Über das Buch

Ein ganzes Tal ist durch einen Schneesturm von der Außenwelt abgeschlossen. Auf abenteuerlichen Wegen rettet sich ein kleiner Vogel in eine sichere Scheune. Ein Jahr lang begleiten wir den winzigen Vogel: beim erfolgreichen Überstehen des eiskalten Winters, bei der Suche nach einem Gefährten und der Gründung einer Familie.
„Von Anfang an wird man mitgezogen vom unwiderstehlichen Erzählstrom dieses wundervollen Romans, der wirklich zum Schönsten gehört, was ich je gelesen habe.“ Quint Buchholz

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Nigel Hinton

Im Herzen des Tals

Roman

Aus dem Englischen von Hilde Linnert

Paul Zsolnay Verlag

Für Rolande

Die Heckenbraunelle, eine in ganz Europa und Asien verbreitete nahe Verwandte der Finken und Sperlinge, ist eine der in England am häufigsten vorkommenden Singvogelarten. Sie ist scheu und unscheinbar, und bei oberflächlicher Betrachtung könnte man sie, wennman sie mit anderen, bunteren oder musikalischeren Vögeln vergleicht, für langweilig und uninteressant halten.

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1

Das bitterkalte Wetter setzte in der dritten Januarwoche ein. Bis dahin war der erste Winter der Heckenbraunelle relativ angenehm verlaufen. Der lange, goldene Herbst hatte beinahe bis Ende November gedauert. Einige scharfe Nachtfröste hatten wohl die Insekten etwas dezimiert, aber während der strahlenden Sonnentage hatte sie reichlich Samen gefunden. Es folgte ein ungewöhnlich milder und nicht allzu feuchter Dezember, der einige Insekten wieder hervorlockte, und sie konnte sich satt fressen. Zu Jahresbeginn war sie rund und kräftig. Dann hatte Ostwind eingesetzt und die Temperatur war unter den Nullpunkt gesunken.

Während der ersten drei Tage hatte sie fast die ganze Zeit im dichten Gestrüpp ihres Schlehdornbusches gehockt, um ihre Kräfte zu schonen. Am vierten Tag, kurz vor Morgengrauen, ließ der heulende, böige Wind nach und es begann zu schneien. Quälender Hunger und plötzlich erwachte böse Vorahnungen trieben sie auf Futtersuche hinaus.

Im grauen Morgenlicht färbten die dichten Flocken bald alles weiß und veränderten die Formen der Dinge. Sie strich am Rand des Birkenwaldes entlang und suchte nach Samen, bevor sie unter der Schneedecke verschwanden. Der Schnee erfüllte sie mit Entsetzen. Die ständige, verschwommene Bewegung verwirrte sie, so dass sie oft grundlos zurückschreckte und in ein Versteck floh. Einmal war ihr Gesichtskreis jedoch so eingeengt, dass sie sich noch auf dem Boden befand, als neben ihr plötzlich eine große Gestalt aus dem Flockenspiel hervorschoss. Es war nur ein Kaninchen, das einen kurzen Ausflug aus seinem Bau unternahm, doch dieses Erlebnis machte sie noch ängstlicher und sie saß oft lange im Gebüsch versteckt und spähte misstrauisch in das wirbelnde Weiß hinaus. Sie sehnte sich danach, in die Sicherheit ihres Schlafplatzes zurückzukehren, aber zuerst musste sie ihren Hunger stillen.

Wieder flog sie in die gefahrvolle offene Landschaft hinaus und flatterte eilig den Hang zu einem kleinen Bach hinunter. Gewöhnlich bescherte ihr die weiche Erde an seinen Ufern Regenwürmer, und oft fand sie dort auch Samen, die der Bach weiter oben in seinem Lauf mitgerissen hatte. Heute jedoch waren die Würmer in dem zerklüfteten, hart gefrorenen Boden eingeschlossen, und dass der Bach noch floss, war nur an den perlenden Luftblasen unterhalb der zentimeterdicken Eisschicht zu erkennen.

Sie huschte den Bach entlang von Busch zu Busch, bis ein scharfes, warnendes tick-tick-tick sie innehalten ließ. Ein Rotkehlchen schoss aus dem Farndickicht und plusterte sein rotes Brustgefieder auf. Es hob den Kopf, stieß noch einmal seinen Warnruf aus und hüpfte dann über den Schnee angriffslustig auf sie zu. Sie senkte unterwürfig den Kopf und floh hangaufwärts aus seinem Revier.

Die dem Wind abgewandte Seite einer Birke bot etwas Schutz vor demwirbelnden Weiß, und als sie dort landete, hämmerte ihr Herz vor Verstörung und Angst. Unruhig zuckte ihr Kopf hin und her, während sie versuchte die entsetzliche Veränderung zu begreifen, die über ihre Welt hereingebrochen war. Nichts war so wie vorher — die Luft war von herabfallenden Gestalten erfüllt, die sie zwar nicht unmittelbar bedrohten, wie sie nach und nach erkannte, die aber die Außenwelt noch gefährlicher machten. Irgendwo dort draußen lauerten ihre Feinde und strichen herum, ihren Blicken verborgen, bis es vielleicht zu spät war.

Der Schnee hatte sich so schnell angehäuft, dass er zu beiden Seiten des kleinen, freien Flecks, auf dem sie saß, beinahe die Höhe ihrer Augen erreichte. Jetzt war es nicht mehr möglich, darunter Futter zu finden, und der nagende Hunger wurde schlimmer. Sie pickte auf dem kleinen, freien Fleck rings um sie probeweise einige Dinge mit dem Schnabel auf und ließ sie wieder fallen.

Ein Eichhörnchen rannte über einen der unteren Äste der Birke und sprang auf den nächsten Baum. Die Braunelle nahm die Bewegung aus den Augenwinkeln wahr, drückte sich auf den Boden und erstarrte. Sobald das Eichhörnchen abgesprungen war, schnellte der Ast wieder in die Höhe und überschüttete die Braunelle mit einem Schneeschauer. Von Panik erfüllt, flog sie auf, in das wirbelnde Chaos hinaus, ohne auf die Richtung zu achten.

Am östlichen Ende des Waldes war das Farndickicht auf der Hügelkuppe bereits vollkommen von Schnee bedeckt und sah aus wie eine Miniaturlandschaft aus weißen Tälern und Hügeln. Unter der Schneedecke waren jedoch noch braune Farnwedel zu erkennen und die Braunelle steuerte auf dieses letzte vertraute Merkmal ihrer Welt zu. Sie landete in dem Hohlraumunterhalb der Schneeschicht und hüpfte von dort auf den gebogenen Stängel eines Farns. Der Schnee hatte Farne und Brombeerranken niedergedrückt, so dass es im Gewirr des Unterholzes noch dunkler war als sonst. Aber hier war der Boden wenigstens noch schneefrei.

Sie wartete, vollkommen reglos, und spähte in die Finsternis. In einem so verfilzten Dickicht konnte unmöglich ein größeres Tier lauern. Sie hüpfte von Ranke zu Ranke immer tiefer in die Dunkelheit hinein, blieb nach jedem Sprung eine Weile sitzen und hielt Ausschau nach Gefahren. Als sie beinahe im Zentrum des Dickichts angelangt war, wagte sie endlich auf den Boden zu hüpfen. Der Frost war hier nicht so tief eingedrungen und sie begann an dem modernden Laub zu picken. Die oberste Lage war zu Klumpen gefroren, die sie nur mit Mühe umdrehen konnte, aber sie gab nicht auf, und es gelang ihr, einen kleinen Fleck freizulegen. Sobald sie das geschafft hatte, fiel es ihr leichter, den nächsten Klumpen zu wenden. Hier in dem zusammengepressten, verrottenden Blätterhumus fand sie endlich Nahrung — ein paar Samen und Schmetterlingspuppen.

In den nächsten Stunden arbeitete sie sich weiter, wendete die Blätter und suchte mit dem Schnabel nach ein paar Bröckchen Futter. Je mehr der Hunger nachließ, desto schärfer wurden ihre Sinne, und sie musterte immer wieder misstrauisch ihre Umgebung. Als ihr Magen endlich gefüllt war, genügte das Zittern eines Blattes, und schon floh sie auf den nächsten Ast. Ihr Verlangen, diesen dunklen, fremden Ort zu verlassen, wurde immer stärker, und die Sicherheit ihres Schlafplatzes erschien ihr immer verlockender. Als das zunehmende Gewicht des Schnees die Zweige plötzlich tiefer hinunterdrückte, flog sie erschrocken auf und schlüpfte durch die Öffnung des Dickichts ins Freie hinaus.

Es schneite noch stärker als zuvor, und sie steuerte fast im Blindflug am Waldrand entlang, bis sie den Schlehdornbusch erreichte, in dessen Mitte sich ihr Schlafplatz befand. Nahe dem Hauptstamm hatten sich lange Grashalme um den untersten Ast geschlungen und so einen schützenden Tunnel gebildet, der gerade groß genug für ihren kleinen Körper war. Sie zwängte sich hindurch und fand die Gemütlichkeit und Sicherheit ihres Heims wieder. Hier war sie vor dem Wind geschützt, das Futter in ihrem Magen wärmte sie und wohlig rückte sie sich zurecht und entspannte sich. Als sie ihr Gefieder aufplusterte, um so eine warme isolierende Luftschicht zu schaffen, spürte sie den tröstlichen Druck des Grases, das sich im Lauf der Monate ihrem Körper angepasst hatte.

Gegen neun Uhr abends hörte es zu schneien auf. Die Wolkendecke begann aufzureißen, gegen Mitternacht verschwanden auch die letzten zerfetzten Wolkenstreifen und der Mond strahlte hell aus der kalten, schwarzen Tiefe des Raums. Der Schnee knirschte leise und wurde infolge der strengen Kälte hart.

Eine Schleiereule flog geräuschlos durch den Wald. Sooft sie die Flügel hob, leuchteten die weißen Flaumfedern silbern im Mondlicht. Sie ließ sich auf dem Wipfel einer Birke nieder und kreischte. Der lang gezogene, unheimliche Schrei weckte die Braunelle, die vor Schreck leise zu zwitschern begann, dann unvermittelt abbrach und sich enger an den Stamm drückte. Die Eule beobachtete den Schlehdornbusch und lauerte auf die geringste Bewegung. Fünf Minuten lang rührte sie sich nicht, dann wendete sie den Kopf, ohne Körper und Beine zu bewegen, und ließ ihren Blick rundum über die weiße Weite schweifen. Dann, als hätte die vollkommene Reglosigkeit sie verärgert, kreischte sie plötzlich nochmals auf, senkte den Kopf, schwang ihn hin und her und klappte den Schnabel auf und zu. Das laute Schnappen hallte durch die Stille wie das Geräusch zerbrechender Knochen, so dass ein Feldsperling, der in einem Stechpalmenbusch saß, plötzlich die Nerven verlor. Er schlug mit den Flügeln und hüpfte auf einen anderen Zweig. Das leise Rascheln der Stechpalmenblätter erregte die Aufmerksamkeit der Eule. Sie hob drohend den Kopf und wandte ihn dem Busch zu. Die Nickhaut glitt über ihre Augen, sie schienen sich zu schließen, doch durch die schmalen Schlitze hielt die Eule nach weiteren verräterischen Zeichen Ausschau. Als sich nichts rührte, ließ sie sich nach vorn fallen und segelte auf den Stechpalmenbusch hinunter. Sie umklammerte den obersten Zweig, richtete sich hoch auf und begann wild mit den Flügeln zu schlagen. Der Busch schwankte und bebte, bis der Feldsperling, von Panik erfasst, in die Dunkelheit hinausflatterte. Er landete verstört im Schnee, hob den Kopf und konnte gerade noch einen Blick auf den Mond werfen, bevor dieser durch den herabstoßenden Schatten der Eule verdunkelt wurde.

Ihre scharfen Krallen zermalmten den Kopf ihres Opfers und einen Augenblick später flog sie mit dem leblosen Körper in die Nacht hinaus.

Die Braunelle hatte alles mit angehört, und es dauerte eine volle Stunde, bis sich ihre zitternden Nerven beruhigten und sie wieder einschlief.

Der nächste Tag war klar, hell und bitterkalt. Die Sonne glitzerte auf dem gefrorenen Schnee, als die Braunelle zu dem Farndickicht zurückflog, in dem sie am Tag vorher Futter gefunden hatte. Vor der Öffnung hatte sich Schnee angehäuft, und sie hüpfte suchend auf der harten Kruste herum, bis sie einen schmalen Durchlass entdeckte. Wiedermusste siemühsam die gefrorene Laubschicht mit dem Schnabel zerteilen, doch allmählich legte sie einige Samen frei, die sie gierig aufpickte.

Eine winzige Maus erschien und schwang sich von einer dicken Brombeerranke auf einen Farnstängel. Die Braunelle legte den Kopf schief und starrte den Eindringling an. Die Vorderpfoten auf den Farn gestützt, den Schwanz um die Ranke geschlungen, hielt die Maus inne. Die Braunelle hob drohend die Flügel und trippelte mit ein paar schnellen Schritten auf sie zu. Die Maus machte kehrt, huschte die Ranke hinauf und verschwand. Die Braunelle starrte ihr noch lange nach, dann stieß sie ein hohes »Ziiirp« aus, um die Maus noch einmal zu warnen, und nahm die Futtersuche wieder auf.

Kurz nach Mittag verließ sie das Farndickicht und flog zum Schlehdorn zurück. Doch statt ihre Schlafstelle aufzusuchen, flog sie zu einer nahen Birke, wo sie am Ansatz eines unteren Astes ein schönes, sonniges Plätzchen entdeckt hatte. Eine Zeit lang wärmten sie die Sonnenstrahlen trotz der eisigen Luft. Sie blieb sitzen, genoss das Licht und putzte ihr Gefieder, bis der letzte Sonnenstrahl verschwand und ihr Sitzplatz in eisigem Schatten lag. Sie flog hinunter und pickte versuchsweise in der Umgebung ihres Schlehdornbusches im Schnee. Mehrere Stunden lang suchte sie das Gebiet zwischen ihrem Busch und dem Waldrand ergebnislos nach Futter ab. Die Kälte drang durch ihr Gefieder und ihr Körper kühlte sich rasch ab. Sie musste wieder Futter finden, sonst würde sie die bevorstehende lange Nacht nicht überleben.

Die Sonne ging bereits unter und färbte den aufsteigenden Nebel rosa, als die Braunelle zu dem Farndickicht zurückflog. Als sie durch den Eingang schlüpfte, verschwand die Maus, die in dem von der Braunelle umgedrehten Laub gescharrt hatte, hinter einem Büschel Farnwedel. Die Braunelle machte sich sofort an die Arbeit und durchsuchte die Blätterschicht mit raschen Schnabelbewegungen. Zum Glück entdeckte sie sehr bald eine Menge Samen und füllte sie in ihren Kropf. Sie war eben damit fertig und begann mit dem Rücken zum Eingang an einem festgefrorenen Stück der Laubschicht zu zerren, als sie draußen ein leises Knirschen vernahm. Ein großes Tier, so schwer, dass es durch die harte Oberfläche des Schnees brach, näherte sich dem Farndickicht.

Die Braunelle hob den Kopf und drehte sich genau in dem Augenblick um, als das durch den Eingang hereinfallende Licht sich verdüsterte. Sie sah, wie die lange, spitze Schnauze und die aufgerichteten Ohren eines Fuchses das Loch allmählich ausfüllten, dann wurde es dunkel. Sie rührte sich nicht.

Der Fuchs hatte seinen Bau früher als sonst verlassen, weil die Kälte ihn ebenso wie alle anderen Tiere hungrig gemacht hatte. Er war unterwegs zu den kleinen, verstreuten Ansiedlungen im Tal — Brook Cottage, Little Ashden und Forge Farm —, und als er an dem Farndickicht vorüberkam, hatte ihm aus dessen Öffnung ein Geruch entgegengeschlagen, dem er nachzugehen beschloss.

Drinnen war es dunkel, aber jetzt konnte seine scharfe Nase den Geruch identifizieren — Vogel und Maus. Er zwängte den Kopf tiefer in die Öffnung und scharrte mit den Vorderpfoten den Schnee weg. Die Farnstängel gaben nach und der vordere Teil seines Körpers glitt in den von Brombeerranken überdachten Hohlraum.

Die Braunelle flog nach rechts, prallte gegen Zweige und stürzte zu Boden. Heftig flatternd versuchte sie das Gleichgewicht wiederzufinden, und es gelang ihr, auf einem anderen Zweig Halt zu finden. Ihr Geflatter und ihr aufgeregtes Piepsen steigerten den Blutdurst des Fuchses. Er entblößte seine scharfen Fangzähne und drängte sich noch tiefer in das dichte Unterholz. Die Büsche bebten, und das feine Astgewirr, auf dem der Schnee gelegen hatte, wölbte sich und gab nach. Festgefrorene Schneeklumpen prasselten auf den Rücken des Fuchses nieder.

Als die kleine Lawine sich löste, schnellten die von der Last befreiten Äste hoch. Die Braunelle erblickte über sich ein kleines Fleckchen Himmel und strebte mit aller Kraft darauf zu. Ihre Flügel streiften die Farne, aber sie kam durch und flog ins Freie hinaus.

Der Fuchs hörte die sich entfernenden Flügelschläge und kroch im Rückwärtsgang aus dem Gebüsch. Etwas Schnee glitt von seinen Schultern und fiel auf die Farne, hinter denen sich die verängstigte Maus versteckt hatte. Sie sprang hinter dem Farnbüschel hervor, begann hastig über die Schneebrocken zu klettern, verlor in der Eile den Halt und rutschte mit den Vorderpfoten ab. Der Fuchs sah die Bewegung, stießmit der Schnauze vor, schnappte nach dem kleinen Geschöpf und zermalmte es zwischen den Zähnen.

Als die Braunelle ihren Schlafplatz endlich wieder erreichte, war die Sonne bereits untergegangen. Am Horizont leuchtete noch ein hellgrüner Streifen, aber darüber glitzerte bereits einsam und eisig der Polarstern am dunkelblauen Nachthimmel.

Es war eine lange, furchtbare Nacht. Die Temperatur sank stündlich tiefer, bis sie um Mitternacht minus sechzehn Grad erreichte. Unten am Bach schwankte das Rotkehlchen, das die Braunelle verjagt hatte, auf seinem Ast, dann stürzte es kopfüber zu Boden, tot. Der Leichnam fiel auf das Eis und glitt ein Stück weiter, bevor er mit zum Himmel gereckten Beinen liegen blieb. Kurz vor Morgengrauen fand ihn eine Ratte.

Im Birkenwald erfror ein Baumläufer in dem Efeu, in dem er nistete, und wurde erst vier Tage später von einer hungrigen Elster dort entdeckt. Zwei Goldhähnchen, die im Unterholz in der Nähe des Schlehdorns ihren Schlafplatz hatten, starben wenige Minuten nacheinander; ihre starren kleinen Leichen lagen nebeneinander im Schnee. In dem gesamten Gebiet begann ein großes Vogelsterben. Am Anfang der Kälteperiode waren wie alljährlich nur die schwachen Tiere auf der Strecke geblieben, doch dieser harten Prüfung erlagen sogar junge, kräftige Vögel.

Die Braunelle kauerte in ihrer Schlafhöhle, mit aufgeplustertem Gefieder und vor die Brust geschlagenen Flügeln. Die Kälte schien sich auf ihre Schädeldecke zu konzentrieren und lähmte beinahe ihr Gehirn. Im Gegensatz zu denmeisten anderen Vögeln im Wald hatte sie jedoch in den letzten beiden Tagen genügend gefressen, so dass ihre Kraft- und Wärmereserven ausreichten, um die Nacht zu überleben. Während sie in ihrer kleinen Grashöhle saß, überliefen von Zeit zu Zeit heftige Schauer ihren Körper. Bis jetzt war sie in ihrem jungen Leben ein einsames, unabhängiges Geschöpf gewesen — sie hatte Artgenossen, die ihr zu nahe kamen, sogar aggressiv abgewehrt. Jetzt aber weckten Schmerz und Angst ein neues, wenn auch noch undeutliches Verlangen in ihr — sie sehnte sich nach tröstlicher Gesellschaft, nach dem Schutz und der Wärme eines anderen Körpers.

Bei Tagesanbruch hüpfte die Braunelle steif aus ihrer Schlafhöhle und setzte sich auf das Ende des Astes. Die Luft war so schneidend kalt, dass sie die Welt durch halb geschlossene Lider hindurch betrachtenmusste. Sie schlug schwach mit den Flügeln, verlor beinahe das Gleichgewicht, richtete sich wieder auf, schlug noch einmal mit den Flügeln, hob ab und flog in den Wald. Nach dem kurzen Flug schwindelte ihr, und als sie auf dem Boden landete, hüpfte sie sofort weiter über den Schnee, um nicht umzufallen. Ihr Körper war steif, und sie musste sich bewegen, um ihre Glieder zu lockern, aber wenn sie nicht bald Nahrung fand, würde sie sich nicht mehr lange bewegen können.

Sie zwang sich, in kurzen Etappen von Baum zu Baum zu fliegen, und rastete jedes Mal ein Weilchen, um Kraft für den nächsten Flug zu sammeln. Endlich tauchte sie aus der Dunkelheit des Waldes auf und setzte sich auf einen kleinen Schlehenstrauch. Die Sonne stieg bereits über den Bäumen und Felsen auf der anderen Talseite empor, aber ihre schwachen Strahlen wärmten nicht. Zu ihrer Linken lag das Farn- und Brombeerdickicht, in demsie in den vergangenen zwei Tagen Nahrung gefunden hatte. Der Fuchs hatte die Schneedecke darüber zum Einsturz gebracht und ihren Futterplatz verschüttet — nun lagen die Samen dort wie überall unter der gefrorenen Kruste begraben. Außerdem assoziierte sie diesen Ort jetzt mit Gefahr, deshalb überflog sie ihn und landete jenseits davon auf dem Schnee. Von hier fiel das hügelige Weideland, ein glitzernd weißes Schneemeer, steil ins Tal ab.

Am Fuß des Hügels gab es eine von Hecken gesäumte Straße. Jenseits der Straße lag ein schmaler Streifen Weideland und dahinter der kleine Fluss, der im Laufe vieler Jahrtausende das Tal geschaffen hatte. Hinter der Baumreihe am anderen Flussufer spiegelte sich die Sonne in den weißen Schornsteinkappen der Darren von Forge Farm. Links von der Braunelle stand, etwas abseits von der Straße, Brook Cottage, und aus den Hecken, die das Anwesen umgaben, tönte das schwache Zwitschern vieler Vögel. Aus dem Schornstein des Hauses stieg eine Rauchfahne empor und verflüchtigte sich in der kalten, ruhigen Luft des Tales zu einem feinen, blauen Dunstschleier.

Diese Gegend lag jenseits des Reviers der Braunelle. Bisher hatte ihr Instinkt sie dazu gezwungen, in der Nähe ihres Schlafplatzes zu bleiben, jetzt aber gewannen zwei noch stärkere Triebe die Oberhand. Sie brauchte Nahrung. In ihrem heimatlichen Revier fand sie keine mehr, doch die Geräusche, die von Brook Cottage zu ihr drangen, verhießen Futter. Und fast ebenso dringend wie Nahrung brauchte sie Gesellschaft.

Lange Zeit hielt die Angst sie zurück. Dann ging in Brook Cottage eine blaue Tür auf und eine Frau trat aus dem Haus. Der Vogellärm verstummte. Ein kleiner, schwarz-weißer Hund schoss aus der Tür und rannte kläffend und nach unsichtbaren Feinden schnappend im Garten herum. Die Frau machte sich an einem großen, hölzernen Gegenstand im Garten zu schaffen. Nach ein paar Minuten kehrte sie zur Tür zurück und rief. Der Hund beendete seine wilde Jagd und lief ins Haus. Die Tür schloss sich. Kurze Zeit herrschte Stille, dann begannen die Vögel zu dem hölzernen Gegenstand zu fliegen. Ihr lautes, aufgeregtes Gezwitscher konnte nur eines bedeuten: Futter.

Noch hielten die einschränkenden Verhaltensmuster ihres bisherigen Lebens die Braunelle zurück. Es war schrecklich für sie, das Bekannte zu verlassen, und sie schrak davor zurück. Schließlich aber übertönte der Ruf von unten ihre Angst und verlieh ihren Flügeln neue Kraft. Sie verließ ihr Revier und flog auf das Unbekannte zu.

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2

Die Braunelle landete auf der Schneedecke der ordentlich gestutzten Hecke von Brook Cottage und beobachtete von dort aus die hektische Betriebsamkeit. In der Mitte des Gartens stand, an einem langen Pflock in die Erde gerammt, ein großer Vogeltisch, auf demsich Samen, Körner und Brotkrümel häuften. Vier Stare und drei Drosseln hielten den Tisch gerade besetzt und fraßen und stritten mit so heftigem Geflatter, dass die hölzerne Stütze schwankte und eine Unmenge Futter auf den Boden fiel. Dort warteten schon Dutzende kleiner Vögel auf den Segen von oben; wenn sie einen Brocken ergatterten, der so groß war, dass sie ihn nicht auf einmal schlucken konnten, flogen sie damit in einen Winkel des Gartens.

Weil jeder Vogel um seinen Anteil kämpfte, war die Luft von scharfen Warn- und Drohrufen erfüllt. Ein Buchfink, der es wagte, auf dem Tisch zu landen, wurde sehr bald vom zustoßenden Schnabel eines Stars vertrieben. Ein Rotkehlchen auf dem Boden war so eifrig damit beschäftigt, das Häufchen Brotkrümel zu seinen Füßen zu verteidigen, dass es gar nicht dazu kam, sie zu fressen. Zwei Amseln patrouillierten auf den unteren Ästen der Hecke, liefen drohend auf kleinere Vögel zu und schüchterten sie so ein, dass sie ihre Beute fallen lassen mussten.

Der Lärm und das wilde Treiben erschreckten die Braunelle, aber sie war so ausgehungert, dass sie sich endlich doch von der Hecke abstieß und auf den zertretenen Schnee hinuntergleiten ließ. Sie hüpfte zu einem Stückchen Brotrinde, nahm es in den Schnabel und flog in den hinteren Teil des Gartens. Unter einem abgebrochenen Kohlstrunk fand sie Zuflucht und begann an der Rinde zu picken und die Krümel zu schlucken. Zwei Grünfinken entdeckten ihr Versteck, sie trillerten und zwitscherten sie zornig an, aber gedeckt durch den Kohlstrunk in ihrem Rücken verteidigte die Braunelle ihr Territorium. Einer der Finken versuchte sie im Flug anzugreifen, aber das überhängende Kohlblatt ließ ihm nicht genügend Platz dafür. Als er landete, senkte die Braunelle den Kopf, breitete die Flügel aus und stürzte sich in so raschen Sprüngen auf ihn, dass es aussah, als liefe sie. Ihre Schnelligkeit und ihre lauten Rufe erschreckten den Angreifer und er schwirrte fort auf die Hecke. Die Braunelle kehrte triumphierend zu ihrer Brotrinde zurück und sah gerade noch, wie der andere Grünfink sie schnappte und zum Haus trug.

Von da an hielt sie sich in der Nähe des Vogeltisches und verschlang jeden kleinen Brocken, den sie erwischen konnte. Zwischen trampelnden Füßen und Krallen hindurch schnappte sie nach Krümeln und Körnern und verfehlte sie oft, weil sie auf unerwartete Angriffe achten musste. Sie war von Natur aus wenig aggressiv, deshalb vergeudete sie ihre kostbare Energie nicht darauf, anderen Vögeln ihre Beute abzujagen. Stattdessen hüpfte sie geduckt herum und schluckte jedes Bröckchen, das die anderen übersahen. Wenn ihr ein Vogel einen Krümel oder ein Körnchen streitig machte, überließ sie es ihm bereitwillig und fand dafür immer etwas anderes, das noch keiner entdeckt hatte.

An diesem Vormittag wurde sie nur zwei Mal vom Futterplatz vertrieben. Beim ersten Mal versteifte sich eine jähzornige Goldammer auf ein Korn, das die Braunelle gerade in den Schnabel genommen hatte. Die Braunelle floh in eine kleine Spalte unter der Holztreppe, die zum Geräteschuppen führte. Die Goldammer folgte ihr zwar nicht, schimpfte aber eine Zeit lang zornig vor der Öffnung und stolzierte wichtigtuerisch auf und ab, um zu zeigen, dass sie die Siegerin war, bevor sie zum Futterplatz zurückflog. Die Braunelle blieb, wo sie war, erholte sich von der Unruhe und dem Lärm und ließ ihrem bereits vollen Magen ein wenig Zeit, die Nahrung zu verdauen.

Bei milderem Wetter wäre sie jetzt zu ihrem Schlafplatz zurückgekehrt und hätte sich erst am Nachmittag wieder auf Futtersuche begeben. Aber während einer Kältewelle wie dieser benötigte ihr Körper täglich mehr als ein Drittel seines Eigengewichts an Futter, allein um die nötige Körpertemperatur aufrechtzuerhalten. Deshalb kehrte sie zu dem Gedränge und Geflatter um den Tisch zurück, sobald ihr Magen wieder aufnahmefähig war. Sie hielt respektvoll Abstand von der Goldammer, doch diese schien ihre Anwesenheit gar nicht zu bemerken.

Am späteren Vormittag fand eine zweite Unterbrechung statt und diesmal betraf sie fast alle Vögel. Mit krächzendem Geschrei tauchte eine Schar Elstern über dem Dach von Brook Cottage auf. Die kleinen Vögel gingen sofort in Deckung. Die Braunelle flüchtete zur Ligusterhecke, drängte sich hindurch und flog den Hügel hinauf in die Sicherheit des Farndickichts.

Die Sonne stand jetzt hoch am Himmel und die Braunelle setzte sich auf die Farnwedel, genoss die Wärme und blickte zum Garten zurück. Mit Ausnahme von ein paar Spatzen und Meisen, die sich noch an den kleinen Drahtkorb voller Nüsse klammerten, der im Apfelbaum vor der Hintertür des Hauses hing, hatten die tyrannischen Elstern inzwischen alle anderen Vögel aus dem Feld geschlagen. Einige standen schwankend und unsicher auf der Tischplatte, aber die meisten hüpften schwerfällig um den Ständer herum und pickten die Futterreste auf. Es gab oft Streit, wenn eine Elster der anderen etwas vor dem Schnabel wegschnappte, damit davonflog und von der kreischenden Rivalin verfolgt wurde.

Zum ersten Mal, seit die Kälte eingesetzt hatte, schien die Sonne so warm, dass der Schnee zu schmelzen begann. Am Dachfirst von Brook Cottage zeigten sich kleine, rote Ziegelflecken, von den Ästen einiger Bäume am Waldrand begann es zu tropfen und eines der wenigen Autos, die den Fahrweg bei Brook Cottage entlangfuhren, hinterließ matschige Reifenspuren in dem festgepressten Schnee. Sogar von einem der äußeren Blätter des Farndickichts glitt schmelzender Schnee auf den Boden, und die Braunelle flog hin, um einige Tropfen Wasser zu trinken.

Als die Elstern schließlich in einem Wirbel weiß leuchtender Flügel und langer Schwänze wieder abzogen, kehrten die kleineren Vögel in den Garten zurück. Die Braunelle gesellte sich zu ihnen, musste jedoch feststellen, dass die Elstern während ihres einstündigen Überfalls das gesamte Futter vertilgt hatten. Der Tisch war leer und in dem aufgewühlten Schnee ringsum war kein Körnchen mehr zu sehen. Gemeinsam mit ein paar anderen Vögeln begann die Braunelle den Schnee geduldig umzupflügen und nach eingetretenen Samen und Krümeln zu suchen. Am späteren Nachmittag wurde es wieder so kalt, dass die meisten Vögel die Suche aufgaben. Der Schnee begann zu knirschen und zu frieren, und als die Sonne unterging, ließ er sich überhaupt nicht mehr bewegen. Zu diesem Zeitpunkt waren nur noch ein paar Stare, ein Rotkehlchen und die Braunelle da. Ihre Ausdauer hatte sich gelohnt — sie war voll gefressen.

Sie flog den Hügel hinauf, am Waldrand entlang, schlüpfte in ihre grasgepolsterte Schlafhöhle und ging zur Ruhe.

Auch in dieser Nacht sank die Temperatur stetig und klirrende Kälte setzte ein. Das durch das viele Futter aufgeheizte Blut der Braunelle kreiste durch ihren Körper und bewahrte sie vor den eisigen Klauen des Frostes. Andere Waldvögel hatten nicht gewagt die Grenzen ihres Reviers zu überschreiten; sie hatten an den vertrauten Plätzen erfolglos nach Nahrung gesucht, zu starr an ihre Gewohnheiten gebunden, um ihre Verhaltensmuster zu ändern und sich den neuen Umständen anzupassen. Viele von ihnen erfroren in dieser Nacht.

Spätabends läutete in Brook Cottage das Telefon. Eve Conrad hatte gerade Koks im Küchenherd nachgelegt, ihn für die Nacht gedrosselt und war schon im Begriff, hinauf ins Schlafzimmer zu gehen.

Der Vizedirektor des Colleges, das ihr Sohn besuchte, brachte ihr die Nachricht schonend bei, ließ sie aber über die Schwere des Unfalls nicht im Unklaren. Daniel hatte an einer Bushaltestelle gewartet, als ein Wagen auf der vereisten Straße ins Schleudern geriet und auf dem Gehsteig landete. Jetzt lag Daniel in einem Krankenhaus in London. Sein linkes Bein und die rechte Schulter waren mehrfach gebrochen und er zwar zwei Stunden lang bewusstlos gewesen. Der Vizedirektor meinte, dass im Augenblick keine akute Gefahr bestehe, aber vielleicht wolle sie doch lieber bei ihrem Sohn sein?

Fünf Minuten später sperrte Eve das Haus zu und hob ihren kleinen, schwarz-weißen Yorkshireterrier Teddy hoch. Ihre Schuhe knirschten auf dem gefrorenen Schnee, als sie den Weg hinunterging. Sie redete Teddy beruhigend zu, während sie den Fahrweg einschlug; dann wandte sie sich nach rechts und stieg die holprige Zufahrt hinauf, die nach Little Ashden und Forge Farm führte. Sie überquerte die klobige Holzbrücke, unter der der kleine Fluss schwarz und kalt dahinströmte, und stellte erleichtert fest, dass im Erdgeschoss von Little Ashden noch Licht brannte.

Die Schleiereule, die schweigend auf einer Birke am Fluss saß, beobachtete sie, als sie vorüberging. Sie sah, wie Eve an der Tür von Little Ashden klingelte. Sie sah die Tür aufgehen und hörte das kurze, erregte Gespräch zwischen Eve Conrad und Mary Lawrence. Sie sah, wie Mary sanft Eves Arm berührte, den Hund ins Haus einließ und die Tür schloss. Ohne zu blinzeln, beobachtete die Eule noch, wie Eve die Straße hinunterging, dann wurde ihre Aufmerksamkeit von etwas Kleinem, Schwarzem gefesselt, das sich am Flussufer bewegte. Das Geschöpf verkroch sich in einem Loch.

Die Eule starrte immer noch unverwandt auf das Loch, als sie ein metallisches, durchdringendes Geräusch vernahm. Ihr Kopf fuhr herum, weil sie die Ursache des Geräusches suchte, und sie schaute über den Fluss, den schmalen Streifen Weideland und die Straße hinweg zu Mrs Conrads baufälliger Garage, deren Tür offen stand. Der Motor des Wagens heulte auf, schien zunächst in Schwung zu kommen, hustete und starb ab. Ein neuerliches Aufheulen, der Motor sprang an und lief dröhnend weiter, als Mrs Conrad Gas gab.

Die Scheinwerfer wurden aufgeblendet; die Eule blinzelte undwandte den Kopf ab. Das Auto fuhr langsam den Hang hinunter und bog nach links auf die Straße ein. Einen Augenblick lang drehten die Räder auf der vereisten Oberfläche durch und der Wagen schleuderte ein wenig.

Eve Conrad beschloss lieber sofort weiterzufahren, als stehen zu bleiben und das Garagentor zu schließen. Das Scheinwerferlicht wurde von den verschneiten Hecken zurückgeworfen und streifte kurz die gespenstische Gestalt der Eule, die rasch über die Straße flog. Eve legte den zweiten Gang ein und rollte langsam auf das ferne Dorf und die Hauptstraße zu.

Das Dröhnen des Motors, das quer durch das Tal hallte, hatte die Braunelle in ihrem Schlehdornbusch geweckt. Sie bewegte sich, plusterte ihr Gefieder und drückte sich tiefer in das trockene Gras.

Am nächsten Morgen blieb sie lang in ihrer Schlafhöhle sitzen, um die ersten kalten Stunden zu übertauchen, ehe die Sonne über die Hügel emporstieg. Auch damit verstieß sie gegen die Routine ihres bisherigen Lebens, aber sie hatte schon gelernt, dass es bei dieser Kälte schwierig war, am frühen Morgen Futter zu finden. Sie putzte ihr Gefieder sorgfältig, und als die ersten Sonnenstrahlen durch die Bäume fielen, flog sie direkt nach Brook Cottage.

Als sie dort eintraf, wimmelten die Hecken bereits von Vögeln. Sie setzte sich auf den Drahtzaun, der die Gemüsebeete vom vorderen Teil des Gartens abtrennte. Einige besonders hungrige Vögel suchten im Schnee nach Futterresten vom Tag vorher, fanden jedoch nichts. Das Gezwitscher um sie wurde immer aufgeregter und die Braunelle stimmte mit ein, um so ihrer wachsenden Besorgnis Luft zu machen, als kein frisches Futter auftauchte.

Die Zeit verging, die Spannung nahm zu und hier und dort brachen erbitterte kleine Auseinandersetzungen aus. Aus den Gesängen der Vögel klang Feindseligkeit, es kam zu kampflustigem Gekreisch und Verfolgungsjagden. Flügel wurden drohend ausgebreitet und Schnäbel warnend aufgesperrt. Die Braunelle spürte diese bedrohliche Welle der Gehässigkeit und war beunruhigt. Sie flog hinter das Haus und setzte sich auf die Hecke im Vorgarten — nahe genug, um am Tonwechsel der Gesänge erkennen zu können, ob Futter eingetroffen war, und zugleich weit genug von den momentanen Kämpfen entfernt.

Von der Hecke aus verfolgte sie den Flug eines Turmfalken über das Tal. Er war einer der wenigen Vögel, die nicht unter dem Wetter litten — im Gegenteil, die Kälte hatte Nagetiere und kleinere Vögel schwächer und unvorsichtiger gemacht. Jetzt hielt er gemächlich entlang der Telegrafenleitung, die parallel zum Fluss über das Feld verlief, nach Beutetieren Ausschau. Die Braunelle sah zu, wie er von Telegrafenmast zu Telegrafenmast flog und dann plötzlich auf den Boden hinunterstieß. Er hatte etwas erspäht. Einen Augenblick später kreiste er wieder in der Luft und suchte rüttelnd die Beute, die er beim ersten Angriff verfehlt hatte. Dann stieß er nochmals im Sturzflug hinunter. Diesmal blieb er unten.

Ein kleiner, roter Lieferwagen zuckelte langsam den Fahrweg entlang. Die Räder holperten über die Schneefurchen, als der Briefträger in die Zufahrt einbog und anhielt. Er stieg aus und ging zu Fuß nach Little Ashden und Forge Farm weiter. Der Motor des Lieferwagens tuckerte im Leerlauf und die Braunelle nahm den scharfen, öligen Geruch von Auspuffgasen wahr. Sie würde diesem Geruch noch oft begegnen, aber heute spürte sie zum ersten Mal seine beißende Schärfe in ihren Lungen.

Der Briefträger bog in den Zufahrtsweg nach Brook Cottage ein. Die Braunelle duckte sich und beobachtete ihn schweigend und regungslos, als er den Gartenweg hinaufging und einen Brief durch eine Klappe in der Tür schob. Dann trat er zurück und betrachtete das Haus. Gewöhnlich wurde er von lautem Gekläff begrüßt, wenn der Yorkshireterrier in den Vorraum stürzte, entschlossen, jeden Eindringling zu vertreiben. Heute blieb alles still und der Briefträger wunderte sich. Die Leute auf diesem Teil seiner Rundewaren alte Freunde, die ihn oft zu einer Tasse Tee und einem kleinen Schwatz einluden. Mrs Conrad betrachtete er als seinen besonderen Schützling, seit sie ihren Mann so plötzlich verloren hatte und Daniel aufs College ging. Er klingelte und trat dann noch einmal zurück, um zum Schlafzimmerfenster hinaufzuschauen. Der Vorhang war zurückgezogen, also musste sie schon aufgestanden sein. Dann bemerkte er die leere Garage. Bei diesem Wetter fuhr sie bestimmt nur fort, wenn es unbedingt notwendig war. Er ging schnell nach Little Ashden zurück — Mrs Lawrence wusste bestimmt, ob etwas geschehen war.

Die Benzindämpfe verpesteten weiterhin die klare Winterluft, und als der Briefträger fünf Minuten später zum Lieferwagen zurückkehrte, hatte sich unter dem Auspuff bereits ein schwarzer Fleck gebildet. Der Briefträger stieg ein und fuhr los. In ihrem Versteck in der Hecke rückte die Braunelle unruhig hin und her, als das rote Auto an ihr vorbeidröhnte. Als es weg war, flatterte sie von Zweig zu Zweig, bis sie ganz oben auf der Schneeschicht stand.

Sie blickte zum Fahrweg hinüber und sah eine Amsel, die von einer Erle herunterflog und in einer der Furchen, die der Wagen des Briefträgers im Schnee hinterlassen hatte, an etwas pickte. Die Leere im Magen der Braunelle machte sich schmerzhaft bemerkbar und sie flog die Hecke entlang in den Garten hinüber. Der Tisch war immer noch leer.

Panische Angst trat an die Stelle des Hungers und zehrte an ihren Kräften. Sie wurde zusehends schwächer; sie befand sich in einem fremden Revier, umgeben von Vögeln, die jeden Augenblick zum Angriff übergehen konnten. Sie duckte sich, fast schon entschlossen, in ihre alte, vertraute Welt zurückzufliegen. Da ertönte hoch über dem zornigen Gezwitscher der Vögel um sie her der Gesang eines Artgenossen. Sie legte den Kopf schief und lauschte.

Das Lied, das da in rascher Folge wiederholt wurde, schien von der anderen Seite der Straße zu kommen. Obwohl es so leise war, konnte sie seine Aufforderung und seine Botschaft nicht überhören. Die ersten Töne der eindringlichen Melodie klangen herausfordernd und warnend und erfüllten sie mit Angst. Doch am Ende jeder Strophe folgten drei sanfte, bittende, zärtliche Töne. Als das Lied schließlich verklang, hallten diese drei Töne noch in ihrem ganzen Körper nach, bezauberten und lockten sie.

Sie flog zur Hecke, die die Einfahrt säumte, und wartete dort einen Augenblick. Der Fahrweg war eine Grenze, die sie endgültig von ihrer bekannten Welt trennen würde; die Hecke auf der anderen Seite war ein fremdes Land voll drohender Gefahren. Zwei Mal breitete sie zögernd die Flügel aus, als wollte sie abfliegen, ehe sie sich beim dritten Mal schließlich in die Luft erhob und wie an einer unsichtbaren Mauer beinahe senkrecht emporstieg. Etwa siebzehn Meter über dem Boden hielt sie an und stieß dann beim Hinabgleiten eine Reihe schneller Rufe aus. Sie landete auf der gegenüberliegenden Hecke, dort, wo der Weg nach Little Ashden und Forge Farm abbog. Die Braunelle hatte die Grenze überschritten.

Sie flog die Zufahrt entlang, landete erst auf dem kleinen, weißen Tor, das zum langen Streifen Weideland führte, dann auf dem Holzgeländer der Brücke, dann auf den verrosteten Eisenpfählen des niedrigen Zauns gegenüber von Little Ashden. Teddy lag betrübt auf dem breiten Fenstersims, starrte durch die Scheiben und hoffte seine Herrin zu erspähen. Er sah, wie die Braunelle landete, und sprang kläffend auf. Sein Atem beschlug die kalte Fensterscheibe, und seine Nase hinterließ einen runden dunklen Fleck in der weißlichen Nebelschicht, die er durch sein Gebell erzeugte. Theo Lawrence, der vor dem Feuer saß und las, rief ihn freundlich zu sich. Teddy vergaß die Braunelle sofort, sprang auf den Boden und lief zum Lehnstuhl. Theo hob die Zeitung hoch, und Teddy sprang auf seinen Schoß, wo er sich behaglich niederließ.

Die Braunelle flog weiter, ließ die Zufahrt hinter sich und flog quer über das Feld bis zum Fluss hinüber. Dort setzte sie sich auf einen niedrigen Busch in der Nähe des Ufers und rief. Es kam keine Antwort, nur der Fluss donnerte über die fünf Steinstufen des Wehrs hinunter. An beiden Ufern waren die herunterhängenden Äste der Bäume, so weit das hochspritzende Wasser sie erreichte, von einer Eisschicht überzogen. Das Sonnenlicht brach sich darin in allen Regenbogenfarben.