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Johannes V. Jensen

HIMMERLANDSVOLK

Aus dem Dänischen von Ulrich Sonnenberg

Mit einem Nachwort von
Carsten Jensen

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INHALT

HIMMERLANDSVOLK

OKTOBERNACHT

DREIUNDDREISSIG JAHRE

CECIL

SONNTAGMORGEN

DER JÄGER AUS LINDBY

ELSES HOCHZEIT

IN DER DUNKELHEIT

STILLES WACHSEN

DER AUSSIEDLERHOF

THOMAS VOM BRÜCKENHOF

EIN BEWOHNER DER ERDE

MORTENS HEILIGABEND

ANHANG

ANMERKUNGEN

EDITORISCHE NOTIZ DES ÜBERSETZERS

»DAS LEUCHTENDE GROSSE AUGE DES KLEINEN DÄNEMARK« NACHWORT VON CARSTEN JENSEN

BIOGRAFIEN

OKTOBERNACHT

Vor vielen Jahren saßen drei Gäste in der Schankstube eines Wirtshauses an der Landstraße nach Aalborg in Himmerland. Es war zehn Uhr abends. Die Schankstube war ungemütlich, die Tür ins Dunkle stand offen. Die drei Männer veranstalteten einen gewaltigen Lärm, sie prahlten mit lauten, von Wind und Wetter rau gewordenen Stimmen und ließen die Deckel ihrer Bierkrüge klappern. Es handelte sich um kräftige, bärtige Burschen, die hohe Schaftstiefel, Stoßdegen und Dolche trugen. Soldaten ließen sich damals anwerben, Landsknechte nannte man sie.

Diese drei zogen nach Aalborg zu ihrem Hauptmann, von dem sie ihr Handgeld bekommen hatten. Ein weiter Weg lag bereits hinter ihnen, und sie wollten noch die ganze Nacht weitermarschieren, daher rasteten sie in dem Wirtshaus und tranken Bier. Vermutlich Braunschweiger Mumme. Zwei waren alte Gesellen mit grau gesprenkelten Bärten, der Dritte indes war ein junger Lockenkopf, der noch keinen Bauch angesetzt hatte. Seine Stimme klang heller als die der anderen, und er lachte auch mehr. Seinen Flüchen war ebenfalls anzuhören, dass er ein junges Blut war, er fluchte ausgiebig und reichlich und beließ es nicht wie die anderen bei einer einzigen, sich ständig wiederholenden Gotteslästerung.

Es waren unanständige Dinge, über die sich die Landsknechte so lautstark unterhielten, deshalb ihr Eifer und daher die lebhaften und blumigen Flüche des jungen Landsknechts.

Denn dass das Gespräch unanständig war, mit anderen Worten, dass es um Frauen ging, war damals nicht anders als heute.

Der junge Landsknecht brüstete sich mit genossenen Gunstbeweisen, wand um einige verblasste Erinnerungen frische Kränze aus lobenden Worten, flocht Seidenbänder der Wehmut hinein und begleitete alles mit provozierendem Zungenschnalzen. Die beiden Alten saßen auf der Tischkante und bekundeten ihre Skepsis durch höhnisches Gelächter.

Als sie am lautesten johlten, kam der Wirt herein und bat sie ergebenst, ihre Stimmen zu dämpfen. Mit Verlaub – aber er habe ein Kind, ein krankes Kind, das den Lärm nicht ertrage.

Es bat in aller Sanftmut, um die Gäste nicht zu erzürnen.

»Was fehlt seinem Kind denn?«, erkundigte sich einer der Landsknechte leiser.

Der Gastwirt erklärte – und berief sich dabei auf die Heilige Schrift –, dass es sich wohl um die Fallsucht handele.

»Ach herrjeh!«, sagte der junge Landsknecht. Er schnipste mit den Fingern und drehte sich sofort wieder um.

Von nun an unterhielten sie sich leiser. Gegen elf brachen sie auf und zahlten ihre Zeche, um weiterzumarschieren. Als sie vor die Tür traten, hatte es aufgehört zu regnen, und der Mond schien auf die nasse, aufgeweichte Straße.

Der junge Landsknecht ging ein paar Schritte hinter den anderen, und als er an einem der Fenster des flachen Hauses vorbeikam, sah er Licht im Zimmer. Eine Tür wurde geöffnet, und der Wirt trat mit einer Kerze in der Hand ein. Das Zimmer war klein, jemand lag dort im Bett, er sah ein längliches, blasses Gesicht mit dunklen Haaren um zwei dunkle Augen – ein kümmerliches, kleines Mädchengesicht. Dann war er am Fenster vorbeigegangen.

Das war wohl die Kranke, dachte er und lief den beiden anderen hinterher.

Der Wirt war Witwer und hatte nur diese eine Tochter. Sie hieß Lisbeth und war seit dem Frühjahr krank und schwach. Sonderlich gesund war sie nie gewesen, doch nun war sie sechzehn Jahre alt und würde wohl auch kaum älter werden.

Nachdem der Vater nach ihr gesehen hatte, verschloss er die Türen, legte die Riegel vor und ging zu Bett.

Um das abseits der einsamen Landstraße gelegene Haus war kein Laut mehr zu vernehmen.

Lisbeth hörte jetzt nur noch den Wind. Er hatte irgendeinen Spalt am Haus gefunden, um darin ausgiebig zu singen und zu pfeifen. Lange stieg er nach und nach zu einer dünnen, singenden Klage an, fiel dann ab, wimmerte ein wenig allein vor sich hin, erhob sich wieder und erreichte mit einem ungeduldigen Ruck den Höhepunkt seines einsamen Jammers, bis er erneut trostlos in sich zusammenfiel. Der Wind fuhr durch das Stroh, das aus den Torfsoden auf dem Dachfirst herausragte, und klopfte bisweilen weich an die Scheiben. Einsame Regentropfen fielen in langen Abständen von der Dachtraufe auf die Steine.

Lisbeth dachte an das große verwegene Gesicht, das sie vor dem Fenster gesehen hatte. Sie hatte solche Angst gehabt …

Vermutlich war es einer von denen gewesen, die in der Schankstube gelärmt hatten. Nun marschierten sie in der Dunkelheit der Nacht die Landstraße entlang und waren bereits weit fort. Sicher zogen sie in den Krieg.

Lisbeth richtete sich leise auf, beugte sich vor und blickte hinaus. Dunkle Wolken trieben um den Mond, der auf die nasse Straße schien. Weit konnte sie in der Dunkelheit nicht sehen. Kalt und traurig sah diese klare Mondnacht aus; und sie glaubte, den Wind über die feuchte Erde fegen zu sehen, denn sie sah, wie die Wolken trieben.

Ermattet fiel Lisbeth zurück in ihr Bett.

Umgeben von der Leere der Nacht, in der die Zeit nur von dem einsamen, jämmerlichen Pfeifen des Windes in den undichten Türen erfüllt wurde, gingen ihr Gedanken durch den Kopf – wie Graskeime in unfruchtbarem Sand, wie Blasen, die der Schnauze eines neugeborenen Kätzchens entsteigen, wenn es hilflos zappelnd zu trinken versucht. Hin und wieder hatte sie etwas gehört, Nachbars Grete hatte etwas erzählt, anderes hatte sie in der Schankstube aufgeschnappt.

Sie dachte dabei auch an den großen Soldaten, dessen Gesicht sie gesehen hatte, und ihre Seele spross wie eine zarte Lilie, allerdings nicht weiß, sondern blassgrün.

Lisbeth lag still, sie war hellwach, sie blickte hinaus in die Nacht und atmete lautlos.

Der Wind pfiff noch immer, aber in ihren wirren, ängstlichen Träumen hörte sie nichts.

Es war tiefe Nacht, als Lisbeth sich leise und vorsichtig aufrichtete und auf einen Arm stützte. Lange lauschte sie, doch da alles totenstill war, legte sie sich wieder hin, schob zögernd ihre Decke beiseite und blieb eine Weile mager und ausgezehrt im schwachen Mondschein liegen – wie eine blass schimmernde weiße Rosenblüte, die halb geöffnet welkt und sich dem Staub entgegenneigt.

Sie fing an zu husten, kroch unter die Decke, lag ganz still da und starrte wieder hinaus, bis der Mond verschwand und die Wolken in dem heraufziehenden Tag langsam grau wurden.

Die drei Landsknechte aber waren in raschem Tempo auf der Landstraße nach Norden weitermarschiert.

An der nördlich gelegenen Furt plantschten sie munter in ihren guten Stiefeln durch das flache Wasser. Weiter ging es durch das Tal und über eine Anhöhe.

Etwa eine Meile vom Gasthaus entfernt gerieten einer der Alten und der Junge, der auf den Namen Jørgen hörte, über irgendetwas für einen Landsknecht Wesentliches in Streit.

Sie fluchten aus vollem Hals und spuckten Gift und Galle. Schließlich zogen sie ihre Waffen und gingen aufeinander los.

Im Heidekraut neben der Straße fochten sie es aus, der dritte Landsknecht sah zu.

Jørgen war erbittert und fest entschlossen, seinen Gegner zu töten. Daher kam es ihm grenzenlos sinnlos und geradezu naturwidrig vor, als er sich in einem kurzen, plötzlichen Moment schutzlos zeigte und die böse Klingenspitze auf sich zukommen sah – blitzschnell und unter Aufbietung all seiner Willenskraft dachte er über die Möglichkeit nach, gnädig davonzukommen – doch in diesem Moment spürte er bereits die Spitze durch sein Wams dringen, den Stich, die eisige Schneide und einen quälenden Schmerz tief im Rücken. Erst jetzt setzte er seine Absicht in die Tat um und wich zur Seite aus; aber im selben Augenblick verließen ihn die Kräfte und er stürzte zu Boden. Und als der andere die Klinge herauszog, krümmte sich Jørgen mit einem Aufschrei zusammen.

Die beiden anderen setzten ihren Weg nach Norden fort und ließen ihn mit einer tödlichen Stichwunde durch die Lunge liegen.

Jørgen verstand nicht recht, was geschehen war, denn innerhalb einer Sekunde musste er plötzlich mit dem entlegensten und unmöglichsten aller Gedanken vertraut werden. Als es ihm schließlich jedoch klar wurde, hatte er das Gefühl, total verändert, gleichsam verwandelt zu sein. Rasch erhob er sich – der Schmerz war unerträglich –, doch er achtete nicht darauf und starrte den beiden Gestalten nach, die allmählich in der Dunkelheit verschwanden. Er war vollkommen fassungslos.

Ließen sie ihn tatsächlich zurück? Ja, ohne sich umzudrehen, Jørgen war geradezu blind vor rasendem Hass und Zorn.

Er ließ sich zurück ins Heidekraut fallen und krümmte sich unter dem Schmerz, der sich durch seinen Körper fraß und bohrte, und als er sich wieder aufrichtete, spürte er, wie die an seinem Körper klebenden Kleider sich von der Haut lösten. Na vielen Dank! Er war blutüberströmt, und überdies lief das Blut auch noch munter ins Heidekraut. Als er das Wams aufknöpfen wollte, waren seine Arme steif wie vor Kälte – er erschreckte sich wahnsinnig, sah sich in der Dunkelheit um und mochte es nicht glauben.

Er lag am Fuß eines kleinen Hügels und meinte mit einem Mal, dort hinaufzumüssen. Kriechend und krabbelnd gelang es ihm, aber unterwegs wurde er regelrecht demütig, so kraftlos war er. Als er oben zusammensank, war ihm alles vollkommen egal. Er lag ganz still auf dem Rücken, überlistete dadurch den grausamen Schmerz in der Brust und spürte, wie wohltuend und bequem seine müden Beine ruhten.

Als er so ruhig dalag, begann er, über die Dinge nachzudenken.

Er hörte den Wind, der über die Spitzen des Heidekrauts strich, die steifen Zweige ein wenig tanzen ließ und mit einem gedämpften Flüstern und Rascheln von ihnen abließ. Die Wolken trieben am Mond vorbei, alles war wie gewöhnlich. Aber in Jesu Namen! Es war doch blutiger Ernst, er sollte sterben. Einen Augenblick wuchs in ihm eine einzige lamentierende Anklage. Dann dachte er wieder vernünftig, eifrig, hastig, er musste sich über so viele Dinge klarwerden. Doch in der Hast geriet alles durcheinander, irrelevante Gedanken und Erinnerungen flogen ihn in hitziger Verwirrung an. Ein Krampf in der Brust verjagte das Ganze – er stöhnte halblaut auf.

Sollte es denn hier vorbei sein, so schien es ihm, dann wäre alles andere sinnlos gewesen. Nein, sein ganzes Leben war nichts im Vergleich mit diesem Moment, als er hier lag und in aller Ewigkeit den Wind leicht über das Heidekraut säuseln, rauschen und seufzen hörte.

In Rendsburg hatte er ein Glas Wein getrunken, dann war ihm der Hut vom Kopf gefallen und die Kreidepfeife zerbrochen – damals im Wirtshaus –, wozu das alles? Warum hatte er sich bei dem Waffenschmied in Lübeck so große Mühe gegeben? Und warum hatte er seinen Bart gepflegt und jeden Tag gehofft, dass er länger würde? Warum hatte er Blut im Leib, wenn es nun aus ihm herausfloss? Einen Augenblick lang hätte Jørgen herzlich gern gelacht, als hätte er jemanden zum Narren gehalten, der sich seiner wirklich angenommen hatte – als hätte er ihn richtig an der Nase herumgeführt. Dann aber schoss Jørgen der Gedanke an Gott durch den Kopf, und er fing an, flüsternd zu beten.

Der Wind kam vorbei und trug sein Flüstern ein paar Schritte weiter, vereinte es mit dem Rauschen des Heidekrauts und den Geräuschen der Nacht, zerstreute dann alles und sauste davon.

So starb der Landsknecht Jørgen einsam und allein, und der Mond schien breit lächelnd auf ein weißes, erstarrtes Gesicht, auf den Ausdruck eines unbeantworteten Angstschreis, auf ein Bild von Verlassenheit und Jammer.

Jørgen lag still auf dem Rücken, aus einiger Entfernung hätte man ihn für einen länglichen grauen Stein halten können. Das Heidekraut verdeckte ihn halb, die widerborstigen Spitzen nickten und wippten. Hin und wieder trieben dunkle Wolken mit fahlen Rändern über den Mond. Das Land war einsam und kaum bewohnt, es erstreckte sich in flachen, ermüdenden, mit Heidekraut überzogenen Wölbungen.

Der Wind strich auf seiner langen, ziellosen Wanderung darüber hin. Er raschelte in den Spitzen des Heidekrauts, nestelte ein wenig im Haar des Landsknechts und jagte dann weiter, um an irgendeinem anderen Ort einen Türspalt zu finden, in dem sich singen und pfeifen ließ.

DREIUNDDREISSIG JAHRE

Es kommt vor, dass die Musik plötzlich schweigt, das hitzige Schnarren der Saiten verstummt … und jemand mit Schweiß auf der Stirn mitten im Saal stehen bleibt. Wortlos wanken alle in dem staubigen, wirbelnden Festsaal zur Wand, denn von draußen, aus der dunklen Stille, schleicht ein Schreckgespenst durch die offenen Fenster hinein. Möglicherweise bleibt jemand allein auf dem Tanzboden zurück, noch besinnungslos und schwindelig vom Tanz und der Freude, während die Herzen aller von Krämpfen gepackt werden. Und dann gibt es vielleicht einen, der die Totenmaske herunterreißt und in die Hände klatscht: »Spiel, Mann! Kratz auf deiner Fidel, ich will vergessen und mich mit meiner Braut in schwindelnden Kreisen drehen!«

Auf einem Hof lebte seit zwanzig Jahren eine alte Frau, und in all dieser Zeit hatte sie sich nicht verändert. Sie gehörte gleichsam zum Inventar des Hofs, sie wurde mit »Ihr« angesprochen, und man ging behutsam mit ihr um, da ihr Verstand Schaden genommen hatte. Es gibt bei den Bauern einen Ausdruck für jemanden, der wunderlich geworden ist, es heißt, er habe »zu viel gesehen«; und das sagte man auch über die alte Kirsten.

Vor langer Zeit gab es zur Tagundnachtgleiche eine mondlose Nacht. Eine dichte, vollkommene Dunkelheit erfüllte die Luft über den Wegen und leeren Entfernungen. Weit verstreut sah man einzelne rote Lichter ohne Strahlenkranz – die eine oder andere Talgkerze in einer niedrigen Stube. Ein Mann ging durch die Dunkelheit auf drei dicht beieinanderstehende, ruhig schimmernde Lichter zu; er selbst glich einem wandernden Funken, denn um den Weg übers Feld zu finden, hielt er eine Stalllaterne in der Hand.

Die Laterne leuchtete ein paar Ellen weit, und im Schein ihres Lichts schritten die unteren Hälften zweier Beine abwechselnd aus und warfen hinter sich einen Schatten; der Rest des Mannes blieb verborgen im weichen Stoff der Dunkelheit. Drehte sich die Laterne ein wenig, bewegten sich auch die drei Lichtkegel hinter ihrem Glas; und während der Mann dahinschritt, schien immer wieder ein kleines Stück des Feldrains aus der Dunkelheit auf und verschwand wieder. Einmal fiel das Licht auf eine Egge, die in einem Brachfeld als Markstein diente und wie ein Dachfirst aufgestellt war; an der Wurzel jedes Zinkens hing ein Büschel weißes Rispengras. Der Mann ging über die Felder, als tastete sich ein runder Lichtfleck unsicher über die Erdoberfläche.

Hinter einem Hügel verschwanden die drei Leitsterne, der Pfad änderte die Richtung und beschrieb eine Kurve, das Licht der Lampe fiel nun auf eine Umfriedung und rotbraune, dicke Jauche und flackerte dann eine von weißen Kalkadern durchzogene Stallmauer aus Feldsteinen hinauf. Der Wanderer bog um die Ecke, und das Licht, das aus den Fenstern drang, glich drei Hohlwegen, deren Wände die tiefe Masse der Finsternis bildeten. Weithin war der klumpige Boden des Feldes zu erkennen.

Hej, didula! Aus dem Haus klangen Geigenspiel und Stiefelstampfen. Der Mann schritt über das Hofpflaster, und noch bevor er die Tür erreichte, wurde sie aufgestoßen, und mehrere Stimmen begrüßten ihn vergnügt.

»Es ist der Schmiedegeselle! Komm rein!«

Bei Thøgers wurde gefeiert. Die jungen Leute hatten das Fest selbst organisiert, Thøger hatte nur die große Stube zur Verfügung gestellt. Die Ernte und die Herbstarbeiten lagen hinter ihnen, nun tanzten sie und amüsierten sich an den langen Abenden. Einige Mädchen trugen Chintzkleider nach der neuesten Mode.

An der Tür stand Stinchen, die kleine Stine aus dem Armenhaus, mit einem großen Henkelkorb voller Weizenkuchen mit Korinthen am Arm. Hin und wieder setzte sie den Korb ab, ging vor die Tür und trank einen Schluck aus der Pegelflasche; sie war bereits ziemlich betrunken.

Die Knechte hatten für den Kaffee zusammengelegt, Thøgers Kirsten kochte ihn. Man verschnaufte und genoss die Erfrischungen.

Kirsten konnte so gut singen, und die Mädchen baten sie inständig, aber sie wollte nicht. Auch die Burschen bedrängten sie, doch sie sträubte sich.

»Jetzt sing schon, kleine Kirsten!«, forderte Anders der Schmied sie sanft auf. Die Mädchen standen dicht beieinander und warfen sich kichernd Blicke zu.

Kirsten senkte den Kopf.

Es wurde ganz still, in der erwartungsvollen Pause wurde ein Weizenkuchen nach dem anderen vertilgt.

Dann hob Kirsten den Kopf, streifte Anders mit einem raschen Blick und legte die Hände in den Schoß.

Sie schaute vor sich hin und begann, langsam zu singen:

Wie die Sterne am Himmel

sich finden Paar um Paar,

so haben auch du und ich uns angeseh’n,

um den Weg gemeinsam zu geh’n,

doch du, du wolltest nicht.

Weißt du noch, was du versprochen hast,

als wir am Strande standen?

Du hast versprochen, mich zu lieben,

doch nur, um mich dann zu betrügen,

was ist von deinen Versprechen geblieben?

Nun bin ich das verirrte Schaf,

das auf dem Felde steht.

Der Vater, die Mutter, die Eltern sind fort,

und ich hab auf Erden keinen Ort,

an dem ich fände ein tröstendes Wort.

Nach dem Lied herrschte lange verlegenes Schweigen. Die Kerzen in den Wandleuchtern flackerten und tauchten den kahlen Raum in ein unruhiges Zwielicht. Stinchen steckte die Hände unter die Schürze und vergoss ein paar Fuseltränen.

Kirsten sang noch ein weiteres Lied, dann spielte der Krämer-Jakob wieder zum Hopser auf.

Eigentlich tanzte Anders ausschließlich mit Kirsten, daher bekam er in den Pausen von den anderen Burschen auch einiges zu hören. Er lächelte gelassen. Denn blickte er auf, traf er auf der anderen Seite der großen Stube auf Kirstens freundliche Augen.

Jeder wusste, dass die beiden ein Liebespaar waren. Thøger war zwar Hofbesitzer, lebte mit seinen vielen Kindern aber in bescheidenen Verhältnissen. Anders der Schmied trank nicht, er tat niemandem Unrecht, und sein Handwerk war anständige bäuerliche Arbeit. Es ging schon in Ordnung, dass er die hübsche Kirsten bekommen sollte. Lange konnte er den Blick ohnehin nicht von ihr lassen.

Es wurde weitergetanzt, denn manch anderes Pärchen wollte sich auch gern nahe sein. Alle strahlten vor Freude. Mathis, der in der Stadt gewesen war – er handelte mit Lämmern –, tanzte linksherum und stampfte am Ende jedes Refrains mit seinen Absatzeisen auf den Boden. Einige ältere Leute saßen auf den Bänken und schauten zu.

Es ging auf Mitternacht zu, alle hatten hochrote Köpfe, die breiten, mit Westen bekleideten Rücken dampften wie Wiesen. Je länger der Tanz dauerte, desto lustiger wurde es.

Kirsten kam herein und bespritzte den Fußboden mit Wasser, aus dem feuchten Staub stieg muffiger Katzengestank auf.

»Puh, ist das heiß!« Mathis stieß die Fenster auf.

»Spiel uns ›Die rote Mütze‹!«, schrie er heiser dem Spielmann zu. Es war ein Rundtanz, an dem sich alle beteiligten. Danach tanzten sie »Viereck«, ebenfalls einen Rundtanz, aber in einem hastigeren, atemloseren Tempo. Zwei Gruppen nahmen teil und wirbelten mit einem berauschten Blick durcheinander – Hände wurden losgelassen und wieder ergriffen, Röcke segelten durch die Luft …

Plötzlich unterbrach Krämer-Jakob sein Spiel, und als sie zu ihm aufblickten, starrte er mit der Violine unter dem Kinn auf die Fenster …

Vom Entsetzen an den Kehlen gepackt, flohen sie allesamt von der Tanzfläche.

Nur Mathis blieb wie im Sprung erstarrt auf dem Tanzboden stehen, allein.

Es wurde totenstill.

»In Jesu Namen!«, tönte Stinchens Stimme laut und bebend durch den Raum.

Die Mädchen drängten sich in einer Ecke. Doch dann ging Anders der Schmied zu den Fenstern und schloss eines nach dem anderen, dabei sah er mit festem Blick hinaus in die samtschwarze, stille Dunkelheit. Als er den letzten Fensterhaken verriegelt hatte, drehte er sich um.

»Da war nichts«, sagte er. »Spiel weiter, Krämer-Jakob! Wovor hast du denn Angst? Komm, Kirsten!« Anders breitete die Arme aus, und Kirsten lief zu ihm. Jakob spielte auf und trat mit der Stiefelspitze den Takt dazu.

Alle sahen sich betreten an und atmeten auf. Nun wurde noch fröhlicher und beschwingter getanzt als zuvor. Erleichtertes Gelächter war zu hören.

Sie tanzten, bis der Himmel vor den Fensterscheiben grau wurde. Dann verteilten die Pärchen sich auf den Wegen und schmalen Straßen. Die Mädchen mussten heim zum Melken.

Im Frühjahr baute Anders ein Haus und eine Schmiede, und im Juni heiratete er Kirsten.

Es war ein Tag mit einem wolkenlosen Sommerhimmel und saftig grüner Erde, als der Zug der Hochzeitskutschen auf der lichten Landstraße heranrollte. Die Pferde griffen beherzt aus, Staub wirbelte auf und stand über dem Rand des Straßengrabens. Auf dem vordersten Wagen saß Krämer-Jakob neben dem Kutscher und spielte den »Fahrtenmarsch« auf der Klarinette, seine Finger tanzten über die Löcher. Immer wurde dieser Braut marsch gespielt, er erinnerte an die Gelage und Feste vergangener Zeiten.

Dädädä, dädädä, dädädädä … ertönte der hölzerne Klang.

Musik war in dieser armen Gegend selten zu hören. Die Sonne schien weit über die Felder, und auf den entlegenen Höfen traten die Menschen vors Tor, um zuzuhören.

Viele Wagen rollten den Hügel hinauf, einer hinter dem anderen. Sie hielten vor der weiß gekalkten Kirche, ein weißer Schleier hob sich im Sommerwind, kleine Kinder kletterten auf die Steinmauer des Friedhofes.

Und dann fuhren die Wagen hintereinander die Straße wieder zurück. Die Sonne glänzte auf Flaus mit schwarzem, blankem Flor. Der Krämer-Jakob saß zurückgelehnt auf dem Kutschbock und hatte die Klarinette im Mund. Der Festzug zog vorbei und verbreitete Freude in dem genügsamen Land.

Stinchen stand mit strahlenden kleinen roten Augen am Straßenrand, und als der letzte Wagen vorbeigefahren war, zog sie einen alten Pantoffel unter ihrer Schürze hervor und warf ihn dem Zug hinterher, damit er den jungen Leuten Glück brächte.

In den ersten Jahren mussten Anders und Kirsten bitter um ihr Auskommen kämpfen, da sie all die Schulden für ihr Haus abzutragen hatten.

Anders hämmerte und nietete von morgens bis abends, er schmiedete Holzschuhnägel, reparierte Standuhren und bestellte außerdem ein Stück Land.

Häufig kamen die Bauern mit kaputtem Werkzeug und guten Worten zu ihm, und Anders tat ihnen den Gefallen und hatte hinterher das Nachsehen.

Sie bekamen drei Kinder, zwei Mädchen und einen Jungen. Eine große Hilfe war Kirsten nicht, solange die Kinder noch klein waren. Doch nach gut zehn Jahren waren die Schulden getilgt, und Anders konnte es sich endlich leisten, ein Schaf und eine Kuh zu kaufen. Der große, gebückt gehende Mann war klapperdürr und sprach nur wenig.

Es kamen einfachere Zeiten für die beiden, Kirsten wurde rundlich, aber sie war noch immer weiß und rosig wie ein junges Mädchen. Die Kinder wurden konfirmiert, zwei waren bereits aus dem Haus und in Diensten.

Als Sørine, die älteste Tochter, ungefähr zwanzig Jahre alt war, wurde Anders eines Tages beim Verladen von Heidekraut von einer Kreuzotter gebissen. Sein Daumen verheilte nie wieder richtig, und auch an den anderen Finger bildeten sich Eiterbeulen. Jahrelang umwickelte er seine Finger mit großen Lappen und steckte sie in Fingerlinge.

Wenn Anders der Schmied vor die Tür trat, kam es vor, dass er stehen blieb und einen verstohlenen Blick auf die kleine Schmiede warf, in der die Esse jetzt kalt war. Noch immer trug er sein Schurzfell, doch in dem hohlwangigen Gesicht zeigte sich ein grüblerisch-missmutiger Ausdruck. Man sah ihn, wie er sich mit irgendetwas am Haus beschäftigte, still und mit hängendem Kopf. Unter der Dachtraufe über der Haustür bewahrte er eng gestapelt auf, was dort nur unterzubringen war – eine Kalkbürste, die bis zum Ring abgenutzt war, eine halbe Wollschere, einen alten Pflock zum Anbinden von Vieh. Jahrelang blieb es dort liegen und ging nicht verloren.

Sie lebten von ihrem Acker und schlugen sich durch, Anders der Schmied wurde jedoch immer schwermütiger, denn er hatte nichts Rechtes mehr zu tun. Lars war jetzt siebzehn Jahre alt und kümmerte sich gemeinsam mit seiner Mutter um alles.

Wenn Anders der Schmied draußen herumwerkelte, kam Stinchen mitunter vorbei und sah ihn aus ihrem kleinen versoffenen Gesicht an. Einige Tage später tauchte Stinchen erneut auf. Und ein paar Jahre später sah er sie wieder, ohne dass sie sich verändert zu haben schien. Stinchen wusste nicht, wie alt sie war, Zeit existierte nicht für sie. So gut wie jeden Monat kam sie vorbei und behauptete, Geburtstag zu haben; und bei dieser Gelegenheit sammelte sie Zweiøremünzen für eine Flasche Schnaps. Nur war das kein Trick, sie war überzeugt, es wäre ein Jahr vergangen.

Ebenso eigenartig verhielt es sich mit Näsel-Peter, diesem schlaksigen Vagabunden. Irgendwann erschien er auf der Landstraße und zog einen Schwarm von Kindern hinter sich her – völlig betrunken, fidel und ausgesprochen guter Dinge. Stets war er angezogen wie ein Maurer; er hatte O-Beine und war gut dreieinhalb Ellen groß.

Näsel-Peter kannte weder einen Kalender noch etwas Ahnliches. Eine Weile schien er wie vom Erdboden verschluckt und offensichtlich von allen vergessen zu sein. Dann lebte er an unbekannten Orten und verputzte schiefe Schweineställe. Doch irgendwann erschien er eines Tages wieder auf der Straße wie ein Imperator, reckte die Pfeife wie ein Zepter in die Luft, forderte das ganze Lumpenpack heraus und näselte dabei wie ein Tapir. Mit einem Mal jedoch verlor sich seine kriegerische Stimmung, und er lächelte unendlich gutmütig in seinen weißschimmligen Bart.