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Bruno Latour

Das terrestrische Manifest

Aus dem Französischen von Bernd Schwibs

Suhrkamp

Inhalt

1. Eine politisch-fiktionale Hypothese: Die Explosion der Ungleichheiten und das Verleugnen der Klimasituation sind ein und dasselbe Phänomen.

2. Dank Amerikas Aufkündigung des Klimaabkommens wissen wir endlich in aller Klarheit, welcher Krieg erklärt wurde.

3. Die Frage der Migrationen betrifft jetzt alle Welt, da sich eine neue und höchst perverse Universalität darbietet: sich als enterdet zu erleben.

4. Die Plus-Globalisierung darf nicht mit der Minus-Globalisierung verwechselt werden.

5. Wie die globalisierten führenden Klassen beschlossen, sich nach und nach aller Bürden der Solidarität zu entledigen.

6. Der Verzicht auf eine gemeinsame Welt erschüttert das Vertrauen in die Fakten.

7. Das Auftauchen eines dritten Pols erschüttert die klassische Ausrichtung der zwischen den Polen des Lokalen und des Globalen gefangenen Modernität.

8. Die Erfindung des »Trumpismus« ermöglicht das Orten eines vierten Attraktors, des Aussererdigen.

9. Mit der Ortung des Attraktors des Terrestrischen ist eine neue geopolitische Ausrichtung definiert.

10. Warum die Erfolge der politischen Ökonomie nicht immer auf der Höhe der Herausforderungen waren.

11. Warum sie so große Mühe hatte, sich des Gegensatzes von Rechte und Linke zu entziehen.

12. Wie die Vermittlung zwischen den sozialen und den ökologischen Kämpfen zu gewährleisten ist.

13. Der Kampf der sozialen Klassen wird zum Kampf der geo-sozialen Plätze.

14. Der Umweg über die Wissenschaftsgeschichte macht begreifbar, wie eine bestimmte Vorstellung von »Natur« die politischen Positionen hat erstarren lassen.

15. Es muss gelingen, die in der modernen Sicht des Gegensatzes von Linke und Rechte gefangene »Natur« zu entzaubern.

16. Eine Welt aus Objekten weist nicht dieselbe Art von Widerstand auf wie eine Welt aus Akteuren.

17. Die Wissenschaften von der Kritischen Zone haben nicht dieselben politischen Funktionen wie die anderen Naturwissenschaften.

18. Der Widerspruch zwischen Produktionssystem und Erzeugungssystem verstärkt sich.

19. Wiederaufnahme der Beschreibung der Lebensterrains – die Beschwerdehefte als mögliches Vorbild.

20. Persönliches Plädoyer für den Alten Kontinent

 

 




»We've read enough books.«
Jared Kushner1

1.

Dieser Essay verfolgt kein anderes Ziel, als ausgehend von der Wahl Donald Trumps am 8. November 2016 drei Phänomene miteinander zu verknüpfen, die von den Kommentatoren zwar schon ausgemacht, aber deren Zusammenhang nicht immer gesehen wurde – und folglich auch nicht die immense politische Energie, die aus ihrer Verbindung zu ziehen wäre.

Zu Beginn der neunziger Jahre, just nach dem »Sieg über den Kommunismus«, der im Fall der Berliner Mauer seinen symbolischen Ausdruck gewann – zu einem Zeitpunkt also, als so mancher wähnte, die Geschichte sei an ihr Ende gekommen2 –, beginnt still und leise eine andere Geschichte.

Geprägt ist sie zunächst durch die sogenannte »Deregulierung«, mit der das Wort »Globalisierung« eine fortschreitend negative Bedeutung gewinnt; zugleich ist sie aber in allen Ländern auch der Beginn einer immer schwindelerregenderen Explosion der Ungleichheiten; schließlich, und das wird seltener hervorgehoben, setzt in jener Epoche die systematische Leugnung der Klimaveränderung ein (»Klima« hier verstanden im weiteren Sinn der Beziehungen der Menschen zu ihren materiellen Lebensbedingungen).

Dieser Essay schlägt vor, diese drei Phänomene als Symptome ein und derselben historischen Konstellation zu begreifen: Alles spricht dafür, dass ein gewichtiger Teil der führenden Klassen (heute recht vage als »Eliten« bezeichnet) zu dem Schluss gelangte, dass für ihn und für den Rest der Menschen nicht mehr genügend Platz vorhanden sei.

Folgerichtig entschied man, dass es nutzlos sei, vorzugeben, die Geschichte strebe weiter auf einen gemeinsamen Horizont zu, auf eine Situation, in der »alle Menschen« in gleichem Maße zu Wohlstand kommen würden. Seit den achtziger Jahren geht es den führenden Klassen nicht länger darum, die Welt zu führen, vielmehr suchen sie außerhalb dieser Welt Schutz. Die Folgen dieser Flucht, die in Donald Trump nur eines unter vielen Symbolen hat, haben wir zu tragen – wir, die wir angesichts einer fehlenden miteinander zu teilenden gemeinsamen Welt nahezu den Verstand verlieren.

Die hier vorgebrachte Hypothese lautet: Man versteht nichts von den seit fünfzig Jahren vertretenen politischen Positionen, wenn man die Klimafrage und deren Leugnung nicht ins Zentrum rückt. Ohne den Gedanken, dass wir in ein Neues Klimaregime eingetreten sind,3 kann man weder die Explosion der Ungleichheiten, das Ausmaß der Deregulierungen, die Kritik an der Globalisierung noch, vor allem, das panische Verlangen nach einer Rückkehr zu den früheren Schutzmaßnahmen des Nationalstaats – was, sehr zu Unrecht, als »Aufstieg des Populismus« bezeichnet wird – verstehen.

Um sich dem Verlust an gemeinsamer Orientierung zu widersetzen, gilt es, irgendwo zu landen. Was die nicht minder bedeutsame Frage nach sich zieht: Wie sich orientieren? Und woraus folgt, dass wir so etwas wie eine Karte der Positionen entwerfen müssen, die uns durch diese neue Landschaft aufgezwungen werden, in der nicht nur die Affekte, sondern auch das neu bestimmt wird, worum es im öffentlichen Leben geht.

Die nachfolgenden, in einem bewusst sprunghaften Stil gehaltenen Reflexionen suchen zu eruieren, inwieweit bestimmte politische Emotionen auf neue Objekte hin kanalisiert werden können.

Der Autor, dem jegliche politikwissenschaftliche Kompetenz fehlt, kann den Leserinnen und Lesern lediglich die Gelegenheit bieten, seine Hypothese zu falsifizieren und nach neuen zu suchen.

2.

Den Unterstützern Donald Trumps ist zu danken, dass sie diese Fragen einer Klärung zuführten, indem sie ihn drängten, sich am 1. Juni 2017 vom Pariser Klimaabkommen zu verabschieden.

Was der Aktivismus von Millionen von Umweltschützern, die Alarmrufe Tausender Wissenschaftler, das Wirken Hunderter von Industrieller nicht geschafft haben, worauf die Aufmerksamkeit zu richten nicht einmal Papst Franziskus gelungen ist4 – Trump ist es geglückt: Alle Welt weiß nun, dass die Klimafrage im Zentrum aller geopolitischen Streitpunkte liegt und dass sie in direktem Zusammenhang steht mit den Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten.5

Mit seinem Rückzieher vom Abkommen hat er schließlich explizit wenn nicht einen Weltkrieg, so doch einen Krieg um die Festlegung des Schauplatzes der Operationen ausgelöst: »Wir Amerikaner gehören nicht zu derselben Erde wie ihr. Eure mag bedroht sein, unsre nicht!«

Damit sind die politischen und bald militärischen, jedenfalls aber existenziellen Konsequenzen dessen gezogen, was Bush Senior 1992 in Rio vorhergesagt hatte: »Our way of life is not negotiable!« Voilà, dann liegen die Dinge wenigstens klar: Das Ideal einer gemeinsamen, auch vom bisher so bezeichneten »Westen« geteilten Welt gibt es nicht mehr.

Erstes historisches Ereignis: der Brexit. Das Land, das den unendlichen Raum des Marktes, zu Lande wie zu Wasser, erfunden und das die Europäische Union unaufhörlich dazu gedrängt hatte, sich in nichts anderes als ein riesiges Warenhaus zu verwandeln: Dieses Land beschließt angesichts der Ankunft einiger Zehntausender Flüchtlinge Hals über Kopf, aus dem Globalisierungsspiel auszusteigen. Einem seit Langem verschwundenen Empire nachjagend, sucht es sich von Europa zu lösen (um den Preis immer unlösbarerer Schwierigkeiten).

Zweites historisches Ereignis: der Wahlsieg Trumps. Das Land, das der Welt seine spezielle Variante der Globalisierung aufgezwungen hatte (und mit welcher Gewalt!); das Land, das sich – unter Auslöschung seiner Ureinwohner – als Einwandererland definiert hatte: Dieses Land legt sein Schicksal in die Hände eines Mannes, der verspricht, es in eine verbarrikadierte Festung zu verwandeln, der keine Flüchtlinge mehr hereinlassen, sich für keine Sache mehr einsetzen will, die sich nicht auf seinem eigenen Grund und Boden abspielt, und der doch weiterhin überall auf der Welt mit derselben hemmungslosen Rüpelhaftigkeit interveniert.

Dass jene, die noch vor Kurzem den systematischen Abbau der Grenzen gepredigt hatten, diese nun wieder attraktiv finden, ist bereits ein Anzeichen für das Ende einer bestimmten Auffassung von Globalisierung. Zwei der größten Länder der ehemaligen »freien Welt« verkünden den anderen: »Unsre Geschichte wird mit eurer nichts mehr zu tun haben; geht zum Teufel!«

Drittes historisches Ereignis: die Wiederaufnahme, Erweiterung, Ausweitung der Migrationen. In einem Augenblick, da jedes Land die vielfältigen Gefahren der Globalisierung zu spüren bekommt, müssen viele sich organisieren, um auf ihrem Boden Millionen von Menschen – einige sprechen von Dutzenden von Millionen!6 – aufzunehmen, die durch die kumulativen Folgen von Kriegen, Fehlschlägen in der wirtschaftlichen Entwicklung und Klimaveränderung zur Suche nach einem für sie selbst und für ihre Kinder bewohnbaren Territorium getrieben werden.

Das Problem soll schon alt sein? Keineswegs, denn diese drei Phänomene stellen nur unterschiedliche Aspekte ein und derselben Metamorphose dar: Die Vorstellung des Bodens selbst verändert sich grundlegend. Der erträumte Boden der Globalisierung beginnt, sich zu entziehen. Darin liegt die ganze Neuheit dessen, was schamhaft »Migrationskrise« genannt wird.

Die Angst sitzt deshalb so tief, weil jeder von uns zu spüren beginnt, wie der Boden unter den Füßen wegsackt. Mehr oder minder verschwommen entdecken wir, dass wir alle auf der Wanderung sind hin zu Territorien, die es neu zu entdecken und zu besetzen gilt.

Dies aufgrund eines vierten historischen Ereignisses, dem wichtigsten und am wenigsten diskutierten: dem 12. Dezember 2015 in Paris, als am Schluss der Pariser Klimakonferenz COP21 ein Übereinkommen verabschiedet wurde.

Um dessen wirkliche Bedeutung zu ermessen, kommt es nicht darauf an, was die Delegierten beschlossen haben, nicht einmal darauf, dass dieses Abkommen tatsächlich umgesetzt wird (die Klimawandelleugner werden es mit aller Kraft sabotieren); entscheidend ist vielmehr, dass an diesem Tag allen Staaten, die unterzeichnet hatten, während sie noch dem erfolgreichen Abschluss des Vertrags applaudierten, mit Schaudern eines klar wurde: dass es, würden sie alle entsprechend den Prognosen ihrer jeweiligen Modernisierungspläne voranschreiten, keinen Planeten geben würde, der mit ihren Entwicklungserwartungen übereinstimmte.7 Dafür benötigten sie mehrere Planeten; doch sie haben nur einen.

Wenn es also den Planeten, die Erde, den Boden, das Territorium, die den Globus der von allen Ländern angestrebten Globalisierung beheimaten sollten, nicht gibt, dann verfügt niemand mehr über ein sicheres »Zuhause«.

Damit steht jeder Einzelne von uns vor der Frage: Sollen wir weiter eskapistischen Träumen nachhängen oder uns nicht doch aufmachen und ein für uns und für unsere Kinder bewohnbares Territorium suchen?

Nun, entweder leugnen wir das Problem oder wir versuchen, uns zu erden. An dieser Frage spalten sich heute die Geister – viel mehr als an der von links oder rechts.

Und das betrifft die alteingesessenen Bewohner der reichen Länder ebenso wie deren künftige Bewohner. Erstere, weil sie begreifen, dass es keinen globalisierungsgeeigneten Planeten gibt und dass sie ihre gesamten Lebensweisen verändern müssen; letztere, weil sie ihren verwüsteten angestammten Boden verlassen und ebenfalls lernen müssen, alle ihre Lebensweisen zu verändern.

Mit anderen Worten: Die Migrationskrise ist zu einer allgemeinen geworden.

Zu den Migranten von außerhalb, die um den Preis ungeheurer Tragödien Grenzen überschreiten müssen, um ihr Land zu verlassen, kommen jetzt jene inneren Migranten, die an Ort und Stelle verbleiben und dramatisch erleben müssen, wie ihr Land sie verlässt. Erschwert wird das Verständnis der Migrationskrise dadurch, dass sie das mehr oder minder erschütternde Symptom einer uns allen gemeinsamen Herausforderung ist, nämlich, dass uns der Boden unter den Füßen weggezogen wurde.

Diese Herausforderung erklärt auch die relative Gleichgültigkeit gegenüber der Dringlichkeit der Situation und warum wir alle Klima-Quietisten sind, wenn wir, ohne einen Finger zu rühren, hoffen: »Das wird sich schon von selbst einrenken …« Wir können nicht umhin, uns zu fragen, wie die täglich auf uns einprasselnden Nachrichten über den Zustand des Planeten sich auf unseren Geisteszustand auswirken. Wie sollte uns aufgrund der Angst, darauf nicht antworten zu können, nicht das Gefühl übermannen, innerlich erledigt zu sein?

Es ist diese gleichermaßen persönliche wie kollektive Beunruhigung, aus der sich die Bedeutsamkeit des Wahlsiegs von Trump erklärt, der ansonsten nur das Skript einer erbärmlichen TV-Serie abgäbe.

Den Vereinigten Staaten boten sich zwei Optionen: Sie konnten das Ausmaß der Mutation und ihrer eigenen Verantwortung anerkennen, endlich eine realistische Haltung annehmen und die »freie Welt« bei ihrem Marsch weg vom Abgrund anführen. Oder sich in der Realitätsverweigerung verschanzen. Trumps Hintermänner haben beschlossen, Amerika noch ein paar Jahre träumen zu lassen, um die Landung und Erdung zu verhindern und die übrigen Länder mit in den Abgrund zu reißen – womöglich für immer.