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Root Leeb

Tramfrau

Aufzeichnungen und Abenteuer der Straßenbahnfahrerin Roberta Laub

 

 

ars vivendi

 

Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Erweiterten Neuausgabe (Erste Auflage 2003)

Die Originalausgabe erschien 1994 bei edition ebersbach

 

 

© 2003 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG, Bauhof 1, 90556 Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten

www.arsvivendi.com

 

Umschlagillustration: Root Leeb

Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag

 

eISBN 978-3-86913-713-1

 

Für meinen Lieblingsfahrgast

Rafik Schami

 

Inhalt

Achtung!

Zum Einstieg – fast ohne Worte

Die Weiche

Pufferküsser

Der Koloß

Müdigkeit

Tram-Nächte

In Trambahnland

Gefangen

Nachschulung

Hinter Kollegenkulissen

Miniaturen

Die Möwe

Rückspiegelgeschichten

Die kurze Geschichte von Teresa

Straßenbahn stinkt nicht

Sehnsucht und Schatten

Die Verfügung

Fahrgasttirade

Die schwarze Frau

Das Kind, die Zeit und die Angst

Fußgänger

Schuld und Tod

Eine Linie weniger

Das Alter

Ferdl, der Held

Schwarzfahrer

Der letzte Traum

Nachwort

Die Autorin

 

Achtung!

Natürlich ist jede Bekanntschaft in diesem Beruf ein Mißverständnis.

Von vornherein.

Und unabänderlich.

Was auch immer jemand von dieser Straßenbahn­fah­rerin erwartet (so eine hübsche, freundliche, aufmerksame, konzentriert fahrende, vergeistigt schauende junge Frau) – mich, Roberta, vermutet hier natürlich niemand.

 

Zum Einstieg – fast ohne Worte

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Fahrpult

 

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Wochendienstplan von Laub 5, Roberta

 

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Die sogenannte »Lichtzeichenanlage«

 

 

Die Weiche

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Der erste Tag, zum ersten Mal allein, ohne Lehrfahrer und selbst verantwortlich für diesen Riesenzug, und dann die vielen Fahrgäste und die so knapp bemessene Fahrzeit auf der gefürchteten Linie 20: das ist hart.

Aber bis auf ein paar verlängerte Bremswege und daher nicht so genau getroffene Haltestellen und Ampeln, Lichtzeichenanlagen genannt, ist eigentlich alles ganz gut gegangen, und ich, Roberta Laub 5 – anscheinend gibt es tatsächlich noch vier andere Laubs oder Leubs bei den Verkehrsbetrieben, jedenfalls hängt wegen der »Verwechslungsgefahr« immer diese »5« an meinem Namen –, wie auch immer, ich, Laub 5 also, rattere mitten in München zwischen Sendlinger Tor und Stachus dahin und bin gerade dabei, zufrieden die Bilanz dieses ersten Tages zu ziehen.

Am Sendlinger Tor haben sich noch einmal ein Dutzend Fahrgäste in den ohnehin überfüllten Triebwagen gedrängt, nachdem sie sich vorher aufgeregt erkundigt hatten (Stimmlage von Weiß Ferdl): »Sie, Frailein, fahrn Sie Hauptbahnhof?«

Darauf ich, mit der Routine einer kurz vor der Pensionierung stehenden Fahrerin: »Aber freilich! Das ist die Linie 20, und die Linie 20 fährt immer zum Hauptbahnhof!«

Ein kurzer Blick auf die Wagenuhr: Oh Gott, schon mehr als sieben Minuten Verspätung! Da wird mir gleich der Hintermann am Puffer hängen. Darum ist der Wagen so voll, ich fahr ja schon seine Fahrgäste! Also noch einen Zahn zulegen. Die Ampel da vorn steht zum Glück auf grün, die erwisch ich noch! Um Himmels willen, da ist ja noch die Weiche! Ja Herrschaftsseitn, warum bremst der Wagen bloß nicht, gelaufen ist er doch auch so gut! Links, nein rechts, nein, doch links! Schon drüber.

Wo fährt der Zug denn jetzt hin?! Ich bin auf dem Gleis von der Linie 18! Mich trifft der Schlag.

»Zentrale, bitte für Linie 20, Kurs 6.«

»Kommen Sie auf Kanal 2.«

»Zentrale, ich hab mich verfahren und steh mit dem 20er im 18er Gleis am Stachus …«

»Ja, dann fahren Sie Umleitung über Ottostraße, Karlstraße zum Stiglmaierplatz und weiter auf dem Linienweg. Fahrgäste zum Hauptbahnhof lassen Sie am Stachus umsteigen.«

»Verstanden, danke.«

Die entgegenkommenden Kollegen sehen natürlich alle deutlich, daß die Neue ihren Zug ins fal­­sche Gleis gestellt hat, und am Funk haben sie auch mitgehört. Es ist doch immer wieder spannend, wie dumm sich die Neuen anstellen, vor allem wenn es halt »Madln« sind. Und Fahrerinnen bleiben »Madln« bis ins Rentenalter, das habe ich schon während der Ausbildung verwundert zur Kenntnis genommen.

Aber die Kollegen sind freundlich und winken lachend, und die Neue würde am liebsten im Erdboden versinken und schwitzt und wird abwechselnd rot und blaß und informiert kleinlaut über Innenlautsprecher die Fahrgäste über die Umleitung.

»Ja, aber so was, jetzt ham Sie doch vorhin grad gsagt, daß Sie zum Hauptbahnhof fahrn, so was!«

»Ja, entschuldigen Sie vielmals, aber da hab ich noch nicht gewußt, daß ich mich verfahr!«

Da müssen sie lachen.

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Pufferküsser

Natürlich haben wir alle unsere Gründe, Trambahn zu fahren.

Der einfachste Grund: Es gab gerade keine andere berufliche Möglichkeit. Und schließlich ist es eine saubere Arbeit, und verdienen tut man ja auch nicht schlecht, und da hat man sich halt beworben bei den Verkehrsbetrieben, die Tests hat man alle bestanden, mit dem Alkohol hat man auch keine Probleme, und das mit dem Schichtdienst wird man schon schaffen.

Von denen, die mit diesem Hintergrund fahren, springen viele wieder ab, steigen aus für immer, lassen Trambahn Trambahn sein und kehren reumütig unter ihre Autos in den Kfz-Werkstätten, zum Fliesenlegen, in ihre Backstube oder in irgendwelche Büros zurück.

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Anders die Fans unter uns, auch Pufferküsser genannt. Bei denen heißt es Trambahn, Trambahn über alles. Sie kennen jeden Wagentyp, alle Wagen- und Beiwagennummern, wissen genau, welcher Zug wann zur Hauptuntersuchung muß, und fotografieren ihre Lieblinge in allen Lebenslagen. Lange vor den Kollegen wissen sie über jede geplante Streckenänderung oder -stillegung Bescheid und stehen zu gegebener Zeit mit der Kamera bereit.

Sie sammeln alles, worauf auch nur andeutungsweise das Konterfei einer Tram zu erkennen ist, und würden zugunsten der Tram am liebsten sogar das Fahrradfahren verbieten.

Die Schienencowboys unter uns sind kernige Männer auf dem Kutschbock, die was leisten und der Meinung sind, daß dieser harte Job ganze Kerls verlangt und Frauen da nichts zu suchen haben. Sie sind nicht zimperlich, wenn mal eine Alte nicht mehr mitkommt oder ein Kinderwagen nebst Säugling die Reise mit der Tram antritt, während die Mutter draußen verzweifelt versucht, die Tür wieder zu öffnen.

Ganz anders die sozialen Typen unter uns, die »von der Fürsorge«, unter denen ich, Laub 5, »die Schnecke«, noch einmal eine eigene, extreme Kategorie bilde. Die fahren in erster Linie wegen der Fahrgäste und mit einer gewissen Nachsicht deren Fehlern und Schwächen gegenüber. Stets bereit zu helfen, sind sie eher enttäuscht, wenn man sie gar nicht braucht. Sie steuern lächelnd ihren Zug in dem Bewußtsein, den sinnvollsten Beruf der Welt auszuüben. Wenn die Gesundheit und die Verkehrsbetriebe mitspielen, fahren diese Kollegen und Kolleginnen bis zur Stillegung der letzten Tramlinie, bis zum letzten Atemzug.

Natürlich gibt es auch Kombinationen: Pufferküsser mit einem Anteil Fürsorglichkeit und harte Kerls mit einer unbezähmbaren Leidenschaft für die Trambahn. Und bei vielen findet sich neben allen Gründen und Begründungen zusätzlich noch etwas sehr Wertvolles: eine gewisse Neigung zur Romantisierung dieses Berufs.

Und das ist es, was uns nach Jahren noch mit einer gewissen Abenteuerlust morgens um drei aus dem Bett steigen oder nach dem Spätdienst nachts um drei erfüllt nach Hause kommen läßt und dem einen oder anderen Fahrgast beim Einsteigen das Gefühl vermittelt: »Straßenbahnfahrer, das wäre ich doch eigentlich auch gern geworden!«

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Der Koloß

Spätdienst. Nachts gegen 23 Uhr auf der Linie 26, die Runde vor Mitternacht, bei der sich nach längerer Öde der Wagen wieder füllt: Kino-, Kneipen- und Theaterbesucher sind auf dem Heimweg, der Zug ist rappelvoll, und ich habe alles gut im Griff.

An einer Haltestelle laufen zwei Jugendliche vom Beiwagen nach vorne, kommen atemlos bei mir an und erzählen aufgeregt, während ich weiterfahre, daß da hinten ein Verrückter sei, »ein Koloß«, der sie beschimpfe und bedrohe und zum Kleineren der beiden mehrmals gesagt habe: »Du Sperma, dich bring i eh gleich um!«

Zugegebenermaßen etwas amüsiert, höre ich den Schilderungen der beiden zu und verspreche großspurig, gleich mal nach hinten zu gehen und »dem Koloß« zu zeigen, wos langgeht.

An der nächsten Haltestelle bremse ich den Wagen fest, bewaffne mich mit meinem Umschalthebel, rufe den erwartungsvoll schauenden Fahrgästen zu: »Des wer ma gleich ham« und gehe möglichst breitbeinig und forsch zum Beiwagen, die zwei Jugendlichen bewundernd hinter mir. Von weitem schon sehe ich, daß die erste Tür des Beiwagens offensteht, und ich bin noch nicht dort angekommen, da brüllt mir tatsächlich ein den Türrahmen ausfüllender Koloß entgegen: »Ja, komm nur her da, di misch i gleich auf!«

Und bevor ich noch einen klaren Gedanken fassen kann, haben sich meine Füße schon umgedreht und sind mit mir in Windeseile auf dem Weg zurück …

Ich sitze schon längst wieder auf meinem Platz, als auch die zwei Jugendlichen atemlos dort ankommen.

Die über Funk bestellte Polizei muß nicht mehr eingreifen; wie wir im Rückspiegel beobachten können, steigt der Koloß bereits einige Haltestellen später aus und verschwindet in der Dunkelheit.

Kurz darauf hätten auch die beiden Jugendlichen aussteigen müssen, doch sie sind so verängstigt, daß sie anhänglich noch eine ganze Runde mitfahren.

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