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Inhaltsverzeichnis

Titel

Informationen zum Buch

Impressum

Widmung

Landkarte

Prolog

Kapitel 1 - Fayori

Kapitel 2 - Fayori

Kapitel 3 - Fayori

Kapitel 4 - Sedan

Kapitel 5 - Sedan

Kapitel 6 - Fayori

Kapitel 7 - Fayori

Kapitel 8 - Sedan

Kapitel 9 - Fayori

Kapitel 10 - Fayori

Kapitel 11 - Sedan

Kapitel 12 - Sedan

Kapitel 13 - Sedan

Kapitel 14 - Sedan

Kapitel 15 - Sedan

Kapitel 16 - Fayori

Kapitel 17 - Fayori

Kapitel 18 - Fayori

Kapitel 19 - Sedan

Kapitel 20 - Sedan

Kapitel 21 - Fayori

Kapitel 22 - Fayori

Kapitel 23 - Fayori

Kapitel 24 - Sedan

Kapitel 25 - Sedan

Kapitel 26 - Sedan

Kapitel 27 - Sedan

Kapitel 28 - Sedan

Kapitel 29 - Sedan

Kapitel 30 - Sedan

Kapitel 31 - Sedan

Epilog

Dank

 

Fanny Bechert

 

 

Elesztrah

Band 3: Blut und Federn

 

 

Fantasy Roman

 

 

Elesztrah 3 – Blut und Federn

Während Lysanna zuversichtlich ihrer Zukunft entgegensieht, hängt ihre Tochter Fayori dem Vergangenen hinterher. Auch nach Monaten fällt es ihr noch immer schwer, zu akzeptieren, dass der Seelenlose Sedan zum Feind übergelaufen sein soll.

Als Frostwall überfallen und Lysanna entführt wird, taucht Sedan plötzlich wieder auf und bietet Fayori seine Hilfe an. Die junge Elfe hat keine andere Wahl, als ihrem ehemaligen Lehrmeister zu vertrauen, wenn sie ihre Mutter retten will. Auf der Suche nach Lysanna geraten sie jedoch nicht nur in Lebensgefahr, sondern stoßen auch auf etwas, das es eigentlich gar nicht geben dürfte: Sedans Vergangenheit.

 

 

 

Die Autorin

Fanny Bechert wurde 1986 in Schkeuditz geboren und lebt heute mit ihrem Mann in einem ruhigen Dörfchen im Thüringer Vogtland.

Als gelernte Physiotherapeutin griff sie erst 2012 mit dem Schreiben ein Hobby ihrer Kindheit wieder auf. Was zuerst ein Ausgleich vom Alltag war, nahm bald größere Formen an und so veröffentlichte sie im Juni 2015 ihren ersten Roman im Genre High-Fantasy, der den Beginn der mehrbändigen Reihe ›Elesztrah‹ darstellt. Seitdem widmet sie sich immer aktiver der Tätigkeit als Autorin.

Heute schreibt sie nicht nur Romane, die sie ebenfalls selbst vertont, sondern hat das Texten im Bereich des Online-Marketings auch zu ihrem Hauptberuf gemacht.

 

www.sternensand-verlag.ch

info@sternensand-verlag.ch

 

1. Auflage, April 2018

© Sternensand Verlag GmbH, Zürich 2018

Umschlaggestaltung: Alexander Kopainski | alexanderkopainski.de

Karte: Corinne Spörri | Sternensand Verlag GmbH

Bilder: shutterstock.com | fotolia.de

Elesztrah-Wappen: Fanny Bechert

Korrektorat: Sternensand Verlag GmbH | Martina König, Jennifer Papendick

Satz: Sternensand Verlag GmbH

 

ISBN (Taschenbuch): 978-3-906829-83-8

ISBN (epub): 978-3-906829-82-1

 

Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

 

 

 

 

Für Lucy,

die Katze mit Abitur

 

So plötzlich du in unser Leben getreten bist,

so plötzlich wurdest du uns wieder genommen.

Vergessen werden wir dich nie!

 

 

Elesztrah

Prolog

 

Lysanna brüllte aus Leibeskräften. Dann begann sie, zu hecheln, und presste die Hände auf ihren prallen Bauch.

»Oh Ahnen …«, stöhnte sie, eh eine weitere Wehe sie erneut aufschreien ließ.

»Hab dich nicht so«, fuhr Holly sie an, während sie ein paar Tücher vor Lysannas angewinkelten Beinen ausbreitete. »So schlimm kann es ja nicht sein.«

»Sie bekommt ein Baby, Holly!«, wies Aerthas die Priesterin zurecht. »Als ob du nur die geringste Ahnung davon hättest, was sie gerade auszustehen hat.«

Dankbar für diese Verteidigung, griff Lysanna nach seiner Hand und verkrallte ihre Finger so sehr in seine, dass auch er das Gesicht verzog, als die nächste Wehe sie überrollte.

Holly wollte gerade zurückgiften, als ihre Miene finster wurde. »Das ist nicht gut …«, murmelte sie, während sie die rot verfärbten Tücher vor Lysanna gegen frische auswechselte. »Aerthas, es ist besser, wenn du jetzt gehst.«

»Was?«, stieß dieser fassungslos aus. »Ich lasse sie bestimmt nicht allein!«

»Wenn du willst, dass deine Frau die Geburt überlebt, tust du gefälligst, was ich dir sage«, blaffte die Priesterin. »Ich brauche vollkommene Ruhe.«

Unschlüssig sah er erst Holly, dann Lysanna an.

Panik erfüllte die Jägerin. Irgendwo in ihr schellten die Alarmglocken bei dem Gedanken, der geliebte Elf würde gehen und sie mit Holly allein lassen.

»In Ordnung«, stimmte Aerthas schließlich zu, wenngleich sein Widerwillen hörbar war.

»Nein, nicht …«, presste sie gegen die Schmerzen hervor und drückte seine Hand noch fester.

Doch er entzog sie Lysanna und küsste sie auf die schweißfeuchte Stirn. »Hab keine Angst«, versuchte er, sie zu beruhigen. Vergeblich.

»Ich … will Rawena … nicht sie … Rawena …«, keuchte sie verzweifelt.

»Rawena ist aber nicht hier«, warf Holly bissig ein und sah sie über ihre gespreizten Schenkel hinweg kalt an.

»Sobald sie zurück ist, schicke ich sie euch zur Unterstützung«, versicherte Aerthas und fuhr ihr abermals durch das feuerrote Haar.

Lysanna fühlte, wie sich ihr Körper bereits wieder anspannte. Das reißende Gefühl in ihren Lenden nahm immer mehr zu, während sich das kleine Wesen in ihrem Bauch heftig dagegen zu wehren schien, diesen verlassen zu müssen. Sie riss den Mund zu einem weiteren Schrei auf, als Holly ihr etwas zwischen die Kiefer schob.

»Beiß ganz fest auf das Holz«, erklärte die Priesterin. »Das Gebrüll macht einen ja verrückt … Außerdem enthält die Rinde Substanzen, die es dir leichter machen.«

Aerthas nutzte den Moment, erhob sich langsam und folgte der Anweisung, das Schlafzimmer zu verlassen.

Lysanna kniff die Augen zusammen und wartete darauf, dass die Wehe vorüberging, doch als der Schmerz endlich abebbte, kündigte sich bereits die nächste an.

»Es geht los, Jägerin«, erklärte Holly. »Beim nächsten Mal musst du pressen.«

Genau das tat Lysanna, als das Reißen wieder einsetzte. Sie presste, biss wie von Sinnen auf das Holz in ihrem Mund und hechelte nach Luft, sobald sie die Möglichkeit dazu hatte.

Ab und an gab Holly ihr Anweisungen, die sie jedoch kaum zur Kenntnis nahm. Sie tat allein das, was ihr Körper ihr befahl.

 

Ob sie sich stundenlang gequält hatte oder nur Minuten, hätte sie nicht sagen können, als endlich der erlösende Schrei ertönte – nicht ihrer, sondern der des kleinen zerknautschten Wesens, das Holly nun im Arm hielt.

»Kleines …«, hauchte Lysanna mit liebevoller Stimme. »Mein Kleines …« Geschwächt von den Strapazen der Geburt, streckte sie die Arme nach ihrem Kind aus.

Doch Holly beachtete sie nicht. »Ein Mädchen«, murmelte sie. »Nicht ganz, was sie erwartet hat, aber gut. Sie wird zufrieden sein.«

»Ein Mädchen?«, fragte Lysanna verzückt. Ihr Herz machte einen Sprung bei dem Gedanken, dass sie Aerthas gerade eine Tochter geschenkt hatte. »Gib sie mir, Holly, bitte.«

Sie beobachtete, wie die Priesterin das Baby in eines der blutigen Laken wickelte. Das beunruhigende Gefühl in ihr tauchte wieder auf, als würde gleich etwas Schlimmes geschehen. Zu spät erkannte sie, dass es ihre Jägerinstinkte waren, die sie schon die ganze Zeit vor einer drohenden Gefahr hatten warnen wollen. Mühsam versuchte sie, sich aufzurichten, aber der Schmerz in ihrem Unterleib zwang sie zurück ins Kissen.

»Holly …«, sagte sie und versuchte, ihrer Stimme so viel Kraft wie möglich zu geben. »Gib mir meine Tochter.«

Die Priesterin lachte nur. »Du hast keine Tochter. Dieses Kind gehört der Fürstin. Du schuldest es ihr.« Sie wickelte ein weiteres Laken um das Bündel in ihrem Arm und erstickte damit die leisen Laute, die das Mädchen von sich gab. »Wage es nicht, auch nur einen Ton von dir zu geben«, ermahnte sie Lysanna. »Wenn du um Hilfe rufst, töte ich sie.«

Noch einmal versuchte diese, aufzustehen, um Holly aufzuhalten. Sie konnte nicht zulassen, dass diese Hexe einfach so mit ihrem Baby verschwand. Aber es gelang ihr nicht einmal, ihre noch immer gespreizten Beine zu schließen. Eine weitere Wehe rollte über sie hinweg, so heftig, dass sie einen Schrei nicht unterdrücken konnte.

Holly hielt inne und sah sie irritiert an. Die Geburt war vorüber, sie hätte solche Wehen nicht mehr haben dürfen. Es war wohl doch zu mehr Komplikationen gekommen, als es zunächst den Anschein gemacht hatte.

Lysanna wurde etwas klar: Sie würde sterben, wenn ihr niemand half. Die Priesterin würde sie ganz sicher nicht retten.

Holly bedachte sie noch einmal mit einem kalten Lächeln, bevor sie das Schlafzimmer verließ. Und Lysanna, unfähig, irgendetwas zu tun, musste mit ansehen, wie sie mitsamt ihrem Kind verschwand.

 

Mit rasendem Herzen fuhr Lysanna hoch und versuchte, sich zu orientieren. Um sie herum lag das Zimmer im Halbdunkel, nur beleuchtet vom silbrigen Licht des Mondes, das durch das geöffnete Fenster fiel.

Dies reichte aber, um wenigstens zu erkennen, dass die Laken, in denen sie lag, weiß und sauber waren und nicht dunkelrot von Blut.

Neben ihr lag Aerthas in tiefem Schlaf, die Decke halb vom Körper gestrampelt.

Leise, um ihn nicht zu wecken, stand sie auf, schlich aus dem Zimmer und zog die Tür hinter sich zu. Als sie nun in dem schmalen Flur stand, bemerkte sie fröstelnd, dass ihr Nachthemd schweißnass am Körper klebte – ganz als hätte sie tatsächlich gerade noch in den Wehen gelegen. Schnell griff sie nach einem Tuch, das an einem Haken an der Wand hing, und schlang es sich um die Schultern.

Auf leisen Füßen ging sie in das Nebenzimmer. Erst als sie an der Wiege angekommen war, die dort stand, und in das gelöste Gesicht ihrer träumenden Tochter blickte, konnte auch sie sich entspannen.

Zärtlich und sanft fuhr sie durch die dünnen rostroten Locken, die den Kopf des drei Monate alten Mädchens zierten.

Die Lippen des Babys bewegten sich und formten etwas, das man ein Lächeln nennen konnte. Dabei sah Neylanah, die sie nach Lysannas toter Schwester benannt hatten, ihrer Mutter schon jetzt unheimlich ähnlich.

Das leise Knarren einer Diele hinter ihr ließ Lysanna herumfahren. Doch es war nur Aerthas, der zu ihr an die Wiege trat.

Hingebungsvoll betrachtete er zuerst seine Tochter, eh er die Jägerin in die Arme nahm.

»Warum bist du wach?«, flüsterte er.

»Ich hatte wieder diesen Traum«, sagte sie, löste sich von ihm und stützte beide Hände auf den Rand der Wiege, die sacht zu wippen begann. »Der, in dem Holly unsere Tochter entführt.«

»Es ist nur ein Albtraum, meine Liebste. Du siehst doch selbst: Neylah ist hier und es geht ihr gut.«

Er nahm eine ihrer Hände und spielte unbewusst mit dem Vermählungsring, den er ihr vor sechs Monaten an den Finger gesteckt hatte.

»Ich weiß«, seufzte sie leise. »Dass ich mich nicht an das erinnern kann, was geschehen ist, nachdem du mich bei meiner Niederkunft allein gelassen hast, bietet meiner Fantasie wohl den perfekten Spielraum, mich zu quälen. Wenn ich nur wüsste, was wirklich geschehen ist, bis Rawena kam …«

»Nichts ist geschehen«, beteuerte er. »Neylanah hat es dir verdammt schwer gemacht und du hast wahnsinnig gelitten, wofür in deinen Augen wohl Holly verantwortlich war – weswegen du sie am Ende hinausgeworfen hast. Ich selbst habe draußen mit ihr gesprochen und da trug sie nichts als dreckige Tücher auf dem Arm. Den Ahnen sei Dank, dass just in diesem Moment Rawena kam und ihren Platz als Hebamme einnehmen konnte. Allein hättest du es nicht geschafft.«

Erschöpft lehnte sie sich an ihn. »Ja, Rawena hat das wirklich toll gemacht. Kaum dass sie da war, ging der Rest der Geburt wie von selbst.« Sie schwieg kurz, bevor sie aussprach, was ihr keine Ruhe ließ. »Warum habe ich dann aber diese gruseligen Träume?«

»Du hast wahrscheinlich nur Angst, Neylah zu verlieren. Das ist vollkommen nachvollziehbar, bei allem, was wir durchgemacht haben.« Er küsste sie auf den Scheitel. »Ich verspreche dir, ich werde niemals zulassen, dass dir oder Neylah irgendein Leid geschieht. Und nun komm, lass uns zurück ins Bett gehen. Wenn wir Glück haben, gönnt sie uns noch ein, zwei Stunden Schlaf.«

Er ging voran und nachdem sich Lysanna noch einmal zu dem Baby hinabgebeugt und ihm einen Kuss auf die Wange gehaucht hatte, folgte sie ihrem Gemahl.

Kapitel 1 - Fayori

 

Fayori stand in ihrem Zimmer in der Kaserne, welches sie gemeinsam mit Rawena bewohnte, und war damit beschäftigt, sich anzuziehen.

Sie war bereits in ihre schwarze Lieblingslederhose geschlüpft und wickelte sich gerade ein ebenso dunkles Tuch um die Brust. Für ein Leinenhemd war es heute viel zu warm, weswegen sie beschloss, nur das zur Hose passende Mieder zu tragen.

Estaria hatte ihr diese Kleidung geschenkt. Sie war aus magisch gegerbtem Leder gefertigt, das sich dem Träger wie eine zweite Haut anpasste, ihm freie Beweglichkeit ermöglichte und trotzdem fast so gut schützte wie eine Rüstung aus Metall.

Immer wieder fielen Fayori dabei Strähnen ihres von der Morgenwäsche noch nassen Haares ins Gesicht, sodass sie es schließlich am Hinterkopf zusammenraffte und sich nach etwas umsah, um es dort festzubinden. Dabei taxierte sie ein braunes Lederband, das auf der Kommode lag. Es war das Band, welches sie einst von Sedan bekommen hatte.

Unbewusst griff sie danach, ließ ihr Haar dann aber wieder los, als ihre Gedanken unweigerlich zu ihm glitten – Sedan, der seit dem Tag, an dem der ›Widerstand Elesztrahs‹ die Armee der Orks in die Flucht geschlagen hatte, aus ihrem Leben verschwunden war …

So vieles war seitdem geschehen. Ihre Mutter hatte sich vermählt, der Wiederaufbau Frostwalls war abgeschlossen und der Clan noch weiter angewachsen.

Und sie hatte eine Schwester bekommen.

Doch auch außerhalb der Stadtmauern hatte sich einiges verändert. Ein vermeintlicher Frieden hatte sich über das Land gelegt, nachdem es zwischen dem Orkland Shazar-Grohn und Elesztrah zu einem Waffenstillstandsbündnis gekommen war. Die Orks wussten, dass sie keine Chance gegen das Heer Seelenloser hatten, das nach der Hochzeit zwischen der dunklen Fürstin und dem König Elesztrahs nicht nur über die Netherlande, sondern auch über das Elfenreich wachte.

Estaria, die durch die enge Freundschaft zu Aerthas und Lysanna häufig Gast in Frostwall war, sah dies mit sehr gemischten Gefühlen. Denn die Seelenlosen wachten nicht nur über das Land, sie hatten es geradezu eingenommen.

König Etherons Tod, der ihn kurz nach der Geburt einer Tochter ereilt hatte, war nicht gut für das Land – darüber waren sich alle einig.

Aber dagegen, dass Lawinia nun die Zügel der Herrschaft übernommen hatte, war selbst Estaria machtlos. Lawinia war Königin und solange es keinen männlichen Thronerben gab, würde sie dies bis zu ihrem Tod bleiben. So hatte Elesztrah zum ersten Mal seit Anbeginn der Monarchie eine weibliche Regentin.

Trotzdem nannte man sie unter dem Volk weiterhin nur ›die Fürstin‹, denn verehrt wurde sie von diesem nicht. Wenn überhaupt, war es eher Furcht, welche die Bewohner von Hohenfels die Köpfe neigen ließ, wenn Lawinia vorbeischritt.

Auf Frostwall hatte sie jedoch keinen Einfluss. Es besaß eine Art Immunität, die Etheron ihnen zugestanden hatte, was das Leben hier recht angenehm gestaltete.

Sie sorgten für sich selbst, hatten dafür aber auch keine Abgaben ihrer Erträge zu leisten und die Tore durften nur diejenigen passieren, denen es vom Ratsherrn gestattet war.

Jeder hoffte, dass sich an dieser Ruhe auch heute nichts ändern würde. Denn es hatte sich königlicher Besuch angemeldet und niemand wusste, ob es sich um die Prinzessin oder die Fürstin handeln würde.

Fayori war es gleich, wer der Besucher war. Für sie zählte nur, wer die königliche Eskorte anführte. Sie war vollkommen überzeugt, dass Loran sich die Möglichkeit nicht nehmen lassen würde, ihr seine Aufwartung zu machen.

Auch das war etwas, das sich geändert hatte, seit Sedan fort war – sie war niemandem mehr Rechenschaft schuldig über das, was sie tat oder mit wem sie sich traf.

Es gab vor allem zwei Personen, mit denen sie nur zu gern Zeit verbrachte. Zum einen freute sie sich stets aufs Neue, wenn Loran seinen Besuch ankündigte. Sie genoss es, wenn er sie mit nahezu adliger Höflichkeit umgarnte und sie mit so viel Respekt behandelte, wie sie es vorher nie von irgendjemandem erfahren hatte – auch wenn dies der Grund war, warum sie sich über zufällige Berührungen hinaus noch kein bisschen nähergekommen waren.

Anders war das mit dem Bogenschützen Semei.

Als Lysanna und Aerthas nach ihrer Vermählung einige Tage für sich allein beansprucht hatten, hatte Fayori zunächst nicht gewusst, was sie mit ihrer ungewohnten Freizeit anfangen sollte. Der junge Mann hatte diese Chance genutzt und sie mit seinem humorvollen Charme erobert. Seitdem sahen sie sich regelmäßig und anders als Loran hielt Semei nicht viel von Zurückhaltung.

Es lag allein an Fayori, dass sie eine gewisse Grenze noch nicht überschritten hatten. Sie hatte ihm klargemacht, dass sie noch nicht bereit für körperliche Liebe war. Nicht, solange sie nicht wusste, für wen ihr Herz wirklich schlug: den stürmischen Semei, den höflichen Loran oder doch den unberechenbaren Sedan, an den sie – entgegen aller Vernunft – immer noch viel zu oft denken musste.

Sie vermisste ihn, trotz des Wissens, dass er ein Verräter war und sich gemeinsam mit Mitzum der Leibgarde der Fürstin angeschlossen hatte. Diese Nachricht, die sie von Estaria erhalten hatte, war ein Schock gewesen – für sie genau wie für Lysanna.

Hektisches Treiben auf dem Gang vor ihrem Zimmer ließ Fayori aufhorchen. Doch da niemand bei ihr klopfte, beachtete sie es nicht weiter. Stattdessen bündelte sie ihr Haar erneut und wickelte das Lederband mit flinken Fingern um den Ansatz.

Eigentlich wollte sie doch gar nicht mehr an Sedan denken!

Er hatte ihnen den Rücken gekehrt.

War zum Feind übergelaufen.

Schluss.

Aus.

Aber wie sollte sie ihn vergessen, wenn es hier so vieles gab, das sie an ihn erinnerte?

Sie schlang sich ihren Waffengürtel um die Taille und sortierte gewissenhaft die kleinen Wurfmesser in die dafür vorgesehenen Schlaufen. Ganz wie er es ihr beigebracht hatte.

»Schluss jetzt«, befahl sie sich laut, als sie zuletzt die zwei größeren Dolche befestigte. Sie würde sich von dunklen Erinnerungen nicht die Vorfreude auf Lorans Besuch verderben lassen.

Um ihre Aufmachung komplett zu machen, band sie sich noch ein schwarzes Tuch um den Hals, das sie wahlweise über Mund oder Kopf ziehen konnte, um sich zu tarnen.

Zufrieden betrachtete sie sich im Spiegel. Sie konnte mit dem, was ihre Eltern ihr mitgegeben hatten, wirklich zufrieden sein.

Die großen braunen Augen, die vollen Lippen und weichen Wangen hatte sie von ihrer Mutter. Genau wie ihre schlanke Figur. Nur ihr glattes rabenschwarzes Haar, das ihr selbst zusammengebunden noch bis weit auf den Rücken reichte, hatte sie von ihrem Vater.

Manchmal wünschte sie sich heimlich, Aerthas wäre ihr Vater und nicht der heimtückische General Orano Rakenshar, der dank Lawinia rehabilitiert und wieder in Amt und Würden war. Aber wenn sie sich dann vorstellte, sein silbriges Haar auf ihrem Kopf zu tragen, war sie doch ganz froh über ihre Wurzeln.

Sie zupfte noch ein paar einzelne Strähnen zurecht.

Nun musste es aber genügen, sicher war die Kutsche aus Hohenfels bereits eingetroffen.

Sie öffnete die Tür ihres Zimmers – und erstarrte.

Der dumpfe Klang einer Glocke drang an ihr Ohr: zweimal, dreimal, dann herrschte wieder Stille

Sie kannte das Geräusch. Es war die Signalglocke auf dem Marktplatz, die geschlagen werden musste, wenn es in der Stadt zu einer Katastrophe gekommen war.

Beunruhigender als das Geräusch an sich war jedoch die Tatsache, dass es so schnell wieder abgebrochen war. Hatte es etwa schon eine Weile geläutet und sie hatte es nicht mitbekommen, so tief, wie sie in Gedanken versunken gewesen war? Das würde auch das hektische Treiben erklären, welches sie so gekonnt ignoriert hatte.

So schnell sie konnte, rannte Fayori zum Ausgang der Kaserne. Als sie nach draußen trat, überblickte sie zunächst die Dächer der Stadt. Wahrhaftig konnte sie in der Nähe des Stadttores eine dicke schwarze Rauchsäule ausmachen.

Die Augen fest auf den Qualm gerichtet, achtete sie nicht darauf, wo sie hintrat, stolperte und stürzte die zwei Treppenstufen vor dem Eingang hinunter, wobei sie sich noch halbwegs abfangen konnte und sich nur die Hände aufschürfte.

Der Sturz rettete sie, denn in dem Moment, als sie auf dem Boden aufschlug, surrte etwas über ihr durch die Luft und schlug mit lautem Krachen in der Tür der Kaserne ein. Als sie sich danach umdrehte, erkannte sie, dass es ein Bolzen aus hellem Holz war.

Schnell blickte sie in die Richtung, aus welcher der Schuss gekommen sein musste. An der Stelle, an der das Trainingsgelände auf die gepflasterte Hauptstraße traf, lagen drei Männer mit dem Gesicht nach unten im Staub. Der Rüstung nach handelte es sich dabei um Mitglieder der ›Angelus Mortis‹.

Über ihnen stand ein weiterer Mann. Fayori konnte nicht erkennen, um wen es sich handelte, da die spitz zulaufende Kapuze auf seinem Kopf und die dunkle Kutte sein Antlitz verbargen. Die Armbrust in seiner Hand und die Bolzen in den Rücken ihrer Kameraden ließen jedoch keinen Zweifel daran, was hier gerade geschehen war.

Eine weitere schwarz vermummte Gestalt kam die Straße in Richtung Kaserne hinaufgelaufen. »Da ist noch eine!«, brüllte er und deutete auf Fayori.

So schnell wie sie gefallen war, war sie nun wieder auf den Füßen und huschte zurück ins Innere des Gebäudes. Kaum dass sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte, hörte sie den Einschlag eines weiteren Bolzens.

Ihre Gedanken rasten. Anscheinend handelte es sich bei der Katastrophe, wegen der die Glocke geschlagen hatte, nicht um ein einfaches Feuer. Der Grund war eindeutig ein Überfall, der auf die Stadt verübt wurde. Aber warum? Und von wem?

Das konnte sie später noch herausfinden. Jetzt galt es erst einmal, mit heiler Haut aus der Kaserne zu entwischen. Die Männer da draußen würden ihr mit Sicherheit nicht mehr viel Zeit geben, eh sie ihr nachsetzten.

Ohne weitere kostbare Sekunden zu verlieren, lief Fayori den Gang entlang in Richtung der Schlafsäle, vorbei an ihrem eigenen Zimmer, und bog schließlich in das letzte ein, in dem Aerthas und Lysanna bis zu Neylahs Geburt gewohnt hatten.

Vorsichtig spähte sie aus dem dortigen Fenster. Der Hof war leer, die Männer mussten also die Kaserne bereits betreten haben.

Mit fahrigen Fingern entriegelte sie das Fenster, kletterte hinaus und zog es behutsam wieder zu. Vielleicht verschaffte es ihr etwas Zeit, wenn ihre Verfolger nicht wussten, wo sie die Kaserne verlassen hatte.

Mit Sicherheit waren die beiden Angreifer nicht allein und so entschied sie sich, den Stadtkern über einen kleinen Umweg zu erreichen.

Sie lenkte ihre Schritte also nicht zu der großen Pflasterstraße, sondern zu einem schmalen Weg, der zwischen der Stadtmauer und den nächstliegenden Wohnhäusern entlangführte.

Während sie so unbemerkt wie möglich bis zum Marktplatz vordrang, nahm der Tumult in den Gassen immer mehr zu. Die Einwohner Frostwalls verteidigten sich mit allen Mitteln, doch die Kapuzenmänner waren ihnen zahlenmäßig überlegen und mit den Armbrüsten auch auf nahe Distanz kaum abzuwehren.

Übelkeit stieg in Fayori auf, als sie immer wieder über tote Mitglieder des Clans hinwegsteigen musste. Bis zum bitteren Ende hatten sie gekämpft und doch waren sie unterlegen gewesen …

Sie selbst versuchte vorerst, jeder Konfrontation aus dem Weg zu gehen. In der Theorie waren ihr solche Szenarien geläufig. Dass so etwas nun aber tatsächlich passierte, lähmte ihren Verstand. Sie war viel zu geschockt von dem Gräuel, das sie in jeder zweiten Gasse mit ansehen musste, um sich einem Gegner zu stellen.

Endlich kam der Marktplatz in Sicht, wo sich der eigentliche Kampf abspielte. Unzählige Angreifer beider Seiten gingen aufeinander los. Doch leider sah es dabei ganz so aus, als würden die ›Angelus Mortis‹ unterliegen.

Fast alle Ratsmitglieder waren anwesend und nach kurzer Suche konnte Fayori auch Lysanna zwischen den Kriegern ausmachen. Der Anblick ihrer kämpfenden Mutter befreite sie von ihrer Schockstarre. Sie löste zwei Dolche vom Gürtel und schaffte es schon auf dem Weg zu Lysanna, einige Gegner ins Jenseits zu schicken.

»Was ist denn hier los?«, fragte Fayori laut, als sie ihre Mutter erreicht hatte.

So wie Lysanna aussah, hatte sie schon einiges einstecken müssen, schickte ihren Feinden aber unablässig einen Pfeil nach dem anderen entgegen. »Der königliche Besuch war ein Hinterhalt«, erklärte sie knapp. »Kaum dass wir der Kutsche die Tore geöffnet hatten, fielen sie über uns her. Ich will, dass du sofort nach Hause gehst, Neylah holst und mit ihr von hier verschwindest!«

Erst jetzt wurde Fayori klar, was ihre Mutter hier tat. Sie verteidigte sich nicht wahllos, sondern verhinderte mit jedem Schuss gezielt, dass auch nur einer der vermummten Gestalten die Gasse in Richtung ihres eigenen Hauses betreten konnte.

Die junge Elfe hatte versprochen, im Falle eines Kampfes den Anweisungen ihrer Mutter bedingungslos zu folgen. So fragte sie nun nicht weiter nach, sondern rannte schnurstracks die Gasse hinunter, deren Zugang Lysanna so hartnäckig bewachte.

 

In deren Haus angekommen, fand sie ihre Schwester in der Wiege – schlafend und selig lächelnd, unberührt von all dem Chaos, das außerhalb dieser Wände tobte.

Erleichterung durchströmte Fayori, hatte sie sich doch mehr Sorgen um die Kleine gemacht, als ihr bewusst gewesen war. Sie liebte das zierliche Wesen und genoss es stets aufs Neue, wenn sie Lysanna Neylah einige Zeit abnehmen durfte.

Bis ins Detail hatte ihre Mutter ihr erklärt, wie man sich um ein Kleinkind zu kümmern hatte. Daher wusste sie nun auch, welche Dinge wichtig waren, wenn sie Neylah jetzt mit sich nahm.

Sie ergriff eine Umhängetasche, die in einer Ecke des Kinderzimmers lag, und stopfte allerlei Utensilien hinein. Es war durchaus möglich, dass sie einige Tage untertauchen mussten, und ihre Schwester brauchte in dieser Zeit Essen und frische Kleidung.

Als Fayori alles verstaut hatte, legte sie sich den Tragriemen über die Schulter, nahm eine dunkle Decke und wickelte Neylah hinein.

Nicht einen Mucks gab die Kleine von sich, als sie diese an sich presste und mit ihr gemeinsam das Haus verließ.

Flink schlüpfte sie in einen schmalen Spalt zwischen diesem und dem nächsten Gebäude.

Keine Sekunde zu früh, denn schon hörte sie, wie einige Männer die Straße entlanggelaufen kamen. Es mussten vier oder fünf der Kapuzengestalten sein, die eilig in das Haus stürmten und es kurz darauf fluchend wieder verließen.

Fayori wartete nicht länger ab, sondern schob sich zwischen den steinernen Wänden zur Rückseite der Gebäude entlang, wo sie auf die Stadtmauer stieß. Wenn sie Glück hatte, konnte sie in ihrem Schatten bis zum südlichen Stadtende schleichen, ohne Neylah in Gefahr zu bringen.

Aus dem, was sie auf ihrem Weg sah und hörte, schlussfolgerte sie, dass der Kampf vorüber und Frostwall eingenommen war.

Wie es jedoch um ihre Freunde stand, erfuhr sie erst, als sie das Stadttor erreichte, wo die schwarz gekleideten Angreifer gerade ihre Gefangenen hinausführten.

Es waren verdammt wenige, die das Massaker überlebt hatten.

Fayori pirschte sich so nah wie möglich heran, wohl darauf bedacht, selbst nicht entdeckt zu werden. Während sie den kleinen Zug beobachtete, wie er die Stadt verließ, wurden ihre Atemzüge immer kürzer, kamen bald nur noch stoßweise. Sie presste die Lippen fest aufeinander, um dem Schluchzen, das in ihrer Kehle aufstieg, Einhalt zu gebieten.

Gerade wurden Yokumo und Tâlie vorbeigeführt. Der Ratsherr sah übel aus und ohne die Hilfe der Elfenkriegerin hätte er sich wohl kaum noch auf den Beinen halten können.

Hinter ihnen ging Rawena. Sie trug den kleinen Delovan, Yokumos Sohn, während Kenric, der neben ihr lief, schützend seinen Arm um ihre Schultern gelegt hatte.

Die Panik, die immer mehr von Fayori Besitz ergriff, übertrug sich auf Neylah, die sie noch immer fest umklammert hielt, was dem Kind ein unzufriedenes Glucksen entlockte.

Schnell zog sie sich tiefer in die Schatten zurück. »Shhhh, Baby …«, raunte sie der Kleinen zu und wiegte sie ein paarmal, bis diese die Augen wieder schloss.

Mit ihrer Schwester auf dem Arm würde sie sich nicht noch einmal so weit vorwagen können. Also legte Fayori sie widerwillig dicht bei der Stadtmauer auf den Boden und schlich zurück zu ihrem Beobachtungsposten.

Mehr als die Leute, die sie bisher gesehen hatte, beunruhigten sie diejenigen, die sie nicht sah. Noch war keiner der Zwerge vorbeigekommen, genauso wenig wie Nikka, die Ratsherrin. Doch am schlimmsten war, dass Fayori bisher weder Aerthas noch Lysanna hatte ausmachen können.

Das konnte nur zwei Gründe haben: Entweder war ihnen ebenfalls die Flucht gelungen, oder … sie waren tot.

Sosehr die junge Elfe auch dagegen ankämpfte, konnte sie die Tränen, die ihr jetzt über die Wangen liefen, nicht zurückhalten. Der letzte Gefangene hatte soeben die Stadt verlassen. Und Lysanna war es nicht gewesen.

Dafür trat nun einer der Vermummten in das geöffnete Tor. Er zog seine Kapuze nach hinten und Fayori erstarrte, als sie Mitzum erkannte.

»Na endlich!«, brüllte er jemandem zu, den sie nicht sehen konnte, und machte noch ein paar Schritte in die Stadt hinein.

Fayori lugte noch etwas mehr um die Ecke, hinter der sie stand, und entdeckte zwei weitere Angreifer, die auf Mitzum zugingen. In ihrer Mitte führten sie eine Gestalt.

Sie hatten ihr einen Sack über den Kopf gestülpt, doch an der Kleidung und dem Bogen, den einer der Männer in der Hand hielt, erkannte Fayori sofort, dass es sich um Lysanna handeln musste.

Ein Stein fiel ihr vom Herzen. Auch wenn sie das Gesicht ihrer Mutter nicht sehen konnte, sondern nur ihren aufgerichteten Körper, hieß es, dass sie am Leben war.

Nun war es an ihr, Fayori, sie da rauszuholen.

Sie griff an ihren Gürtel, um eines der Wurfmesser herauszuziehen, als sich plötzlich von hinten eine Hand über ihren Mund legte und sie grob zurückzerrte.

Kapitel 2 - Fayori

 

Jemand zog sie ein paar Schritte nach hinten, riss sie herum und drückte sie mit dem Rücken gegen die Stadtmauer.

Angstvoll presste sie die Lider zusammen und wartete darauf, abgeschlachtet zu werden – so wie all die anderen, die nicht als Gefangene aus der Stadt geführt worden waren. Als nichts geschah, öffnete sie zaghaft die Augen. Entsetzt weiteten sich diese, als sie erkannte, dass es Sedan war, der sie festhielt.

Sein blondes Haar war zerzaust, nicht wie sonst glatt nach hinten gelegt, und seine grünblauen Iriden dunkler, als Fayori sie in Erinnerung hatte. Ansonsten sah er aber noch immer wie der zwanzigjährige Junge aus, dem sie in ihren Erinnerungen beinahe täglich begegnet war.

Er sah sie mit finsterer Miene von oben herab an und legte einen Finger auf die Lippen, um ihr zu bedeuten, sich ruhig zu verhalten. Erst als sie nickte, löste er die Hand von ihrem Mund. Dann bückte er sich nach Neylah, die ein Stück neben ihnen lag.

Doch Fayori würde nicht zulassen, dass er sie beide zu Mitzum brachte. Sofort holte sie aus, um nach ihm zu treten.

Damit hatte er aber wohl gerechnet, denn er griff nach ihrem Bein, hebelte sie aus und warf sie nach hinten. Alle Luft wurde aus ihrer Lunge gepresst, als sie hart auf dem Rücken aufschlug.

Sogleich war er über ihr und hielt ihr abermals den Mund zu. Hektisch ruckte sein Kopf in Richtung der Straße. Erst nach ein paar Sekunden senkte er den Blick wieder.

»Ich bin gekommen, um euch zu helfen«, wisperte er. »Also versuch so etwas nicht ein zweites Mal.«

Er ließ von ihr ab und griff stattdessen nach einer ihrer Hände, um sie wieder auf die Füße zu ziehen. Dann deutete er mit dem Kinn auf Neylah.

Fayori verstand und folgte der unausgesprochenen Aufforderung. Nachdem sie die Kleine aufgehoben hatte, nahm Sedan sich seine Kutte ab und hängte sie ihr um die Schultern, sodass sie das Kind darunter verbergen konnte. Erst jetzt fiel ihr auf, dass er unter dem Mantel eine schwarze Lederuniform trug, die ihrer eigenen Kleidung vom Material sehr ähnlich war. Der Schnitt erinnerte sie allerdings eher an die Rüstung, welche die Leibgarde der Fürstin trug.

Von Estaria wusste sie, dass Mitzum kein Mensch mehr, sondern ein Seelenloser war, und dass er und Sedan sich den Anhängern der neuen Königin Elesztrahs angeschlossen hatten.

Bis jetzt hatte Fayori sich gewünscht, die Prinzessin würde sich irren, was Sedan betraf. Doch so wie er nun vor ihr stand, zerstörte es jeden Funken Hoffnung, dass sie noch immer auf derselben Seite standen.

Der Seelenlose wartete noch einen Moment ab, um sicherzugehen, dass niemand Notiz von ihnen genommen hatte. Dann bedeutete er ihr, ihn zu begleiten.

Nur zögerlich setzte sie sich in Bewegung. Sie würde ihm kein Stück weit vertrauen – das stand für Fayori fest. Früher wäre sie ihm blindlings überallhin gefolgt. Jetzt aber beobachtete sie jeden seiner Schritte ganz genau und achtete stets darauf, sich hinter ihm zu halten, während sie ihm nachlief.

Er selbst hatte ihr beigebracht, dem Feind niemals den Rücken zuzuwenden. Und als einen solchen musste sie ihn betrachten: als Feind, auch wenn er sie scheinbar von den Angreifern wegführte.

Mit Neylah auf dem Arm schlich sie ihm hinterher durch die engsten Gassen Frostwalls, bis er schließlich in eines der Gebäude hineinschlüpfte. Erst als er die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, erkannte die junge Elfe, dass es Yokumos Haus war.

Schon im Eingangsbereich erwartete sie ein Bild des Grauens. Die Luft war schwer von einem metallischen Geruch, der eindeutig von der riesigen Blutlache ausging, die sich auf dem Boden gebildet hatte.

Während Fayori darauf bedacht war, nicht in die dunkelrote Flüssigkeit zu treten, sah sie sich um. Dabei fiel ihr Blick auf einen Leichnam inmitten der Pfütze.

Unwillkürlich begannen ihre Beine zu zittern und sie presste Neylah so fest an sich, dass diese leise protestierte. Vor ihr, mit einem in Todesangst erstarrten Gesicht und einer Haut so blass wie der Mond, lag Nikka, die Ratsherrin.

Die Druidin war tot. Man hatte ihr den Kopf von den Schultern getrennt. Wenn Yokumo das hatte mit ansehen müssen …

Fayori schloss die Augen, um einen erneuten Schwall Tränen zurückzuhalten, was ihr kläglich misslang. »Wie konnte das nur …«, schluchzte sie leise.

Behutsam legte Sedan ihr eine Hand auf den Rücken.

Unter seiner Berührung zuckte sie jedoch zusammen, als hätte er sie geschlagen. »Fass mich bloß nicht an«, zischte sie. »Hast du mich hergebracht, um mir das zu zeigen, bevor du uns an Mitzum auslieferst?«

»Ich habe dich hierher gebracht, weil ich genau weiß, dass sie diese Hütte nicht mehr interessiert«, antwortete er und sie konnte hören, wie sehr er sich bemühte, den Zorn in seiner Stimme zu unterdrücken. »Du bleibst hier, während ich versuche, herauszufinden, auf welchem Weg wir hier lebend herauskommen. Zieh dein Tuch über das Gesicht und die Kapuze über den Kopf. Und sieh zu, dass das da sich ruhig verhält.« Er deutete auf Neylah und verschwand, bevor Fayori etwas erwidern konnte.

Es hätte noch so einiges gegeben, das sie ihm gern an den Kopf geworfen hätte, doch ihre Kehle war wie zugeschnürt.

Unschlüssig sah sie sich in dem Raum um, wobei ihr Blick wieder auf Nikka fiel. So würde sie es hier drinnen keine Sekunde länger aushalten. Also nahm sie Sedans Umhang von den Schultern und warf ihn über die Tote.

Nachdem sie noch kurz von einem Fuß auf den anderen getreten war und mit sich haderte, ob sie warten oder verschwinden sollte, zog sie sich einen Schemel heran und setzte sich. Dann befreite sie Neylah ein wenig aus den engen Tüchern und begann, ganz leise zu singen.

 

Baby, mein, weine nicht.

Bald schon kommt das Sonnenlicht.

Wischt die dunklen Träume fort,

zeigt dir einen schönen Ort.

Einen wunderschönen Garten,

wo Mutter und Vater schon auf dich warten.

 

Es war das Lied, welches Lysanna der Kleinen jeden Abend vorzusingen pflegte. Fayori kannte nicht so viele Strophen wie ihre Mutter und als ihr kein passender Reim mehr einfiel, summte sie nur noch die Melodie. Aber schon das reichte, um das Kind zu beruhigen, und so war Neylah bald eingeschlafen.

Fayori hätte nun eigentlich aufhören können, doch die vertrauten Töne beruhigten auch sie selbst und so machte sie weiter, bis sich die Tür des Hauses wieder öffnete und Sedan zurückkehrte.

Als er seinen Mantel inmitten der Blutlache liegen sah, zog er die Augenbrauen zusammen, sagte aber nichts dazu. »Sie sind abgezogen«, meinte er stattdessen. »Wir sollten unsere Chance nutzen und schnellstens von hier verschwinden. Sie werden wiederkommen …«

»Warum?«, fragte Fayori mit belegter Stimme.

»Weil sie nicht haben, was sie wollen.«

Skeptisch sah sie ihn an.

Er hingegen senkte den Blick und betrachtete das Kind in ihrem Arm.

»Sie wollen Neylah«, schlussfolgerte Fayori tonlos. »Aber wieso?«

Sedan zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nur, dass Mitzums wichtigster Auftrag lautet, das Kind zu der Fürstin zu bringen. Die Gründe dafür hat er mir nicht genannt.«

Mehr war er nicht bereit, preiszugeben, das konnte sie in seinem Gesicht lesen.

Also verließen sie gemeinsam das Haus.

Fayori war dankbar, von der Leiche der früheren Ratsherrin wegzukommen. Doch nun, als sie sich mit etwas mehr Ruhe auf den Straßen umsehen konnte, bemerkte sie, dass es hier draußen keinesfalls besser war. Wohin sie ihr Auge auch wandern ließ, sah sie tote Körper, deren Blut das Pflaster rot gefärbt hatte.

Eine tödliche Stille hatte sich über die Stadt gelegt, jetzt, wo die Kapuzenmänner verschwunden waren. Und dennoch war sie nicht bereit, ebenso lautlos zu verschwinden.

»Ich gehe nirgendwo hin«, sagte sie bestimmt. »Ich muss nach Überlebenden suchen.«

»Überlebende?«, knurrte Sedan. »Schau dich mal um. Es gibt keine Überlebenden!«

Sie kannte diesen Ton, den er so oft anschlug, wenn er kurz vor einem Wutausbruch stand. Trotzdem ließ sie sich nicht einschüchtern. »Woher willst du das wissen?«

Er fuhr sich mit der Hand durch das blonde Haar. »Bei den Ahnen, du bist noch genauso stur wie früher«, schimpfte er mit lauter Stimme.

Jeden Moment würde er die Beherrschung verlieren. In anderen Situationen hätte es sie amüsiert, wie leicht sie ihn noch immer reizen konnte. Aber jetzt war ihr ganz und gar nicht nach Lachen zumute. Also tat sie, was sie sonst auch getan hatte, wenn er sie anbrüllen wollte: Sie ließ ihn einfach stehen.

 

Den Weg zum Marktplatz einschlagend, begann Fayori, die Gassen und Straßen abzugehen, wobei Sedan ihr wortlos folgte. Eine halbe Stunde etwa verbrachte sie damit, über ihre toten Kameraden hinwegzusteigen.

Als sie dabei auf die beiden Zwerge Bruhn und Tessel stieß, fing sie wieder an, zu weinen.

Sie ärgerte sich, dass sie nicht stärker war. Denn weinen brachte sie wirklich keinen Schritt weiter. Ein klarer Kopf ohne den Dunst der Trauer wäre hilfreicher gewesen. Wenigstens versuchte Sedan nicht noch einmal, sie zu trösten.

Als sie die Suche nach Überlebenden gerade aufgeben wollte, wurde sie einer Bewegung am Rande ihres Blickfeldes gewahr. Etwas erhob sich zwischen den Toten, mühselig zwar und langsam, aber eindeutig lebendig.

»Bella!«, entfuhr es Fayori voll überraschter Erleichterung. Wenn schon keiner ihrer Kameraden, so hatte sie nun wenigstens Lysannas treue Begleiterin gefunden.

Die große Tigerkatze sah übel aus. Ihr sonst glänzendes weißes Fell war struppig und an mehreren Stellen rot verklebt – ob von ihrem eigenen Blut oder dem eines Gegners, war auf die Entfernung nicht zu sagen. Die Wunde, die sich von der Schnauze über ein Auge zur Stirn zog und die Tigerin halbseitig geblendet hatte, war jedoch nicht zu übersehen. Aber sie lebte, wie das leise Jammern, das sie nun von sich gab, eindeutig bewies.

»Bella, Liebes, komm her«, lockte Fayori sie mit zittriger Stimme. Ihr fehlte einfach die Kraft, selbst über die Leichen zu klettern. Womöglich würde sie dabei ein weiteres bekanntes Gesicht entdecken …

Die Tigerin bewegte sich jedoch kein Stück. Erst vermutete die Elfe, Bella wäre zu stark verletzt, aber als deren Blick sich immer wieder abwechselnd auf sie und auf einen der Toten neben ihr richtete, keimte in ihr der Verdacht, das Tier hätte bis jetzt nicht ohne Grund an ebenjener Stelle ausgeharrt.

Da vernahm Fayori ein leises Stöhnen, das gänzlich anders klang als die Geräusche, welche die Tigerin von sich gab.

»Hallo?«, rief sie und spitzte die Ohren.

Es stöhnte erneut und dann konnte sie ein Wort vernehmen, leise und schwach: »Fay…«

Das war Aerthas, kein Zweifel. Seine Stimme würde sie immer erkennen, so schwach sie auch war. Er war es also, den Bella bewachte, anstatt einfach in den Wald zu laufen und ihre eigenen Verletzungen zu pflegen.

Ohne den Toten weiter Beachtung zu schenken, eilte sie zu der Tigerin und erstarrte, als ihre Augen endlich Aerthas erfassten.

Er lag bäuchlings auf dem Pflaster, ein Schwert im Rücken …

Hätte Bella sie nicht auf ihn aufmerksam gemacht – Fayori wäre nie auf den Gedanken gekommen, er könnte noch am Leben sein.

»Aerthas …«, hauchte sie, als sie sich neben ihn kniete.

Er versuchte, sich auf die Unterarme zu stützen, gab es aber gleich wieder auf.

Es stand nicht gut um ihn, das sah Fayori sofort. Es grenzte ohnehin an ein Wunder, dass er noch bei Bewusstsein war.

»Ich … habe Neylah«, sagte sie leise und strich ihm das Haar aus dem Gesicht, damit er sie sehen konnte. Dabei fiel ihr auf, wie kalt er war.

Sie betrachtete seinen Rücken und die Stelle, an der das Schwert eingedrungen war. Feine weiße Eiskristalle hatten sich darum gebildet, als wollten sie eine Barriere zwischen ihrem Herrn und dem todbringenden Metall bilden.

»Das Eis beschützt mich«, erklärte Aerthas mühsam, als er ihren Blick sah.

Das erklärte, warum die Kapuzenmänner ihn einfach hatten liegen lassen. Seine Körpertemperatur glich der einer Leiche und ein toter Gefangener nutzte niemandem.

»Eigentlich hatten wir andere Anweisungen …«, murmelte Sedan, der nun neben Fayori getreten war. »Lysanna und er sollten um jeden Preis überleben.«

»Wir müssen ihn hier wegschaffen«, schluchzte Fayori nun.

Bella, die neben ihr hockte, rieb tröstend die unverletzte Kopfhälfte an ihrer Schulter.

»So wird das aber nicht gehen.« Der Seelenlose deutete auf das Schwert, bevor er nach dem Schaft griff. »Zähne zusammenbeißen, Eisprinz«, wies er Aerthas an und zog die Klinge mit einem Ruck aus dessen Rücken.

Aerthas ballte die Hände zu Fäusten, gab aber keinen Laut von sich.

»Nun wird mir einiges klar«, meinte Sedan, der das Schwert näher betrachtete.

Auch Fayori erkannte, was er meinte. »Das gehört meinem Vater«, stellte sie mit Verbitterung fest.

»Hat sich Orano also doch nicht unter Kontrolle gehabt. Ich war von Anfang an dagegen, dass er mitkommt.« Angewidert warf Sedan die Waffe beiseite. »Hoch mit dir«, forderte er Fayori auf. »Ich nehme Aerthas und dann verschwinden wir.«

»Aber wohin?« Gern hätte sie vor dem Seelenlosen die Starke gemimt, aber sie konnte nichts dagegen tun, dass ihre Stimme genauso verzweifelt klang, wie sie sich fühlte.

Er bückte sich, drehte Aerthas um und lud ihn sich auf die Arme. »Wir bringen ihn zu Shurya. Außer Mitzum und mir kennt niemand ihre Hütte außerhalb der Stadtmauern. Und von unseren Vorbereitungen weiß ich, dass er ihr keine Bedeutung zumisst.«

Er schaute auf den erschlafften Körper in seinen Armen. Aerthas hatte inzwischen die Besinnung verloren.

»Er ist zäh«, versuchte Sedan, Fayori zu beruhigen, die abermals schluchzte. »Shurya wird schon dafür sorgen, dass er das hier übersteht. Und nun hör endlich auf, zu heulen. Wie oft habe ich dir gesagt, dass Tränen niemandem etwas nützen?«

Sie schniefte und wollte etwas erwidern, behielt es dann aber für sich. Ohne ihn würde sie Aerthas nicht helfen können, das war ihr bewusst. Also musste sie vorerst mit Sedan zusammenarbeiten – ob es ihr passte oder nicht.

Kapitel 3 - Fayori

 

Mit Bella als Vorhut beeilten sie sich, Frostwall so schnell wie möglich zu verlassen, und erreichten kurz darauf die alte, verlassen wirkende Hütte am Waldrand. Dabei wachte Neylah erneut auf und begann in dem Moment zu weinen, als Shurya ihnen die Tür öffnete und sie hineinschlüpften.

Die alte Orkschamanin war zwar blind, trotzdem war ihr nicht entgangen, was sich in der Stadt abgespielt hatte. Als sie den Eingang hinter ihnen verriegelt hatte, hielt sie prüfend ihre Schnauze in die Luft.

»Leg den Eisprinzen dort drüben ab, Sedan.«

Fayori hatte sich schon oft gefragt, wie die Alte ohne Augenlicht zurechtkam, und auch jetzt war sie verblüfft, dass sie Sedan selbst nach so langer Abwesenheit allein am Geruch erkannte.

»Fayori, du solltest Neylah füttern. Die Kleine hat eindeutig Hunger«, sagte Shurya und ging zu dem Strohlager, auf dem nun Aerthas lag.

Während Fayori in ihrer Tasche nach dem Milchfläschchen kramte, welches sie eingepackt hatte, begann die Ork, den Krieger zu versorgen.

Mal um Mal bat sie Sedan um Hilfsmittel oder bestimmte Kräuter. Dieser hatte natürlich von so etwas keine Ahnung und sah immer wieder fragend zu Fayori, die ihm die entsprechenden Mittel zeigte, während das Kind in ihrem Arm begierig an der Flasche nuckelte.

Irgendwann gab Aerthas ein Stöhnen von sich und Fayori atmete erleichtert auf.

»Auch wenn er noch lange nicht über den Berg ist, denke ich, dass er es schafft«, stellte Shurya fest.

Fayori überlegte kurz. »Wenn er zu sich kommt«, sagte sie schließlich, »sag ihm bitte, dass Lysanna lebt, genau wie Tâlie, und dass ich sie zurückholen werde. Ach, und meinst du, du kannst dich um Neylah kümmern, bis wir wieder da sind?«

Sedan sah sie entgeistert an, als sie das zappelnde Kind in die Pranken der Ork legte. »Ist das dein Ernst?«

Sie ging nicht darauf ein, sondern verabschiedete sich knapp von Shurya und verließ dann die Hütte. Dabei knallte Fayori die Tür hinter sich zu, hörte aber, wie Sedan sie abfing, bevor sie ins Schloss fallen konnte.

»Du kannst das Baby doch nicht hierlassen«, rief er und folgte ihr.

Nach ein paar Schritten blieb sie abrupt stehen, wirbelte herum und verpasste ihm einen Kinnhaken.

Eine gewisse Genugtuung durchströmte sie, ihrer Anspannung auf diese Art Luft gemacht zu haben.

Fluchend rieb er über die getroffene Stelle. »Spinnst du?«

»Ab jetzt setzt du keinen Fuß mehr in diese Hütte! Verstanden?«, fauchte sie.

Als hätte Bella, die an einer Hausecke gelegen und ihre Wunden geleckt hatte, sie verstanden, erhob sich die Tigerin und ließ sich neben dem Eingang erneut nieder. Fast wirkte es, als wollte sie persönlich dafür sorgen, dass Sedan sich an Fayoris Anweisung hielt.

»Du kannst sie doch nicht Shurya überlassen«, wiederholte der Seelenlose, ohne das Tier zu beachten.

»Sie ist überall besser dran als in deiner Nähe. Denkst du, ich begreife nicht, warum du hier bist? Du sollst uns doch nur zur Fürstin bringen! Ihr geht davon aus, dass ich dir blind vertrauen würde, aber da hast du dich geschnitten.«

»Verdammt, Fayori! Ich bin abgehauen, um dich zu warnen. Okay, ich war etwas spät dran – aber ich habe euch da rausgeholt, oder nicht? Wenn ich dich hätte ausliefern wollen, denkst du nicht, ich hätte das schon längst getan?«

»Willst du mir erzählen, dass du nach zehn Monaten plötzlich einen Sinneswandel hattest und dein Ehrgefühl wieder erwacht ist?«, konterte sie.

Er schwieg, sah sie nur finster an.

»Wenn dem so ist, dann erzähl mir, was hier los ist«, verlangte sie.

Er zögerte. »Wir haben von Lawinia den Befehl erhalten, Lysannas Tochter zu ihr zu bringen«, wiederholte er, was sie schon wusste, sprach dann aber weiter. »Dabei sollten wir den Clan der ›Angelus Mortis‹ so weit dezimieren, dass er keine Bedrohung mehr darstellt. Nur die Ratsmitglieder sollten verschont werden.«

»Für Zwerge galt das natürlich nicht. Und auch nicht für Nikka. Wessen Leiche finde ich noch, wenn ich zurück in die Stadt gehe?« Dann stellte sie eine Frage, deren Antwort sie eigentlich gar nicht hören wollte. »Was ist mit Semei?«

Sie konnte beobachten, wie sich der Seelenlose beim Klang dieses Namens sofort vor ihr verschloss. Der Bogenschütze und er hatten nie ein besonders gutes Verhältnis gehabt, was vor allem an Semeis Zuneigung zu Fayori gelegen hatte. War Sedan gerade noch bereit gewesen, ihr Auskunft zu geben, würde er ihr nun nur noch das Nötigste erzählen.

»Ich habe ihn nicht gesehen«, kam die knappe Antwort.

»Dann werde ich eben nachschauen.«

Gerade als sie sich zur Stadt drehte, zerriss ein ohrenbetäubender Knall die Stille des Waldes. Kurz darauf gesellte sich zu der kleinen grauen Rauchsäule über den Dächern eine weitere, viel größer und dunkler als die erste.

»Was war das?«, stieß sie erschrocken hervor.

»Sie sprengen die größten Gebäude in der Stadt. Lawinia hat angeordnet, Frostwall bis auf die Grundmauern niederzubrennen.«

Fassungslos starrte Fayori in Richtung der Rauchsäule, als eine zweite Explosion die Erde zum Beben brachte.

Sie kniff kurz die Augen zusammen und marschierte dann los, direkt auf die Stadtmauer zu, hinter der die Kaserne lag.

»Fayori, bleib sofort stehen.« Er sagte es so bestimmend, dass sie fast innegehalten hätte.

Aber nur fast.

»Du kannst da nicht einfach wieder hineinspazieren. Die bringen dich um, ohne mit der Wimper zu zucken.«