Mami – Jubiläumsbox 5 – 6er Jubiläumsbox

Mami
– Jubiläumsbox 5–

6er Jubiläumsbox

E-Book: 1751-1756

Susanne Svanberg
Myra Myrenburg
Annette Mansdorf

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: http://www.keltermedia.de

E-mail: info@kelter.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74093-013-4

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Kinder träumen von Geborgenheit

Roman von Susanne Svanberg

Es war bereits dunkel, als Irene Dahrendorf die Redaktion verließ. Der kühle Herbstwind ließ ihre langen blonden Locken flattern. Fröstelnd schloß sie die Knöpfe ihres Blazers und eilte die wenigen Stufen hinab. Unter der Laterne auf der Straße hatte sie ihren Freund Martin entdeckt.

Der junge Ingenieur, der in seinem Job viel früher Feierabend hatte, holte sie häufig ab. Groß und breitschultrig war er, ein Mann, den niemand übersehen konnte. Er war ein Sonnyboy, der überall Frauen hatte. Das Leben verwöhnte ihn. Alles fiel ihm leicht, überall hatte er Erfolg. Dazu trugen auch sein gutes Aussehen und sein unerschütterliches Selbstbewußtsein bei.

Irene liebte ihren Martin und war glücklich mit ihm. Lachend lief sie ihm entgegen und fiel ihm stürmisch um den Hals.

Sie küßten sich mit einer Innigkeit, die jedem Vorübergehenden sofort signalisiert hätte, daß diese beiden ein beneidenswert glückliches Paar waren. Es ging aber niemand vorbei, nur Irenes Kollege Michael Fischer stand am Fenster des Redaktionsbüros und beobachtete die zärtliche Begrüßung. Er empfand Wehmut dabei, denn er liebte die hübsche Kollegin heimlich, obwohl er wußte, daß er gegen Martin Roeder keine Chance hatte.

»Hast du Lust zu einem kleinen Bummel? Ich möchte Verschiedenes mit dir besprechen.« Martin sah seine Partnerin strahlend an.

Irene verspürte keine Lust, denn ihr war es viel zu kühl. Doch sie mochte ihrem Martin keinen Wunsch abschlagen. Nur zu gern ließ sie es geschehen, daß Roeder schützend seinen Arm um sie legte. Sie lehnte sich im Weitergehen an ihn und hatte keine Ahnung, daß es jemand gab, der ihnen traurig nachschaute.

»Ich war heute bei meinem alten Kumpel Gustav. Du weißt schon, der Architekt. Er hat mir versprochen, daß das Haus im nächsten Frühjahr fertig ist.«

»Aber im Moment ist doch gerade erst die Baugrube ausgehoben«, antwortete Irene etwas zerstreut. Sie war mit ihren Gedanken noch bei der Arbeit in der Redaktion. Kurz bevor die Seiten der Tageszeitung in Druck gehen sollten, war noch eine wichtige Meldung gekommen, die unbedingt in die morgige Ausgabe mußte. Alles mußte nochmals umgestellt und einige Artikel gekürzt werden. Eine umfangreiche Arbeit, für die nur wenig Zeit zur Verfügung stand. Allein hätte es Irene gar nicht geschafft. Michael Fischer hatte ihr dabei geholfen, obwohl er keinen Spätdienst hatte.

»Gustav meint, wenn es keinen Frost gibt, steht der Rohbau bis zum Jahresende. Und dann können wir die Innenausstattung auswählen. Du, ich freue mich.«

»Ich auch«, erwiderte Irene etwas lahm. Bis jetzt konnte sie sich für das mit Schlammpfützen übersäte Grundstück, auf dem ihr späteres Zuhause entstehen sollte, nicht begeistern.

Das junge Paar ging gerade auf den Fluß zu, der sich in vielen Windungen durch die Kleinstadt schlängelte. Im Sommer führte er nur wenig Wasser, doch wenn im Frühjahr in den Bergen die Schneeschmelze einsetzte, wurde er zum reißenden Strom. Deshalb gab es zu beiden Seiten einen hohen Damm mit schattigen Spazierwegen. An einer mittelalterlichen Brücke, geschmückt mit einer Statue des Heiligen Nepomuk, bog er auf diesen Weg ein. Tagsüber gingen hier junge Mütter und Rentner spazieren, um diese Zeit war der Damm menschenleer. Das welke Laub der Linden bedeckte den Weg. Es raschelte bei jedem Schritt.

Martin blieb stehen und wandte sich zu Irene. »Was hältst du davon, wenn wir im März heiraten? Die Hochzeitsreise machen wir auf die Seychellen, das ist genau die richtige Zeit. Wenn wir zurückkommen, ziehen wir ins neue Haus. Man, ist das nicht super?« Roeder schlang beide Arme um Irenes schmale Taillie, zog die mädchenhafte junge Frau eng an sich.

»Hm.« Irene lächelte. Sie ließ sich von Michaels Begeisterung nicht anstecken, denn es gab so viele andere Dinge, die sie beschäftigten.

»Ist das alles, was du dazu sagst?« fragte der junge Ingenieur etwas enttäuscht. »Irene, wir reden vom schönsten, vom wichtigsten Tag in unserem Leben. Ich kann es kaum erwarten, bis wir offiziell zusammengehören. Ich liebe dich doch so sehr, und ich möchte stolz sagen können: das ist meine Frau. Wir werden bestimmt sehr glücklich sein miteinander. Und wenn wir irgendwann ein Baby bekommen, werden wir eine perfekte Familie. Du und ich und ein süßes kleines Mädchen. Mein Gott, das Leben ist so schön…« Verliebt küßte Martin seine künftige Frau auf die Stirn. Er strich mit liebevoller Geste ihre blonden Locken zurück.

Die Berührung seiner Finger war angenehm, trotzdem drehte Irene den Kopf weg.

»Nicht für alle ist das Leben schön«, murmelte sie bedrückt.

Michael zog seine Irene noch inniger an sich. »Daran sollten wir nicht denken, nicht jetzt. Wir können doch nichts daran ändern.«

»In diesem Fall schon.« Ernst sah Irene zu dem wesentlich größeren Martin auf. Das Licht der Laterne fiel auf ihr apartes Gesicht mit den großen grauen Augen, dem herzförmigen Mund und der kleinen Nase, die Irene einen kindlichen Reiz verlieh.

»Sprichst du von den Kindern deiner Schwester?« erkundigte sich ihr Partner ahnungsvoll. Er hätte sich gewünscht, daß Irene nicht davon anfing, nicht jetzt.

»Du weißt ja, wenn ich Spätdienst habe, muß ich erst am Nachmittag in der Redaktion sein. Heute war ich draußen im Kinderheim. Bianca und Björn waren in der Schule, ich traf nur Barbara an. Sie hat sehr geweint, weil sie in eine Familie vermittelt werden soll und somit von ihren Geschwistern getrennt wird. Die Heimleiterin hat mir bestätigt, daß für Barbara und Björn jeweils eine Adoptionsfamilie gefunden worden sei, während es schwierig ist, Bianca zu vermitteln. Sie ist immerhin schon zwölf, und die Ehepaare, die bereit sind, ein Kind zu sich zu nehmen, möchten am liebsten Babies.« Irene seufzte bedrückt.

Michael beugte sich hinab, bis seine Stirn Irenes Haaransatz berührte. »Ich finde diese Entwicklung gar nicht so ungeschickt. Wenn es dich beruhigt, können wir ja Bianca zu uns nehmen. Sie ist sicher ein vernünftiges Mädchen, dem man schon kleine Hausarbeiten übertragen kann und das auf das Baby achten kann, das wir vielleicht schon nächstes Jahr haben werden.« Martin hielt diesen Vorschlag für sehr großzügig.

Um so enttäuschter war er, als Irene mit einem entschiedenen Nein antwortete. »Die Kinder träumen davon, zusammenzubleiben. Verstehst du das nicht?« fügte sie etwas ärgerlich hinzu.

»Schön und gut. Werden sie eben einsehen müssen, daß dies nicht möglich ist. Sie können ja trotzdem Kontakt miteinander pflegen.«

»Wie denn, wenn Barbara nach Hannover vermittelt wird und Björn in ein bayrisches Dorf? Es ist einfach unmenschlich, die Geschwister auseinanderzureißen.«

»Immerhin noch besser, als sie in einem Heim aufwachsen zu lassen. Wer ist schon bereit, sich mit drei fremden Kindern zu belasten.« Martin hatte seinen Griff gelöst und ging langsam weiter. Wie ein schmollender kleiner Junge wirbelte er bei jedem Schritt das welke Laub auf.

Irene blieb an seiner Seite. »Für uns sind es keine fremden Kinder. Freilich, ich habe mich mit meiner Schwester nicht besonders verstanden und hatte deshalb auch nichts dagegen, daß die Kinder in ein Heim kamen, als ihre Eltern bei diesem schrecklichen Flugzeugunglück ums Leben kamen. Aber inzwischen habe ich die drei näher kennengelernt, und ich mag sie sehr. Es ist meine Pflicht, ihnen zu helfen, weil ich ihre einzige Verwandte bin.« Irene spürte den frischen Wind, der die restlichen Blätter von den Ästen der Linden schüttelte, nicht mehr. Ihr war jetzt richtig warm.

»Du urteilst mit dem Herzen, aber nicht mit dem Verstand. Überlege doch, welche Probleme drei Kinder mit sich bringen. Es ist nicht damit getan, daß sie ein Dach über dem Kopf und etwas zu essen haben. Jedes von ihnen ist eine eigene Persönlichkeit, braucht Ansprache, Verständnis, Rücksicht. Dabei wird aber keines bereit sein, Rücksicht auf uns zu nehmen. Die drei Rangen werden streiten, toben, schreien und das rund um die Uhr. Weißt du denn, welche Belastung das für ein junges Paar ist, das dabei ist, sein eigenes Leben aufzubauen?«

»Woher weißt du denn das alles so gut?« erkundigte sich Irene skeptisch. Sie war nicht bereit, sich von Martins Argumenten überzeugen zu lassen.

»Weil ich drei Geschwister hatte und weiß, wie es in einer großen Familie zugeht.«

»Aber es ist doch auch schön, das hast du selbst erzählt.«

Martin schnaubte unwillig. »Natürlich war es schön für uns Kinder, aber nicht für meine Eltern. Mein Vater hat ständig Überstunden gemacht, um mehr zu verdienen, meine Mutter saß bis tief in die Nacht vor der Nähmaschine, um das Geld für unser Studium zusammenzubekommen. Nein, Irene, so habe ich mir unser Leben nicht vorgestellt. Ich möchte nicht, daß du dich für die Kinder deiner Schwester aufopferst. Dazu habe ich dich viel zu lieb. Wenn Opfer gebracht werden müssen, dann für ein eigenes Kind. Eines, verstehst du?«

»Martin, du bist ein Egoist. Wozu bauen wir ein großes Haus, wenn es nicht einmal Platz für drei Waisenkinder hat?« Temperamentvoll ballte Irene die Hände zu Fäusten, als gelte es, für ihre Idee zu kämpfen.

»Weil diese Kinder unser Glück zerstören würden, noch bevor es richtig begonnen hat.«

»Nicht, wenn wir sie akzeptieren, wenn wir beide zu dieser Aufgabe stehen. Ich könnte es mir als sehr beglückend vorstellen, die Kinder großzuziehen, ihnen den Weg ins Leben zu ebnen, ihre Entwicklung zu verfolgen, sie zu leiten und zu beschützen bis sie stark genug sind, ihren eigenen Weg zu gehen.«

Martin ging immer rascher, als könne er so diesem für ihn unangenehmen Gespräch entfliehen. Er hatte eine andere Vorstellung von der Zukunft, und darin hatten die drei fremden Kinder keinen Platz.

»Das sind große Worte, doch das Leben besteht aus Alltagskleinigkeiten, an die du vermutlich nicht denkst. Diese Aufgabe würde uns aufreiben, zermürben, würde uns wenig Freude machen. Von den finanziellen Schwierigkeiten ganz zu schweigen. Reden wir nicht mehr darüber, denn es gibt erfreulichere Erörterungen für uns.« Sie hatten die nächste Brücke erreicht, Martin schwenkte ab, um der gemeinsamen Wohnung zuzustreben.

*

An diesem Abend redete Irene nicht mehr von ihrer Absicht, den beiden Nichten und dem Neffen eine neue Heimat zu geben. Ihre Pläne gab sie trotzdem nicht auf, denn sie konnte stur sein, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte. Außerdem dachte sie gar nicht daran, sich von Martin bevormunden zu lassen, auch wenn er noch so oft von der Hochzeit sprach und davon, daß sie künftig alles gemeinsam tun würden.

Wenn sich Martin ihrer Meinung nicht anschloß, würde sie eben die Entscheidung allein treffen, denn noch waren sie nicht verheiratet.

Nach dem Tod der Schwester und des Schwagers war Irene als einzige Verwandte der drei Wieland-Kinder zum Vormund bestimmt worden .Diese Tatsache und ihre Aussage, demnächst zu heiraten, bewogen das Vormundschaftsgericht, ihrem Antrag auf Pflegschaft zuzustimmen. Nach Ablauf der vorgeschriebenen Frist würde sie dann die Adoption beantragen können.

Irene war mit dem Erreichten sehr zufrieden. Sofort begann sie, sich auf die neue Situation einzustellen. Zunächst brauchten die Kinder ein Zimmer. Kurzerhand räumte Irene den Raum aus, in dem Martins Schreibtisch stand. Eine erstaunliche Kraft und Energie entwickelte sie dabei.

Als Martin an diesem Spätnachmittag nach Hause kam, traute er seinen Augen kaum. Im Flur stapelten sich seine Bücher, die Bretter der Regale lehnten an der Wand neben dem zusammengerollten Teppich. Irene war gerade dabei, Martins Schreibtisch ebenfalls in den Flur zu zerren.

»Du bist hier?« fragte der Ingenieur überflüssigerweise.

»Ich habe gekündigt, und da ich noch jede Menge Urlaub abzubummeln habe, brauche ich bis zum Quartalsende nicht mehr in der Redaktion zu erscheinen.« Mit dem Ärmel wischte sich Irene den Schweiß von der Stirn und schüttelte gleichzeitig die zu einem Pferdeschwanz zusammengenommenen Haare zurück.

Martin machte große Augen. Bei den zu erwartenden hohen Kosten für den Neubau hatte er Irenes Gehalt einkalkuliert. »Was hast du…? Und warum erfahre ich das erst jetzt?« murmelte er verblüfft.

»Weil es ohnehin nicht zu vermeiden gewesen wäre. Daß ich zu Hause bleibe, ist die Voraussetzung für die Pflegschaft.«

»Für die was…?« Martin ahnte Schlimmes, hoffte aber trotzdem, daß alles nur ein dummer Scherz war. Gleich würde ihm Irene um den Hals fallen und ihm sagen, daß sie ihn mit einer neuen Tapete überraschen wollte. Das war zwar unsinnig, weil sie in wenigen Monaten ausziehen würden, doch es war wenigstens keine Katastrophe, wie sie hinter dem Wort »Pflegschaft« zu vermuten war.

»Du weißt doch seit langem, daß ich die Kinder meiner Schwester zu mir nehmen will«, ächzte Irene, noch immer am Schreibtisch ziehend.

Martin machte keine Anstalten, ihr zu helfen. Er erkannte, daß eingetreten war, was er kaum für möglich gehalten hatte. »Du willst ohne mich zu fragen…«

»Ich muß. Wir haben doch darüber gesprochen. Es gibt keine andere Lösung.« Irenes Möbeltransport stoppte, denn der schwere Schreibtisch blieb an der Türschwelle hängen.

»Ich habe erklärt, daß ich nicht einverstanden bin«, wiederholte Martin in sachlichem Ton. »Die Gründe habe ich dir auseinandergesetzt. Sie sind vernünftig und berücksichtigen deine Interessen ebenso wie meine. Doch was du jetzt tust ist unfair. Du führst Verhandlungen hinter meinem Rücken und stellst mich vor vollendete Tatsachen.«

Irene kannte Martin lange genug, um zu wissen, daß er wütend war, wenn er so ruhig und beherrscht sprach. Sehr wütend sogar. Sie mußte ihm zuvorkommen, denn sie stand zu ihrer Entscheidung und dachte nicht daran, sie rückgängig zu machen. »Welche Argumente du auch vorbringst, ich kann nicht anders handeln. Jede Diskussion ist sinnlos. Ich habe den Kindern gegenüber eine Verantwortung, die ich nicht einfach ignorieren kann«, entgegnete die junge Frau heftig.

»Und was ich dazu sage, ist dir gleichgültig«. Jetzt wurde auch Martin lauter. Er haßte nichts mehr, als wenn die Ruhe seiner Freizeit gestört wurde. Und es sah so aus, als sei dies nicht nur heute der Fall.

»Natürlich nicht!« brüllte Irene zurück. »Hilf mir lieber, den Schreibtisch über die Schwelle zu bringen.«

»Du hättest mich fragen müssen, wenn du mein Zimmer ausräumst.« Beleidigt verzog Martin das Gesicht.

»Auch dazu gibt es keine Alternative. Es ist der einzige Raum, den wir als Kinderzimmer einrichten können. Im Neubau werden wir für jedes der Kinder einen Raum vorsehen.«

»Hast du das auch schon entschieden? Sind die Pläne bereits entsprechend geändert? Nett, daß ich überhaupt davon erfahre.«

»Niemand hat etwas geändert!« wehrte sich Irene und versuchte mit hochrotem Kopf, den Schreibtisch etwas anzuheben. Vergeblich.

»Es geht nicht nur um den guten Willen, sondern auch ums Geld. Wer soll denn das alles bezahlen?«

»Es gibt eine Erziehungsbeihilfe und Kindergeld. Im übrigen hätten wir alle Kosten ohnehin.«

»Aber nicht in dieser Höhe, das dürfte dir doch klar sein. Falls du mich als Zahler vorgesehen hast, muß ich dir sagen, daß das nicht funktioniert. Ich habe keine Lust, in fremde Kinder zu investieren.«

Vielleicht hätte Martin das nicht sagen dürfen, denn es ärgerte Irene ungemein. Sie wußte, daß sie sich nicht ganz richtig verhalten hatte und war eben noch bereit gewesen, es zuzugeben. Doch Martins Äußerung verhalf den Eigenschaften ihres Sternbildes Stier zum Durchbruch. Sie gab sich stur und uneinsichtig.

Ruckartig ließ sie den Schreibtisch los, stemmte die Arme in die Taille. »Du hast vielleicht noch nicht daran gedacht, daß ich in dieser Wohnung genau die Rechte habe wie du.

Bis jetzt haben wir uns alle Kosten geteilt. Das kannst du weiterhin haben. Keine Sorge, die Kinder werden dir nicht auf der Tasche liegen, dafür sorge ich! Eigentlich muß ich ihnen dankbar sein, denn durch sie habe ich erfahren, welch ein Egoist du bist!« Irenes graue Augen sprühten zornige Blitze. Es war ihr in diesem Moment alles egal. Wenn sie Martin verlor, dann hatte es eben so sein sollen.

Früher hatten ihn Irenes Zornausbrüche amüsiert. Doch heute war die Sache zu ernst. Martin dachte nichts ans Einlenken. Er war gekränkt, und das ließ er Irene fühlen.

»Vermutlich weißt du weder, was du anrichtest, noch auf was du dich einläßt. Wie kann man nur so kurzsichtig sein!«

Irene gehörte nicht zu den Menschen, die bei einem Streit zurücksteckten. Ihr Temperament verlangte nach Vergeltung. »Du glaubst wohl, daß ich auf dich angewiesen bin. Doch in diesem Punkt täuscht du dich. Ob mit oder ohne Kinder, ich komme ganz gut allein zurecht!«

»Überlege dir, was du da sagst«, antwortete Martin kühl. Es fiel ihm schwer, so ruhig zu bleiben, denn inzwischen überwog der Kummer fast den Ärger.

»Das habe ich«, trumpfte Irene auf, obwohl sie ihrer Sache längst nicht mehr sicher war. Sie wußte, daß sie zu weit gegangen war, doch ihr Stolz war stärker als die Angst vor einer Trennung.

»Du brauchst mich nicht mehr, hast mich nie gebraucht, also kann ich ja gehen.« Martin rechnete damit, daß seine Freundin jetzt umschwenken würde.

Doch er hatte sich verrechnet.

Irene wandte sich ab, als würde sie das alles nicht interessieren. »Wie du denkst.« Nervös zerrte sie die Schubladen aus dem Schreibtisch, damit er leichter wurde.

Martin sah ihr noch einen Moment lang zu, dann drehte er sich um und verließ die Wohnung.

Das Klicken des Türschlosses brachte Irene in die Wirklichkeit zurück.

Jetzt wäre sie Martin gern nachgelaufen, doch sie war starr vor Schreck. Er war wirklich gegangen, der Mann, den sie liebte und mit dem sie ihr ganzes Leben hatte verbringen wollen.

Irenes Lippen zitterten leicht, ihre Augen brannten. Jetzt wurde ihr bewußt, daß sie alles falsch angefangen hatte. Schnupfend lehnte sie sich gegen die Wand.

*

Lärm erfüllte die früher so ruhige Wohnung. Wo zuvor mustergültige Ordnung herrschte, gab es jetzt chaotische Zustände. An der Garderobe im Flur hingen kleine Jacken, Mützen und Schals übereinander, standen Gummistiefel und Schulmappen, lag aber auch ein vergessenes Stofftier und eine nackte Puppe, die ihre Kleidung im Flur verloren zu haben schien. Die Puppenkleider überall zerstreut, auch ein paar Bilderbücher dazwischen, Farbstifte und Schulhefte. Küchengerüche durchzogen alle Räume, und das Töpfeklappern mischte sich mit überlauter Musik. Eine Boy-Band gröhlte zu Techno-Klängen.

Der zehnjährige Björn glitt elegant auf Inline Skates um die am Boden liegenden Hindernisse herum. Er streifte Martin, der gerade seine Lederjacke aufhängte und entschuldigte sich mit einem lässigen »Hey«. Das war gleichzeitig die Begrüßung.

Als Irene und Martin noch allein hier wohnten, gab es zwischen ihnen jeden Abend ein freudiges Wiedersehen. Doch seit die Kinder eingezogen waren, fand Irene für solche Dinge keine Zeit mehr. Ihre Beziehung war reichlich nüchtern und lieblos geworden.

Am liebsten wäre Martin wieder umgekehrt, denn jeder andere Ort erschien ihm angenehmer als die eigene Wohnung. Doch er hatte sich bereiterklärt, das Zusammenleben mit den Kindern zu versuchen, und er tat es Irene zuliebe. Nach dem bösen Streit war er noch am selben Abend zurückgekehrt, um sich mit Irene zu versöhnen und sich an der Umgestaltung seines früheren Arbeitszimmers zu beteiligen. Jetzt standen drei Betten darin, zwischen ihnen jede Menge Spielsachen und mitten im Raum ein CD-Player, der von früh bis spät in Betrieb war.

Inzwischen drangen aus der geöffneten Küche Rauchschwaden. Es roch unangenehm verbrannt.

»Iiih, stinkt das!« schrie Bianca. Sie rannte an Martin vorbei, ohne ihn zu beachten und stieß an der Tür zum Kinderzimmer mit Björn zusammen, der daraufhin das Gleichgewicht verlor und zu stürzen drohte. Krampfhaft hielt er sich an seiner Schwester fest, riß sie beinahe mit.

»Bist du bescheuert?« brüllte sie empört. »Du kannst doch die Skater nicht in der Wohnung benutzen.«

»Du schusselst doch wie gestört hier herum. Den ganzen Tag hörst du die hohle Techno-Musik, das geht mir echt auf den Geist.«

»Du hast eben null Durchblick. Aua, laß mich endlich los!«

Der geschwisterliche Streit war in vollem Gange, als Martin vorsichtig, als erwarte ihn hier eine unangenehme Überraschung, die Küche betrat. Früher wirkte sie wie ein Ausstellungsstück eines Möbelhauses. Jetzt war das Durcheinander in diesem Raum kaum zu überbieten.

Wie Martin vermutet hatte, stand Irene inmitten der Rauchschwaden am Herd, darum bemüht, übergekochte Essensreste von den heißen Glaskeramikfeldern zu entfernen. Sie hörte Martin kommen, drehte aber nicht einmal den Kopf. Gepflegt wie zu der Zeit, da sie noch berufstätig war, wirkte sie auch nicht, ganz im Gegenteil. Das Gesicht gerötet, die Haare zerzaust und die Kleidung angeschmutzt, bot sie das Bild jener gestreßten Hausfrau, die für jeden Mann ein Alptraum war.

Martin schluckte. Das ganze Treiben hier war ihm gewaltig zuwider, doch er wollte sich nicht beschweren. Irgendwann mußte Irene doch einsehen, daß sie so nicht leben konnten.

»Hallo, Irene«, sagte er fast schüchtern. »Kann ich etwas helfen?« Ganz ernst war dieses Angebot nicht gemeint, denn Martin hatte nur den einen Wunsch, die Küche schnellstens wieder zu verlassen. Er fühlte sich wie in einem Hexenkessel, bedroht von allen Seiten.

Irene konnte ihrem Martin keine Hand geben, denn die waren beide dreckig. »Oh, bist du schon da?« fragte sie überrascht. »Das Abendbrot ist noch nicht ganz fertig, aber es dauert nur noch wenige Minuten.« Irene goß Pfannkuchenteig in die Pfanne mit heißem Fett. Es zischte, dampfte und brutzelte.

Erschrocken wich Martin etwas zurück. Ziemlich hilflos fühlte er sich in der Nähe der Kochstelle. »Was gibt es denn Gutes?« erkundigte er sich hustend. Daß Irene mit den selbstgewählten Pflichten völlig überfordert war, hatte er von Anfang an gewußt. Doch sie hatte sich ja nichts sagen lassen wollen. Eine Familie mußte wachsen, nicht schlagartig vorhanden sein. Die vielfältigen Anforderungen waren für die unerfahrene Irene nicht zu bewältigen.

»Pfannkuchen und Schokoladensoße.«

»Aber das haben wir doch erst gestern und vorgestern und…« murmelte Martin wenig begeistert.

»Weiß ich. Aber die Kinder wünschen sich das immer wieder. Du kannst Brot essen, Wurst oder Käse dazu.« Irene machte Anstalten, den Pfannkuchen zu drehen.

In diesem Moment kam Björn, noch immer die rollenden Schuhe an den Füßen. »Darf ich ihn hochwerfen und mit der Pfanne wieder auffangen? Ich kann das.«

»Du kannst es ja versuchen«, erlaubte Irene, obwohl sie wußte, daß es schiefgehen würde. Sie wollte, daß sich die Kindern bei ihr wohlfühlten, daß sie das Gefühl hatten, daß hier ihr Zuhause war. Dazu gehörte auch, daß sie Fehler machen und Erfahrungen sammeln durften.

Martin verzog sich vorsichtshalber. Er sah noch, wie Björn nach der Pfanne griff und den Inhalt durch einen kräftigen Ruck hochwirbelte. Im nächsten Moment klatschte der Pfannkuchen auf die heiße Herdplatte. Der aus der Küche strömende Gestank verstärkte sich sofort.

Martin flüchtete ins Wohnzimmer. Dort war es ziemlich eng, seit sein Schreibtisch und die Regale mit den Büchern neben der Couch standen. Allerdings wurde der Schreibtisch nicht mehr von Martin, sondern von Bianca und Björn benutzt, die daran ihre Schularbeiten erledigten. Entsprechend sah es hier aus. Hefte und Bücher türmten sich nicht nur auf der Schreibplatte, sondern auch daneben auf dem Fußboden, auf den Sesseln und dem niedrigen Couchtisch.

Martin, der sich nach Ruhe und Ordnung sehnte, räumte einen Sessel frei und griff nach der Zeitung. Sie war mit unzähligen bunten Wachskreidestrichen verziert. Auf der Rückseite klebte ein Kaugummi.

»Pst, nicht der Bianca verraten, sonst schimpft sie«, piepste es aus der Ecke, in der ein Puppenwagen stand.

Erst jetzt bemerkte Martin, daß es sich Barbara dort bequem gemacht hatte. Sie saß auf Irenes schönstem Sofakissen auf dem Boden und hielt ein elektronisches Spielzeug mit diversen Knöpfchen in der Hand. Eine ständig sich wiederholende Melodie begleitete die Aktivitäten Barbaras.

Also auch hier keine Ruhe, dachte Martin und seufzte.

Die fünfjährige Barbara, die von ihren Geschwistern nur »Babs« genannt wurde, war ein süßes Geschöpf mit blonden Locken und großen blauen Augen. Sie schauten so unschuldig in die Welt, daß man ihr nie böse sein konnte. Mit Barbara hatte sich Martin am raschesten angefreundet. Sie mochte er, während er ihre älteren Geschwister skeptisch beobachtete. Würde, konnte er ihre Anwesenheit viele Jahre lang ertragen? Eigentlich war das unvorstellbar, doch aus Liebe zu Irene wollte er auch Unmögliches versuchen.

Bevor Martin der Kleinen seine Loyalität versichern konnte, kam Bianca, der Teenager, ins Zimmer. Sofort entdeckte sie ihr Eigentum in den Händen der kleinen Schwester, stürzte sich auf Barbara und entriß ihr das begehrte Kästchen.

Darauf brüllte die Kleine los. Ihr Geschrei war mit Sicherheit im ganzen Haus zu hören.

Irene, durch verschiedene Reklamationen der Nachbarn nervös, eilte herbei und schloß die kleine Nichte tröstend in die Arme. In der Küche brannte inzwischen der nächste Pfannkuchen an.

Martin zog die Pfanne vom Herd, bevor sich das Fett entzündete. Längst war ihm der Appetit vergangen. Er setzte sich trotzdem an den Tisch, als die Mahlzeit schließlich zubereitet war. Allerdings blieb er nur einige Sekunden sitzen, dann fühlte sich sein Hosenboden feucht an. Verwundert griff er auf die Stuhlfläche und ertastete eine klebrige Masse.

»Was ist denn das?« fragte er und erhob sich rasch.

Björn streckte den Hals und grinste. »Da hat Babs den Honig verschüttet.«

»Und warum macht das niemand weg?« Martin sah die Familie vorwurfsvoll an.

Es war Irene, die antwortete und die wie immer ihre Nichten und den Neffen in Schutz nahm. »Hättest ja auch einen Lappen nehmen können und das wegwischen«, maulte sie genervt.

»Wenn ich es bemerkt hätte.« Martin ging ins Schlafzimmer, um die Hose zu wechseln. Inzwischen hatte Bianca die Sitzfläche gereinigt. Sie gab sich große Mühe, Tante Irene zu unterstützen. Allerdings konnte sie nicht verhindern, daß sie in ihrer Unerfahrenheit auch manchen Schaden anrichtete.

So passierte es ohne Absicht auch jetzt. Als sich die Zwölfjährige wieder an ihren Platz setzte, kam sie aus Unachtsamkeit an das Glas, das neben ihrem Teller stand. Es kippte um, und ehe es jemand verhindern konnte, ergoß sich der Inhalt über den Tisch auf Martins Hose. Ein kleiner Milchsee entstand auf seinem Schoß, was Barbara und Björn sehr lustig fanden. Sie kicherten schadenfroh.

Martin sauste in die Höhe, um seine Hose vor weiterem Schaden zu bewahren. Zu spät war es ohnehin. Die Milch lief an seinen Beinen hinab und tropfte auf seine Schuhe. »Schweinerei!« schimpfte er aufgebracht.

Wieder fühlte sich Irene angegriffen. »Nun hab dich doch nicht so«, kritisierte sie unfreundlich. »Was ist schon passiert?«

»Nicht viel, aber mir reichts trotzdem.« Martin hastete hinüber ins Badezimmer, stolperte dort über Berge schmutziger Wäsche und einige quietschende Gummientchen.

Wenige Minuten später verließ er die Wohnung. Er hörte gerade noch, wie Bianca reumütig fragte: »Bist du jetzt böse, Tante Irene?«

*

Irene trug ihren kleinen Schützlingen nichts nach. Sie hatte Verständnis für alle kindlichen Streiche und die vielen Pannen, die täglich passierten. Mit bewundernswerter Geduld überging sie die Streitereien der Geschwister, übersah die Spuren der Zerstörung, die sich überall in der Wohnung zeigten. Da gab es beschädigte Möbel und Tapeten, zerbrochenes Geschirr und defekte Haushaltsgeräte. Sie nahm es hin, daß Bianca ihren Kleiderschrank plünderte und Barbara zum Spielen ihren Schmuck trug, weil sie als Puppenmama vornehm sein wollte.

Auch mit Martin versöhnte sich Irene immer wieder. Allerdings war ihr Verhältnis nicht mehr so herzlich und ungetrübt wie früher. Es blieb keine Zeit für Zärtlichkeiten, denn abends fühlte sich Irene todmüde.

Unter diesem Entzug litt Martin ganz besonders. Es machte ihn mürrisch und unzufrieden, daß er nicht mehr wie früher ungestört mit Irene zusammensein konnte. Es ergab sich kaum mehr eine Gelegenheit, unter vier Augen mit ihr zu reden, denn ständig war eines der Kinder anwesend, immer gingen die Belange der Jugend vor. Bianca, die sich schon sehr erwachsen fühlte, saß abends vor dem Fernseher und war nicht dazu bereit, vor zweiundzwanzig Uhr zu Bett zu gehen. Björn, der ähnliche Rechte für sich beanspruchte, hielt allerdings nicht so lange durch. Häufig fielen ihm noch während des Abendprogramms die Augen zu, und Martin mußte ihn in sein Bett tragen.

Das war auch an diesem Abend so. Erstaunlicherweise zeigte auch Bianca kein Interesse mehr am Programm und verzog sich.

Martin atmete auf. Er verzichtete darauf, Irene zu sagen, daß sie strenger und konsequenter sein mußte, denn er durfte sich ja nicht einmischen.

Er holte eine Flasche Sekt aus dem Kühlschrank und zwei Gläser aus der Vitrine. Allerlei Kunststofftierchen, die zu Barbaras Zoo gehörten, purzelten ihm entgegen. Er übersah es, lächelte sogar, als er zur Couch zurückkam.

Irene hatte sich mit geschlossenen Augen zurückgelehnt. Ihr Gesicht, auf dem sich häufig die Spuren der Überbelastung zeigten, wirkte entspannt.

»Ich freue mich, daß wir endlich mal wieder einen Abend allein miteinander verbringen können.« Zärtlich legte Martin den Arm um Irenes schmale Schultern. »Ich hab dich doch so lieb, und ich sehne mich nach dir.« Schmusend rieb Martin seine Stirn an Irenes Wange. Dabei fiel ihm auf, daß sie nicht wie früher nach Blüten roch, sondern ganz profan nach Küche, nach Pfannkuchen und gedünstetem Fisch.

Martin versuchte es zu übergehen. Er küßte Irene, streichelte sie und versicherte ihr, daß sie die hübscheste Frau sei, die er je zu Gesicht bekommen hatte. So ganz überzeugend klang es allerdings nicht.

Irene war zu müde, das zu bemerken. Sie erwiderte Martins Zärtlichkeit und küßte ihn lange und leidenschaftlich. Für einige Minuten war es fast wie in alten Zeiten. Sie waren wieder ein Liebespaar, dessen größtes Glück die Gemeinsamkeit war.

Genußvoll tranken sie den Sekt, sahen sich in die Augen und hatten beide das Bedürfnis, einander so nahe wie möglich zu sein. Vergessen waren die Kinder, vergessen die vielen unschönen Szenen, die es in letzter Zeit gegeben hatte.

Beide hatten wieder Hoffnung, daß alles gut werden würde. Sie waren davon überzeugt, daß ihre Liebe alles Unangenehme überwinden würde.

Für Martin und Irene waren diese wenigen Minuten wie ein neuer Anfang. Ein weinerliches Stimmchen holte sie aus dem siebten Himmel der Verliebtheit. Schonungslos wurden sie in die Realität zurückbefördert.

Vor ihnen stand Barbara, zerzaust, mit vom Schlaf geröteten Bäckchen, verweinten Augen und bloßen Füßen.

»Ich habe so schlimm geträumt«, jammerte sie. »Da war ein böser Mann, der hat meiner Puppe den Kopf abgerissen und dann…« Barbara konnte nicht weitererzählen, denn ein jämmerliches Schluchzen erstickte jeden Ton.

»Das war nur ein Traum, keine Wirklichkeit.« Tröstend zog Irene die kleine Nichte in die Arme, drückte sie ganz fest und liebevoll an sich. »Du brauchst keine Angst zu haben, wir sind ja da und beschützen dich. Wir jagen alle bösen Männer weg. Onkel Martin verprügelt sie. Sie dürfen dir nichts tun und deiner Puppe auch nicht.«

Die kleine Barbara schnupfte und kuschelte sich dabei zufrieden an Irene. »Das ist gut«, nuschelte sie.

Martin war ernüchtert etwas zur Seite gerückt. Die Störung kam ihm sehr ungelegen, denn er hatte sich von der Fortsetzung dieses Abends sehr viel versprochen. An eine wundervolle Nacht voll Zärtlichkeit und liebevoller Erfüllung dachte er. An Stunden, in denen ihre Liebe wieder so lebendig war wie vor der Zeit in der die Kinder bei ihnen wohnten. Doch nun war die Stimmung zerstört. Der Alltag mit seinen vielfältigen Pflichten hatte sie eingeholt.

Irene bedauerte die Störung auch, dachte aber gar nicht daran, die kleine Nichte wieder ins Bett zurückzuschicken. Sie streichelte das verängstigte Kind, wiegte es sanft in ihren Armen wie ein Baby.

Das fand Martin etwas übertrieben, doch er drängte Irene nicht. Erst als sie der Nichte erlaubte, in ihr Bett zu schlüpfen, schüttelte er verständnislos den Kopf. »Muß das sein?« murmelte er unzufrieden.

Die junge Frau überhörte Martins Äußerung. Sie brachte Barbara hinüber, deckte sie sorgfältig zu und sang noch ein Kinderlied, bis das kleine Mädchen schlief.

Als sie ins Wohnzimmer zurückkam, hatte Martin den restlichen Sekt getrunken. Finster schaute er ihr entgegen. »Alle sind wichtiger als ich. Damit könnte ich mich abfinden, aber nicht mit der Tatsache, daß wir keine eigenen Interessen mehr haben dürfen.«

»Das sind Übergangsschwierigkeiten«, tat Irene den Vorwurf ihres Partners ab. »Es wird sich alles einspielen. Wir müssen nur Geduld haben.«

»Und wie soll das aussehen?« trumpfte Martin auf. »Ich möchte mich nicht gern selbst zum Sklaven dreier aufsässiger Kinder machen. Wenn es dein Glück ist, bitte. Hier passiert doch nur noch, was deinen Nichten und deinem Neffen gefällt. Wir essen Pfannkuchen, Pizza und Spaghetti bis zum Abgewöhnen, fahren sonntags ins Hallenbad und zum Kasperle, gehen nie mehr aus, haben nicht einmal mehr Zeit für ein Gespräch geschweige denn für mehr. Wenn du das für erstrebenswert hältst, kann ich dich nur bedauern.«

»Geht das schon wieder los!« stöhnte Irene und verdrehte die Augen.

»Was heißt wieder? Seit Wochen nehme ich das alles klaglos hin. Es gibt in dieser Wohnung keinen Platz mehr, an dem ich ungestört bin. Ich beschwere mich nicht, wenn Barbara mein Aftershave über sich schüttet und Björn mit meinem Fahrrad über die Bordsteine fährt. Es macht mir auch nichts aus, wenn Bianca meine Fachzeitschriften zerschnipselt, obwohl ich sie noch nicht einmal gelesen habe. Ich ertrage diese unmögliche Musik und die Colaflecken auf allen Teppichen. Aber ich bin nicht unbeschränkt belastbar.«

»Das ist nur eine Frage der Einstellung. Du magst die Kinder nicht«, warf Irene ihrem Freund vor.

»Das beruht auf Gegenseitigkeit. Bianca sieht in mir den Hausburschen, Björn ignoriert mich und Barbara will einen Clown aus mir machen. Du, mir stinkt’s!«

»Du mußt ja gar nicht hierbleiben«, antwortete Irene gereizt. »Daß du ein Egoist bist, hab’ ich schon früher gewußt, aber jetzt beweist es sich. Du hast keinen Gemeinschaftssinn.«

Martin biß die Zähne zusammen. »Willst du mich loswerden?« fragte er düster.

»Mein Gott, wenn du doch so unzufrieden bist.« Wieder einmal schaltete Irene auf stur.

»Hör zu, Irene. Weil ich dich liebe, habe ich das mitgemacht. Aber alles hat Grenzen. Sie sind überschritten, und ich denke wirklich daran, mich abzusetzen. Ein Freund, der seit sechs Jahren in Kanada arbeitet, hat mich angerufen. Er hat einen tollen Job für mich.«

»Dann geh doch!« schrie Irene erbost. Nichts ärgerte sie mehr, als wenn jemand versuchte, sie zu erpressen. »Ich werde die Kinder behalten, das habe ich dir schon hundertmal gesagt!«

»Das hältst du nicht durch und ich auch nicht. Und bevor wir beide am Ende sind, ist es vielleicht doch besser, wenn ich verschwinde.« Noch erwartete Martin, daß Irene umschwenkte und ihn bat zu bleiben.

Doch das empfand sie als unter ihrer Würde. »Es ist auf jeden Fall besser«, keifte sie und unterdrückte jede wehmütige Regung.

»Darf ich dich daran erinnern, daß wir im Frühjahr heiraten wollten? Aber ich dachte dabei nur an dich, nicht auch an drei Kinder, die mir den letzten Nerv rauben.«

»Die Kinder gehören zu mir, daran wird sich nichts mehr ändern«, sagte Irene mutig. Eigentlich verstand sie Martin und seine Bedenken. Auch sie selbst hatte häufig Zweifel daran, daß sie die Geschwister behalten konnte. Die Versorgung und Betreuung überstieg ihre Kraft, doch das gab sie nicht einmal vor sich selbst zu.

»Sie ruinieren nicht nur deine Wohnung, sondern auch deine Gesundheit. Es war ein Versuch, doch es hat sich gezeigt, daß das Experiment gescheitert ist. Sei doch vernünftig, Irene!« Martin war lauter, als dies nötig gewesen wäre.

»Wenn du so schreist, wird Barbara erneut aufwachen. Und wenn es deine Absicht sein sollte, mich einzuschüchtern, muß ich dir sagen, daß dies sinnlos ist. Ich ändere meine Meinung nicht. Das ist mein letztes Wort, Martin.«

Roeder schüttelte traurig den Kopf. »Ich wollte das Angebot aus Kanada nicht annehmen. Aber unter diesen Umständen halte ich es doch für richtig. Du kannst alles behalten, was wir gemeinsam angeschafft haben: die Wohnung, den Bauplatz, das Auto.«

»Sehr großzügig«, höhnte Irene empört. »Aber das größte Geschenk machst du mir, wenn du abziehst.« Erschrocken stellte Irene fest, daß sie wieder einmal zu weit gegangen war. Doch ein Zurücknehmen der bösen Äußerung war für sie undenkbar.

Für mehrere Augenblicke stand Martin Roeder steif wie eine Statue im Raum und starrte Irene fassungslos an. Dann drehte er sich um und ging.

Irene wußte sofort: diesmal war es endgültig. Sie hatte ihre Zukunft mit Martin den Kindern geopfert. Danken würden sie es ihr nicht, denn sie wußten ja nichts davon.

Regungslos blieb Irene sitzen und überdachte die neue Situation. Der Gedanke, künftig mit Bianca, Björn und Barbara allein zu sein, war gar nicht so unangenehm. Niemand würde mehr ungeduldig nörgeln, niemand würde ihr Vorwürfe machen, wenn sie mit den Kindern spielte anstatt die Küche aufzuräumen.

Natürlich würde sie Martin vermissen, denn sie hatte ihn geliebt, liebte ihn noch immer. Doch daran wollte sie nicht denken.

*

In dieser Nacht schlief Irene nicht. Sie lauschte auf jedes Geräusch und wußte selbst nicht richtig, ob sie auf Martins Rückkehr hoffen sollte, oder ob es besser für sie war, wenn er nicht mehr kam. Schließlich entschied sie sich für die zweite Überlegung. Sie kam zu der Überzeugung, daß sich Martin nie mit der Anwesenheit der drei Kinder abfinden würde. Sie wiederum war auch nicht zum Nachgeben bereit.

Sie hatte sich diese Aufgabe gestellt und würde sie bewältigen, ganz gleich wie viele Opfer sie bringen mußte. Bis heute hatte die ehrgeizige Irene noch vor keiner Herausforderung kapituliert, und sie würde es auch diesmal nicht tun.

Mit der ihr eigenen Sturheit redete sie sich ein, daß Martin doch nicht der richtige Partner für sie gewesen sei. Ein bißchen traurig war sie trotzdem. Da war es tröstlich, daß die kleine Barbara im Schlaf ihren zarten Körper an Irene schmiegte, daß sie sich in ihre Arme kuschelte, weich und warm.

Am nächsten Morgen gab es niemand, der im Badezimmer darüber schimpfte, daß er seinen Rasierapparat nicht fand oder daß die Kaffeefilter alle waren, weil Björn einen Segelflieger daraus gebastelt hatte. Aber es gab auch niemand, der die beiden älteren Kinder im Auto mit zur Schule nahm.

Irene weckte die Großen früher.

Verschlafen gähnend schaute Bianca auf die Armbanduhr, die sie auch nachts trug. »Schon?« ächzte sie und machte Anstalten, weiterzuschlafen.

»Ihr müßt heute laufen, also müßt ihr früher weg«, erläuterte Irene, selbst nicht in bester Stimmung.

»Warum?« brummte Björn, der bei allem, was die Schule betraf, sehr bequem war.

»Weil Onkel Martin nicht mehr bei uns ist«, informierte Irene die Kinder kurz und in einem Ton, der einwandfrei erkennen ließ, daß sie zu weiteren Auskünften nicht bereit war.

Sie verließ das Zimmer, in dem die Geschwister schliefen, um in der Küche das Frühstück vorzubereiten. Noch gestern hatte Martin diese Arbeit übernommen. Nicht daran denken! befahl sich Irene selbst. Sie deckte geräuschvoll den Frühstückstisch und sang dabei, obwohl ihr gar nicht danach war. »Time to say goodbye…«

»Verstehst du das?« fragte Bianca drüben ihren Bruder, der sich beeilte, vor ihr ins Bad zu kommen. Von ihm erhielt sie keine Antwort. »Blödmann!« rief sie ihm ärgerlich nach. In Bianca verstärkte sich die Auffassung, daß mit Jungs in Björns Alter absolut nichts anzufangen war.

Die kleine Barbara, ebenfalls munter geworden, trippelte herein. Sie trug ein langes Nachthemdchen, unter dem die bloßen Füßchen hervorschauten.

Die langen blonden Locken, die Irene tagsüber zu zwei lustigen Schaukelzöpfchen zusammennahm, hingen wirr um Barbaras hübsches Gesichtchen.

»Soll ich dir mal was verraten«, piepste sie und blinzelte listig wie eine echte kleine Eva.