöschen, weil es mich vom Herz zurück in den Kopf zog, in diese sichere Burg, von der aus es dir möglich ist, Teer über all das auszukippen, das sich unerwünscht nähert.

Traurigkeit zum Beispiel.

Ein Wort wie Beziehungspause hilft, die eigene Geschichte mit bereits erzählten abzugleichen, und der Vergleich wiederum versichert dir glaubhaft, nicht allein zu sein mit deinem Geknickt-Werden, sondern in guter Gesellschaft mit anderen. Das Geknickt-Werden gehört zu uns, uns Menschen, meine ich, denn es gibt viele Geschichten, in denen der Ehemann der Hauptfigur eine Beziehungspause vorschlägt, da fällt mir sogleich jenes Buch ein, in dem sich die Beziehungspause wenig später als weiblich, ledig, jung entpuppt, und die Art, wie das erzählt wird, ist tatsächlich witzig, nur als Gefühl eben doch nicht. Vermutlich aufgrund seiner Witzigkeit landete besagtes Werk sehr bald auf der Bestsellerliste, einer Witzigkeit, die mir abgeht, wenn ich der überwiegenden Mehrheit der Menschen meiner Umgebung Glauben schenken will, obwohl ich selbst alles witzig finden kann, was um mich herum, und vor allem in mir, vorgeht. Der Grund für den Erfolg dieser Geschichte, die nicht die meine ist, könnte aber genauso gut der sein, dass sie ideal in ein bestimmtes Segment passt, ja, so heißt es in den Verlagsetagen: »Entschuldigung, aber Ihr Text passt nicht in das Segment soundso.« – »Äh, wie bitte, haben Sie gerade Fragment gesagt?« – »Nein: Segment, das bezeichnet die Kategorie, nach der wir entscheiden, in welche Schublade wir das Textmaterial einsortieren sollten, damit die Vertreter sich orientieren können, wenn sie eine Lade aufziehen.« – »Ja, aber was haben denn die Vertreterinnen in den Schubladen herumzuwühlen?« – »Eben nicht wühlen, sie sollen auf Anhieb wissen, was sie finden werden.« – »Nicht suchen?« – »Nein, finden.«

Und so weiter und so fort.

Das Buch über die junge weibliche Beziehungspause war wie maßgeschneidert für eine bestimmte Zielgruppe, wahrscheinlich für die Zielgruppe der geplagten Mittvierzigerinnen, das heißt reife Frauen in Europa, die sich in der Midlifecrisis befinden, ja, ich spreche das hässliche Wort ruhig aus, obwohl es eine neuzeitliche Erfindung ist, wie ich meine. Statt in der machtvollen Mitte des Lebens als nun wahre machtvolle Gruppe angesehen zu werden, stellen wir, die Frauen dieser Altersgruppe, meine ich, in erster Linie allein eine gute, weil zahlungskräftige und am meisten lesende Zielgruppe dar, die weniger mit ihrer Freude als mit ihrem Frust beschäftigt zu sein scheint, und da bieten Bücher, die dir erzählen, dass du nicht allein bist mit deinem Geknickt-Sein, einen wirksamen Trost, weshalb es mir nun ein Leichtes sein müsste, gleich morgen ebenfalls einen Bestseller zu schreiben. Näher werde ich in diesem Leben niemals mehr an die zahlungskräftige und meistlesende Zielgruppe heranrücken, aber irgendetwas hält mich offenbar davon ab, zielgerade auf den Bestseller loszumarschieren, die Selbst-Blockade vielleicht oder die mangelnde Fähigkeit oder die Marotte, stets versuchen zu wollen, über das Erwartete >.< hinauszugehen. Letzteres könnte möglicherweise ein Glaubenssatz aus der Kindheit sein oder der nächste Schritt zur wahren Liebe, also einer tiefen, bedingungslosen Liebe.

Oder einfach nur dämlich.

Dass zwischen der geforderten Beziehungspause und einer möglichen Geliebten zwangsläufig ein Zusammenhang bestehen muss, wie es in dem Buch dargestellt wird, halte ich in Hinblick auf meinen Schauspieler-Mann, wider allen Gemeinsamkeiten des dort Dargestellten, allerdings für eher unwahrscheinlich. Wahrscheinlicher scheint mir zu sein, dass er verärgert ist über mein Sehnsuchts-Gequatsche und den der Suche nach Liebe geschuldeten Wunsch nach einem Liebhaber und mein eigenes nun beinahe drei Jahre währendes Gerede über eine mögliche Beziehungspause, das ich in regelmäßigen Intervallen über ihn schütte, nur um plötzlich wieder den Ansatz von mehr Verbindung ins Spiel zu bringen. Das ist kein Spiel, egal, was mein Gelegenheitscoach behauptet. Vermutlich reift der Wunsch nach Verbindung dennoch immer in dem Augenblick, in dem du spürst, wie der andere sich von dir zurückzieht, ein Hin und Her, das psychologisch gesehen auf den Sachverhalt Borderline schließen lassen könnte, ich traue mich, es als das zu benennen, was es möglicherweise ist, aber meiner Meinung nach trifft so eine Diagnose mindestens ebenso an der Sache vorbei, wie alle diversen therapeutischen Eheratschläge an der Wirklichkeit >.< vorbeischrammen, zumal von den Therapeutinnen, die sich wenig später selbst scheiden lassen oder bereits geschieden worden sind. Jedenfalls rede ich in meiner Beziehung immer mal wieder gern von Kontakt, aber wenn mein Schauspieler-Mann mich dann kontaktiert, wechsele ich die Richtung und entferne mich, und mir scheint dieses Wiegel-Wagel, wie hier in Österreich gesagt wird, wenn von Unentschlossenheit die Rede ist, in seiner Undurchsichtigkeit trotz allem am ehesten auf die ungeliebte Midlifecrisis schließen zu lassen, die ja wie vieles in der Sprache nur deshalb so bekloppt klingt, weil Begriffe lediglich behelfsmäßig für kaum zu beschreibende Zustände verwendet werden können, in diesem Falle: nicht fassen zu wollen, dass das jetzt alles gewesen und romantische Liebe etwas für die Zwanzigjährigen sein soll, die nicht nur in vollen Zügen in den Genuss dieser Romantik kommen dürfen, sondern daneben zusätzlich Bücher schreiben, die ihnen von den Verlagen unter der Tastatur weggerissen werden.

 

Du weißt schon, dass die romantische Liebe nichts als eine kurzlebige Illusion ist?, fragt Gerhard.

Jaja, sage ich, ohne Lust zu verspüren, mich auf etwaige Diskussionen einzulassen. Stattdessen wünsche ich ihn mir leibhaftig herbei, auf dass er mich erheitere; das gelingt ihm ebenso gut, wie es mir gelingt, ihn zu erheitern; er ist der Einzige, der meinen Humor versteht.

 

Das Telefon läutet und ich erschrecke, weil der Gebrauch von Handys und auch Laptops im Café Meier untersagt ist, sodass ein klingelndes Telefon das Todesurteil ausstellt, auf das ich ohnehin insgeheim warte, jetzt bin ich dran, aber ich gehe nicht ran, denn ich fürchte, es könnte mein ehemaliger Liebhaber sein, der mir von seiner Siebzehnjährigen vorschwärmen will. Statt der Nummer meines privaten sehe ich jedoch die meines beruflichen Desasters, sprich: die Nummer meines Verlegers, der von meinen Plänen, was ich als Nächstes zu schreiben plane, nicht begeistert gewesen ist, als ich ihm davon erzählte. Hastig würge ich den Klingelton ab und verstaue das Handy verstohlen in meinem Rucksack. Aller Ablehnung von ungemäßer >.< Scham zum Trotz schäme ich mich kurz und kippe, wie zur Ent-Schuldigung, das Klapp-Schildchen mit dem durchgestrichenen Handy im roten Kreis auf seine Bauchseite, als hätte ich es deshalb nicht gesehen. Gleichzeitig fühle ich mich in meiner Freiheit in einem unfreiheitlichen Sinne beschnitten, ohnehin ermöglicht ein generelles Verbot von was-auch-immer selten etwas Gutes >.<, wenn man mich fragt; tut man aber nicht. Auf der anderen Seite könnten die Meiers ja gleichwohl recht haben mit ihrem Verbot, denn der Verzicht auf die Handyaktivitäten in ihrem Café schützt auch mein Leben in gewisser Hinsicht, zumindest bringt das Verbot in diesem Falle eine von Elektrosmog und anderen Störungen größtenteils befreite Atmosphäre. Offenbar sollte ich das Urteil, dass Verbote immer nur entmöglichen, noch einmal überdenken, denn ob Verbote nun gut oder schlecht >.< sind, ist ja nur eine Sache der Perspektive, und von meiner Perspektive aus betrachtet wäre es angebracht, Handys grundsätzlich zu verbieten, vor allem den Kindern, denen sie das Hirn aufweichen, auch wenn das niemand in diesem Ausmaß wahrhaben möchte und diesbezügliche Untersuchungen mit dem schlagenden Argument, das könne ja gar nicht sein, in den Papierkorb geworfen werden. Gehirnaufweichung wäre eine gute Sache, würde sie der Verhärtung etwas entgegensetzen; stattdessen führt sie schlicht zu Dämlichkeit, und da es zum Beispiel bereits ausreichend Lektüre-Angebote für Kinder und Jugendliche gibt, die den gleichen Effekt der Verdämlichung auszulösen imstande sind, wäre es umso klüger, wenigstens an anderer Stelle dafür zu sorgen, dass Teile der Zellen unserer zukünftigen Menschheit intakt bleiben, und prinzipiell scheint es ohnehin vollkommen überflüssig zu sein, Kinder bereits in der Volksschule mit Handys ausstatten zu wollen. Eine SMS zu bekommen wie »Bin in der Schule!« ist ja unnötig für mich als Mutter, denn dass die Tochter in der Schule hockt, während ich die Zeit schreibend in meinem Schreibatelier verbringe, davon gehe ich in vertrauensvollster Weise aus. Ich versuche, mein Kind von dem Zwang ständiger Mitteilung zu befreien, damit es sich seinen Kopf für anderes freihalten kann und zudem in einem weitreichenderen Sinne frei ist, auch von Kontrolle, von mir, die kaum begreifen kann, dass der Großteil aller Jugendlichen seinen Eltern immerzu simst, wo sie wann mit wem unterwegs sind. Den Kopf frei haben zu wollen, ist immer eine gute Idee, nur meiner ist nicht frei genug, um eine gute Idee haben zu können.

Vollgestopft mit Krempel.

Ich bestelle mir eine Speise, Linsensuppe nach Art des Hauses, und bin froh, meinen Verleger, den ich gewöhnlich über alles liebe, in diesem Falle abgewürgt zu haben, was mich möglicherweise vor dem Schicksal bewahrt, meinem Knick den endgültigen Bruch zuzufügen, denn in diesem Falle wäre es ein für alle Mal vorbei mit dem Aufrichten und der Tod in greifbarer Nähe. Während unseres letzten Gespräches stöhnte mein Verleger über mein literarisches Vorhaben, weil er nicht verstehen konnte, warum mir nichts Besseres einfalle als ausgerechnet das Thema Offenbarung, als solches ich es ihm in aller Verkürzung beschrieb. Ich hielt dagegen, es könne ein witziger Text entstehen, er müsse nur dementsprechend entschlüsselt und ironisch gelesen werden, niemand dürfe sich einschüchtern lassen von meiner norddeutschen Trockenheit, die im Laufe der Zeit unbeabsichtigt zu einem Bestandteil von mir geworden ist und in anderen Zusammenhängen als jenen in Norddeutschland oftmals mit Ernst verwechselt wird. »Ein witziger Text über alles und in allem«, argumentierte ich, »er behandelt Ehe und Trennung, Trennung und Ehe, Trennung und Selbst, ich und du.« – »Und das muss ein Text werden, warum?«, fragte er und ich sagte: »Alles ist Text, selbst eine Stadt ist Text.« Das hatte ich erst kurz zuvor gehört, von Gerhard, der in der Bibliothek in einem Artikel den Hinweis gefunden hatte, dass man Städte wie Texte lesen solle, und ich mochte die Idee und sagte, das solle man unbedingt. Zum Beispiel gehe ich jeden Tag durch Linz und lese: Hier beginnt’s. Den Gedanken, im Anblick des Landhauses oder des Bruckner-Hauses wieder und wieder den einen abgelutschten Werbeslogan zu lesen, finde ich witzig, auch wenn niemand sonst verstehen kann, was daran witzig sein sollte, aber ebendieser Satz ist das Erste gewesen, was einem österreichischen Bekannten anlässlich meines bevorstehenden Umzugs zu Linz einfiel, und damals musste ich lachen, wenngleich mehr über den Gesichtsausdruck des Bekannten als über den Spruch, sodass sich das Lachen mit dem Text verbunden hat. Und dann bewahrheitete sich der Slogan innerhalb kürzester Zeit, weil mir Linz den Weg ebnete, erstmals herauszukommen aus meinem Kopf, indem Teile daraus auf Papier gedruckt wurden und so der von mir angestrebte Beweis erbracht werden konnte, dass Worte zu Fleisch werden, sobald du sie in diese Welt holst. Aber dass niemand außer Gerhard meinen Humor versteht, kann ich diesen Niemanden kaum verübeln, und deshalb wunderte ich mich entsprechend wenig über den Blick, den mir mein Verleger zuwarf, als wäre ich verrückt geworden, er kennt mich ziemlich gut und ich konnte es ihm nicht einmal verdenken. Diese Art von Blick ist mir nicht unbekannt, alle schauen wir in dieser Weise auf die anderen und ihre Verrücktheiten, wenn sie uns unverständlich erscheinen, und stets schauen wir dabei aus der eigenen geschützten Höhle heraus, ohne dass eine Möglichkeit bliebe, miteinander in Kontakt zu treten und das Verrückte wieder zurechtzuverrücken, außer über die Sprache, aber auch die Sprache ist immer nur Ausdruck von deinen jeweils bestimmten Gedanken, und wenn die Sprache nur Ausdruck von deinen jeweils bestimmten Gedanken ist, drückt sie gleichzeitig die Einsamkeit aus, in der du feststeckst, sprich: in dir selbst. Und dann wirst du wütend auf die anderen, weil sie so anders sind als du, da sie unverständlichen Sermon schreiben oder sich zum Beispiel in junge Mädchen zu verlieben glauben und damit ebenfalls unverständlich werden, und dieses Unverständlich-Werden zementiert wiederum dich in deiner unverstandenen Einsamkeit, weil du zum soundsovielten Male spürst, dass dich nichts mit den anderen zu verbinden scheint, denn du bist dort, und sie sind woanders.

Immer woanders.

 

Wer sagt, dass andere unverstanden sind?, fragt Gerhard und ich präzisiere: Partielles Verständnis einmal ausgenommen.

 

Mir wird die Linsensuppe serviert, sie schmeckt gut im Café Meier und ich freue mich über den Geschmack und über die Existenz der Suppe als solche, denn zu Hause koche ich keine Linsensuppe. Mein Schauspieler-Mann hegt eine Abneigung gegen Hülsenfrüchte und auch das Kind ist wenig begeistert von meinen Suppen, die gleichzeitig immer ein wenig von dem Versuch enthalten, den Geist der geflohenen Großmutter zu beschwören, sie gewissermaßen ins Haus locken zu können; das Bereiten schlesischer Hausmannskost dient somit der Hoffnung, durch sie meinen eigenen, eher unruhigen Geist für einen Moment zumindest innerhalb des Familiensystems verorten zu können. Dass mein Schauspieler-Mann Hülsenfrüchte hasst, wie ich es ungeschönt ausdrücke, würde ihm in dieser verallgemeinernden Aussage nicht gefallen. Er hasst Pauschalurteile, wie sie sowohl in diesem wie auch im letzten Satz in seinen Augen abgegeben werden. Seiner Meinung nach sollte das Pauschalisieren als solches verboten werden, nur führen Verbote, pauschal gesehen, zu nichts außer zu Elektrosmogbefreiung, was er jedoch anders sieht, denke ich, weshalb er zudem einen heimlichen Feldzug gegen das Wort immer führt. Seine Entschiedenheit in diesem Punkt erwächst aus der festen Überzeugung, dass jedes Ding und alles sich jederzeit verändern kann; davon ausgenommen sind offensichtlich nur wir beide in unserem Streitverhalten und Komm!-und-Geh!-Spiel und seinem Standpunkt gemäß, das Verallgemeinernde betreffend, könnte in Bezug auf das Linsen-Thema selbst seine Abneigung gegen Hülsenfrüchte jederzeit in eine neue Liebe zu Linsen umschlagen, oder zumindest in Neutralität, wenn ich ihn richtig verstehe. Wenn ich nun jedoch sagen würde, eines Tages werde er Hülsenfrüchte zu lieben beginnen, käme das wieder ein bisschen pauschal daher, insofern bin ich ihm gegenüber vorsichtig mit meinen Äußerungen und froh, wenn ich andernorts alles so herauslassen kann, wie ich es denke, auch verallgemeinernde Behauptungen wie Mein Mann mag keine Hülsenfrüchte.

 

An und für sich kann ich an so einem Satz nichts Anstößiges finden, sagt Gerhard, im Gegenteil könnte dieser Satz ja nett gemeint sein, weil er zum Ausdruck bringt, wie sensibel du wahrzunehmen imstande bist, was dein Mann mag und was er lieber nicht auf seinem Teller vorzufinden wünscht.

Na, siehst du, sage ich, so ist es ja auch gemeint, warum versteht er das nicht?

Verstanden werden wir nie, behauptet Gerhard, ohne zu erkennen zu geben, ob er das ernst meint oder nicht.

 

Ich koche keine Linsensuppe, weil ich Rücksicht nehme und mich beim Kochen auf den Geschmack des jeweils anderen einstelle, als leiteten mich heimliche Erwartungen bei der Ausführung meiner Funktion als Köchin, die ich so selten einnehme, dass ich mich umso bereitwilliger zeige, in puncto Nahrungszubereitung Konzessionen zu machen, selbst um den Preis abwesend bleibender Großmütter. Aber mit solchen Einwänden, die seine Ablehnung von Aussagen wie Mein Mann mag keine Hülsenfrüchte in Verständnis für das Gutgemeinte >.< dieses Satzes verändern sollen, stoße ich bei meinem Schauspieler-Mann auf Granit, in diesem Punkt kennt er keinen Humor, zumal nicht den meinen, und versteht Sätze wie Mein Mann mag keine Hülsenfrüchte als Kritik, was ihn anschließend dazu bringt, sich zu verkriechen und die Verbindung mit mir zu kappen. So sind die Menschen, unfähig, Verbindungen zu halten, die über die eigene Grenze von Verbindlichkeit hinausgehen. Gerhard würde die Verbindung zwischen uns nicht so schnell abreißen lassen, nicht wegen einer idiotischen Linsenfrage, und deshalb hole ich das Handy erneut heimlich hervor und tippe: »Esse Linsensuppe.« Dann schicke ich die erhellende Nachricht in einen unbestimmten Raum und Gerhard antwortet mit unserem deutschen Lieblingswort lecker, das den meisten Österreicherinnen aus mir unverständlichen Gründen verhasst ist, bevor er fragt, wo ich mich augenblicklich aufhalte. Nachdem ich ihm meinen Standort verraten habe, in ähnlich vertrottelter Weise, wie es beinahe alle tun, die sich durch ihre Handys verorten, das wie ein zweiter Kopf für uns geworden ist, nur glatter und rechteckig, lese ich: »Ich eile!« und habe damit vermutlich erreicht, was zu erreichen ich mir insgeheim erhofft hatte. Schon steht Gerhard vor mir, seine Wohnung liegt unweit vom Café entfernt, reibt seine roten Hände und bestellt noch im Stehen einen weiteren Teller von der Suppe, die ich auszulöffeln versuche. Dann liest er zum vermutlich soundsovielten Male die auf der Kippkarte vermerkte Aufforderung, das Handy auszuschalten, und kommt ihr gewissenhaft nach, und während ich beobachte, wie Gerhard das rote Knöpfchen drückt, führt mich ebendiese Beobachtung zu der Überlegung, dass Verbote noch dämlicher sind als drohende Gehirnaufweichung; schließlich verlangen sie, sich vom Menschen zum gehirnaufgeweichten Deppen zu entwickeln, also zu jemandem, der in Zeiten allgemeiner Verdämlichung Befehle entgegennimmt und ausführt, ohne sein möglicherweise bis dato noch nicht aufgeweichtes Hirn anzuknipsen und eigene Schlüsse zu ziehen wie: Besser, ich mache in einem geschlossenen Raum das Handy aus, sonst versaut es mir die Atmosphäre.

Und mein Denken obendrein.

Auf Geheiß eines verordneten Verbotes aber geschieht das vernünftige Handeln aus dem alleinigen Grund, dass es befohlen wird; ist das Verbot jedoch aufgehoben, zum Beispiel in diesem Café, wenn es eines Tages die Leitung wechselt und diese neue Leitung, je nach Betrachtungsweise, entweder weniger vorschreibend oder weniger verantwortungsvoll oder weniger was-auch-immer daherkommt, wird den Nicht-selbst-Denkenden der Elektrosmog sogleich vollkommen egal sein, obwohl das Problem ja bestehen bleibt. Und dieser Zusammenhang zwischen genommener Eigenverantwortung und, ich nenne es der Einfachheit halber gewissenlosem Handeln, führt uns beispielsweise zu der Bereitschaft zum Töten, die im ungünstigsten Falle nur dadurch herabgesetzt ist, weil dir das Töten als solches untersagt wird, aber wehe, die Verbote respektive Gebote änderten sich oder würden aus diesen oder jenen Gründen aufgeweicht, wie dies zum Beispiel im Zuge der allgemeinen Verdämlichung unter den Nazis geschah, dann rennen sie alle los und tun, was zu tun ihnen bisher nicht gestattet war.

»Glaubst du an verordnete Moral?«, frage ich mit Blick auf die Kippkarte, während Gerhard den Teller Suppe in Empfang nimmt. Gerhard weigert sich, auf das Thema einzusteigen, verdreht die Augen und sagt: »Meine Frau sucht ein Haus.«

Augenblicklich verschlucke ich mich an dem letzten Löffel Suppe, weil ich denke, jetzt wollen auch die beiden eine Beziehungspause einlegen, das ist ja lustig, dass wir alle mit den gleichen Problemen operieren. Ob es denn so brenne in ihrer Partnerschaft, dass sie gleich ausziehen müsse? Da schaut Gerhard mich verwirrt an und ich begreife, dass seine Frau nur deshalb nach einer neuen Behausung sucht, weil ihr die Decke der kleinen Altstadtwohnung, in der sie seit zwei Jahren gemeinsam hausen, langsam aufs Schädeldach fällt.

»Unser behandelnder Paar-Therapeut lässt sich scheiden«, erklärt Gerhard, »und deshalb steht sein Haus zum Verkauf.« Und seine, also Gerhards, Frau wolle die persönliche Tragödie des Paar-Therapeuten zum Anlass nehmen, endlich aus der kleinen Wohnung herauszukommen. »Das könnte ein zweiter Wohnsitz für mich werden«, fügt er hinzu, »ich will die Wohnung in der Altstadt auf keinen Fall aufgeben; sie vermittelt mir ein Gefühl von Freiheit.«

»Auch ich sollte nach Häusern von gescheiterten Paar-Therapeuten Ausschau halten«, sage ich, »da müsste ja einiges im Umlauf sein.« Ich könne ja den einen fragen, der meinen Schauspieler-Mann auf die Fährte mit der Beziehungspause gesetzt hat, nachdem ich selbst die Fährte gerade erst verlassen hatte, um nach etwas wie Verbindung zu suchen, denn der lebe auch in Trennung, soweit ich mich entsänne.

»Mach das«, sagt Gerhard, aber dieses Mach das, tu dies sagt sich einfacher, als es umzusetzen wäre, zumal ich mich besser mit dem Denken auskenne als mit dem Handeln; obendrein bin ich, obwohl ich mich in Gerhards Gegenwart stets als ungewohnt kosmopolitisch und künstlerisch erlebe, in Wahrheit in erster Linie eine arme Kirchenmaus, die kein Geld verdient, weil sie sich in die Literatur oder in das, was darunter subsumiert wird, verbissen hat und deshalb nach alter patriarchalischer Tradition finanziell abhängig an ihren Ehegatten gekettet ist, mit dem sie zudem in einer Wohnung lebt, in der sie im Falle einer Scheidung nicht bleiben könnte, da die Wohnung eine Dienst-Wohnung und somit, zugunsten weiterer Abhängigkeit, an den Beruf des Ehegatten gekoppelt ist, was wiederum wahrlich nicht lustig ist, sodass meine Mutter unter Umständen recht hatte, als sie bei meinem letzten Besuch meinte, ob ich mir nicht endlich einen anderen Beruf suchen wolle, damit mein Mann mich nicht aushalten müsse. Aushalten klingt in diesem Zusammenhang doppeldeutig und genau das denke ich jetzt, nämlich, dass wir so oder so alles versuchen werden, es miteinander auszuhalten, was ja auch einen Vorteil hat, denn nicht umsonst heißt es in guten wie in schlechten Zeiten, also warum alles hinwerfen, nur weil dich um die Lebensmitte plötzlich die Sehnsucht zerreißt, die womöglich lediglich die Sehnsucht nach der Welt ist, als Gegensatz zu dem ureigensten Gefängnis, und damit ist jetzt nicht die Ehe gemeint, sondern das Dasein im Kopf hinter verschlossenen Türen, das uns alle betrifft: die Geschiedenen wie die Verheirateten oder auch die Junggesellen. In meinem Bekanntenkreis gibt es einen Maler, der diesen Zustand in seinen Bildern einfängt, die Kopfgefängnisse, deren Existenz ich ebenfalls gelegentlich zu beschreiben versuche, nur sind sie in Bildern leichter zu erfassen, obwohl ich ehrlicherweise keine Ahnung habe, ob der Maler in meinem Bekanntenkreis sein Gemaltes versteht, wie ich es verstehe; schließlich schaut er ja mit anderen Augen auf diese Bilder und auf die eigene Staffelei sowieso, aber im Grunde genommen ist mir egal, was er denkt und auszudrücken versucht: Ich verstehe die Bilder eben so, wie ich sie mit dem begrenzten Ausschnitt, den mir die eigenen Augen erlauben, verstehen kann, und in dem Maße, wie sie mir thematisch entgegenkommen. Er wird sie aushalten müssen, meine Sicht der Dinge. Es miteinander auszuhalten, ist in unserem Falle, also innerhalb der Ehe mit meinem Schauspieler-Mann, keine Strafe, sondern eine Chance, so jedenfalls sehe ich das, zumal unsere Liebe ja größtenteils noch existiert, also durchaus vorhanden ist. Allein das Sprechen über Hülsenfrüchte gleicht einer Katastrophe und zermürbt uns langsam, aber stet, wenn wir nicht irgendwann damit aufhören und den Austausch stattdessen nonverbal angehen. Äußerte sich Friedrich Nietzsche nicht einmal in der Art über die Ehe, man solle diesen Bund nicht zu schnell schließen, denn aus der Unüberlegtheit folge unweigerlich der Ehebruch? Als Studentin belegte ich einst ein Philosophie-Seminar über Nietzsche, das offenbar genug Eindruck hinterlassen hat, um mich nun vage an das eine oder andere Wort von ihm erinnern zu lassen, wenngleich die Erinnerung einigermaßen schwach aufscheint, weswegen ich von Gerhard wissen will, ob er nicht zufällig nietzschefest sei.

»Wie war das noch mal mit Nietzsche und dem Ehebrechen?«, frage ich, aber Gerhard lacht und meint, ich könne ihm alles Mögliche erzählen, von mir oder von der Welt, aber mit Nietzsche solle ich ihm bitte nicht kommen, denn der interessiere ihn nicht die Bohne, wenn er ehrlich sei.

Naturpoetisch