Roland Lange


Drei freundliche Tage und ein Todesfall





Harz-Krimi






Handlung und Figuren sind frei erfunden. Darum sind eventuelle Übereinstimmungen mit lebenden oder verstorbenen Personen zufällig und nicht beabsichtigt.








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E-Book: Prolibris Verlag
ISBN E-Book: 978-3-95475-176-1
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ISBN: 978-3-95475-168-6

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Prolog
Wo mochte das Weltall wohl zu Ende sein? War irgendwann Schluss oder dehnte es sich endlos aus?
Immer, wenn sie, wie jetzt, in den wolkenlosen, sternenübersäten Nachthimmel blickte, dachte sie darüber nach – über den Kosmos und die Unendlichkeit. Und über die Grenzen ihres eigenen Denkens. Sie hatte so viele Fragen. Aber sie suchte nicht nach Antworten. Es genügte ihr, sich in dem Meer aus funkelnden Lichtpunkten am Firmament zu verlieren.
Schon einige Minuten saß sie hier im feuchten Gras und starrte nach oben. Die Zigarette zwischen ihren Fingern war fast bis auf den Filter heruntergebrannt. Sie nahm einen letzten Zug, dann drückte sie die Kippe neben sich auf dem Boden aus. Sie fröstelte und zog die Jacke enger an ihren Körper. Die Kälte der Mainacht machte die frühsommerlichen Temperaturen der vorangegangenen Stunden vergessen.
Herrgott, was waren das für zwei Tage gewesen! Der Zwischenstopp in der kleinen Stadt am Harzrand auf ihrem Trip nach Süden. Erst der Freitag und dieser Kerl, der zwar ganz nett, aber überhaupt nicht ihr Fall gewesen war. Wie eine Klette hatte er an ihr gehangen und nur mit Mühe hatte sie ihn sich vom Hals geschafft. Am Abend darauf das Stadtfest und die beiden süßen Jungs aus der Band, von denen sie und Simone sich hatten abschleppen lassen. Die prickelnde Stimmung, die Erwartung dessen, was unausweichlich kommen musste. Dann die Ernüchterung, als sie erkannte, was für ein Versager der Typ war, den sie abbekommen hatte. Und später wieder raus aus dem gemütlichen Nest und zurück auf die Straße. Sie hatten sich bereits auf eine weitere Nacht unter freiem Himmel eingestellt, da kam doch noch die Rettung. Der Techniker der Band hatte sie aufgegabelt und wieder ins Haus gelassen. Er hatte ihnen eine Schlafmöglichkeit in einem Raum angeboten, der vollgestopft war mit Elektrogeräten, Kabelkisten, Boxen, Regalen, Kanistern mit undefinierbaren Flüssigkeiten. Aber auch mit zwei Matratzen und ein paar löchrigen Decken.
Simone hatte sich hingelegt und war sofort eingeschlafen. Sie selbst hatte eine Weile wachgelegen und war dann durch das Fenster nach draußen geklettert, um eine zu rauchen. Sie war ein Stück am Rand des verwilderten Parks entlanggestreift und hatte sich schließlich ins Gras gesetzt, ans Ufer des kleinen Teiches, mit freiem Blick auf den Himmel und die Weiden und Felder, die sich irgendwo, weit hinten, in der Nacht verloren.
Sie war noch ganz in ihrer Erinnerung versunken, als ein leises Knistern sie aufschrecken ließ. Zuerst vermutete sie ein kleines nachtaktives Tier, eine Maus vielleicht oder ein Frettchen, das durch das trockene Laub in ihrem Rücken huschte. Aber das Geräusch kam gar nicht aus ihrer unmittelbaren Nähe. Es kam aus der Richtung, in der sich das Haus befand. Dahin blickte sie und sah einen Widerschein. Ein schnelles Aufflackern nur, dann war es wieder dunkel. Gleich darauf wiederholte sich das Ganze und danach noch mal und noch mal, in immer kürzeren Abständen. Das Licht wurde heller und größer, das Knistern lauter.
Nun endlich begriff sie. Feuer! In dem Haus, in dem Simone lag und schlief, brannte es! Sie sprang auf und hetzte zurück, kam ins Straucheln, schrammte sich an einem Ast den Arm, taumelte weiter. Brandgeruch breitete sich aus, trieb sie zur Eile. Dann sah sie es genau. Es war das Fenster, aus dem sie gestiegen war und aus dem jetzt der Feuerschein drang.
»Simone!«
Sie hatte das Haus fast erreicht, als sie ein Stück abseits drei Personen bemerkte, die in zwei Autos einstiegen. Sie stoppte abrupt ab, schrie um Hilfe. Doch sie reagierten nicht. Sie konnten sie nicht hören oder wollten es nicht. Die Wagen wurden gestartet, fuhren davon. Warum blieben sie nicht, halfen nicht? Das waren die Männer gewesen, mit denen sie den Abend verbracht hatten – oder? Natürlich, sie mussten es gewesen sein! Auch wenn sie nur schemenhaft zu sehen gewesen waren. Aber die beiden Autos, die hatte sie wiedererkannt!
»Simone!«
Warum konnte sie ihre Freundin nirgends entdecken? Das Feuer hatte sie bestimmt geweckt. Die Haustür, nur mit einer Klinke ausgestattet, war abgeschlossen worden, aber Simone hätte wie sie ja auch durch das Fenster klettern können. Warum lief sie hier nirgendwo herum? Warum antwortete sie nicht?
Sie näherte sich dem Fenster. Es war heiß. Zu heiß! Trotzdem machte sie noch ein, zwei Schritte, versuchte, im Inneren etwas zu erkennen. Flammen leckten an den Kisten, ein hohes Regal aus Metall war umgefallen, hatte sich verkeilt und hing schräg im Raum. Beißender Qualm ließ ihre Augen tränen. Sie blinzelte, meinte, hinter dem Gestell einen menschlichen Körper liegen zu sehen.
»Simone!«
Ihr Schrei verhallte ungehört. Sie machte noch einen Schritt auf das Fenster zu, hob die Arme schützend vor ihr Gesicht. Plötzlich ein Knall. Reflexartig sprang sie zurück. Der Flammenschwall erreichte sie trotzdem, versengte ihr Haare und Haut. Ihre Jacke fing Feuer. Sie stolperte, fiel hin, wälzte sich am Boden. Die Flammen erloschen. Sie rappelte sich auf, begann zu laufen, ignorierte die Schmerzen. Weg! Nur weg!
Im Nachbarhaus, das ein gutes Stück entfernt stand, ging das Licht an. Sie registrierte es aus den Augenwinkeln. Keinen Augenblick dachte sie daran, dort Hilfe zu holen. Es war zu spät, Simone tot, tot, tot, hämmerte es bei jedem Schritt in ihrem Kopf. Sie überwand den nahen Bach und hetzte weiter. Über die Wiesen und die Felder. Irgendwohin. Nur weg!
Sie wusste nicht, wie lange sie gelaufen war und wie viele Feldwege sie gequert hatte, als sie in einen Entwässerungsgraben stürzte, sich noch ein kleines Stück über den sumpfigen Untergrund schleppte und dann entkräftet an der Grabenböschung liegenblieb.
In der Ferne heulten Sirenen. Irgendjemand hatte endlich die Feuerwehr alarmiert.
9
Torsten Dreyer wusste nicht, wie oft er schon auf seine Armbanduhr geblickt hatte. In diesem Moment tat er es wieder. Es war mittlerweile eine Dreiviertelstunde über der vereinbarten Zeit. Noch immer war das Mädchen nicht aufgetaucht.
Er saß draußen vor dem Restaurant auf der Holzbank an einem der rustikalen Tische, die rund um das Blockhaus standen. Die Sonne strahlte von einem wolkenlosen Himmel, das Dach der Hütte, das über die Sitzgarnituren hinausreichte, spendete Schatten. Es war das ideale Wetter, um im Freien zu essen und zu trinken. Nur wenige Gäste nutzten jetzt, kurz nach Mittag, die Gelegenheit. Diejenigen, die eingekehrt waren und etwas gegessen hatten, waren wieder gegangen, die Kaffeegäste ließen noch auf sich warten.
Dreyer schaute über die Wiesen hinunter ins Tal auf das Panorama der UNESCO-Welterbestadt Goslar, deren Ziegel- und Schieferdächer hinter einem leichten Dunstschleier verschwammen. Der Anblick beruhigte seine Nerven ein wenig. Er mochte die Stadt mit ihrer majestätischen Kaiserpfalz, mit den Gassen in der pittoresken Altstadt oder dem Markt, den er besonders zur Weihnachtszeit schätzte, wenn über den Buden und Ständen der verführerische Glühweinduft lag.
Im Augenblick trank er Cola. Mit einem ordentlichen Schuss Whisky. Pur hätte er die braune Brühe nicht heruntergebracht. Allzu lange durfte er sich hier oben nicht mehr aufhalten. Ein oder zwei weitere Gläser und er müsste über Schleichwege zurückfahren. Er hatte das Glück schon oft genug strapaziert, da war nicht auszuschließen, dass es ihn bald im Stich ließ und er in eine Verkehrskontrolle geriet und erwischt wurde. Ausgerechnet jetzt ohne Führerschein dastehen, das konnte er sich nicht leisten. Allerdings konnte er das auch zu anderen Zeiten nicht. Noch vernünftiger wäre es natürlich, er würde sofort aufbrechen und zu Hause weitertrinken. Diese Carina würde ohnehin nicht mehr kommen. Und wenn doch – ihr Pech. Schließlich wollte sie etwas von ihm und nicht umgekehrt. Das redete er sich ein, obwohl er es besser wusste.
Insgeheim war er erleichtert, dem Mädchen, das behauptete, seine Tochter zu sein, nicht begegnen zu müssen. Er hatte Angst vor der Konfrontation gehabt, hatte unter dumpfen Grübeleien und ohne Appetit ein Försterschnitzel »Fritz« in sich hineingestopft und sich gewünscht, dass der Kelch an ihm vorübergehen möge. Jetzt sah es so aus, als sei sein Wunsch erhört worden.
Er zahlte und gönnte sich einen letzten Blick auf die Stadt im Dunst. Dann steuerte er zielstrebig auf sein Auto zu. Die drei Männer, die Sekunden nach ihm die Steinberg Alm verließen, bemerkte er nicht. Sie hatten einige Tische entfernt gesessen, wie normale Gäste getrunken, gegessen und sich unterhalten, ihn dabei aber nicht aus den Augen gelassen. Dreyer entging auch, dass die Männer kurz darauf in einen Sprinter einstiegen und ihm in gemessenem Abstand folgten.

Gegen neunzehn Uhr rief er Klaus an. »Sie ist ... nicht ... gekommen.« Dreyer hatte Mühe, die Stimme zu kontrollieren. Seine Zunge fühlte sich wie ein Fremdkörper im Mund an. Er hatte auf der Rückfahrt im Supermarkt eine Flasche Whisky gekauft, einen billigen Bourbon. Keinen von den hochpreisigen Marken. Aber er trank den Stoff ohnehin nicht, um ihn zu genießen, sondern um die Nerven zu beruhigen und seine Sucht zu befriedigen. Er war sich dessen durchaus bewusst.
Kaum dass er ins Haus gekommen war, hatte er noch im Flur den Schraubverschluss von der Flasche gedreht, war in die Küche gestürmt und hatte sich ein Wasserglas vollgegossen. An der Spüle stehend, hatte er das Glas hastig geleert und sich erst danach wieder etwas besser gefühlt.
»Ich weiß«, sagte Klaus zu seiner Überraschung.
»Was? Woher? Ich verstehe nicht.«
»Ich habe umdisponiert und die Sache selbst in die Hand genommen.«
»Wieso denn?« Er schluckte nervös. »Was ... was hast du getan?«
»Das brauchst du nicht zu wissen. Es ist besser so, glaub mir.«
»Ist es ... ist es nicht«, greinte Torsten. »Du hättest mir was sagen können! Vorher. Du ... du willst mich aufs Kreuz legen. Ist doch so, oder?«
»Red keinen Stuss, Torsten!« fauchte Klaus. »Aber wenn du darauf bestehst, es ist wegen deiner Sauferei, verstehst du? Du hast jetzt auch schon wieder reichlich was intus. Das hört man. Ich habe dir gesagt, du sollst endlich mit dem Whisky aufhören. Du verlierst die Kontrolle. Das bringt uns in Teufels Küche, kapierst du das nicht, verdammt?«
»Ich verliere nicht die Kontrolle«, sabberte Torsten aufgeregt. »Ich ... weiß ganz genau, was ich tue.« Das musste er sich nicht sagen lassen. Auch nicht von Klaus. Möglich, dass ihn sein Alkoholpegel zu dem heftigen Widerspruch verleitete, aber darüber dachte er nicht nach. Er konnte sich nicht stoppen. »Ich bin nicht dein Sklave, mit dem du umspringen kannst, wie es dir passt! Und überhaupt, ich habe die Schnauze voll. Ich will nicht mehr! Der Druck, die Angst, da gehe ich dran kaputt. Ich ... ich höre auf. Ich steige aus! Mach deine Geschäfte ohne mich weiter!«
Es war heraus. Er hatte es gesagt! Einfach so. Vorher nicht lange überlegt. Ganz leicht war es gewesen.
»Was war das gerade?«, fragte Klaus mit gefährlich leisem Tonfall.
»Ich ... ich höre auf. Ich will nicht mehr ... ich ... ich bin am Ende.« Auf einmal war die Angst wieder da. So plötzlich, wie sein Mut gekommen war, hatte er ihn verlassen.
»Hey, Alter, das kannst du nicht tun.« Klaus klang jetzt sanft und beruhigend. »Du bist doch mein Freund. Ich brauche dich.«
»Aber der Druck. Das Risiko ... Ich bin nicht so wie du. So ... so kalt.«
»Torsten, Torsten, hör mir zu!« Ein leises Flehen in Klaus’ Stimme. »Habe ich nicht alles dafür getan, dich aus der Schusslinie zu halten? Haben wir dich nicht immer beschützt, wenn es mal eng wurde? Angela und ich?«
»Ja, das habt ihr.« Dreyer nickte seinem Whiskyglas zu.
»Na also. Und das werden wir auch weiterhin tun. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen.« Klaus seufzte leise, ehe er weitersprach. »Wenn du jetzt allerdings aussteigen willst, dann können wir dir nicht mehr helfen und auf dich aufpassen. Dann stehst du ganz allein da. Das könnte dann gefährlich werden. Du weißt einfach zu viel. Das verstehst du hoffentlich.«
»Aber ich ...«
»Ich habe eine Idee, Torsten«, schnitt ihm Klaus das Wort ab. »Du schläfst jetzt deinen Rausch aus und morgen setzt du dich in dein Auto und fährst zwei, drei Tage weg. Irgendwohin. Ans Meer oder so. Lässt dir vom Seewind den Kopf durchpusten, damit du wieder klar wirst. Und dann denkst du nur noch an unser Band-Revival. Du musst nicht zu den Abschlussproben kommen. Bist ja fit am Bass. Ich erkläre es den anderen. Und was dieses Mädchen angeht – vergiss es einfach. Ich habe dir versprochen, dass ich das regele. Und dabei bleibt es. Einverstanden?«
»Einverstanden«, murmelte Dreyer nach einer kurzen Pause.
»Na also. Ich wusste doch, dass du vernünftig bist. Ich melde mich wieder bei dir. Mach’s gut.«
Sein Freund hatte aufgelegt. Dreyer blieb eine Weile wie versteinert sitzen, starrte ins Leere. Was sollte er am Meer, fragte er sich. Was für ein idiotischer Vorschlag! Er hasste das Meer. Und Klaus wusste das.
Ächzend drückte er sich aus dem Sessel hoch. Es war noch recht früh am Abend, aber wenn er jetzt nicht aufstand, schaffte er es später nicht mehr ins Bett. Er nahm das Whiskyglas, trank es leer und stellte es zurück auf den Tisch. Dann schwankte er aus dem Zimmer. Ging in den kleinen Raum mit dem Schreibtisch. Holte das Notizbuch hervor, griff nach dem Kugelschreiber. Setzte auf der nächsten freien Seite an und ließ den Stift sofort wieder sinken. Nein, heute nicht mehr. Morgen, wenn er seine Gedanken ein wenig besser beisammen hatte. Morgen würde er alles aufschreiben. Oder übermorgen.
10
Gerald Körner stand auf dem Parkplatz vor der Praxis des Internisten. Die Einweisung in der Hand. Für eine weiterführende Untersuchung in der Klinik. Es war nur eine Routineuntersuchung bei dem Spezialisten gewesen, der er sich unterzogen hatte. Nachdem seine Beschwerden sich nicht hatten bessern wollen. Soeben hatte ihm der Arzt das niederschmetternde Ergebnis mitgeteilt: Krebs. Die Chancen standen in seinem Fall gut, dass eine gezielte Therapie anschlagen würde, hatte der Mann ihn aufzumuntern versucht und ihm etwas von prozentualen Wahrscheinlichkeiten und Statistiken erzählt. Gerald Körner wusste, dass in diesen Worten schon das Todesurteil verborgen lag. Er war Realist genug, das zu erkennen. Der Arzt hatte sich vergeblich um Schönfärberei bemüht. Das mochte bei anderen Patienten funktionieren. Bei ihm nicht.
Der nächste Tiefschlag also, nachdem er, Klaus Raabe sei Dank, seit einiger Zeit in einem Loch hing, aus dem er einfach nicht herauskam. Hass stieg in ihm auf, als er jetzt daran dachte. Hass auf Klaus, der ihn an sich gebunden hatte. Aus dessen Abhängigkeit es kein Entrinnen gab. Wenn er wenigstens etwas um die Ohren gehabt hätte! Die Band, zum Beispiel. Aber auch das Kapitel war endgültig abgehakt. Klaus hatte ihn als Tontechniker kaltlächelnd abgeschoben und durch zwei jüngere Kerle ersetzt. Irgendeinen anderen Job in der Gruppe, etwa als billiger Handlanger, der den Jungs die Instrumente reichte, hatte er nicht machen wollen und daraufhin Paper Plane den Rücken gekehrt. So quälte er sich seit seiner Krankschreibung im Januar durch den Tag, hing meist im Hølmen, dem Schweden-Bistro, ab, verlor sich in Grübeleien, ließ es zu, dass das Gedankengift sich immer weiter ausbreitete. Vielleicht war der Krebs ja die Quittung dafür.
Er hatte keine Ahnung, wie er mit dem Druck umgehen sollte, der seinen Kopf zum Platzen zu bringen drohte, seit ihm der Arzt die Diagnose mitgeteilt hatte. Was tun? Wieder ins Hølmen gehen, wie jeden Tag? Unschlüssig blickte er sich um, dann stieg er in sein Auto und fuhr los. Richtung Oberharz.
Es war früher Abend, als er Wildemann erreichte. Den ganzen Tag über hatte er sich ziellos durch die Berge treiben lassen, hatte den Harz durchquert und erst, nachdem er in Halberstadt einen Happen gegessen hatte, die Rückfahrt angetreten. Wildemann hatte er auf seiner Route ebenso wenig eingeplant gehabt, wie alle anderen Orte. Doch schon auf Höhe des Ortsschildes wusste er, dass er Torsten Dreyer einen Besuch abstatten würde, dem Paper-Plane-Bassisten. Das Mädchen war ihm wieder eingefallen, dem er Torstens Handynummer gegeben hatte. Wäre interessant zu wissen, was aus der Geschichte geworden war, hatte er gedacht, als er in den Ort eingefahren war.
»Ach du bist das, Gerry. Was machst du denn hier?« Das Gesicht, das ihn aus der einen Spaltbreit geöffneten Haustür anstarrte, signalisierte Überraschung und zugleich Abneigung. Wiedersehensfreude sah zweifelsohne anders aus.
»Darf ich reinkommen?«
Torsten Dreyer zögerte einen Moment, seine Augenlider flackerten. Dann nickte er schnaubend, öffnete ihm vollständig die Tür, trat etwas zur Seite und ließ ihn vorbei.
Sie gingen ins Wohnzimmer. Gerald Körner erblickte auf dem Couchtisch ein geöffnetes Notizbuch und einen Kugelschreiber. Eine Flasche Whisky und ein Glas mit einem goldbraun schimmernden Rest Flüssigkeit standen daneben. Torsten soff also nach wie vor. Na sicher! Der unstete Blick des Bassisten, der leicht schwankende Gang auf dem Weg ins Haus. Das Notizbuch störte allerdings ein wenig das Bild, das er von ihm hatte. Was schrieb er da?
»Führst du etwa Tagebuch?«, fragte er im Scherz und deutete mit einem Kopfnicken auf die Kladde.
Torsten reagierte unerwartet heftig. Er machte einen Satz zum Tisch, klappte hektisch das Buch zu, bekam es mit seinen nervösen Fingern erst im Nachfassen in den Griff, stolperte zum Wohnzimmerschrank und ließ es in einem Schubfach verschwinden.
»Mein Privatkram«, schnappte er. »Geht dich nichts an.«
»Ja ja, schon gut.« Gerald Körner hob beschwichtigend die Hände. »Ich will es nicht wissen. War nur ’n Spaß.«
Torsten nickte zögerlich. »Setz dich«, sagte er, jetzt etwas beruhigt, wenngleich immer noch nicht freundlich und entspannt. »Auch ’n Whisky?« Er deutete auf die Flasche.
»Nee, danke. Wenn ich Auto fahre, trinke ich nicht.«
Der Bassist zuckte mit den Achseln, schenkte sich selbst das Glas voll, nahm einen kräftigen Schluck. »Und, was machst du so?«
»Was schon? Mal dies, mal das. Hab viel Zeit, seit ich krankgeschrieben bin. Und als euer Techniker bin ich ja auch nicht mehr gefragt. Hätte sonst vermutlich genug um die Ohren gehabt.«
»Du, ich kann nichts dafür«, setzte Torsten hastig zu einer Verteidigung an. »Außerdem warst du es ja selber, der alles hingeschmissen hat. Klaus hätte dich ...«
»Hey, ganz ruhig«, unterbrach ihn Gerald Körner, »ich gebe dir doch nicht die Schuld. War einfach so ’ne spontane Idee, dich zu besuchen, weil ich grad in der Gegend war.« Er beobachtete das nervöse Herumrutschen des Bassmannes auf dem Sessel, ein Verhalten, das er nicht nur dem Whiskykonsum zuschrieb. »Und? Was macht euer Comeback? Habe gehört, Ostern in der Heide ist es schon richtig gut gelaufen.« Es war für ihn wie eine Art Selbstverstümmelung, das auszusprechen. Trotzdem musste er es tun.
»Mhm ...«, brummte Torsten. »Wird cool.«
»Und die Presse stürzt sich jetzt auf euch. Hast ja gerade erst ein Interview gegeben.«
»Hä?«
»Na, diese Volontärin von dem Szeneblatt. Hat die sich nicht bei dir gemeldet?«
»Welche Volontärin? Was meinst du?«
»Sie hat mich in Osterode angequatscht. Wollte wissen, wie sie dich erreichen kann. Ich habe ihr deine Nummer gegeben.«
»Bei mir hat keine Pressetante angerufen.«
Gerald Körner runzelte die Stirn. »Verstehe ich nicht. Sie war ganz scharf darauf, mit dir zu sprechen.« Er zögerte, blickte den Bassisten von der Seite an. Dann zuckte er mit den Schultern. »Was soll’s. Vielleicht ist ihr zwischenzeitlich einer von den anderen Jungs über den Weg gelaufen.«
Torsten sprang plötzlich auf. Die Augen aufgerissen, machte er ein paar hektische Schritte durch das Zimmer, drückte sich die Hände auf den Bauch, als habe er Schmerzen. Gerald sah, dass sich der Brustkorb des Bassisten in raschem Rhythmus hob und senkte, und er fragte sich, ob er dessen panikartige Reaktion ausgelöst hatte.
»Du, Entschuldigung, ich muss mal eben ...« Torsten nickte zur Tür. »Hab’s seit ein paar Tagen mit dem Magen. Vermutlich Lampenfieber. Und das in meinem Alter.« Er versuchte ein Grinsen, das ihm gründlich misslang. »Wenn du doch ’n Whisky möchtest, bedien dich ruhig.«
»Klar, mach ich.«
Gerald Körner blickte dem Bassisten hinterher, der strauchelnd das Wohnzimmer verließ. Arme Sau, dachte er. Ein paar Sekunden zögerte er, dann stand er auf und ging zum Schrank. Das Notizbuch. Es war der Reiz des Verbotenen, der ihn anzog, vielleicht auch Torstens merkwürdiges Verhalten. Das Lampenfieber nahm er ihm nicht ab. Behutsam zog er das Schubfach auf, in dem der Bassist das Buch hatte verschwinden lassen. Er musste seine Neugier befriedigen und einen Blick hineinwerfen.
Als er die letzten beiden beschriebenen Seiten aufschlug und sie las, kam ihm ein schrecklicher Verdacht, der noch erhärtet wurde, als er die Einträge einige Blätter davor überflog. Ihm blieb nicht viel Zeit, aber ein paar Zeilen genügten. Er holte sein Smartphone aus der Tasche, machte hastig mehrere Aufnahmen. Die Wasserspülung rauschte.
Als Torsten von der Toilette zurückkam, saß Gerald Körner wieder auf seinem Platz und spielte an dem Glas herum, in das er eilig ein wenig Whisky gefüllt hatte.
»Habe mir doch einen Schluck genommen«, sagte er und prostete Torsten zu.
Sie setzten ihr Gespräch noch eine Weile fort, redeten aber nur über Belanglosigkeiten. Sie bewegten sich wie zwei Raubkatzen um ein totes Beutetier, jeder den anderen beobachtend, sich gegenseitig misstrauend.
Gerald Körner gab das Belauern schließlich auf und verabschiedete sich. Er hatte etwas, worüber er nachdenken musste und von dem Torsten nicht ahnte, dass er es besaß. Zumindest hoffte er das. Es waren nur lose Puzzlestücke, aber wenn er die richtig zusammensetzte, ergab sich daraus vielleicht trotz der fehlenden Teile ein schlüssiges Bild. Und damit hatte er dann womöglich etwas in der Hand, womit er dem Mann, der ihn derart gedemütigt hatte, das Genick brechen konnte.
11
Torsten Dreyer hatte es endlich geschafft und den Tagebucheintrag, bei dem er gestern von Gerald Körner unterbrochen worden war, zu Ende zu schreiben. Jetzt fühlte er sich besser. Er glaubte, wieder freier atmen zu können, nachdem er den Druck los war. Aber war es nicht immer so gewesen? Jedes Mal, wenn er sich den Ballast von der Seele geschrieben hatte?
Nein, dieses Mal ging es um mehr als nur um seelische Erleichterung. Er wollte sich von Klaus befreien, nicht länger abhängig sein von seinem Geld und seiner Bevormundung. Er musste einen Schlussstrich ziehen unter die erbärmlichen, unmenschlichen Geschäfte, in die er sich hatte hineinziehen lassen. Aber erst jetzt, wo er aufgeschrieben hatte, warum er dem ganzen widerlichen Dreck ein Ende machen wollte, wo auf dem Papier stand, was er empfand und wie es ihn quälte, fühlte er sich auf eine merkwürdige Art sicher. Er hatte festgehalten, schwarz auf weiß, dass er nicht mehr mitmachen würde wie bisher. Er konnte es immer nachlesen und sich daran erinnern, wenn ihn Klaus einschüchtern und bei der Stange halten wollte. Es wurde höchste Zeit, dass er sein Leben umkrempelte, um nicht eines Tages als körperliches und seelisches Wrack in einer Ecke zu liegen und elend zu krepieren. Würde er einfach immer weitermachen, würde ihn auch das Revival der Band nicht retten. Spätestens als dieses Mädchen aufgetaucht war, oder besser, als er von der Existenz seiner vermeintlichen Tochter erfahren hatte, denn er hatte sie ja nicht zu Gesicht bekommen, spätestens da hatte es bei ihm Klick gemacht. Und er würde standhalten! Dieses Mal würde er ablehnen, wenn er für die Organisation wieder einen, zugegeben lukrativen, aber schmutzigen Job erledigen sollte. Er würde Klaus gegenüber hart bleiben! Dessen Überredungskünsten und Druck nicht mehr nachgeben.
Noch einmal las er sich die beiden Seiten durch, die er geschrieben hatte. Dann wollte er das Buch zuklappen und zurück in den Schrank legen zu all den anderen, die er im Laufe der Jahre vollgeschrieben hatte. Eine Dokumentation seines verschissenen Lebens, festgehalten in etlichen Kladden. Doch plötzlich zögerte er, ließ das Buch offen vor sich liegen und schenkte sich ein. Ein Glas Whisky zur Belohnung angesichts dessen, was er geleistet hatte, das musste jetzt sein.
Während er trank, starrte er auf den Tagebucheintrag, hing daran fest, wie an einem wertvollen, verlockenden Schmuckstück, von dem man nicht die Augen lassen konnte.
»Mein Schaaatzzz ...«, zischelte er und kicherte in sich hinein.
Nach dem dritten oder vierten Glas, er hatte nicht mitgezählt, klingelte es an der Haustür. Er blickte auf die Uhr an seinem Handgelenk, versuchte, die auseinanderdriftenden Bilder der Ziffernblätter wieder zur Deckung zu bringen. Es dauerte ein paar Sekunden, in denen sich das Klingeln wiederholte.
»Ja, verdammt, ich komme!«, lallte er.
Es war fast zwölf. Wer, zum Henker, wollte denn jetzt noch was von ihm? Gerry würde es ja wohl nicht schon wieder sein. So viel Besuch, wie in diesen beiden Tagen hatte er das ganze letzte Jahr nicht bekommen! Von seinem Vermieter einmal abgesehen.
Wieder das Läuten.
»Herrgott noch mal, ja!« Er quälte sich aus den Polstern hoch und stolperte durch das Wohnzimmer in den Flur. Es dauerte, ehe er den Lichtschalter ertastet und bedient hatte. Dann torkelte er zur Haustür. Er drehte den Schlüssel und zog die Tür auf. Von einer Sekunde zur anderen zerriss der dunstige Schleier, der um seinen Kopf lag. Seine wohlige Trägheit wich eisigem Entsetzen.
12
Holger Diekmann drehte sich um und ließ die Augen über die Köpfe des Publikums wandern. Er und Heike, seine Frau, hatten sich mit Ingo Behrends und dessen Frau Katrin verabredet. Bis jetzt konnte er die zwei noch nirgends entdecken. Hier vor der Bühne wollten sie sich treffen, um gemeinsam das Comeback der Band Paper Plane zu erleben, den einstigen Lokalmatadoren, die sich nach einem Vierteljahrhundert wieder zusammengefunden hatten. Und möglicherweise auch ihr Scheitern, dachte er und musste sich insgeheim eingestehen, dass es ihm eine Genugtuung wäre, im Burgblick über ihren verpatzten Auftritt zu schreiben. Als kleine Entschädigung dafür, dass Sandra oder Alexandra – noch immer war er sich bei ihrem Namen unsicher – ihn damals verschmäht hatte und lieber mit einem von den Bandmitgliedern ins Bett gestiegen war.
Während er wartete, war Heike im Gewühl untergetaucht. Sie hatte keine Lust gehabt, sich vor der Bühne zu langweilen und bei den Umbauarbeiten zuzuschauen, nach dem King Size, eine Top-40-Band aus Braunschweig, ihren Auftritt kurz zuvor beendet hatte. In einer Viertelstunde wollte sie zurück sein. Sich nur ein bisschen umsehen. Holger wusste aus Erfahrung, dass es länger dauern würde. Er rechnete damit, sie frühestens in dreißig Minuten oder noch später wiederzusehen, je nachdem, wer von ihren Bekannten ihr über den Weg lief.
Trotz der Pause war ein Großteil des Publikums vor der Bühne stehen geblieben und immer mehr Leute kamen dazu. Konnte es angehen, dass Paper Plane mit ihrem Status-Quo-Programm, diesen simplen Drei-Akkord-Boogie-Songs, auch heute noch die halbe Stadt mobilisierte? So viel Begeisterung für eine regionale Gruppe und eine Musik, die nach wie vor in die Glieder fuhr und niemanden stillstehen ließ? Ein bisschen kam es ihm in diesem Augenblick vor, als sei die Zeit stehen geblieben.
Diekmann erinnerte sich an die Drei freundlichen Tage, während der die Band ihren letzten Auftritt absolviert hatte. Es war ähnlich voll gewesen in der Osteroder Innenstadt. Er horchte in sich hinein und vernahm wieder das Stimmengewirr, das damals vermischt war mit Klangfarben, die ihm, so kurz nach der Wiedervereinigung, fremd vorgekommen waren. Die Dialekte der Gäste aus den Harzorten Thüringens und Sachsen-Anhalts stachen heraus, gehörten noch nicht, wie heute, zum Alltag.
Diekmann versuchte, in dem Gewühl Carina zu entdecken, die junge Frau von der Eisdiele. Es war ihm bisher nicht gelungen, sie aufzuspüren. Nicht auszuschließen, dass sie die Stadt längst wieder verlassen hatte. Das wäre wirklich ärgerlich. Zu gern hätte er mit ihr gesprochen und herausgefunden, ob diese Halskette sie tatsächlich mit seiner Bekanntschaft von damals verband und was sie mit ihrer Lüge von dem neuen Szeneblatt bezweckte. Vielleicht hatte er ja Glück und sie lief ihm heute Abend doch noch über den Weg.
»Hallo! Da sind wir!«
Ein kräftiger Schlag auf die Schulter ließ Diekmann zusammenfahren und holte ihn in die Gegenwart zurück. Vor ihm standen Behrends und Katrin. »Mann, müsst ihr euch denn so anschleichen?«, fauchte er.
»Wir haben uns nicht angeschlichen«, widersprach sein Freund lachend. »Aber wenn du natürlich nicht auf unser Winken reagierst, sondern träumst und Löcher in die Luft starrst, müssen wir uns anders bemerkbar machen.«
»Ja, klar. Dann eben die Schocktherapie. Hättest auch gleich einen Warnschuss abfeuern können.«
»Hätte ich sicher gemacht. Aber heute bin ich ausnahmsweise mal unbewaffnet«, entgegnete Behrends.
»Ein Glück für uns alle.« Diekmann grinste. »Na ja, auf jeden Fall schön, dass ihr da seid.«
»Bist du allein?«, wunderte sich Katrin. »Wo ist Heike? Sie wollte doch mitkommen.«
»Ist sie auch. Das Warten war ihr aber zu langweilig. Sie ist losgezogen, sich etwas umsehen. Sie trudelt sicher bald ein.«
Katrin blickte zur Bühne, auf der immer noch Verstärker, Mikrofonständer und Schlagzeugteile herumgeschleppt und Kabel ausgelegt wurden. »Wisst ihr was«, sagte sie, »ich gehe Heike suchen. Es dauert sowieso, ehe die Jungs loslegen. Wir treffen uns dann wieder hier.«
Die beiden Männer verabschiedeten Katrin mit einem zustimmenden Nicken. Behrends deutete auf den nur ein paar Meter entfernt stehenden Getränkepavillon. »Bierchen?«, fragte er.
»Klar«, sagte Diekmann. »Wenn du zahlst.«
Sie drängelten sich zur Theke vor, gaben ihre Bestellung auf und kämpften sich wenig später aus der Menschentraube um den Pavillon wieder heraus. Drei, vier Meter von der Bühne entfernt hatten sie schließlich genügend Platz, um unbehelligt ihr Bier zu trinken.
»Was ist eigentlich mit eurem Zuwachs, dem kleinen ... wie heißt er doch gleich?«, wollte Diekmann wissen.
»Riley?«
»Genau. Könnt ihr den etwa schon allein zu Hause lassen?«
Behrends schüttelte den Kopf. »Um Himmels willen, nein! Der würde uns garantiert die halbe Einrichtung zerlegen. Wir haben ihn für die Nacht bei einer von Katrins Bekannten abgegeben. Die hat früher mal Hunde ausgebildet. Jetzt nimmt sie gelegentlich das ein oder andere Tier in Pension.«
Auf der Bühne ließ man sich mit dem Umbau Zeit.
»Hallo, Matte, wann geht’s los?«, rief Diekmann plötzlich einem massigen Klotz in schwarzem Kapuzenshirt hinterher, dem die welligen, mit grauen Strähnen durchzogenen dunkelbraunen Haare fast bis zur Hüfte reichten.
Der Hüne hielt inne und drehte sich um. Als er Diekmann erkannte, setzte er ein breites Grinsen auf. »Ey, Holger, grüß dich!«, rief er ihm zu. »Noch ’ne halbe Stunde, dann ist Party.«
»Und, wie wird’s? So wie früher?«
»Besser, Alter, viel besser! Wird ’ne geile Show. Wirst sehen.« Er hob kurz die Hand, zeigte zum Gruß die Pommesgabel, die Geste der Metal-Fans, und hastete weiter.
»Wer war das denn?«, fragte Behrends.
»Martin Kirchhoff. Der Mann fürs Grobe. Hat schon früher den Möbelpacker bei Paper Plane gemacht. Anlage aufbauen, Anlage abbauen. Wo zugepackt werden muss, ist Matte gefragt. Hat zwar nicht allzu viel in der Birne, ist aber ein echter Kumpeltyp. Gutmütig. Wird leider oft ausgenutzt. Na ja, wie das eben so ist ... Was hältst du davon, wenn wir noch ’ne kleine Runde drehen, ehe das Spektakel hier losgeht?«
Behrends nickte. Sie schoben sich durch das Gewühl vor dem Bierpavillon und links daran vorbei. Die Menschentraube lichtete sich und in der Gasse hinunter in Richtung Marientorstraße herrschte kein Gedränge. Sie schlenderten zwischen den verschiedenen Ständen mit heimischen Spezialitäten und den Bratwurstbuden entlang, um das Kinderkarussell herum und zurück. Ein kurzer Weg ohne Angebote, für die es sich lohnte, stehenzubleiben.
»Ich bin nur froh, dass hier auf dem Platz nicht gleichzeitig der Beachvolleyball-Cup ausgetragen wird, wie sonst die Jahre«, sagte Diekmann. »Diese dauernden Ansagen und der Krach drumherum, das war nachmittags und wenn auf der Bühne die etwas leiseren Töne vorgeherrscht haben, echt störend.«
»Stimmt«, bestätigte Behrends. »Hat ja auf ’nem Stadtfest auch nichts zu suchen, so ’ne große Sportveranstaltung.«
Sie überquerten den Martin-Luther-Platz, erreichten das alte Rathaus.
»Erinnerst du dich an die fliegenden Händler mit ihrem billigen Ramsch, die vor ein paar Jahren hier am Schilde standen?« Diekmann verzog angewidert die Mundwinkel. »Ich frage mich heute noch, wie man das damals zulassen konnte. Da ist der Mittelaltermarkt viel passender.« Er deutete auf die Buden entlang der Fußgängerpassage, in denen Händler in ihren Gewändern und mit den Waren, die sie feilboten, eine längst vergangene Zeitepoche aufleben ließen.
»Und der Stand der Türken oben beim Schuhgeschäft.«
»Richtig. Der natürlich auch.« Diekmann blickte zur Uhr. »Wollen wir uns bei denen noch schnell was zu essen holen? Schaffen wir locker.«
Auf halbem Weg blieben sie stehen und sahen auf der Mittelaltermeile einem Gaukler bei seinen Jonglierkünsten mit brennenden Fackeln zu. Nebenan lockten Met und Leckereien vom Schwenkgrill.
»Da könnte ich jetzt auch drauf«, sagte Behrends und schmatzte leise. »Nein, heute nicht.« Er winkte ab. »Heute ist türkisches Essen angesagt. Schwenkbraten im nächsten Jahr.«
»Wenn es dann noch ein Stadtfest gibt«, entgegnete Diekmann. Sie setzten ihren Weg fort.
»Wieso? Was heißt das?«
»Das Fest steht vor dem Aus, habe ich läuten gehört. Die Veranstalter können das angeblich nicht mehr stemmen. Denen steht wohl schon in diesem Jahr ein ordentliches Defizit ins Haus.«
»Mann, das wäre echt schade.« Behrends schüttelte betroffen den Kopf. »Mir haben die Drei freundlichen Tage immer gut gefallen. Haben doch auch Tradition. Keine Chance, dass es weitergeht?«
»Weiß nicht.« Diekmann zuckte mit den Achseln, stoppte für zwei schnelle Fotos kurz ab.
»Nicht gut für Osterode, wenn eine Attraktion, wie das Stadtfest wegbricht.«
»Wem sagst du das?«
Sie erreichten den Stand der türkischen Gemeinde. Mit ihren Börek-Röllchen in der Hand machten sie sich Minuten später auf den Rückweg.
Das Gedränge um die Bühne herum hatte in der Zwischenzeit stark zugenommen. Diekmann holte seinen Fotoapparat aus der Tasche und schoss über die Köpfe hinweg ein paar Bilder, um den Zuschaueransturm später im Burgblick dokumentieren zu können. Heike und Katrin waren nirgends zu sehen.
»Wo die bloß stecken.« Behrends stellte sich auf die Zehenspitzen und schaute sich nach allen Seiten um. Er wirkte etwas besorgt. »Nicht, dass wir uns verpassen.«
Diekmann zuckte nur mit den Schultern. »Ach was. Keine Panik. Die finden uns schon«, sagte er und schob sich ein paar Meter nach vorn. Behrends folgte ihm. Weitere Minuten vergingen, in denen sich auf der Bühne nichts regte. Das Publikum wurde ungeduldig. Vereinzelte Pfiffe ertönten und kurz darauf setzte rhythmisches Klatschen ein. Dann brach die Pausenmusik ab. Sekunden später dröhnte aus den Lautsprechern eine martialische Mischung aus Sirenengeheul, dem Wummern von Hubschrauberrotoren, Granatenexplosionen, Pfeifen und Zischen. Eine blecherne Männerstimme bellte anfeuernde, kämpferische Worte. Nebelmaschinen stießen ihre Wolken aus. Schlagzeug, Keyboard und die Phalanx der weißen Marshall-Boxen wurden langsam von den wabernden Schwaden verschluckt. Das farbige Licht der Scheinwerfer unter dem Dach verwandelte im Zusammenspiel mit den Stroboskopblitzen die Bühne in eine unwirkliche, gespenstische Kulisse. Jubel brandete auf. Endlich ging es los! Die Stunde von Paper Plane war gekommen – die Wiedergeburt!
Ohne es verhindern zu können, wurde Behrends von der euphorischen Stimmung mitgerissen, hob die Arme, klatschte, fiel in den Jubel ein. Diekmann hielt den Fotoapparat schussbereit auf die Bühne gerichtet.
Dann das rhythmische Stampfen der Bass Drum, das sich, unterstützt von den wummernden Tönen des E-Basses, langsam aus der lärmenden Kakofonie herausschälte, sich zu einem ohrenbetäubenden Donnern steigerte und wieder abbrach. Zwei, drei Herzschläge lang herrschte gespenstische Stille. Plötzlich fingen die Scheinwerfer den Paper-Plane-Rhythmusgitarristen ein, der wie aus dem Nichts am Bühnenrand aufgetaucht war. Mit seiner weißen Fender Telecaster übernahm er die Regie für ein kurzes Intro, genau wie es Rick Parfitt, der wenige Monate zuvor verstorbene Status-Quo-Musiker, immer gespielt hatte. Der Leadgitarrist gesellte sich mit einer zweiten Telecaster dazu. Gemeinsam wechselten sie nach ein paar Takten in den typischen Boogie-Rhythmus, steigerten allmählich die Spannung und fanden sich schließlich mit Schlagzeug, Keyboard und Bass zu einer energiegeladenen, krachenden Eruption in dem Quo-Evergreen »Whatever You Want« zusammen.
Jubel, Klatschen, Hüpfen. Eine Welle der Begeisterung wogte durch die Menschenmenge. Vom ersten Moment an war der Funke von der Bühne auf sie übergesprungen. Paper Plane war zurück. Und wie!
Behrends feierte, Diekmann fotografierte. Drei Songs spielte die Band nahtlos hintereinander weg, erst danach begrüßte Klaus Raabe, Sänger, Lead-Gitarrist und Kopf der Band, das Publikum.
Die Pause gab Behrends die Gelegenheit, seinem Freund eine Frage zu stellen, ohne gegen den Lärm anbrüllen zu müssen. »Gehört der Bengel am Bass auch zu Paper Plane?«, rief er. Älter als siebzehn Jahre schien der Musiker nicht zu sein, der nahezu regungslos im Hintergrund die Saiten zupfte und dabei etwas verschüchtert wirkte.
Diekmann ließ für einen Moment den Fotoapparat sinken und wandte sich von den Musikern ab und Behrends zu. »Nein, tut er nicht«, entgegnete er. »Ich wundere mich auch schon die ganze Zeit. Keine Ahnung, warum dieses Kind da oben steht und nicht Torsten Dreyer. Aber ich werde es herauskriegen.« Damit widmete er sich wieder dem Fotografieren und dem Geschehen auf der Bühne.
Die Show von Paper Plane dauerte bereits über eine Stunde, als Behrends endlich Katrin und Heike entdeckte. Sie standen am Rand der Menschenansammlung, waren dem Gedränge etwas ausgewichen. Er gab Diekmann mit Handzeichen zu verstehen, dass er zu den Frauen hinübergehen wolle. Sein Freund nickte zustimmend, blieb aber selbst an Ort und Stelle und fotografierte.
Nach weiteren fünfundvierzig Minuten und drei Zugaben hatte das Publikum immer noch nicht genug, doch die Band ließ sich nicht mehr auf die Bühne zurückklatschen. Nur langsam zerstreuten sich die Menschen. Auch Diekmann machte sich auf den Rückzug. Etwas orientierungslos kreuzte er über den Platz, suchte nach Behrends, Katrin und Heike.
»Hey, Holger, hallo!«, wurde er plötzlich von einer übermütigen Frauenstimme in seinem Rücken aufgehalten. Er drehte sich um und sah Angela Raabe, flankiert von zwei Freundinnen, auf sich zustürmen. Alle drei waren zur Feier des Tages durchgestylt, trugen enge Jeans und lässige Lederblousons über Blusen, die einen tiefen Blick ins Dekolleté gewährten. Sie hielten ein Glas Prosecco in der Hand und waren offenkundig bester Laune.
»Machst du ein schickes Foto von uns? Bitte, bitte!«, quietschte Angela. Ihre beiden Begleiterinnen kicherten hysterisch dazu.
Diekmann grinste belustigt. »Na dann, Mädels, stellt euch mal schön in Pose.«
Die drei hakten sich unter, ließen ihre Gläser aneinander klirren. »Stößchen!«, flöteten sie affektiert.
Diekmann drückte fleißig den Auslöser. Mit etwas Glück fand sich in der Sammlung später ein Foto, für das sich niemand schämen musste, wenn er es in seinem Online-Magazin veröffentlichte. Das peinliche Verhalten der drei Frauen ließ ihn jedoch daran zweifeln.
»Zeig mal, Holger!«
Angela hatte sich dicht an Diekmann gedrängt und schaute ihm über die Schulter. Sie wollte das Ergebnis des Minishootings sehen. Er tat ihr den Gefallen und zeigte ihr die Bilder auf dem Display des Fotoapparates.
»Du, wer war eigentlich dieser Milchreisbubi am Bass?«, nutzte er die Gelegenheit.
»Ach, das war Lennart,« entgegnete sie lapidar.
»Lennart?«
Angela wandte sich von den Fotos ab. Sie schaute Diekmann ins Gesicht. »Ja, Lennart Winter.«
»Kenne ich nicht.«
»Eddie hat ihn angeschleppt. Ist einer seiner Schüler. Der Junge spielt in der Schulband. Paper Plane scheint deren großes Vorbild zu sein. Ist ja klar, unter wessen Einfluss die stehen.« Sie schmunzelte verschmitzt. »Na, jedenfalls haben die das komplette Quo-Repertoire drauf.« Eddie, der Drummer von Paper Plane, war hauptberuflich Lehrer am Herzberger Gymnasium. Mathe und Deutsch. Außerdem leitete er die Musik-AG.
»Dann brauchte der Junge wohl nicht lange zu üben, um bei den Senioren mitspielen zu können, oder?«
»Zum Glück!«, krähte Angela. »Er musste ja ganz kurzfristig für Torsten einspringen.«
»Wieso überhaupt?«, wunderte sich Diekmann. »Was ist mit Torsten?«
Angela fuhr sich mit der Hand durch ihre Löwenmähne und machte ein nachdenkliches Gesicht. »Pffft ... keine Ahnung.« Sie wandte sich ihren Freundinnen zu und hob ihr Glas. »Prost, Mädels!« Sie tranken. Danach widmete sie sich wieder Diekmann. »Klaus hat ihn für ein paar Tage in Urlaub geschickt. Erholen sollte er sich, damit er zum Auftritt fit ist. Der Gute war in letzter Zeit etwas durch den Wind. Sagt Klaus.«
»Und?«
»Ja, also, Torsten ist nicht aufgetaucht. War nicht zu erreichen. Wie vom Erdboden verschluckt. Gestern Morgen hat Klaus es noch mal versucht. Nichts. Da musste eben ganz fix Ersatz her. Lennart. Hat doch prima hingehauen, oder?«
Diekmann sog vernehmlich die Luft ein. »Nun«, sagte er gedehnt, »wenn du mich so direkt fragst, ich ...«
Er kam nicht dazu, seine Meinung zu äußern, die Angela allem Anschein nach sowieso nicht interessierte. Sie hatte sich wieder zu ihren Freundinnen gesellt. »Und? Waren die Jungs spitze?«, grölte sie begeistert.
»Jaaaa! Absolut geil!«, kam postwendend die Antwort. »Paper Plane! Paper Plane! Paper Plane ...!«
Angela reckte die Arme in die Höhe. Der Daumen ihrer freien Hand ging hoch, das Glas in der anderen kippte etwas zur Seite, Prosecco platschte ihr ins Haar. Sie kreischte erschrocken auf, machte dann kichernd einen kleinen Hüpfer auf ihre Begleiterinnen zu.
Die drei hakten sich wie Teenies unter und tanzten hüftschwingend davon. Diekmann schenkten sie keine Beachtung mehr. Er sah ihnen einen Augenblick kopfschüttelnd nach, dann wandte er sich suchend um, entdeckte seinen Freund und die beiden Frauen vor einer Bratwurstbude.
»Die Currywurst ist klasse«, empfing ihn Behrends kauend, »solltest du mal probieren.«
»Torsten Dreyer ist verschwunden«, entgegnet er, ohne auf die Empfehlung einzugehen.
»Wer?«
»Torsten, der Bassist von Paper Plane.«
»Der junge Bengel?« Behrends hatte keine Ahnung, worauf Diekmann hinauswollte.
»Nein. Der, für den der Kleine da oben ersatzweise den Bass gezupft hat, der ist verschüttgegangen.«
Behrends erinnerte sich. »Ah ja, stimmt, Torsten. Sagtest du vorhin schon. Und wo ist jetzt das Problem? Wenn er da gewesen wäre, hätte ihn der Bengel nicht vertreten müssen.«
Diekmann verdrehte die Augen. »Ha ha ... Wie witzig. Finde ich trotzdem merkwürdig, dass Torsten einfach so verschwindet. Die konnten ihn nicht erreichen. Er ist nicht zu Hause, geht nicht ans Telefon. Nix.«
»Wer konnte ihn nicht erreichen?«
»Die Jungs von der Band. Sagt Angela.« Er weihte seinen Freund in die Hintergründe ein, die er von der Frau des Leadgitarristen vor wenigen Minuten erfahren hatte.
»Ich ahne, was in deinem Kopf vorgeht.« Behrends verzog angesäuert das Gesicht. »Lass mich wenigstens heute mit deinen Mutmaßungen in Ruhe. Wir sind hier, um gemeinsam zu feiern.« Er wollte sich mit einem kurzen Blick hin zu den Frauen Bestätigung holen, doch Katrin und Heike hatten gar nicht zugehört. Sie waren in ein Gespräch vertieft und achteten nicht auf ihre Männer. »Wenn jemand abtaucht und nicht gefunden werden will«, wandte er sich daher wieder an Diekmann, »dann kann er das erstens ohne Weiteres hinkriegen, und zweitens gibt es mehr als genug Gründe, um sich für kurz oder lang abzusetzen.«
»Für Torsten gab es eher welche, um heute hier mit der Band auf der Bühne zu stehen«, hielt Diekmann dagegen. »Wenn einer heiß auf dieses Comeback war, dann Torsten. Ich kenne ihn persönlich zwar kaum, weiß aber trotzdem, dass er den Auftritt nie hätte sausen lassen. Jedenfalls nicht freiwillig.«