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Dorothea Faller, Kurt Faller

Achtsames Management

Führungskompetenzen in Zeiten hoher Komplexität

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Mit einem Vorwort von Prof. Dr. Rudolf Wimmer und Beiträgen von

© Wolfgang Metzner Verlag, Frankfurt am Main 2018

Lektorat Jürgen Heim, Berlin

Umschlagabbildung © sorbetto – iStock.com

eISBN 978-3-943951-78-3

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Inhalt

Vorwort

Einleitung

1. Führung im Umbruch

1.1 Neue Anforderungen

1.2 Die Macht der traditionellen Muster

1.3 Musterwechsel

2. Aktuelle Entwicklungen

2.1 Die Diskussion um die »nächste Gesellschaft«

2.2 Die Diskussion um Industrie und Arbeit 4.0

2.3 Schwarze Schwäne und die Forderung nach Antifragilität

2.4 Die Erwartungen der Generation Y

3. Moderne Konzepte für Führung und Zusammenarbeit

3.1 Orientierung

3.1.1 Ganzheitliche Betrachtung – der systemische Ansatz

3.1.2 Von mehreren Seiten – triadisches Denken

3.2 Haltung

3.2.1 Sozialisierte Macht

3.3 Werte

3.3.1 Das Prinzipienmodell der Führung

3.4 Lernen

3.4.1 Lernende Organisation – Das Konzept von Peter M. Senge

3.4.2 Die Steigerung der Lernfähigkeit von Organisationen – eine Präzisierung von Rudolf Wimmer

3.5 Achtsamkeit

3.5.1 Der personale Ansatz von Achtsamkeit

3.5.2 Der sozialpsychologische Ansatz von Achtsamkeit

3.5.3 Der organisationsbezogene Ansatz von Achtsamkeit

3.6 Struktur

3.6.1 Führen in einem Netzwerk interagierender Gruppen

3.6.2 Die evolutionäre Organisation

4. Musterwechsel durch moderne Mediation

4.1 Führungskräfte als Mediatoren

4.1.1 Mitarbeitende beteiligen

4.1.2 Umgang mit Kontrolle

4.1.3 Sensibilität für Abläufe und Beziehungen

4.1.4 Einordnung von Konflikten

4.2 Entwicklung der Mediation

4.2.1 Die europäische Geschichte der Mediation

4.2.2 Der Schritt von der personenorientierten zur organisationsorientierten Mediation

4.2.3 Systemische Mediation

4.2.4 Das Bochumer Konzept

4.3 Der organisationale Blick auf Konflikte

4.3.1 Gute Arbeit

4.3.2 Anerkennung

4.3.3 Systemische Einordnung sozialer Konflikte

4.3.4 Funktionale und dysfunktionale Konflikte

4.3.5 Konfliktkosten

4.4 Praxisbeispiel

4.5 Die Führungskraft in der innerbetrieblichen Konfliktbearbeitung

4.5.1 Grundlagen der innerbetrieblichen Konfliktbearbeitung

4.5.2 Kooperation im Prozess der innerbetrieblichen Konfliktbearbeitung

4.5.3 Kooperative Auftragsgestaltung in der Vorphase / Pre-Mediation

4.5.4 Kooperation in der Mediation

4.5.5 Kooperation in der Konsolidierungsphase

4.6 Systemisches Konfliktmanagement

4.6.1 Was ist Systemdesign?

4.6.2 Die Verbindung von Mediation und Organisationsentwicklung im Systemdesign

4.6.3 Orientierung am Bestehenden und Erweiterung durch Mediation

4.7 Das Konzept der META-Mediation

5. »Mindful Management« – ein triadisches Konzept Achtsamen Führens

5.1 Selbstführung

5.1.1 Selbstreflektion

5.1.2 Soziale Achtsamkeit

5.1.3 Lernen

5.2 Mindful Leadership

5.2.1 Mit Komplexität umgehen – Das Ziehharmonika-Prinzip

5.2.2 Sensibilität für Abläufe und Beziehungen entwickeln – Das Kongruenz-Prinzip

5.2.3 Kompetenz fördern

5.2.4 Selbstbestimmung ermöglichen

5.2.5 Mit Leitplanken führen

5.3 Organisationale Achtsamkeit

5.3.1 Achtsame Kommunikationsstrukturen

5.3.2 »Weiche« Managementsysteme

5.3.3 Werteorientierte und sinngebende Unternehmenskultur

6. Die transformative Weiterentwicklung der Führungskultur

6.1 Transformationslernen

6.1.1 Wirkungsunsicherheit

6.1.2 Theorie und Praxis

6.1.3 Ebenen des Lernens

6.2 Entwicklungsdesign für die Weiterentwicklung der Führungskultur

6.3 Praxisbericht 3 »Führung im Dialog«

6.3.1 Herausforderungen

6.3.2 Der strategische Prozess der Salus gGmbH

6.3.3 Umsetzungsschritte – Meilensteine des Veränderungsprozesses

6.3.4 Zusammenfassung

6.4 Die »Lehr-Lern-Schleife« als gemeinsame Orientierung

7. Techniken des achtsamen Managements

7.1 Techniken systemischer Gesprächsführung

7.1.1 Fragend führen

7.1.2 Das Neun-Felder-Modell® als Instrument professioneller Gesprächsführung

7.1.3 Feedback – Grundlagen

7.1.4 Verhandeln

7.2 Techniken der Selbstführung

7.2.1 Selbsteinschätzung der Führungsmotivation

7.2.2 Selbsteinschätzung der Führungskompetenzen

7.2.3 Feedback für die Führungskraft

7.2.4 Übung »Screenshot«

7.3 Techniken mediativer Mitarbeiterführung

7.3.1 Feedback im Mitarbeiterjahresgespräch

7.3.2 Feedback in Anlassbezogenen Mitarbeitergesprächen

7.3.3 Teamfeedback

7.4 Techniken zur Analyse von Komplexität

7.4.1 Stakeholdermodell

7.4.2 Systemzeichnung

7.4.3 Spinnwebanalyse

7.4.4 Umgang mit komplexen Konflikten – Anwendung der Triade

7.5 Techniken zur organisationalen Konfliktbearbeitung

7.5.1 Analyse der Organisationskultur

7.5.2 Lesen von Widerstand

7.5.3 Der strukturierte Klärungsidalog – ein Instrument, mit Machtverhältnissen in Konflikten mediativ umzugehen

Literaturverzeichnis

Index

Vorwort

Prof. Dr. Rudolf Wimmer

Unsere Welt ist ziemlich aus den Fugen. Neuartige Konfliktlinien und die damit verbundenen kriegerischen Auseinandersetzungen halten die Welt in Atem. Ihre Schockwellen sind inzwischen unmittelbar im Herzen Europas angekommen und werden von dort so rasch auch nicht wieder verschwinden. Das Thema Sicherheit steht deshalb aktuell ganz oben auf der politischen Agenda. Diese gesamtgesellschaftliche Großwetterlage zieht so viel öffentliche Aufmerksamkeit auf sich, dass ein anderes Phänomen vergleichsweise in den Hintergrund gerät. Auch in unseren Organisationen hat sich die Konfliktdynamik deutlich verschärft. Dies zeigt sich vielleicht gar nicht so sehr an zunehmenden Arbeitskämpfen, obwohl diese in manchen Bereichen durchaus auch noch ganz erbittert ausgetragen werden. Die Symptome sind vielfach subtilerer Natur und entfalten sich eher auf der Ebene der beteiligten Personen, an Hand ihrer Motivationslage, an Überlastungs- und Erschöpfungszuständen und vergleichbaren psychosomatischen Phänomenen. Die damit verbundenen Konfliktkosten sind erheblich, wenn auch vielfach nur dem geschulten Auge zugänglich.

In der professionellen Auseinandersetzung um ein zukunftsfähiges Verständnis von Führung und Beratung findet die Dimension »Konflikte« im Kontext von Organisationen in der Zwischenzeit durchaus große Beachtung. In kaum einem Programm zur Führungskräfteentwicklung fehlt die gezielte Bearbeitung von Konflikten. Es zählt heute zum »common sense«, dass das achtsame Managen von Konflikten zur Schlüsselaufgabe von Führung gehört. Eine ganz andere Frage ist allerdings, ob dieses verbreitete Problembewusstsein in der Alltagspraxis unserer Organisationen bereits einen Niederschlag findet. Im Feld der prozessorientierten Organisationsberatung hat sich rund um das Konfliktthema eine eigene professionelle Spezialisierung, die Mediation, ausdifferenziert, mit inzwischen gut beschriebenen Vorgehenskonzepten, professionellen Standards, Ausbildungsangeboten, Tagungen, etc. Das vorliegende Buch ist ein hervorragender Ausdruck dieses gelungenen Professionalisierungsweges.

All diesen Entwicklungen liegen weitreichende Veränderungen unserer Organisationen zugrunde. Im klassischen Organisationsverständnis galten Konflikte als ungewollte und deshalb zu vermeidende Störfälle. Die Hierarchie sorgte per se für Entscheidbarkeit und damit für Formen der Kooperation, in denen auf der Ebene der formellen Kommunikation potentielle Konflikte gar nicht erst aufkommen konnten. Die Mitgliedschaftsrolle inkludierte eine generelle Unterwerfungsbereitschaft gegenüber den jeweiligen Vorgesetzten, denen die Hierarchie zudem Machtquellen an die Hand gab, diese Bereitschaft auch entsprechend zu »fördern«.

Diese tradierten Organisationsverhältnisse, die das 20. Jahrhundert noch weitestgehend geprägt haben, sind in der Zwischenzeit kaum noch anzutreffen. Unsere Organisationen und hier insbesondere Wirtschaftsorganisationen sahen sich in den letzten Jahrzehnten gezwungen, die relativ einfachen hierarchischen Differenzierungsformen zu verlassen, um ihre eigene Antwortfähigkeit mit Blick auf die sich dramatisch verändernden Umwelten immer wieder von neuem sicherzustellen. Mit dieser Veränderungsdynamik, die gerade mit der Digitalisierung einen neuen, bislang ungeahnten Schub erfährt, ist organisationsintern ein Niveau an Eigenkomplexität gewachsen, das radikal andere Formen der Koordination und Kooperation erforderlich macht. Die heute anzutreffenden wesentlich komplexeren, organisationsinternen Differenzierungsformen versuchen eine sehr viel größere Vielfalt von Zielen der unterschiedlichsten Anspruchsgruppen aus den relevanten Umwelten organisationsintern bearbeitbar zu machen, als das früher der Fall war. Die rasanten technologischen Innovationen treiben diese Entwicklungen mit großer Wucht voran. Organisationsintern wird damit ein weitreichender Funktionswandel des hierarchischen Ebenenunterschiedes, des Führungsverständnisses und vor allem des Verhältnisses der einzelnen Funktionsträger zu ihrer Organisation vorangetrieben. Die Leistungsfähigkeit heutiger Organisationen ist in einem noch nie dagewesenen Ausmaß darauf angewiesen, die unabhängige Urteilskraft und Selbstverantwortung jedes einzelnen Beschäftigten zu ermutigen und zu fördern. Jeder steht heute unter dem Erwartungsdruck, sich selbst aus der eigenen Verantwortung heraus ein eigenständiges Bild von der jeweiligen Situation zu machen und die damit zum Ausdruck kommende Expertise in die laufenden Entscheidungsprozesse selbstbewusst einzubringen. Gleichzeitig schaffen die deutlich gewachsenen Komplexitätsbedingungen ein unglaubliches Maß an Abstimmungsnotwendigkeiten, weil erfolgreiches Arbeiten eine Vielzahl von Abhängigkeiten zwischen den unterschiedlichen Funktionseinheiten und Akteuren gestiftet hat. Es geht also heute um das Managen von Kooperationsbeziehungen, die auf diesem besonderen Typus von Abhängigkeit von an sich relativ autonomen Einheiten (das können Einzelpersonen, Teams, Bereiche sein) beruhen. Hier versagen die tradierten Koordinationsmechanismen über Weisungen, Vorgaben von oben, über rigide Planungsprozesse, etc. Erfolgreiche Abstimmung ist heute das Ergebnis von subtilen Aushandlungsprozessen, in denen die Perspektivenvielfalt der Beteiligten einfließen kann und miteinander Lösungen produziert werden, die mit Blick auf die Leistungsfähigkeit des größeren Ganzen optimiert sind.

Solche Prozesse benötigen den Dissens, das dezidierte Nein, als produktiven Faktor. Nur darüber lässt sich bei komplexen Entscheidungsgrundlagen, denen eine Vielzahl von eingebauten Widersprüchen zugrunde liegt, die erforderliche dezentrale Intelligenz mobilisieren. Der Schritt vom Dissens zum veritablen Konflikt ist jedoch, wie wir alle wissen, ein ganz kleiner. Sobald relevante Interessen berührt oder gar bedroht sind, verschärfen sich die Gegensätze. Diese stimulieren Selbstbehauptungs- und Durchsetzungsstrategien, die aus jeder Position heraus absolut legitim sind, aber aufgrund der wechselseitigen Abhängigkeiten auf eine Fortsetzung der Konfliktdynamik drängen. In ihrer eigendynamischen Selbstverstärkung entfalten sich Konflikte als energiebindende und energieverzehrende »Parasiten« (Luhmann) am sozialen System, häufig mit einer fatalen Tendenz zur Chronifizierung.

Im Umgang mit Konflikten haben wir es heute also mit einer ganz bedeutsamen Paradoxie zu tun. Die inzwischen realisierten Organisationsverhältnisse produzieren unvermeidlicher Weise ständig eine Vielzahl von Konfliktsituationen, die es für das Finden von guten Entscheidungen und tragfähigen Lösungen immer wieder von neuem fruchtbar zu machen gilt. Gleichzeitig bergen sich verselbständigende Konfliktdynamiken ein hohes Gefährdungspotenzial in sich; nicht zuletzt deshalb, weil das klassische Konfliktbewältigungsrepertoire der Hierarchie weitgehend verschwunden ist. Für den Umgang mit dieser Paradoxie tun wir gut daran, Konflikte als organisationale »Immunreaktion« zu verstehen, die an der fortschreitenden Emotionalisierung der beteiligten Akteure gut abzulesen ist. Es ist dies eine Reaktion auf ein zunächst unverstandenes Resonanzphänomen, dem genauer auf die Spur zu kommen sich in jedem Falle aber lohnt. Dass mit dieser gezielten und bewusst proaktiven Konfliktbearbeitung hohe Ansprüche an die persönliche wie soziale Kompetenz von Führungskräften verbunden sind sowie an all jene, die solche Prozesse als Mediatoren begleiten, kann jeder gut nachvollziehen, der selbst schon in solchen Konfliktkonstellationen gesteckt hat. Bei wem ist das nicht der Fall?

Das vorliegende Buch bietet Orientierung auf ganz unterschiedlichen Ebenen. Ihm gelingt dies, indem es eine bewundernswerte Kenntnis der einschlägigen Literatur mit einer enorm reichhaltigen, jahrzehntelangen Praxiserfahrung auf kluge Weise verbindet.

Wien, November 2016

Einleitung

Wir leben und arbeiten in einer spannenden, aber auch von großen Widersprüchen geprägten Zeit. In Europa, gerade in Deutschland, geht es den Menschen so gut wie noch nie in der Geschichte. Die technisch-ökonomische Entwicklung und vor allem die digitale Revolution schaffen enorme Möglichkeiten, in neuen Formen zu arbeiten und sich ständig weiter zu entwickeln. Bildung und Ausbildung sind selbstverständlich. Arbeit und Leben lassen sich besser als in früheren Zeiten verbinden.

Gleichzeitig sind Arbeit und wirtschaftliches Handeln mit hoher Unsicherheit und hoher Komplexität konfrontiert. Krisen, Konflikte und institutionelles Versagen bestimmen die öffentliche Debatte und schaffen ein Klima von Angst und Lähmung.

Es ist überdeutlich, dass neue Technologien, neue Formen der Arbeit und die Globalisierung immer beides beinhalten: große Chancen und hohe Verluste. In den sich schnell entwickelnden Märkten gibt es oft nur kurze Zeitfenster, um Möglichkeiten zu nutzen. »Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben« – so der berühmte Satz von Michail Gorbatschow.

Diese gesamtgesellschaftlichen und gesamtwirtschaftlichen Widersprüche sind auch in der alltäglichen Arbeit in Organisationen und Unternehmen spürbar. Begeisterung und Engagement für die neuen Möglichkeiten sowie Angst und Sorge vor möglichen Gefahren liegen nah beieinander und schaffen Konflikte zwischen Führungsebenen, in Teams und Belegschaften. Dabei wird die Frage, wie Führungskräfte in Unternehmen und Organisationen mit Konflikten umgehen, immer wichtiger. Denn Konflikte im Arbeitsleben haben ein Janus-Gesicht. Auf der einen Seite sind sie unangenehm, stören die Arbeitsabläufe und verursachen Kosten. Auf der anderen Seite sind sie wichtige Signale, dass etwas nicht (mehr) stimmt und verändert werden sollte. Je früher Konflikte in der Organisation erkannt, erfasst und bearbeitet werden, umso hilfreicher sind sie für die Weiterentwicklung. Früherkennung und mediative Bearbeitung von Konflikten werden so zu Schlüsselkompetenzen von Führungskräften.

Seit 20 Jahren sind wir als Wirtschaftsmediatoren in der konkreten Bearbeitung von Konflikten in Organisationen, als Berater und Coaches in der Begleitung und Entwicklung von Führungskräften und als Lehrmediatoren in der Ausbildung von Mediatoren tätig. Dabei haben wir immer wieder beobachtet, dass die Dynamik in Arbeitskonflikten durch die obengenannten tieferliegenden Widersprüche beeinflusst wird. Alle Menschen in Organisationen wollen gute Arbeit leisten und wünschen sich Wertschätzung und Anerkennung. Aber oft ist nicht (mehr) eindeutig, was unter den aktuellen Bedingungen gute Arbeit bedeutet und was die Kriterien für Anerkennung sind. Die veränderten Umfeldbedingungen zeigen, dass viele der bisherigen Regeln und Herangehensweisen nicht mehr greifen oder sogar hinderlich sind, neue Formen aber noch nicht gefunden wurden. In der konkreten Konfliktbearbeitung stellten wir fest, dass diese darunterliegenden, in der Regel nicht thematisierten Strömungen Konflikte verschärften oder überraschend zur Lösung beitrugen.

Wir begannen, diese Fragen intensiver mit Kunden und Studierenden zu diskutieren. In diesen Gesprächen wurde uns deutlich, dass die hohe Ambivalenz dieser allgemeinen Umbruchsituation sich vor allem auf die Arbeit von Führungskräften auswirkt. Wir hörten immer wieder, dass gerade viele der zukunftsorientierten Führungskräfte sich geradezu zerrissen fühlten zwischen den neuen Anforderungen und den traditionellen, oft unhinterfragten Mustern in der Führungskultur des Unternehmens. Dadurch entstanden für viele Führungskräfte schwer zu bewältigende Dilemma-Situationen. Das am häufigsten genannte Dilemma bestand in der Anforderung, einerseits Eigenverantwortung und Selbständigkeit von Mitarbeitern zu fördern und andererseits in der – zumeist unausgesprochenen – Erwartung, alles im Griff zu haben und Kontrolle zu sichern.

Die Bearbeitung derartiger Dilemmata nahm in Gesprächen in Unternehmen und vor allem in Ausbildungskursen immer größeren Raum ein. Wir begannen, uns stärker theoretisch mit dieser Umbruchsituation im Führungsverhalten zu beschäftigen und stellten fest, dass die Auseinandersetzung mit Mediation, systemischer Gesprächsführung und systemischer Organisationsberatung vielen Führungskräften half, mit den alltäglichen Widersprüchen besser umzugehen. Diese teils überraschenden Erfahrungen spornten uns an, Zusammenhänge genauer zu hinterfragen. So entstand vor fünf Jahren die Idee zu diesem Buch. Wir nutzten diese Zeit, uns intensiv mit den aktuellen Management-Konzepten auseinanderzusetzen, diese Erkenntnisse mit unseren bisherigen Erfahrungen in der Arbeit mit Führungskräften zu verbinden und neue Ideen zu entwickeln. Vieles konnten wir in Trainings bei Führungskräfteentwicklungen umsetzen und damit praktische Erfahrungen sammeln. Wir begannen, aus der Verbindung von modernen Managementkonzepten, systemischer Organisationsberatung und organisationsorientierter Mediation eigene konzeptionelle Ansätze zu entwickeln und zu erproben. Für die allseits geforderte Veränderung von Führung stehen für uns die Begriffe Achtsamkeit, Kommunikation und Umgang mit Konflikten im Zentrum dieser drei Entwicklungslinien.

So werden in Kapitel 1 als Ausgangssituation die neuen Anforderungen an Führungskräfte und die wesentlichen traditionellen Muster dargestellt. Dadurch ergibt sich ein erster Blick auf die konkreten Formen eines möglichen Musterwechsels. Die existentielle Bedeutung dieses Musterwechsels für Unternehmen wird in Kapitel 2 hervorgehoben. In Kapitel 3 werden Konzepte für Führung und Zusammenarbeit vorgestellt, die uns in unserer Entwicklungsarbeit besonders berührt und fasziniert haben. In Kapitel 4 stellen wir unsere Erfahrungen in Praxis und Lehre für eine organisationsorientierte Mediation dar. In Kapitel 5 verbinden wir diese Entwicklungslinien zu einem triadischen Konzept »Achtsames Führen«. Diese Synthese von modernen Management-Konzepten und organisationsorientierter Mediation bezieht sich auf drei Ebenen:

die Ebene der Selbstführung – »leading self«

die Ebene der Leadership – »leading others«

die Ebene der organisationalen Achtsamkeit – »leading organisations«.

Eine Anwendung dieser Ansätze in Prozessen der Führungskräfteentwicklung zeigt Kapitel 6. Eine praktische Beschreibung für eine transformative Weiterentwicklung der Führungskultur zeigt der Bericht aus der Salus gGmbH in Magdeburg.

In Kapitel 7 werden konkrete Techniken und Übungsansätze zur systemischen Gesprächsführung und Feedback, zu Selbstführung, zu mediativer Mitarbeiterführung und zum Umgang mit Komplexität dargestellt.

Dieses Buch streift viele theoretische Felder, aber es ist aus praktischen Erfahrungen in der Begleitung von Führungskräften entstanden und für die Praxis geschrieben. Es richtet sich daher vor allem an Führungskräfte und Personalentwickler, aber auch an Berater und Mediatoren.

Wir möchten uns bei allen Führungskräften, Kolleginnen und Kollegen, Studierenden und Alumnis bedanken, die uns durch Gespräche, Kritik und Hinweise unterstützt haben.

Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird im Text die männliche Form benutzt und von der Führungskraft usw. gesprochen. Selbstverständlich sind hier alle weiblichen Rollenträgerinnen eingeschlossen.

Münster, September 2017

Dorothea Faller

Kurt Faller

1. Führung im Umbruch

Moderne Unternehmen und Organisationen brauchen Führung. Um mit unterschiedlichen Professionen in komplexen Arbeitsprozessen Ergebnisse zu erzielen, müssen Führungskräfte Entscheidungen treffen, Prozesse koordinieren und tragfähige Antworten auf Veränderungen finden. Je komplexer gesellschaftliche Veränderungen, technologische Entwicklungen und Differenzierungen in Strukturen, Abläufen und Kommunikation in den Unternehmen werden, umso wichtiger wird gute Führung. Was aber heißt »gute Führung«? Darüber wird in Organisationen und den sie begleitenden Wissenschaften heftig diskutiert. Übereinstimmung besteht in nahezu einhelligen Anforderungen für verändertes Führungsverhalten. Doch genauso offensichtlich sind die Probleme, diese Erkenntnisse in der praktischen Führungsarbeit in Organisationen umzusetzen.

Zum Einstieg wird der Umbruch im Führungshandeln an einem konkreten Beispiel dargestellt, das Dilemma von Führungskräften zwischen neuen Anforderungen und traditionellen Mustern geschildert und der notwendige Musterwechsel im Führungshandeln begründet. Dazu begleiten wir ein Unternehmen, die Hartmann GmbH.

»So kann es nicht weitergehen« – Standortbestimmung in der Hartmann GmbH:

»Was machen wir denn nun an den zwei Tagen, die wir uns für die Klausur und die Standortbestimmung vorgenommen haben?« meinte Martin Hartmann skeptisch und sah seinen Bruder Klaus an. »Ich finde es auch schön hier und teile deinen Vorschlag, außerhalb der Firma einmal grundsätzlich gemeinsam zu überlegen, wie es weitergehen soll. Aber gleichzeitig habe ich mindestens fünf Themen auf dem Schreibtisch, die heute oder morgen geklärt werden sollten.«

Nach längerer Diskussion hatten Klaus und Martin Hartmann, gleichberechtigte Geschäftsführer der Hartmann GmbH, einen gemeinsamen Termin mit einer Beraterin, die das Unternehmen schon länger begleitete, in einem Tagungshotel vereinbart.

Die Hartmann GmbH ist ein mittelständischer Betrieb mit ca. 560 Mitarbeitenden, der hochspezialisierte elektronische Antriebe für Industriestraßen entwickelt und produziert. Die Firma wurde vom Senior Heinrich Hartmann in den 70er Jahren gegründet. Mit seinem kaufmännischen Hintergrund und einem kleinen Team kompetenter Techniker und Konstrukteure gelang es ihm, die Firma innerhalb von 10 Jahren zu einer respektablen Größe mit 250 Mitarbeitenden aufzubauen und deutschlandweit führender Hersteller dieser Antriebe zu werden. Nach der Pionierphase, in der alle Mitarbeitenden in die meisten Prozesse einbezogen waren, erkannte Heinrich Hartmann, dass er die Firma anders aufstellen musste. Er schuf Fachabteilungen, die von seinen besten Mitarbeitern geleitet wurden.

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Abb. 1.1 Organigramm der Hartmann GmbH

In dieser Phase der Firmenentwicklung spielte der Vertrieb beim Erschließen neuer Märkte eine besondere Rolle; durch seine Aktivitäten konnte sich die Firma international aufstellen und in ihrem Segment auf dem Weltmarkt eine entscheidende Position einnehmen. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts war die Firma auf 430 Mitarbeitende angewachsen.

Seine beiden Söhne waren Ende der 90er Jahre in die Firma eingetreten und übernahmen mehr und mehr Verantwortung. Klaus hatte BWL (Betriebswirtschaftslehre) studiert und sich nach Tätigkeiten in verschiedenen internationalen Konzernen entschieden, in den Familienbetrieb einzusteigen. Auch sein jüngerer Bruder Martin hatte als promovierter Elektroingenieur in verschiedenen Unternehmen gearbeitet und war mit dem Ziel in die Firma gekommen, diese zusammen mit seinem Bruder zu führen. Martin war Experte in Antriebstechnik und die beiden gingen davon aus, dass ihre unterschiedlichen Kompetenzen sich im Sinne der Firma gut ergänzen würden. Die Zusammenarbeit bewährte sich, sie führten einige Neuerungen ein, die die Firma voran brachten und weiter wachsen ließen.

Die beiden erhielten Prokura; auch die Kooperation mit dem Senior funktionierte gut. Martin und Klaus fiel auf, dass die Abteilungsleiter mit ihren Fragen weiterhin zum Senior gingen und sich nicht an die regulären Abläufe hielten. Auch wurden Vorgaben der Söhne von den Abteilungsleitern nicht immer umgesetzt bzw. teilweise erst nach Rücksprache mit dem Senior. Auf Drängen seiner Söhne holte Heinrich Hartmann 2006 einen Unternehmensberater ins Haus. Sie erarbeiteten mit diesem gemeinsam Bereiche, Verantwortlichkeiten und Ablaufstrukturen, auch im Hinblick auf die Perspektive, dass der Senior sich langfristig zurückziehen wollte. Es wurden Führungsleitlinien entwickelt, die in einem Workshop mit den Abteilungsleitern besprochen und verabschiedet wurden.

2010 überschrieb der Senior die Firma zu gleichen Teilen an seine Söhne und zog sich 2011 aus dem operativen Geschäft zurück. Die Geschäfte liefen gut; die Umsätze und Gewinne, an denen auch die Mitarbeitenden beteiligt wurden, wuchsen.

Aber ab 2013 zeigten sich Probleme. Die Umsätze waren nach wie vor gut, aber die Beschwerden und Reklamationen von Kunden nahmen zu. So machte ihnen die Steuerung eines Antriebs, der immer wieder Störungen aufwies, große Sorgen. Auf der anderen Seite gab es Klagen über den Service. Vor allem die Zusammenarbeit zwischen Vertrieb und Konstruktion war von gegenseitigen Vorwürfen geprägt. Die Konstrukteure warfen den Vertrieblern vor, den Kunden das Blaue vom Himmel zu versprechen, um gut da zu stehen. Die Vertriebler unterstellten den Konstrukteuren Inkompetenz und Inflexibilität, weil sie die Wünsche der Kunden nicht entsprechend schnell umsetzten. Kenntnisse über die Arbeit der anderen Abteilungen und ihre Aufgaben und Probleme nahmen ab. Da einige Schnittstellen nicht funktionierten, definierte Martin Hartmann die Prozessketten deutlicher; dies löste großen Widerstand insbesondere bei den Technikern aus, die sich mit noch mehr Dokumentation überlastet fühlten. Einige Abteilungsleiter ignorierten diese Anweisung. Es erfolgte keine Reaktion, was den Ärger der anderen verstärkte.

Während sie die Entwicklung der letzten Zeit im Gespräch mit der Beraterin Revue passieren ließen, wurde ihnen deutlich, wie sehr sie diese Situation belastete. Sie hatten sich zu Beginn ihrer Tätigkeit über ihre Führungsvorstellungen unterhalten; beide präferierten einen partizipativen Führungsstil, wollten Mitarbeitende mitnehmen, so wie es auch der Senior getan hatte. Doch dieser hatte die Firma zu einer anderen Zeit geführt und eine andere Autorität als seine Nachfolger. Klaus Hartmann vertrat den Anspruch, Themen möglichst konsensual zu regeln: Er führte viele Gespräche, die aber kein Ergebnis brachten, so dass in der Belegschaft der Eindruck entstand, es gehe nicht weiter und die Geschäftsführung sei entscheidungsschwach. Gerade das Bemühen, alles richtig zu machen, führte bei ihm zu einer hohen psychischen und physischen Belastung – erhöhter Blutdruck und allgemeine Erschöpfung waren die Folge. Er arbeitete weiter, bis er schließlich im Büro zusammenbrach und in eine psychosomatische Klinik eingewiesen wurde. Nach mehreren Wochen Therapie nahm er seine Arbeit wieder auf. Auch Martin sprach darüber, dass er sich oft erschöpft und überlastet fühle. Er verbringe fast täglich mehr als 12 Stunden in der Firma und habe doch das Gefühl, die Arbeit nicht zu schaffen.

Gemeinsam mit der Beraterin entwickelten sie Hypothesen, wie es zu dieser Situation kommen konnte:

Es gab keine gemeinsame Ausrichtung, kein gemeinsames Verständnis, die Hartmann GmbH voran zu bringen: Jeder Abteilungsleiter versuchte, mit seinem Team optimale Ergebnisse zu erreichen und verstand seinen Bereich als zentral, so dass – verschärft durch die einzelnen Persönlichkeiten – nicht nur ein Nebeneinander, sondern teilweise sogar ein Gegeneinander zu beobachten war. Dadurch kam es an einigen Schnittstellen zu massiven Störungen.

Bei Fehlern wurde nach Schuldigen gesucht, nicht nach einem gemeinsamen Weg, diese in Zukunft zu vermeiden und daraus zu lernen.

Einige Abteilungsleiter waren hervorragende Fachkräfte, aber zur Führung einer Abteilung und zur Personalführung nur bedingt geeignet. Hier mussten die Geschäftsführer sich eingestehen, dass sie den Abteilungsleitern keine Angebote zur Erweiterung ihrer Führungskompetenz gemacht hatten.

Die vorhandenen Führungsleitlinien wurden nicht gelebt.

Die Geschäftsführer erledigten Aufgaben und trafen Entscheidungen, die eigentlich auf die Abteilungsleiterebene gehörten. Sie übernahmen diese Anteile unreflektiert und delegierten sie nicht zurück, zumal sie oft der Meinung waren, es besser zu können als die Abteilungsleiter.

Die Geschäftsführer beteiligten sich zunehmend an fachlichen Diskussionen, weil sie glaubten, dass es ohne ihre Beteiligung nicht voran ginge. Es war ihnen nicht bewusst, dass ihre Äußerungen immer als Führungsanweisungen verstanden wurden, auch wenn sie »nur« fachlich mitdiskutieren wollten.

Viele Besprechungen verliefen ergebnislos, weil keine Entscheidungen und Verabredungen zum weiteren Vorgehen getroffen wurden.

Die Geschäftsführer pflegten einen höflichen und respektvollen Umgangsstil mit den Mitarbeitenden und ärgerten sich über Klagen von Beschäftigten, dass sie von ihren direkten Vorgesetzten angeschrien oder ignoriert würden.

Die Mitarbeitenden waren der Meinung, alle Entscheidungskompetenz liege bei der Geschäftsleitung, die Abteilungsleiter dürften nichts selbstständig entscheiden.

Die Geschäftsführer waren stark operativ gebunden. Es gab Versuche der Mitarbeitenden, sie gegeneinander auszuspielen, was die Notwendigkeit eindeutiger Absprachen verstärkte.

Trotz guter Gewinnbeteiligung der Mitarbeitenden war die Stimmung in der Belegschaft schlecht.

Je intensiver sie die verschiedenen Punkte besprachen und die Beraterin die Ergebnisse auf einer Pinnwand übersichtlich anordnete, umso deutlicher wurde ihnen, dass sie in ihrem Bemühen, alles richtig zu machen, zu viel selbst regeln wollten und versäumt hatten, die Führungskräfte und die Mitarbeiter »mitzunehmen«.

1.1 Neue Anforderungen

Der kurze Bericht über die Hartmann GmbH benennt Themen, die heute viele Unternehmen und Organisationen beschäftigen:

Wie kann in Zeiten hoher Unsicherheit und hoher Komplexität die Überlebensfähigkeit von Unternehmen gesichert werden?

Wie können sich Organisationen flexibel auf veränderte Umweltbedingungen und neue Marktchancen einstellen?

Was müssen Führungskräfte tun, um einerseits ihre Ziele zu erreichen und andererseits Eigenverantwortung und Eigenaktivität ihrer Mitarbeitenden zu fördern?

Der gesellschaftliche und technologische Kontext »… verändert grundlegend die Parameter, unter denen Organisationen in Zukunft erfolgreich operieren können und verlangt von den verantwortlichen Entscheidungsträgern in Organisationen eine bisher nicht gekannte Bewältigung von Verhältnissen zunehmender Komplexität« (Margit Oswald und Tania Lieckweg in Wimmer 2014).

Peter Drucker formulierte die Anforderungen an heutige Führungskräfte: »Sie müssen lernen, mit Situationen zurechtzukommen, in denen sie nicht befehlen können, in denen sie selbst weder kontrolliert werden noch Kontrolle ausüben können. Das ist die elementare Veränderung. Wo es ehedem um eine Kombination von Rang und Macht ging, wird es in Zukunft Verhältnisse wechselseitiger Übereinkunft und Verantwortung geben« (Drucker zitiert nach Doppler 2002: 73/4).

Und Klaus Doppler präzisiert in seinem Buch Change Management das neue Anforderungsprofil (Doppler 2002: 65 ff.): »Während es früher genügte, ein guter Fachmann zu sein, die administrativen Vorgänge sauber abzuwickeln und eine gewisse Amtsautorität auszustrahlen, braucht es heute:

1. strategische Kompetenz, um mit Unsicherheit und Komplexität umgehen zu können,

2. soziale Kompetenz, um in wirtschaftlichen Turbulenzen, betrieblichen Spannungsfeldern und Konflikten sicher agieren zu können und

3. Persönlichkeit, um Sinn für Veränderungen vermitteln und Mitarbeitende überzeugen zu können.«

Henry Mintzberg, eine weitere Größe in der Management-Debatte, fordert: »Der Manager muss anderen helfen, das Beste aus sich herauszuholen, damit sie ihr Wissen mehren, bessere Entscheidungen treffen und effektiver handeln.« (Mintzberg 2009: 27)

Diese Veränderungen werden nicht nur in der theoretischen Diskussion, sondern auch in der praktischen Umsetzung in vielen Unternehmen sichtbar. Ein besonderes Beispiel ist die Entwicklung einer dialogischen Führungskultur bei dm drogerie-markt. Götz W. Werner, Gründer und Aufsichtsrat von dm drogerie-markt, fasst seine Haltung zu Führung folgendermaßen zusammen: »Mir ist klar geworden: eine Führungsperson ist nicht jemand, der alles weiß und besser kann, sondern der, der die notwendigen Fragen stellt. Wer Fragen stellt, eröffnet Bewusstsein. Die Zukunft gestaltet man nicht mit Antworten, sondern mit Fragen. Heute kann man keine Menschen mehr führen, indem man Fragen beantwortet, sondern man muss Bewusstsein führen, indem man Fragen stellt. Das ist aus meiner Sicht die ›kopernikanische‹ Wende in der Führung.« (zitiert nach Kaduk u. a. 2013: 164)

In vielen Unternehmen und Organisationen sind diese Thesen auf verschiedene Weise in Leitbilder, Führungsleitlinien und Inhalte der Qualifizierung eingeflossen. Die Frage »Was macht eine gute Führungskraft aus?« wird an folgenden Punkten konkretisiert:

eine angemessene Analyse der Situation, der Rahmenbedingungen und der Aufgabenstellung,

das Setzen von klaren und akzeptierten Zielen,

das Festlegen von Prioritäten und das Treffen von Entscheidungen,

das Zusammenbringen der persönlichen Ziele der Mitarbeitenden mit den Zielen des Unternehmens und

das Schaffen einer kooperativen, positiven Arbeitsatmosphäre als Rahmen für ein Klima der Leistungsbereitschaft (nach Hofbauer/Kauer 2014: 26).

Unter den heutigen Bedingungen gewinnt neben dem WAS das WIE im Führungshandeln immer größere Bedeutung. Die sogenannten weichen Faktoren wie Selbstreflexion, Kommunikationsfähigkeit und die Bereitschaft, Konflikte anzugehen, machen erfolgreiche Führungsarbeit erst möglich.

Zusammenfassend kann man sagen, dass die theoretische Management-Debatte und eine Vielzahl praktischer Erfahrungen in Organisationen das Denken über Führung verändert haben und dass viele dieser neuen Ideen in Ausbildung und Führungsleitlinien integriert wurden.

1.2 Die Macht der traditionellen Muster

Wie sieht es aber mit der Realität von Führung in Unternehmen und Organisationen aus?

Die Probleme in der Umsetzung sind am Beispiel der Hartmann GmbH gut erkennbar: Die Geschäftsführung will einen partizipativen und kooperativen Führungsstil praktizieren und die Eigenverantwortung der Mitarbeitenden stärken. Diese Vorstellungen wurden auch im Leitbild und den Führungsleitlinien verankert. Doch es ist offensichtlich nicht gelungen, die zweite Führungsebene zu überzeugen und zu einer Veränderung ihres Führungsverhaltens zu bewegen. Die Abteilungsleiter blieben bei ihrem erlernten mentalen Modell, das von Konzentration auf die Ansagen des »Chefs« und Konkurrenz untereinander geprägt war. Dadurch kamen unterschiedliche und sich widersprechende Botschaften bei Gruppenleitern und Mitarbeitenden an, die Ärger, Enttäuschung, Frust und Demotivation zur Folge hatten.

Als die Marktbedingungen schwieriger wurden und Kundenbeschwerden zunahmen, übernahmen die Geschäftsführer wieder stärker inhaltliche Verantwortung, erhöhten ihr Arbeitspensum und ihren Einsatz und mischten sich vermehrt in das Tagesgeschäft ein. Die Abteilungsleiter zogen sich auf die »Tribüne« oder in andere abgesicherte Räume zurück und warteten ab. Die Geschäftsführer konnten durch ihren erhöhten Einsatz einiges retten, entwickelten aber entgegen ihrer bisherigen Diskussion einen immer direktiveren und enger getakteten Führungsstil. Arbeitsüberlastung führte dann bei Klaus Hartmann, der sich besonders für einen modernen Führungsstil eingesetzt hatte, zum Zusammenbruch.

Vergleichbare Entwicklungen wie in der Hartmann GmbH sind in unterschiedlichen Formen und Ausprägungen in vielen Unternehmen zu beobachten. Zukunftsorientierte Einsichten und Festlegungen scheitern an Unzulänglichkeiten in der Umsetzung und an den bestehenden mentalen Modellen.

Mentale Modelle sind tief verankerte Annahmen und Verallgemeinerungen, die unser Wahrnehmen, Denken und Handeln bestimmen. »Sehr häufig sind wir uns dieser mentalen Modelle oder ihrer Auswirkungen auf unser Verhalten nicht bewusst« (Senge 2001: 17).

Die moderne Gehirnforschung beschreibt die genauen Abläufe: »Alle Veränderungen gehen vom sog. Mandelkern (Amygdala), dem Angstzentrum im Gehirn aus. Dort werden alle Sinneseindrücke in Sekundenbruchteilen (unbewusst) dahingehend bewertet, ob es sich um etwas Gefährliches handeln könnte oder nicht. Wenn etwas als bedrohlich eingeschätzt wurde, gehen über Botenstoffe weitere Impulse an die Insulae, die ›Ekelzentren‹. Dies kann vom Hypothalamus als Stress registriert werden und wird im Hirnstamm zu Erregung führen und sich äußern. Diese ›Bottom-up drives‹ werden erst kurze Zeit später vom Stirnhirn (Präfrontaler Cortex) aufgrund von Lebenserfahrungen, Werten, Erziehung, Selbsterziehung überprüft, weil im Stirnhirn auch die Fähigkeit lokalisiert ist, die Folgen des eigenen Handelns zu antizipieren. So kann es zu einer Gegensteuerung durch das Ich über den Cingulären Cortex kommen, die sog. ›top down control‹. In dieser neurobiologischen Kontrollschleife entscheidet sich, ob die allerersten Impulse der Mandelkerne zu affektgetriebenen oder zu besonnenen Handlungen führen« (Bauer 2011: 53 ff. zitiert nach Glasl 2013: 39).

Übertragen auf Führungsverhalten heißt das: Wenn die »bottom up drives« die Oberhand gewinnen, werden die Personen von ihren Reflexen gesteuert. Überlegtes Führungsverhalten hat immer mit »top down control« zu tun, also mit der Frage, wie Verhalten und Reaktionen auf andere wirken und wie sie zur Erreichung der Ziele beitragen. Daher ist Selbstführung die entscheidende Voraussetzung, um andere führen zu können. Nur wer seine eigenen Stärken und Schwächen realistisch einschätzen kann, ist in der Lage, andere zu fordern und zu fördern.

Das Dilemma veränderungsorientierter Führungskräfte wird oft noch verstärkt durch die untergründige Macht der traditionellen Muster. Traditionelle Muster sind Annahmen über Führung, die lange Zeit anerkannt waren und unreflektiert in neue Kontexte übertragen werden. »Wir haben es also mit reflexhaft einsetzenden Mustern zu tun, deren Anwendung sich über Jahrzehnte durchaus bewährt hat und die uns den Umgang mit dem komplexen Führungsalltag erleichtert und sogar erst ermöglicht haben« (Wütrich u. a. 2009: 22). Entscheidend ist die Tatsache, dass aus diesen traditionellen Verhaltensweisen, die unter anderen gesellschaftlichen Bedingungen ihren Sinn hatten, Muster entstanden sind, die reflexhaft und unhinterfragt wirken. Diese Muster im Führungsverhalten sind aber unter den heutigen Bedingungen nicht nur unzeitgemäß, sondern sie sind geradezu kontraproduktiv und gefährden die Antwort- und Überlebensfähigkeit von Unternehmen.

Es sind vor allem sieben traditionelle Muster, die die Realität des Führungsalltags in weiten Bereichen nach wie vor bestimmen:

1. Der Kult der Einzelverantwortung

2. Die Angst vor Kontrollverlust

3. Das Denken in Positionen und Status

4. Die Dominanz des Sachlichen

5. Das Festhalten am Dogma des Informationsvorsprungs

6. Die Konzentration auf den kurzfristigen Erfolg

7. Die Abwehr von Fehlern und Konflikten.

Muster 1: Der Kult der Einzelverantwortung

»Um ans Ziel zu kommen, muss einer die Richtung bestimmen und dafür sorgen, dass die Mannschaft Kurs hält.«

So wird mit der Segelmetapher die Notwendigkeit der Einzelverantwortung von Führung begründet. Das Bild des Kapitäns, der von der Brücke aus einsam und alleinverantwortlich das ganze Schiff steuert, die Richtung vorgibt und alles souverän und vorausschauend regelt, bestimmte über lange Zeit die Diskussion um Führung. In dieser sogenannten heroischen Phase der Führungsforschung dominierte die Überzeugung, dass eine zentrale Schlüsselperson – eine (möglichst) charismatische Führungskraft – der Garant für ausreichende Kontinuität und Inspiration zur Sicherung der Überlebensfähigkeit eines Unternehmens sei.

Diese Heldenbilder waren allerdings tatsächlich mehr Inszenierung und nachträgliche Deutung als Realität. Eine auf die verantwortliche Führungskraft zentrierte Darstellung vernachlässigt die Austauschprozesse zwischen Führer und Geführten, die unabdingbare Voraussetzung für den Erfolg einer Organisation sind. Die wenigen »Leader«, die tatsächlich als charismatische Persönlichkeiten wirkten und Industriegeschichte schrieben, haben die Bedeutung dieser Austauschprozesse immer betont. Gerade in den letzten zehn Jahren wurde in der Finanz- und Wirtschaftskrise überdeutlich, welches Unheil von Führungskräften mit dem Selbstbild des Helden angerichtet wurde.

Klaus Doppler beschreibt in seinem Buch Feel the Change diese Inszenierung. »Die Beteiligten verdrängen ihre Angst. Wer oben ist, inszeniert sich nach allen Regeln der Kunst als Held, der alles im Griff hat. (…) Man sieht nur die positiven Aspekte, alle Anzeichen von negativer Entwicklung werden entweder umgedeutet oder unterdrückt« (Doppler, 2012: 66). Wenn solche Darstellungen (real, inszeniert oder nachträglich zusammengestellt) über lange Zeit im sozialen System wirksam waren, werden sie als selbstverständlich betrachtet. Das heißt, sie gelten als etwas, das nicht weiter hinterfragt werden muss.

In Zeiten hoher Unsicherheit und hoher Komplexität führt dieses Muster zur Überlastung der Führungskräfte und zur Demotivierung der Mitarbeitenden. Das Scheitern dieser Führungskräfte ist aber kein Argument gegen Führung. Im Gegenteil: die Sehnsucht nach Orientierung und Sinnstiftung ist bei Mitarbeitenden eher gestiegen. Gefragt sind Führungskräfte mit mehr Bescheidenheit, mehr Respekt vor dem Wissen ihrer Mitarbeitenden und der Fähigkeit, mit Nichtwissen souverän umzugehen. In der Management-Literatur spricht man daher heute von der postheroischen Phase von Führung.

Muster 2: Die Angst vor Kontrollverlust

»Führung muss kontrollieren« ist ein weiteres, meist unhinterfragtes Muster.

Dieses Muster wird oft selbstverständlich angewendet – trotz der vielen negativen Erfahrungen. Problematisch ist vor allem das dahinterstehende Menschenbild. Denn es geht davon aus, dass Mitarbeitende faul und unwillig sind und nur durch Kontrolle zu guter Arbeit bewegt werden können. Der Satz »Vertrauen ist gut – Kontrolle ist besser« wird in vielen Unternehmen mit Hingabe zitiert. Natürlich ist Kontrolle in Organisationen notwendig. Aber nicht eine Kontrolle der Personen, sondern eine gemeinsame Kontrolle der erreichten Ergebnisse. In Unternehmen mit flachen Hierarchien gibt es keine Arbeitszeit- oder sonstige Kontrolle, aber täglich werden in jeder Gruppe die neuesten Zahlen zu Prozessen, Ergebnissen und der Position des Unternehmens im Wettbewerb veröffentlicht.

Psychologische Erkenntnisse und empirische Forschungen belegen seit vielen Jahren, dass sich Vertrauen lohnt: Menschen haben von Natur aus eine intrinsische Motivation, sinnvolle Aufgaben eigenverantwortlich anzugehen.

Muster 3: Das Denken in Positionen und Status

»Führung muss mit Autorität verbunden sein« ist eine durchaus nachvollziehbare Forderung.

Allzu häufig aber wird Autorität vor allem an Positionen und Status festgemacht. Fachliche und soziale Autorität wird nicht durch einen Titel oder die Ernennung zur Führungskraft gewonnen. Autorität kann sich eine Führungskraft nur durch fachliche Leistung und ein positives Sozialverhalten erarbeiten.

»Management hat mindestens so sehr mit wechselnden Abhängigkeiten wie mit der Ausübung formaler Autorität zu tun. (…) Manager zu sein bedeutet nicht nur, Autorität zu genießen, sondern auch, in verstärktem Maße von anderen abhängig zu sein, von Menschen innerhalb und außerhalb der Einheit – umso mehr, je höher die eigene Position angesiedelt ist« (Mintzberg 2010: 89). In einer sich schnell verändernden Welt, in der das gegenseitige Aufeinander-angewiesen-sein zunimmt, funktioniert es nicht mehr, von oben herab über Anweisungen zu führen.