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Holger Diekmann drehte sich um und ließ die Augen über die Köpfe des Publikums wandern. Er und Heike, seine Frau, hatten sich mit Ingo
Behrends und dessen Frau Katrin verabredet. Bis jetzt konnte er die zwei noch
nirgends entdecken. Hier vor der Bühne wollten sie sich treffen, um gemeinsam das Comeback der Band Paper Plane zu
erleben, den einstigen Lokalmatadoren, die sich nach einem Vierteljahrhundert
wieder zusammengefunden hatten. Und möglicherweise auch ihr Scheitern, dachte er und musste sich insgeheim
eingestehen, dass es ihm eine Genugtuung wäre, im Burgblick über ihren verpatzten Auftritt zu schreiben. Als kleine Entschädigung dafür, dass Sandra oder Alexandra – noch immer war er sich bei ihrem Namen unsicher – ihn damals verschmäht hatte und lieber mit einem von den Bandmitgliedern ins Bett gestiegen war.
Während er wartete, war Heike im Gewühl untergetaucht. Sie hatte keine Lust gehabt, sich vor der Bühne zu langweilen und bei den Umbauarbeiten zuzuschauen, nach dem King Size, eine Top-40-Band aus Braunschweig, ihren Auftritt kurz zuvor beendet hatte. In
einer Viertelstunde wollte sie zurück sein. Sich nur ein bisschen umsehen. Holger wusste aus Erfahrung, dass es länger dauern würde. Er rechnete damit, sie frühestens in dreißig Minuten oder noch später wiederzusehen, je nachdem, wer von ihren Bekannten ihr über den Weg lief.
Trotz der Pause war ein Großteil des Publikums vor der Bühne stehen geblieben und immer mehr Leute kamen dazu. Konnte es angehen, dass
Paper Plane mit ihrem Status-Quo-Programm, diesen simplen
Drei-Akkord-Boogie-Songs, auch heute noch die halbe Stadt mobilisierte? So viel
Begeisterung für eine regionale Gruppe und eine Musik, die nach wie vor in die Glieder fuhr und
niemanden stillstehen ließ? Ein bisschen kam es ihm in diesem Augenblick vor, als sei die Zeit stehen
geblieben.
Diekmann erinnerte sich an die Drei freundlichen Tage, während der die Band ihren letzten Auftritt absolviert hatte. Es war ähnlich voll gewesen in der Osteroder Innenstadt. Er horchte in sich hinein und
vernahm wieder das Stimmengewirr, das damals vermischt war mit Klangfarben, die
ihm, so kurz nach der Wiedervereinigung, fremd vorgekommen waren. Die Dialekte
der Gäste aus den Harzorten Thüringens und Sachsen-Anhalts stachen heraus, gehörten noch nicht, wie heute, zum Alltag.
Diekmann versuchte, in dem Gewühl Carina zu entdecken, die junge Frau von der Eisdiele. Es war ihm bisher nicht
gelungen, sie aufzuspüren. Nicht auszuschließen, dass sie die Stadt längst wieder verlassen hatte. Das wäre wirklich ärgerlich. Zu gern hätte er mit ihr gesprochen und herausgefunden, ob diese Halskette sie tatsächlich mit seiner Bekanntschaft von damals verband und was sie mit ihrer Lüge von dem neuen Szeneblatt bezweckte. Vielleicht hatte er ja Glück und sie lief ihm heute Abend doch noch über den Weg.
»Hallo! Da sind wir!«
Ein kräftiger Schlag auf die Schulter ließ Diekmann zusammenfahren und holte ihn in die Gegenwart zurück. Vor ihm standen Behrends und Katrin. »Mann, müsst ihr euch denn so anschleichen?«, fauchte er.
»Wir haben uns nicht angeschlichen«, widersprach sein Freund lachend. »Aber wenn du natürlich nicht auf unser Winken reagierst, sondern träumst und Löcher in die Luft starrst, müssen wir uns anders bemerkbar machen.«
»Ja, klar. Dann eben die Schocktherapie. Hättest auch gleich einen Warnschuss abfeuern können.«
»Hätte ich sicher gemacht. Aber heute bin ich ausnahmsweise mal unbewaffnet«, entgegnete Behrends.
»Ein Glück für uns alle.« Diekmann grinste. »Na ja, auf jeden Fall schön, dass ihr da seid.«
»Bist du allein?«, wunderte sich Katrin. »Wo ist Heike? Sie wollte doch mitkommen.«
»Ist sie auch. Das Warten war ihr aber zu langweilig. Sie ist losgezogen, sich
etwas umsehen. Sie trudelt sicher bald ein.«
Katrin blickte zur Bühne, auf der immer noch Verstärker, Mikrofonständer und Schlagzeugteile herumgeschleppt und Kabel ausgelegt wurden. »Wisst ihr was«, sagte sie, »ich gehe Heike suchen. Es dauert sowieso, ehe die Jungs loslegen. Wir treffen
uns dann wieder hier.«
Die beiden Männer verabschiedeten Katrin mit einem zustimmenden Nicken. Behrends deutete auf
den nur ein paar Meter entfernt stehenden Getränkepavillon. »Bierchen?«, fragte er.
»Klar«, sagte Diekmann. »Wenn du zahlst.«
Sie drängelten sich zur Theke vor, gaben ihre Bestellung auf und kämpften sich wenig später aus der Menschentraube um den Pavillon wieder heraus. Drei, vier Meter von
der Bühne entfernt hatten sie schließlich genügend Platz, um unbehelligt ihr Bier zu trinken.
»Was ist eigentlich mit eurem Zuwachs, dem kleinen ... wie heißt er doch gleich?«, wollte Diekmann wissen.
»Riley?«
»Genau. Könnt ihr den etwa schon allein zu Hause lassen?«
Behrends schüttelte den Kopf. »Um Himmels willen, nein! Der würde uns garantiert die halbe Einrichtung zerlegen. Wir haben ihn für die Nacht bei einer von Katrins Bekannten abgegeben. Die hat früher mal Hunde ausgebildet. Jetzt nimmt sie gelegentlich das ein oder andere Tier
in Pension.«
Auf der Bühne ließ man sich mit dem Umbau Zeit.
»Hallo, Matte, wann geht’s los?«, rief Diekmann plötzlich einem massigen Klotz in schwarzem Kapuzenshirt hinterher, dem die
welligen, mit grauen Strähnen durchzogenen dunkelbraunen Haare fast bis zur Hüfte reichten.
Der Hüne hielt inne und drehte sich um. Als er Diekmann erkannte, setzte er ein
breites Grinsen auf. »Ey, Holger, grüß dich!«, rief er ihm zu. »Noch ’ne halbe Stunde, dann ist Party.«
»Und, wie wird’s? So wie früher?«
»Besser, Alter, viel besser! Wird ’ne geile Show. Wirst sehen.« Er hob kurz die Hand, zeigte zum Gruß die Pommesgabel, die Geste der Metal-Fans, und hastete weiter.
»Wer war das denn?«, fragte Behrends.
»Martin Kirchhoff. Der Mann fürs Grobe. Hat schon früher den Möbelpacker bei Paper Plane gemacht. Anlage aufbauen, Anlage abbauen. Wo zugepackt
werden muss, ist Matte gefragt. Hat zwar nicht allzu viel in der Birne, ist
aber ein echter Kumpeltyp. Gutmütig. Wird leider oft ausgenutzt. Na ja, wie das eben so ist ... Was hältst du davon, wenn wir noch ’ne kleine Runde drehen, ehe das Spektakel hier losgeht?«
Behrends nickte. Sie schoben sich durch das Gewühl vor dem Bierpavillon und links daran vorbei. Die Menschentraube lichtete sich
und in der Gasse hinunter in Richtung Marientorstraße herrschte kein Gedränge. Sie schlenderten zwischen den verschiedenen Ständen mit heimischen Spezialitäten und den Bratwurstbuden entlang, um das Kinderkarussell herum und zurück. Ein kurzer Weg ohne Angebote, für die es sich lohnte, stehenzubleiben.
»Ich bin nur froh, dass hier auf dem Platz nicht gleichzeitig der
Beachvolleyball-Cup ausgetragen wird, wie sonst die Jahre«, sagte Diekmann. »Diese dauernden Ansagen und der Krach drumherum, das war nachmittags und wenn
auf der Bühne die etwas leiseren Töne vorgeherrscht haben, echt störend.«
»Stimmt«, bestätigte Behrends. »Hat ja auf ’nem Stadtfest auch nichts zu suchen, so ’ne große Sportveranstaltung.«
Sie überquerten den Martin-Luther-Platz, erreichten das alte Rathaus.
»Erinnerst du dich an die fliegenden Händler mit ihrem billigen Ramsch, die vor ein paar Jahren hier am Schilde
standen?« Diekmann verzog angewidert die Mundwinkel. »Ich frage mich heute noch, wie man das damals zulassen konnte. Da ist der
Mittelaltermarkt viel passender.« Er deutete auf die Buden entlang der Fußgängerpassage, in denen Händler in ihren Gewändern und mit den Waren, die sie feilboten, eine längst vergangene Zeitepoche aufleben ließen.
»Und der Stand der Türken oben beim Schuhgeschäft.«
»Richtig. Der natürlich auch.« Diekmann blickte zur Uhr. »Wollen wir uns bei denen noch schnell was zu essen holen? Schaffen wir locker.«
Auf halbem Weg blieben sie stehen und sahen auf der Mittelaltermeile einem
Gaukler bei seinen Jonglierkünsten mit brennenden Fackeln zu. Nebenan lockten Met und Leckereien vom
Schwenkgrill.
»Da könnte ich jetzt auch drauf«, sagte Behrends und schmatzte leise. »Nein, heute nicht.« Er winkte ab. »Heute ist türkisches Essen angesagt. Schwenkbraten im nächsten Jahr.«
»Wenn es dann noch ein Stadtfest gibt«, entgegnete Diekmann. Sie setzten ihren Weg fort.
»Wieso? Was heißt das?«
»Das Fest steht vor dem Aus, habe ich läuten gehört. Die Veranstalter können das angeblich nicht mehr stemmen. Denen steht wohl schon in diesem Jahr ein
ordentliches Defizit ins Haus.«
»Mann, das wäre echt schade.« Behrends schüttelte betroffen den Kopf. »Mir haben die Drei freundlichen Tage immer gut gefallen. Haben doch auch
Tradition. Keine Chance, dass es weitergeht?«
»Weiß nicht.« Diekmann zuckte mit den Achseln, stoppte für zwei schnelle Fotos kurz ab.
»Nicht gut für Osterode, wenn eine Attraktion, wie das Stadtfest wegbricht.«
»Wem sagst du das?«
Sie erreichten den Stand der türkischen Gemeinde. Mit ihren Börek-Röllchen in der Hand machten sie sich Minuten später auf den Rückweg.
Das Gedränge um die Bühne herum hatte in der Zwischenzeit stark zugenommen. Diekmann holte seinen
Fotoapparat aus der Tasche und schoss über die Köpfe hinweg ein paar Bilder, um den Zuschaueransturm später im Burgblick dokumentieren zu können. Heike und Katrin waren nirgends zu sehen.
»Wo die bloß stecken.« Behrends stellte sich auf die Zehenspitzen und schaute sich nach allen Seiten
um. Er wirkte etwas besorgt. »Nicht, dass wir uns verpassen.«
Diekmann zuckte nur mit den Schultern. »Ach was. Keine Panik. Die finden uns schon«, sagte er und schob sich ein paar Meter nach vorn. Behrends folgte ihm. Weitere
Minuten vergingen, in denen sich auf der Bühne nichts regte. Das Publikum wurde ungeduldig. Vereinzelte Pfiffe ertönten und kurz darauf setzte rhythmisches Klatschen ein. Dann brach die
Pausenmusik ab. Sekunden später dröhnte aus den Lautsprechern eine martialische Mischung aus Sirenengeheul, dem
Wummern von Hubschrauberrotoren, Granatenexplosionen, Pfeifen und Zischen. Eine
blecherne Männerstimme bellte anfeuernde, kämpferische Worte. Nebelmaschinen stießen ihre Wolken aus. Schlagzeug, Keyboard und die Phalanx der weißen Marshall-Boxen wurden langsam von den wabernden Schwaden verschluckt. Das
farbige Licht der Scheinwerfer unter dem Dach verwandelte im Zusammenspiel mit
den Stroboskopblitzen die Bühne in eine unwirkliche, gespenstische Kulisse. Jubel brandete auf. Endlich ging
es los! Die Stunde von Paper Plane war gekommen – die Wiedergeburt!
Ohne es verhindern zu können, wurde Behrends von der euphorischen Stimmung mitgerissen, hob die Arme,
klatschte, fiel in den Jubel ein. Diekmann hielt den Fotoapparat schussbereit
auf die Bühne gerichtet.
Dann das rhythmische Stampfen der Bass Drum, das sich, unterstützt von den wummernden Tönen des E-Basses, langsam aus der lärmenden Kakofonie herausschälte, sich zu einem ohrenbetäubenden Donnern steigerte und wieder abbrach. Zwei, drei Herzschläge lang herrschte gespenstische Stille. Plötzlich fingen die Scheinwerfer den Paper-Plane-Rhythmusgitarristen ein, der wie
aus dem Nichts am Bühnenrand aufgetaucht war. Mit seiner weißen Fender Telecaster übernahm er die Regie für ein kurzes Intro, genau wie es Rick Parfitt, der wenige Monate zuvor
verstorbene Status-Quo-Musiker, immer gespielt hatte. Der Leadgitarrist
gesellte sich mit einer zweiten Telecaster dazu. Gemeinsam wechselten sie nach
ein paar Takten in den typischen Boogie-Rhythmus, steigerten allmählich die Spannung und fanden sich schließlich mit Schlagzeug, Keyboard und Bass zu einer energiegeladenen, krachenden
Eruption in dem Quo-Evergreen »Whatever You Want« zusammen.
Jubel, Klatschen, Hüpfen. Eine Welle der Begeisterung wogte durch die Menschenmenge. Vom ersten
Moment an war der Funke von der Bühne auf sie übergesprungen. Paper Plane war zurück. Und wie!
Behrends feierte, Diekmann fotografierte. Drei Songs spielte die Band nahtlos
hintereinander weg, erst danach begrüßte Klaus Raabe, Sänger, Lead-Gitarrist und Kopf der Band, das Publikum.
Die Pause gab Behrends die Gelegenheit, seinem Freund eine Frage zu stellen,
ohne gegen den Lärm anbrüllen zu müssen. »Gehört der Bengel am Bass auch zu Paper Plane?«, rief er. Älter als siebzehn Jahre schien der Musiker nicht zu sein, der nahezu regungslos
im Hintergrund die Saiten zupfte und dabei etwas verschüchtert wirkte.
Diekmann ließ für einen Moment den Fotoapparat sinken und wandte sich von den Musikern ab und
Behrends zu. »Nein, tut er nicht«, entgegnete er. »Ich wundere mich auch schon die ganze Zeit. Keine Ahnung, warum dieses Kind da
oben steht und nicht Torsten Dreyer. Aber ich werde es herauskriegen.« Damit widmete er sich wieder dem Fotografieren und dem Geschehen auf der Bühne.
Die Show von Paper Plane dauerte bereits über eine Stunde, als Behrends endlich Katrin und Heike entdeckte. Sie standen am
Rand der Menschenansammlung, waren dem Gedränge etwas ausgewichen. Er gab Diekmann mit Handzeichen zu verstehen, dass er zu
den Frauen hinübergehen wolle. Sein Freund nickte zustimmend, blieb aber selbst an Ort und
Stelle und fotografierte.
Nach weiteren fünfundvierzig Minuten und drei Zugaben hatte das Publikum immer noch nicht genug,
doch die Band ließ sich nicht mehr auf die Bühne zurückklatschen. Nur langsam zerstreuten sich die Menschen. Auch Diekmann machte
sich auf den Rückzug. Etwas orientierungslos kreuzte er über den Platz, suchte nach Behrends, Katrin und Heike.
»Hey, Holger, hallo!«, wurde er plötzlich von einer übermütigen Frauenstimme in seinem Rücken aufgehalten. Er drehte sich um und sah Angela Raabe, flankiert von zwei
Freundinnen, auf sich zustürmen. Alle drei waren zur Feier des Tages durchgestylt, trugen enge Jeans und lässige Lederblousons über Blusen, die einen tiefen Blick ins Dekolleté gewährten. Sie hielten ein Glas Prosecco in der Hand und waren offenkundig bester
Laune.
»Machst du ein schickes Foto von uns? Bitte, bitte!«, quietschte Angela. Ihre beiden Begleiterinnen kicherten hysterisch dazu.
Diekmann grinste belustigt. »Na dann, Mädels, stellt euch mal schön in Pose.«
Die drei hakten sich unter, ließen ihre Gläser aneinander klirren. »Stößchen!«, flöteten sie affektiert.
Diekmann drückte fleißig den Auslöser. Mit etwas Glück fand sich in der Sammlung später ein Foto, für das sich niemand schämen musste, wenn er es in seinem Online-Magazin veröffentlichte. Das peinliche Verhalten der drei Frauen ließ ihn jedoch daran zweifeln.
»Zeig mal, Holger!«
Angela hatte sich dicht an Diekmann gedrängt und schaute ihm über die Schulter. Sie wollte das Ergebnis des Minishootings sehen. Er tat ihr
den Gefallen und zeigte ihr die Bilder auf dem Display des Fotoapparates.
»Du, wer war eigentlich dieser Milchreisbubi am Bass?«, nutzte er die Gelegenheit.
»Ach, das war Lennart,« entgegnete sie lapidar.
»Lennart?«
Angela wandte sich von den Fotos ab. Sie schaute Diekmann ins Gesicht. »Ja, Lennart Winter.«
»Kenne ich nicht.«
»Eddie hat ihn angeschleppt. Ist einer seiner Schüler. Der Junge spielt in der Schulband. Paper Plane scheint deren großes Vorbild zu sein. Ist ja klar, unter wessen Einfluss die stehen.« Sie schmunzelte verschmitzt. »Na, jedenfalls haben die das komplette Quo-Repertoire drauf.« Eddie, der Drummer von Paper Plane, war hauptberuflich Lehrer am Herzberger
Gymnasium. Mathe und Deutsch. Außerdem leitete er die Musik-AG.
»Dann brauchte der Junge wohl nicht lange zu üben, um bei den Senioren mitspielen zu können, oder?«
»Zum Glück!«, krähte Angela. »Er musste ja ganz kurzfristig für Torsten einspringen.«
»Wieso überhaupt?«, wunderte sich Diekmann. »Was ist mit Torsten?«
Angela fuhr sich mit der Hand durch ihre Löwenmähne und machte ein nachdenkliches Gesicht. »Pffft ... keine Ahnung.« Sie wandte sich ihren Freundinnen zu und hob ihr Glas. »Prost, Mädels!« Sie tranken. Danach widmete sie sich wieder Diekmann. »Klaus hat ihn für ein paar Tage in Urlaub geschickt. Erholen sollte er sich, damit er zum
Auftritt fit ist. Der Gute war in letzter Zeit etwas durch den Wind. Sagt
Klaus.«
»Und?«
»Ja, also, Torsten ist nicht aufgetaucht. War nicht zu erreichen. Wie vom
Erdboden verschluckt. Gestern Morgen hat Klaus es noch mal versucht. Nichts. Da
musste eben ganz fix Ersatz her. Lennart. Hat doch prima hingehauen, oder?«
Diekmann sog vernehmlich die Luft ein. »Nun«, sagte er gedehnt, »wenn du mich so direkt fragst, ich ...«
Er kam nicht dazu, seine Meinung zu äußern, die Angela allem Anschein nach sowieso nicht interessierte. Sie hatte sich
wieder zu ihren Freundinnen gesellt. »Und? Waren die Jungs spitze?«, grölte sie begeistert.
»Jaaaa! Absolut geil!«, kam postwendend die Antwort. »Paper Plane! Paper Plane! Paper Plane ...!«
Angela reckte die Arme in die Höhe. Der Daumen ihrer freien Hand ging hoch, das Glas in der anderen kippte etwas
zur Seite, Prosecco platschte ihr ins Haar. Sie kreischte erschrocken auf, machte dann kichernd einen kleinen Hüpfer auf ihre Begleiterinnen zu.
Die drei hakten sich wie Teenies unter und tanzten hüftschwingend davon. Diekmann schenkten sie keine Beachtung mehr. Er sah ihnen
einen Augenblick kopfschüttelnd nach, dann wandte er sich suchend um, entdeckte seinen Freund und die
beiden Frauen vor einer Bratwurstbude.
»Die Currywurst ist klasse«, empfing ihn Behrends kauend, »solltest du mal probieren.«
»Torsten Dreyer ist verschwunden«, entgegnet er, ohne auf die Empfehlung einzugehen.
»Wer?«
»Torsten, der Bassist von Paper Plane.«
»Der junge Bengel?« Behrends hatte keine Ahnung, worauf Diekmann hinauswollte.
»Nein. Der, für den der Kleine da oben ersatzweise den Bass gezupft hat, der ist verschüttgegangen.«
Behrends erinnerte sich. »Ah ja, stimmt, Torsten. Sagtest du vorhin schon. Und wo ist jetzt das Problem?
Wenn er da gewesen wäre, hätte ihn der Bengel nicht vertreten müssen.«
Diekmann verdrehte die Augen. »Ha ha ... Wie witzig. Finde ich trotzdem merkwürdig, dass Torsten einfach so verschwindet. Die konnten ihn nicht erreichen. Er
ist nicht zu Hause, geht nicht ans Telefon. Nix.«
»Wer konnte ihn nicht erreichen?«
»Die Jungs von der Band. Sagt Angela.« Er weihte seinen Freund in die Hintergründe ein, die er von der Frau des Leadgitarristen vor wenigen Minuten erfahren
hatte.
»Ich ahne, was in deinem Kopf vorgeht.« Behrends verzog angesäuert das Gesicht. »Lass mich wenigstens heute mit deinen Mutmaßungen in Ruhe. Wir sind hier, um gemeinsam zu feiern.« Er wollte sich mit einem kurzen Blick hin zu den Frauen Bestätigung holen, doch Katrin und Heike hatten gar nicht zugehört. Sie waren in ein Gespräch vertieft und achteten nicht auf ihre Männer. »Wenn jemand abtaucht und nicht gefunden werden will«, wandte er sich daher wieder an Diekmann, »dann kann er das erstens ohne Weiteres hinkriegen, und zweitens gibt es mehr als
genug Gründe, um sich für kurz oder lang abzusetzen.«
»Für Torsten gab es eher welche, um heute hier mit der Band auf der Bühne zu stehen«, hielt Diekmann dagegen. »Wenn einer heiß auf dieses Comeback war, dann Torsten. Ich kenne ihn persönlich zwar kaum, weiß aber trotzdem, dass er den Auftritt nie hätte sausen lassen. Jedenfalls nicht freiwillig.«