Cover

Sophienlust
– 252 –

Artistenkinder

Finden Torsten und Steffi ein neues Zuhause?

Aliza Korten

Impressum:

Epub-Version © 2019 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74092-489-8

Weitere Titel im Angebot:

In dem großen Aufenthaltsraum von Sophienlust herrschte an diesem kühlen und nassen Herbsttag ein fröhliches Treiben. Die Kinder lachten und schwatzten munter durcheinander. Sie saßen an ihren Tischen und bastelten aus Kastanien lustige Männlein und allerlei drollige kleine Tiere. Stolz hielten sie ihre Kunstwerke hoch, wenn sie eine Arbeit beendet hatten, damit auch alle sehen konnten, was sie fabriziert hatten. Schwester Regine, die von Tisch zu Tisch ging, sparte dann auch nicht mit Lob.

Als Denise von Schoenecker den Raum betrat, wurde für einen Augenblick die Arbeit unterbrochen. Die Kinder sahen hoch und sprangen von ihren Plätzen auf, um ihre geliebte Tante Isi zu begrüßen. Denise von Schoenecker wusste nicht, wohin sie zuerst sehen sollte, welches Kunstwerk sie zuerst bewundern sollte.

»Ich habe schon einen richtigen kleinen Zoo gebastelt«, sagte die kleine Heidi Holsten, ein Dauergast in Sophienlust, stolz. »Sieh nur, ist das Vögelchen nicht süß? Es hat richtige kleine Flügel. Ich habe die Federn im Garten gefunden.«

»Wunderschön«, lobte Denise und strich dem blonden kleinen Mädchen liebevoll über das Haar. »Du bist ja eine richtige kleine Künstlerin.«

»Mein Männchen ist aber noch schöner.« Damit hob ein kleiner Bub sein Kastanienmännchen hoch. »Soll ich es dir schenken, Tante Isi?«

»Würdest du das wirklich tun?«

Der Kleine wurde etwas unsicher und sah auf das Figürchen. »Eigentlich würde ich es lieber behalten«, sagte er nach einer Weile. »Weißt du, ich mache noch eins, und das bekommst du dann.«

»Fein«, sagte Denise lächelnd und trat an das Fenster, wo zwei größere Mädchen dabei waren, einen bunten Herbststrauß in einer Vase zu ordnen.

»Wir haben die Blumen vorhin aus dem Garten geholt. Es ist heute ein so trüber Tag. Da wollen wir uns wenigstens etwas Farbe ins Zimmer holen«, sagte die blonde Angelina Dommin oder Pünktchen, wie sie wegen ihrer vielen lustigen Sommersprossen genannt wurde.

»Das ist recht«, lobte Denise. »Die Blumen sind wunderschön. Hoffentlich bekommen wir in diesem Jahr nicht so bald Frost, damit wir noch recht lange etwas von unseren Blumen haben.«

»In dein Zimmer haben wir auch einen kleinen Strauß gestellt«, sagte Angelika Langenbach, die wie Pünktchen ständig in Sophienlust lebte. »Wir wissen doch, wie sehr du die Blumen magst, Tante Isi. Und wir sind dir alle so dankbar. Was wäre aus uns allen geworden, wenn du uns nicht in Sophienlust aufgenommen hättest? Wie traurig waren wir alle und verzweifelt, als wir hierherkamen. Jetzt sind wir glücklich. Hoffentlich vergessen auch Torsten und Steffi bald ihren Kummer. Im Augenblick sind sie ja noch nicht ansprechbar.« Bei ihren Worten sah Angelika zu einem Tisch hinüber, an dem zwei kleine Kinder saßen.

Denise, die Angelikas Blick gefolgt war, wurde ernst. »Hoffentlich«, murmelte sie gepresst und ging dann zu dem Tisch, an dem die Kinder saßen.

Der Bub, er war fünf Jahre alt, hatte vor sich ein paar Kastanien liegen, die er lustlos betrachtete. Ab und zu nahm er eine Kastanie in die Hand, betrachtete sie, um sie dann wieder auf den Tisch zurückzulegen. Seine kleine Schwester, die neben ihm saß, hatte zwei Fingerchen im Mund und die Augen halb geschlossen, sodass es aussah, als wäre sie gerade am Einschlafen.

Denise wusste jedoch, dass die bildhübsche dreijährige Steffi nicht am Einschlafen war. Das Kind hielt die Augen oft geschlossen, als wollte es das, was ringsum geschah, nicht sehen. Es fürchtete sich noch immer vor den vielen Kindern. Deren lautes und fröhliches Lachen flößte ihm Angst und Schrecken ein.

Seit vier Wochen waren die beiden Kinder jetzt in Sophienlust, aber leider waren sie noch immer bedrückt und traurig. Noch immer hatten sie den Schock nicht überwunden, den der plötzliche Tod der Eltern bei ihnen hinterlassen hatte.

Torsten und Stefanies Eltern waren Artisten gewesen. Sie waren in einem Zirkus aufgetreten. Bei der Einübung einer neuen Trapeznummer waren sie abgestürzt. Das Netz, über dem sie gearbeitet hatten, war aus ungeklärten Gründen aus der Befestigung gerissen worden. So hatte Denise es gehört. Sonst hatte sie wenig über die Eltern der Kinder erfahren. Beide Elternteile sollten noch sehr jung gewesen sein.

»Tante Isi«, flüsterte die kleine Steffi, als sich Denise zu den beiden Kindern setzte. In ihren Augen leuchtete es für einen Augenblick freudig auf. Auch Torsten hob den Kopf und lächelte Denise scheu an.

»So schöne Kastanien habt ihr da. Wollt ihr nicht auch ein Männlein basteln? Schwester Regine hat euch doch gewiss gezeigt, wie ihr das machen sollt.«

Torsten schüttelte den Kopf. »Nicht Schwester Regine. Pünktchen hat es uns gezeigt«, stellte er richtig. »Wir wollen kein Kastanienmännlein«, fügte er sehr energisch hinzu.

»Wollen keine Kastanienmännlein«, echote Steffi dem Bruder nach. »Wir wollen zu Mami und Papi.«

Denise seufzte verstohlen. Es war immer das Gleiche. Jedes Gespräch mit den Kindern endete in diesem Satz. Es war wirklich schwer, an die beiden heranzukommen. Wahrscheinlich hatten sie mit ihren Eltern in einer sehr liebevollen Gemeinsamkeit gelebt. Da war es sehr schwer, den Kindern einen kleinen Trost zu geben. Deshalb verzichtete Denise auch diesmal wieder auf ein weiteres Wort. Dafür zog sie die kleine Steffi auf ihren Schoß, und das Kind bettete seinen Kopf sichtlich zufrieden an ihre Brust.

»Du bist lieb«, flüsterte Steffi.

»Alle in Sophienlust sind lieb. Alle hier haben euch lieb«, sagte Denise.

Steffi nickte. »Alle sind lieb zu Torsten und Steffi, aber wir möchten doch lieber zu Mami und Papi.«

Nun kam auch Torsten näher und schmiegte sich an Denise. »Wir sind so viel allein, Tante Isi. Du hast nicht immer Zeit für uns, Schwester Regine hat so viele Kinder und Tante Ma hat immer etwas zu tun. Mami und Papi hatten immer für uns Zeit. Sie nahmen uns immer mit, waren immer bei uns. Und am Abend, wenn sie auftreten mussten, brachten sie uns vorher zu Bett und sangen ein Lied für uns. Manchmal hat Vati uns auch eine Geschichte erzählt. Das war schön.« Torsten seufzte bei der Erinnerung auf. In seinen großen dunkelblauen Augen schimmerten Tränen.

»Heute Abend, wenn ihr in euren Betten liegt, komme ich zu euch und erzähle euch eine schöne Geschichte.«

»Bestimmt?«, fragte Torsten etwas ungläubig. »Hast du dann auch Zeit? Rufen dann nicht die anderen Kinder, dass du zu ihnen kommen sollst?«

»Ich komme nur zu euch«, versprach Denise. »Ich habe dann auch Zeit für euch, und ihr könnt mir erzählen, was euch hier in Sophienlust gefällt und was nicht. Wollen wir es so machen?«

Beide Kinder nickten eifrig und machten für einen Augenblick einen fast glücklichen Eindruck. Man muss sich eben doch mehr mit ihnen allein beschäftigen, dachte Denise. Die beiden sind einfach nicht gewohnt, in einer großen Gemeinschaft zu leben.

Das Gleiche sagte etwas später auch Schwester Regine, als Denise mit ihr über Torsten und Steffi sprach.

»Wir haben leider einfach nicht die Zeit, uns mit jedem einzelnen Kind genügend abzugeben«, erwiderte Denise betrübt. »Das ist eben der Nachteil für alle Heimkinder. Manche Kinder werden leichter damit fertig, manche können das nicht verkraften. Für Torsten und Steffi wird es am besten sein, wenn sie recht bald liebevolle Pflegeeltern bekommen. Allerdings werde ich mich dafür einsetzen, dass sie nicht getrennt werden.«

»Das wird schwer werden. Wer nimmt schon zwei Kinder? Haben Torsten und Steffi denn gar keine Verwandten?« Schwester Regine sah Denise fragend an.

»Man sagte mir, dass die beiden Kinder allein dastünden. Ich habe den Eindruck, dass man überhaupt wenig über die Familie weiß. Die Kinder machen einen überaus guten Eindruck und sind gut erzogen. Allem Anschein nach haben sich die Eltern sehr viel mit ihnen abgegeben.«

»Das habe ich auch schon bemerkt«, stimmte Schwester Regine ihr lebhaft zu. »Torsten und Steffi kennen viele Kinderlieder und Spiele, und Torsten kann bereits sehr geschickt mit Malstiften und Tuschfarben umgehen. Ich glaube, er ist sehr kreativ, nur leider liegen bei ihm jetzt alle Gaben brach. Steffi ist noch sehr klein, sodass man sich bei ihr noch nicht ein Urteil bilden kann, aber ich möchte sagen, dass beide Kinder sehr intelligent sind.«

»Den Eindruck habe ich auch. Wir müssen versuchen, sie aus ihrer Isolation herauszulösen. Ich werde Pünktchen bitten, etwas von ihrer Freizeit für Torsten und Steffi zu opfern. Sie kann gut mit kleinen Kindern umgehen, und ihre frische und unkomplizierte Art wird sich positiv auf die Kinder auswirken.«

*

Denise machte sich um Torsten und Steffi ehrliche Sorgen. In den nächsten Tagen versuchte sie alles, um die Kinder etwas aufzuheitern und auf andere Gedanken zu bringen. Es gab Augenblicke, da hatte sie das Gefühl, dass ihr das auch gelinge, doch dann senkte Steffi plötzlich wieder betrübt den Kopf, steckte die Fingerchen in den Mund und schloss die Augen, und Torsten sagte weinerlich: »Warum sind Mami und Papi nicht mehr bei uns? Sie sollen nicht tot sein.«

Dann hatte Denise das Gefühl, dass alles umsonst gewesen sei, und sie begann wieder zu überlegen, wie sie den Kindern am besten helfen könnte.

Dann trat jedoch etwas ein, womit Denise überhaupt nicht gerechnet hatte. An einem Nachmittag erhielt sie den Besuch eines jüngeren Herrn, der sich als Onkel von Torsten und Steffi vorstellte.

Als Frau Rennert ihr einen Herrn von Thorwald meldete, der sie zu sprechen wünsche, konnte Denise mit dem Namen im ersten Augenblick gar nichts anfangen, doch dann fiel ihr ein, dass der Familienname von Torsten und Steffi Thorwald war. Ein Verwandter von den Kindern? Es war natürlich, dass Denise den Besucher mit großem Interesse empfing.

Frau Rennert hatte den Besucher ins Biedermeierzimmer geführt. Als Denise eintrat, wandte sich ein großer schlanker Mann, der am Fenster gestanden hatte, rasch um und kam ihr entgegen.

Was für ein gut aussehender Mann, dachte Denise. Er wirkt ungewöhnlich attraktiv und ist auch sehr elegant gekleidet.

»Frederick von Thorwald«, stellte sich der Besucher vor. »Ich bin ein Onkel von Torsten und Steffi.« Seine Stimme war dunkel und angenehm, aber sein Blick war kalt und abschätzend, wenn auch der gut geschnittene Mund verbindlich lächelte.

Der Besucher machte auf Denise einen arroganten Eindruck. Sie wusste vom ersten Augenblick an, dass vor ihr ein Mann stand, der gewohnt war, Befehle zu erteilen.

»Ich nahm bisher an, dass die Kinder keine Verwandten hätten«, rief Denise überrascht aus und wies einladend auf einen Biedermeiersessel. »Bitte, nehmen Sie Platz, Herr von Thorwald.« Während sie sich ihrem Besucher gegenübersetzte, überlegte sie, weshalb ihr der Name so bekannt vorkam. Bestimmt hatte sie den Namen schon gehört.

»Darf ich Ihnen etwas anbieten? Vielleicht eine kleine Erfrischung?«, fragte Denise liebenswürdig.

Frederick von Thorwald lehnte dankend ab. »Sehr liebenswürdig, gnädige Frau, aber leider ist meine Zeit sehr knapp bemessen. Die Sache war mir aber doch so wichtig, dass ich sie mit Ihnen persönlich besprechen wollte. Darf ich ohne große Vorreden auf den Kern der Sache kommen?« Er wartete keine Antwort ab, sondern fuhr gleich fort: »Ich muss aber doch etwas ausschweifen und Sie mit meiner Familie und der der beiden Kinder bekannt machen. Mein Großvater, er ist heute fast neunzig Jahre alt, hatte zwei Söhne. Sie sind beide nicht mehr am Leben. Sein ältester Sohn, mein Vater, hatte drei Söhne. Ich bin der älteste, dann ist da mein Bruder Paul, und der jüngste Sohn Carl war der Vater von Torsten und Stefanie. Wegen eines jungen Mädchens verließ er die Familie und brach alle Brücken hinter sich ab.«

Hier machte Frederick von Thorwald eine Pause und sah Denise forschend an, als wollte er ergründen, was sie bei seinen Worten denke und empfinde.

»Mit anderen Worten, Ihr Bruder liebte das Mädchen, und Ihre Familie war gegen diese Verbindung, denn wahrscheinlich war das Mädchen arm und stammte aus kleinen Verhältnissen.« Denises Stimme klang kühl und spröde. Für einen Augenblick wirkte ihr Gesicht wie versteinert. Sie dachte an ihr eigenes Schicksal. Für die Familie ihres ersten Mannes war sie als Tänzerin auch nicht genehm gewesen.

»Sie haben es erraten«, sagte Frederick von Thorwald, spöttisch lächelnd. »So war es. Mein Bruder konnte wählen, die Familie und alles, was damit zusammenhängt, oder das Mädchen. Er wählte das Mädchen.«

»Ich bewundere Ihren Bruder. Er muss ein wundervoller Mensch gewesen sein, ein Mensch, dem seine Liebe mehr wert war als alles andere.« Als Denise das sagte, wusste sie auch, weshalb ihr der Name Thorwald so geläufig war. Mit dem Namen Thorwald war ein weltbekanntes Industrieunternehmen verbunden, ein großer Konzern, Geld, Besitz und Macht.

»Sie haben recht, mein Bruder war ein wunderbarer Mensch«, sagte Frederick von Thorwald kühl. »Aber leider zu weich. Doch das gehört wohl nicht hierher.« Er senkte für einen Augenblick den Kopf und sah auf seine Hände. Als er den Kopf wieder hob, wirkten seine Augen verschleiert, so, als läge Trauer und Wehmut darin, aber seine Stimme klang so unverbindlich kühl wie vorher.