cover
vorsatz
Titelseite

INHALT

Ein Traum

Mitten in der Nacht

Vor dem Morgengrauen

Claudia

Geld

Der Koch

Besuch

Abendessen

Die Nachtwanderung

Das Wunder

Kein Traum

A.T.

Eine Falle mit Heizung

vor

EIN TRAUM

„Ich weiß, dass es ein Traum war. Aber es war kein gewöhnlicher Traum“, wisperte Claudia dem Schmied ins Ohr.

„Wie bitte?“, fragte Titus Surdusius, der Schmied.

„Ich habe von deiner Frau geträumt!“, sagte Claudia lauter. „Sie war in Nebelschwaden gehüllt und winkte und sie wollte, dass ich dir eine Nachricht überbringe …“

„Oh.“ Titus ließ den Schmiedehammer sinken. Er erbleichte.

Olivia saß mit ihren Freunden Remus und Meander im Hof hinter der Schmiede. Gebannt hörten sie zu. Und selbst wenn sie es nicht darauf angelegt hätten zu lauschen, hätten sie dennoch jedes Wort mitbekommen. Denn Olivias Vater, der Schmied, war ziemlich schwerhörig.

„Unterwelt! Das muss die Unterwelt sein …“, murmelte Olivia. „Sie hat vom Reich der Toten geträumt. Und von meiner Mutter …“

Remus, Olivia und Meander waren die besten und auch ungewöhnlichsten Freunde in Rom. R.O.M. – so nannten sie sich: nach ihren Anfangsbuchstaben. Remus war ein entlaufener Sklavenjunge, Olivia war die Tochter eines einfachen Schmieds und Meander war der Sohn eines reichen Architekten. Aber die drei Freunde hielten zusammen, egal, was passierte. Und es schien gerade etwas zu passieren!

Jedenfalls hörte sich das, was Claudia dem Schmied ins Ohr brüllte, sehr merkwürdig an. So merkwürdig, dass den drei Freunden der Mund offen stehen blieb.

Meander und Remus sahen ihre Freundin Olivia an. Sie wussten, wie sehr Olivia ihre Mutter vermisste. Sie war vor gut einem Jahr ums Leben gekommen. Jeden Tag ging Olivia mit ihrem Vater zu ihrem Grab. Dort an der Landstraße hatten sie auch Claudia kennengelernt, die ihren Mann Gnaeus erst vor zwei Wochen auf der gegenüberliegenden Straßenseite in einem großen Grab beerdigt hatte. Olivia mochte Claudia gern. Sie war so freundlich.

Dass ausgerechnet Claudia von Olivias Mutter träumte, war allerdings seltsam. Denn die vornehme Römerin hatte Olivias Mutter gar nicht gekannt.

„Es war unheimlich!“, hörten die drei Freunde Claudia gerade in das Ohr des Schmieds schreien. „Sie stand auf der anderen Seite des Flusses. Und sie hat immer wieder etwas gerufen.“

Neugierig sprangen die drei Freunde auf und schlichen sich näher an die geschlossene Holztür heran, hinter der Titus seine Schmiedewerkstatt hatte. Durch die Ritzen zwischen den Brettern guckten sie hinein. Das Feuer brannte. Aber die schweren Hämmer lagen auf der Werkbank und auch das Schwert, das Titus gerade in Arbeit hatte, war bereits abgekühlt.

„Was hat sie gesagt?“, fragte Titus. „Ging es ihr gut?“

Meander hörte genau, dass die Stimme des Schmieds zitterte.

Claudia sah sich um. Vor der Schmiede liefen viele Menschen durch die schmale Eselsgasse. Aber es war außer ihr niemand in der Werkstatt. Von den drei Augenpaaren, die durch die Ritzen in der groben Holztür linsten, ahnte sie nichts. Sie sah den Schmied traurig an. „Nein, es ging ihr leider nicht gut. Sie sah total verzweifelt aus. Sie hat mich weiter zu sich gewinkt. Ich ging so nah wie möglich heran und da habe ich endlich verstanden, was sie gerufen hat.“ Claudia atmete einmal tief durch. „Aber du darfst mich nicht für verrückt halten, Titus!“

Der Schmied nickte.

„Sie hat gesagt, dass du zu ihrem Grab kommen sollst. Heute um die siebte Nachtstunde, wenn der Mond scheint.“

„Mitten in der Nacht?“, fragte der Schmied.

Claudia zuckte mit den Schultern. „Ich weiß, es ist seltsam. Und es war ja nur ein Traum. Aber er schien so echt.“ Sie sah verlegen auf den Boden. „Vielleicht hätte ich nicht kommen sollen. Bestimmt hat das alles nichts zu bedeuten …“

„Nein, nein“, wehrte Titus ab. „Es ist gut, dass du es mir gesagt hast.“

Claudia hob den Kopf. „Sie war so nah. Als könnte ich sie mühelos mit mir auf unsere Seite des Ufers ziehen. – Und dann war sie plötzlich verschwunden.“

Es herrschte eine bedrückende Stille in der Werkstatt. Titus legte seine schwere Pranke auf Claudias zarte Schulter. „Ich danke dir für die Nachricht und werde mich darum kümmern. Was habe ich schon zu verlieren?“

Meander und Remus sahen Olivia an. Sie war kreidebleich um die Nasenspitze.

„Kann das denn möglich sein?“, flüsterte sie. „Ist das wirklich ein Ruf aus dem Orcus, der Unterwelt?“

Meander zuckte mit den Schultern. „Es kann auch einfach ein Traum gewesen sein“, flüsterte er. Aber Remus schien das anders zu sehen. Er lief über den Hof und setzte sich auf die Holztreppe, die rauf zu Olivias Wohnung im ersten Stock des Hinterhauses führte. „Mir hat ein Traum schon mehr als einmal das Leben in Freiheit gerettet. Träume können mich aufwecken, bevor ich entdeckt werde. Manchmal ist es also schon gut, auf sie zu hören.“

„Aber das sind vielleicht Zufälle gewesen“, hielt Meander dagegen. Er mochte Remus gerne. Und er bewunderte den Jungen mit den strubbeligen Haaren für seinen Mut. Aber manchmal war Remus ziemlich abergläubisch. Es fehlte ihm eben ein Lehrer, wie er einen hatte. Einer wie Besserwisskrates.

„Aber es ist schon ein sehr komischer Zufall, dass diese Claudia von jemandem träumt, den sie gar nicht kennt“, sagte Remus.

Das musste allerdings auch Meander zugeben.

„Glaubst du, dass dein Vater heute Nacht zum Grab deiner Mutter geht?“, fragte Meander.

Olivia seufzte. Sie sah Meander mit ihren schwarzen Augen traurig an. „Ich weiß nicht. Vermutlich. Ich kann ihn jedenfalls nicht daran hindern.“ Und noch etwas leiser fügte sie hinzu: „Irgendetwas stimmt da nicht. Ich hab ein ganz unheimliches Gefühl. Was meint ihr?“

Remus knackte mit seinen Fingergelenken. „Abhalten können wir ihn vielleicht nicht. Aber ich kann ihn heimlich begleiten.“

„Das ist zu gefährlich“, sagte Olivia.

Remus lachte trocken. „Pah, Gefahr ist mein zweiter Vorname!“

Meander musste grinsen. Das stimmte allerdings. Niemand lebte so gefährlich wie Remus. Er musste immer auf der Hut sein, dass ihn Sestertius, sein ehemaliger Herr, nicht doch noch schnappte. Und was Remus dann blühen würde, das konnten sich die drei ausmalen, wenn sie nur einen Blick auf Remus’ von Peitschenhieben vernarbten Rücken warfen. Sestertius war bekannt für seine Brutalität. Als Remus noch sein Sklave gewesen war, hatte Sestertius Remus zum Fassadenkletterer ausgebildet. Remus sollte für ihn bei seinen Schuldnern einbrechen und ihnen den Schreck ihres Lebens einjagen. Aber Sestertius hatte nicht mit Remus’ Schlauheit gerechnet. Denn der Junge, der tatsächlich fast an jeder Wand Roms hinaufklettern konnte wie ein Äffchen, hatte gleich seinen ersten Einsatz genutzt, um aus der Gefangenschaft zu fliehen.

Seitdem musste er sich verstecken und war ständig auf der Flucht vor Sestertius und seinen Helfern. Aber diese Gefahren waren Remus tausendmal lieber als ein Leben als Sklave.

„Ich bleibe heute Abend in der Nähe deines Vaters“, versprach Remus Olivia.

„Pass aber auf dich auf, ja?“, sagte Olivia.

„Vor allem werde ich auf deinen Vater aufpassen müssen“, antwortete Remus und grinste.

MITTEN IN DER NACHT

Remus saß auf dem Dach der Schmiede. Die Nacht war kalt. Aber immerhin war es trocken. Der Vollmond schien auf die Dächer Roms und übergoss die sieben Hügel der Stadt mit silbernem Licht.

Die Eselsgasse, in der Olivia wohnte, mochte Remus gern. Hier war es nicht so ruhig und vornehm wie oben auf dem Hügel, auf dem das große Haus von Meanders Eltern stand. Hier wohnten viele Menschen in den Wohnungen der hohen Mietshäuser. In den Erdgeschossen boten Bäcker, Tuchhändler und eben Schmiede ihre Waren an. Bemerkenswert war allerdings, dass die Straßenseiten sehr ungleich waren. Die linke Seite, auf der Olivia wohnte, war die laute Seite. Hier arbeitete ihr Vater und hier war die Weinstube, die niemals ihre Türen schloss. Die gegenüberliegende rechte Straßenseite war leise, denn dort waren Bäcker, Wein- und Tuchhändler zu Hause. „In der Ruhe keimt das Glück“, stand auf einem Band über der Ladentür des Tuchhändlers. Über diesen Spruch hatte sich Olivias Vater schon vor Jahren so sehr geärgert, dass er prompt zu einem Eimer Farbe und einem Pinsel gegriffen hatte. Nun stand über der breiten Pforte der Schmiede: „Was lebt, das lärmt!“

Der Bäcker fand das gar nicht witzig und war nicht gut auf Olivia und ihren Vater zu sprechen. Aber Remus mochte die lärmende Straßenseite. Auch nach Einbruch der Dunkelheit ging das Leben hier weiter. In der Weinstube neben der Schmiede wurde die ganze Nacht getrunken und gestritten. Olivia konnte das Geschrei der Männer nicht ausstehen. Aber Remus fand es ganz beruhigend. Solange sich die Männer stritten und anschrien, war er sich sicher, dass sie ihn, der meist hoch oben über ihren Köpfen auf den Dächern herumturnte, nicht entdeckt hatten.

In jener Nacht musste Remus jedoch etwas länger ausharren, als er erwartet hatte. Anscheinend wollte Titus Surdusius sicher sein, dass Olivia schlief, ehe er das Haus verließ.

Endlich war es so weit: Remus hörte die schweren Schritte des Schmieds auf der Holztreppe. Er sah hinunter. Olivias Vater hatte eine Fackel und ein Schwert in der Hand und schritt über den kleinen Hof auf die Eselsgasse. Er wandte sich nach links. Remus ließ die Fackel des Schmieds nicht aus den Augen. Er folgte ihm hoch oben auf den Dächern. Das war weder ungefährlich noch leicht. Aber es war immer noch sicherer, als unten auf der nächtlichen Straße herumzulaufen. Remus war froh, dass der Mond leuchtete. Er kletterte Dächer runter und wieder hinauf und sprang über schmale Gassenabgründe. Die Nacht war so hell, dass auch Titus auf den breiteren Straßen auf seine Fackel hätte verzichten können. Aber in manche schmale Gassen, durch die der Schmied lief, fiel kaum Licht.

Remus folgte Olivias Vater bis hinaus auf die Landstraße. Unheimlich war es hier: So laut die Stadt auch nach Sonnenuntergang noch war, so ruhig war es hier draußen. Wolkenfetzen zogen am Himmel vorüber. Zum Glück sah Titus sich kein einziges Mal um. Olivias Vater hielt sein Schwert kampfbereit in der rechten, die Fackel in der linken Hand und lief die Straße entlang. Rechts und links ragten die Grabsteine in den Nachthimmel. Das Grab von Olivias Mutter war nicht so nah an der Stadt, wie sich der Schmied Titus Surdusius das gewünscht hätte. Aber was sollte er tun? Er war nur ein Schmied und er hatte sehr viel Geld für das Grab ausgegeben. Es war ein unscheinbares, nicht allzu hohes Steingrab. Das Grabmal gegenüber, in dem Claudia Sinistra erst vor wenigen Wochen ihren Mann, den Ädil Gnaeus, begraben hatte, überragte es um einen guten Meter. Es war reicher und breiter ausgestattet, genau wie das gewaltige Grabmal daneben. Remus versteckte sich hinter dem besonders ausladenden Grabmal neben Gnaeus’ Grab. Von dort aus beobachtete er den Schmied und das Grab von Olivias Mutter. Und was er da sah, konnte er kaum glauben. Das war doch unmöglich … ganz und gar unmöglich …

Auch Titus rieb sich die Augen. Das musste Zauberei sein. Er selbst hatte diesen Stein doch ausgesucht, er kannte jeden Fleck des Steins, jeden Buchstaben, der hier eingemeißelt war. Er zitterte am ganzen Körper und konnte den Blick nicht mehr abwenden.

Es war, als würde er die zarte Stimme seiner geliebten Frau direkt in seinem Kopf hören. Er konnte den Hauch ihres Atems förmlich spüren, als er die Botschaft auf ihrem Grabstein las: „Geh zum Fährmann und rette mich!“

Also war Claudias Traum kein bedeutungsloser Traum gewesen! Remus spürte, dass seine Hände bebten. Das, was da auf dem Grabstein als Schrift erschien, war ein Hilfeschrei! Dieser Hilfeschrei musste direkt aus dem Orcus kommen, dem Reich der Toten.

Plötzlich schob sich eine Wolke vor den Mond und verdunkelte die Straße. Und nun war auch die Schrift verschwunden. Remus hörte Schritte näher kommen. Irgendwer schlich sich da zwischen den Gräbern herum.

Bloß weg hier!, dachte er. Aber dann erinnerte er sich, dass er versprochen hatte, den Schmied nicht aus den Augen zu lassen.

Er drehte sich um und versuchte zu hören, woher die Schritte kamen. Doch er konnte es nicht ausmachen. Er sah nur die dunklen Umrisse des Schmieds, der schnurstracks zum Ufer des Tiber hinunterging. Die Wolke zog endlich weiter, sodass der Mond wieder klarer schien. Remus rieb sich die Augen. Auf dem Fluss trieb ein Schiff. Es sah aus wie ein ägyptisches Totenschiff. Darauf stand ein Fährmann mit einer Fackel und hatte seine Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Wer war das? Ein Mensch? Ein Götterbote? Das konnte doch alles gar nicht wahr sein! Würde der Schmied es wagen, an Bord dieses Schiffes zu gehen? Wollte er wirklich ins Reich der Toten hinabfahren, um Olivias Mutter zu retten? Glaubte Titus etwa, dass er es mit dem Totengott persönlich aufnehmen konnte? Remus machte einen Schritt Richtung Ufer. Hinter sich hörte er ein Knacksen. Da war jemand! Remus duckte sich. Etwas zischte an ihm vorbei.

„Titus, nicht!“, rief er. Aber der Schmied hörte ihn nicht und ging an Bord des Schiffes. Remus lief Richtung Tiberufer. Er rannte, so schnell er es in der Dunkelheit konnte. Er spürte, dass jemand hinter ihm war.

Der Fährmann sah nun zu ihm herüber und hob die Hand. Remus blieb für einen Augenblick verwirrt stehen.

Er drehte sich um und spürte einen Hauch …

Er wollte ausweichen, weglaufen.

Aber er lief nicht weg.

Etwas Hartes sauste auf seinen Hinterkopf.