Das Buch

Die Sommerferien sind vorüber – endlich kann Charlotte wieder Won Da Pie reiten! Auf den Süddeutschen Meisterschaften tragen die beiden entscheidend zum Sieg ihrer Mannschaft bei, doch Charlottes Freude ist getrübt. Jemand scheint ihr den Erfolg nicht zu gönnen. Auch der bevorstehende Umzug auf die neue Reitanlage macht ihr zu schaffen, und der kommt schneller als erwartet: Eines Nachts geht bei einem Gewitter ihr geliebter Reitstall in Flammen auf und die Pferde geraten in Panik. Charlotte und ihre Freundin Katie müssen rasch handeln. Wird es ihnen gelingen, alle Pferde zu retten und in Sicherheit zu bringen?

Die Autorin

© Felix Bruegemann

Nele Neuhaus, geboren in Münster/Westfalen, lebt heute im Taunus. Sie reitet seit ihrer Kindheit und schreibt bereits ebenso lange. Nach ihrem Jurastudium arbeitete sie zunächst in einer Werbeagentur, bevor sie begann, Erwachsenenkrimis zu schreiben. Mit diesen schaffte sie es auf die Bestsellerlisten und verbindet nun ihre zwei größten Leidenschaften: Schreiben und Pferde. Ihre eigenen Pferde Fritzi und Won Da Pie standen dabei Pate für die gleichnamigen vierbeinigen Romanfiguren.

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Der Verlag

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Viel Spaß beim Lesen!

Mein Herz klopfte bis zum Hals, als ich im Schritt unter dem Richterturm hindurchritt und Won Da Pie vor der rot-weißen Schranke durchparierte. Mein Pferd kaute aufgeregt am Gebiss und spitzte erwartungsvoll die Ohren. Die Reiterin, die vor uns an der Reihe war, war bisher noch fehlerfrei und ritt nun mit ihrem hochbeinigen Braunen auf die zweifache Kombination zu, die letzten beiden Sprünge in diesem ziemlich anspruchsvollen Parcours.

»Oh, oh«, sagte meine Freundin Katie, die neben mir stand, und es klang ein wenig schadenfroh. »Das passt nicht! Jetzt gibt’s einen Fehler!«

Johanna Messner war eine gute Reiterin und Aquino, ihr Pferd, hatte schon mit Johannas Vater S-Springen gewonnen. Doch tatsächlich kam der erfahrene braune Wallach ein wenig zu dicht an den Einsprung der Kombination und schaffte es nicht mehr, seine Vorderbeine hoch genug zu ziehen. Seine Hufe streiften zwar nur ganz leicht die oberste Stange, aber sie rollte aus der Halterung und plumpste ins Gras.

Katie ballte die Faust und konnte sich ein triumphierendes »Ja!« nicht verkneifen. Daraufhin drehte sich die Mutter von Johanna, die direkt vor uns im Einritt stand und bei jedem Sprung, den Aquino gemacht hatte, hochgehüpft war, zu ihr um und warf ihr einen bösen Blick zu, den meine Freundin jedoch ignorierte.

»Nach dem gelben Oxer musst du einen etwas größeren Bogen auf die Zweifache reiten«, sagte Katie mit gesenkter Stimme zu mir. »Und pass auf, dass Wondy dir nicht zu doll abgeht! Die Zweifache steht Richtung Ausgang und der Platz ist an der Stelle etwas abschüssig, da kommen die meisten Pferde zu sehr ins Laufen.«

»Okay.« Ich nickte. »Meinst du, ich soll versuchen, vorne um den Baum rum auf die 8 zu reiten?«

»Wenn du das Gefühl hast, dass es geht – unbedingt!«, erwiderte Katie. »Da kannst du mindestens fünf Sekunden gutmachen! Und sollten wir punktgleich mit anderen Mannschaften sein, entscheidet am Ende nur, wer die schnellste Zeit hat!«

Die Schranke ging hoch und Won Da Pie begann zu tänzeln. Er liebte es zu springen und konnte es kaum noch abwarten, endlich in den Parcours zu dürfen. Unser Reitlehrer Herr Weyer, der Katies letzte Worte nicht gehört hatte, tauchte an meiner anderen Seite auf.

»Du musst vor allem fehlerfrei bleiben, Charlotte«, sagte er eindringlich. »Won Da Pie galoppiert ohnehin schnell genug, also riskiere besser nichts, okay?«

Ich sah, wie Katie mir hinter seinem Rücken verschwörerisch zublinzelte, nickte nur, fasste die Zügel kürzer und ließ Won Da Pie in den Parcours traben.

»Das waren vier Strafpunkte in 68,7 Sekunden für die Startnummer 86 und damit Platz 14 in der laufenden Wertung«, tönte es aus den Lautsprechern. Johanna Messner kam mir im Schritt am langen Zügel entgegengeritten. Sie kaute auf ihrer Unterlippe, die Enttäuschung stand ihr ins Gesicht geschrieben.

»Viel Glück!«, wünschte sie mir.

»Danke«, erwiderte ich.

Genau wie ich war Johanna die letzte Starterin ihrer Mannschaft im entscheidenden Springen um die Süddeutschen Mannschaftsmeisterschaften. Sie hätte null reiten müssen, damit ihr Team vom Platanenhof in Bad Homburg noch eine Chance auf den Sieg gehabt hätte.

»Am Start begrüßen wir nun die Nummer 411, Won Da Pie, geritten von Charlotte Steinberg als letzte Reiterin für die Mannschaft des Reit- und Fahrvereins Bad Soden, die momentan auf Rang fünf in der Meisterschaftswertung liegt!«, schallte die Stimme des Turniersprechers durch den Wiesbadener Schlosspark.

In den beiden ersten Wertungsprüfungen gestern war ich die Einzige gewesen, die fehlerfrei geblieben war. Dörte mit Vicky hatte je zwei Abwürfe gehabt und damit beide Male das Streichergebnis geliefert, Doro hatte mit Cornado im zweiten Springen drei Zeitfehler kassiert, und ausgerechnet Katie mit ihrem routinierten Asset hatte einen blöden Springfehler gehabt – deshalb lagen wir mit insgesamt sieben Strafpunkten nur auf Platz fünf der Wertung. Heute waren Katie und Doro ohne Fehler geblieben, aber Dörte hatte sogar zwölf Strafpunkte mit aus dem Parcours nach Hause gebracht. Blieben Won Da Pie und ich strafpunktfrei, dann würden die sieben Fehler von gestern unser Endergebnis sein.

Ich parierte Won Da Pie durch und blickte mich um. Als ich gestern zum ersten Mal auf den weitläufigen Rasenplatz geritten war, auf dem jedes Jahr im Frühsommer ein internationales Turnier stattfand, war ich komplett überwältigt gewesen. Natürlich fehlten die großen Tribünen ringsum, auf denen an Pfingsten Tausende von Menschen saßen und den großen Stars und ihren Pferden zujubelten. Es gab jetzt, bei diesem kleinen Turnier im Spätsommer, keine Fernsehkameras und keine Verkaufsstände, aber auch ohne das alles war der riesige Platz einfach kolossal: der sattgrüne Rasen mit mächtigen, alten Bäumen, zwischen denen die bunten Hindernisse aufgebaut waren, und die vielen Zuschauer, die an der Umzäunung standen, hatten mir für einen Moment den Atem verschlagen. Katie hatte uns schon vorher erzählt, wie absolut besonders es sei, im Schlosspark zu reiten. Abgesehen von dem herrlichen Ambiente waren die Parcours immer schwer zu reiten, denn der Platz war sehr viel größer als alle anderen Turnierplätze, auf denen man normalerweise ritt. Pferde und Reiter brauchten eine enorme Kondition, deshalb hatten wir in den letzten zwei Wochen, seit unserer Rückkehr aus Noirmoutier, hart trainiert. Glücklicherweise hatte Won Da Pie in den vier Wochen meiner Abwesenheit nicht nur auf der Koppel mit Gento herumgefaulenzt, sondern war von Jens Wagner, Gentos Besitzer, regelmäßig geritten worden.

Ich blickte zum Richterturm hoch und grüßte, einer der Richter hob seinen Hut und dann ertönte schon die Glocke – der Start war frei! Im Einritt an der Schranke standen meine Mannschaftskolleginnen Katie, Doro und Dörte, neben ihnen mein Freund Simon und Herr Weyer, an der langen Seite, auf der an Pfingsten immer die große Tribüne aufgebaut war, erblickte ich den »Fanklub« unseres Vereins, außerdem meine und Doros Eltern, Herrn Schäfer vom Vorstand, seinen Sohn Alex und unseren Jugendwart Gunther. Selbst Katies Vater, der seine Wochenenden sonst lieber auf Golfplätzen verbrachte, war in den Schlosspark gekommen und sogar ihr Bruder Sven, dem wir früher den Spitznamen »Draco Malfoy« gegeben hatten, war dabei. Sie alle hatten bereits mit Katie, Dörte und Doro mitgefiebert und drückten nun Wondy und mir die Daumen, damit wir ein drittes Mal fehlerfrei blieben. Und ganz plötzlich fiel alle Nervosität von mir ab. Ich vergaß die auf mir lastende Verantwortung als letzte Reiterin ebenso wie die vielen Zuschauer und konzentrierte mich auf mein Pferd und die Hindernisse, die wir überwinden mussten.

»Los geht’s!«, murmelte ich und ließ Won Da Pie angaloppieren.

Obwohl er heute Vormittag schon ein Springen gegangen war, war der braune Wallach frisch und voller Ehrgeiz. In flottem Tempo ritt ich durch die Lichtschranke des Zeitmessgeräts und auf das erste Hindernis, einen blau-weißen Oxer, zu. Als wir darüber hinwegflogen, hielt ich schon Ausschau nach dem nächsten Sprung, dem naturfarbenen Steilsprung, der sich im Laufe der Prüfung als tückisch erwiesen hatte, weil er zwischen zwei Bäumen stand und nicht leicht anzureiten war. Ich hielt Won Da Pie ein wenig zurück, damit er nicht zu dicht an das Hindernis herankam, und wir meisterten den Sprung ohne Probleme. Weiter ging es auf der linken Hand zu einem Doppelrick, danach folgten eine breite Triplebarre und auf sechs Galoppsprünge ein Steilsprung mit roten Stangen zwischen zwei riesigen grellbunten Papageien aus Pappmaschee, die gestern und heute manches Pferd irritiert hatten. Nicht so Won Da Pie! Ihm war es glücklicherweise völlig egal, wie bunt oder seltsam ein Hindernis aussah. Verweigern kannte er nicht! Nach dem Papageien-Sprung ging es rechts herum über einen Birkenoxer auf den überbauten Wassergraben zu, für den man ziemlich viel Schwung benötigte. Vorhin, beim Parcoursabgehen, hatte Katie Dörte, Doro und mir erklärt, wie man an dieser Stelle abkürzen konnte. Sie selbst hatte es dann später nicht gemacht, denn sie war mit zu viel Fahrt über den Wassergraben gekommen. Alle Reiter, die versucht hatten, vorne um den Baum herumzureiten, um ein paar Sekunden einzusparen, waren bisher an dem schwarz-rot-goldenen Oxer gescheitert. Ich wollte es trotzdem wagen. Es gelang mir, Won Da Pie den überbauten Wassergraben ziemlich weit rechts springen zu lassen. Über dem Sprung verlagerte ich mein Gewicht bereits nach links, indem ich den linken Steigbügel austrat, und mein Pferd reagierte so schnell, als ob es meine Gedanken gelesen hätte. Damit hatte ich nicht gerechnet! Vor Schreck jagte mir ein Adrenalinstoß durch den Körper. Ich verlor den rechten Steigbügel und merkte, dass ich ins Rutschen geriet.

Verdammt!, schoss es mir durch den Kopf. Jetzt bloß nicht stürzen! Sonst ist alles aus!

Ein erschrockenes Luftholen ging durch das Publikum. Ich presste mit aller Kraft meine Knie zusammen, stemmte mich gegen die Fliehkraft und versuchte gar nicht erst, nach dem Steigbügel zu angeln. Won Da Pie schien meine Not nicht zu bemerken: mit gespitzten Ohren donnerte er auf den Deutschland-Oxer zu, und bevor ich mich versah, waren wir drüber, ohne dass seine Hufe eine Stange berührt hatten!

»Ja! Juhu!«, hörte ich jemanden rufen, aber es war noch nicht geschafft, denn zwischen mir und der Ziellinie wartete die zweifache Kombination, die es zu meistern galt. Der Steigbügel schlug Won Da Pie gegen die Flanke, er keilte in vollem Galopp aus und plötzlich hatte ich alle Hände voll damit zu tun, ihn zurückzuhalten, denn er stürmte los wie ein Wilder und legte sich mächtig aufs Gebiss.

Katies Worte kamen mir in den Sinn: Die Zweifache steht Richtung Ausgang und der Platz ist an der Stelle etwas abschüssig, da kommen die meisten Pferde zu sehr ins Laufen!

»Hoho, Wondy, hoho! Brrrrr!«, rief ich, aber er reagierte nicht. Seine Ohren drehten sich nicht ein einziges Mal nach hinten, er wollte mich einfach nicht hören. Meine Hände schmerzten, mir ging die Kraft aus. Wenn ich Won Da Pie jetzt eine harte Parade gab, dann würde ich seinen Rhythmus stören und es könnte in der Kombination womöglich zu weit werden. Noch vier Galoppsprünge, noch drei – im Bruchteil einer Sekunde entschied ich mich dafür, gar nichts zu tun und auf das Springvermögen und die Vorsicht meines Pferdes zu vertrauen.

»Pass auf«, flüsterte ich Won Da Pie nur zu, als er zum Sprung ansetzte, und das tat er! Mühelos überwand er den Einsprung, landete, streckte sich und flog in einem herrlichen weiten Satz über den letzten Oxer!

Der Jubel meiner Vereinskameraden ging in der lauten Musik, die immer nach einem Führungswechsel gespielt wurde, unter. Ich parierte durch zum Schritt, ließ die Zügel lang, angelte nach dem Steigbügel und klopfte meinem Pferd strahlend mit beiden Händen den Hals. Geschafft! Won Da Pie schnaubte und es klang irgendwie so, als ob er stolz auf sich wäre.

»Mit einem fehlerfreien Ritt in der bisher schnellsten Zeit von 51,8 Sekunden übernimmt die Startnummer 411 die Führung im laufenden Wettbewerb!«, verkündete der Turniersprecher. »Die Mannschaft des Reit- und Fahrvereins Bad Soden liegt damit auf Platz drei.«

Ich trabte mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht zum Ausritt, dort erwarteten mich meine Mannschaftskameradinnen mit Simon und Herrn Weyer.

»Super, super, super!«, jubelte Katie und klatschte mich ab, als ich neben ihr anhielt. »Was für eine Zeit!«

»Mega! Echt mega!« Doro schob Won Da Pie ein Zuckerstückchen ins Maul und Simon klopfte ihm begeistert auf die Kruppe.

»Gut geritten, Charlotte! Aber hatte ich vorhin nicht etwas von ›riskiere nichts‹ gesagt?« Herr Weyer schaute mich streng an.

»Äh, na ja … Ich dachte, ich versuch es mal«, erwiderte ich atemlos. »Ich bin so gut über das Wasser gekommen und es passte irgendwie …«

»Ist ja glücklicherweise gut gegangen.« Er zwinkerte mir zu und lächelte anerkennend. »Obwohl ich für einen Moment dachte, du fliegst im hohen Bogen vom Pferd.«

»Bin ich auch fast! Ich hab den Steigbügel verloren und dann konnte ich Wondy kaum noch halten!«

»Los, los, Mädchen, Einritt frei machen!«, schnauzte der dicke Mann, der die Schranke bediente, deshalb ritt ich weiter Richtung Abreiteplatz. Auf dem Weg dahin lockerte ich den Sattelgurt und knöpfte mein Jackett auf.

»Glückwunsch!«, riefen mir ein paar andere Reiter zu.

»Es kommen noch die Schlussreiter aus Alzey, Miltenberg und Biblis«, sagte Katie. »Aber die Bombenzeit holt keiner mehr!«

Da war ich mir nicht so sicher. Alle drei Reiter, die noch nach mir kamen, waren erheblich älter und erfahrener als ich und ritten normalerweise M- und S-Springen. Katie, Doro und Herr Weyer kehrten um, um sich unsere letzten und schärfsten Konkurrenten anzusehen.

»Lass Wondy bei mir«, sagte Simon, der bei mir geblieben war. »Ich führe ihn etwas herum, dann kannst du dir den Rest des Springens angucken.«

»Oh danke! Du bist so ein Schatz!« Ich ließ mich aus dem Sattel gleiten. Meine Beine waren ganz weich und meine Hände zitterten von der Anstrengung. Ich reichte Simon Won Da Pies Zügel und gab ihm einen Kuss auf die Wange, dann folgte ich eilig meinen Freundinnen. Just in dem Moment, als ich an die Umzäunung des Turnierplatzes trat, verweigerte das Pferd des Reiters aus Alzey am Papageien-Oxer.

»Geil!«, murmelte Doro und stieß mich mit dem Ellbogen an. »Damit sind die schon mal hinter uns!«

»Jetzt kann uns niemand mehr Platz drei nehmen«, jubelte Katie. »Nur noch die Mannschaften aus Miltenberg und Biblis sind vor uns!«

Gespannt erwarteten wir den vorletzten Starter. Ich war noch immer ganz zittrig vor Aufregung. Auch wenn es unfair war, so wünschte ich mir, dass die beiden Reiter Fehler machen oder wenigstens langsamer sein würden als ich. Allerdings sah es bei dem Miltenberger Reiter Daniel König mit seinem Pferd Livingstone nicht danach aus, als ob er uns diesen Gefallen tun würde.

»Mist, ist der schnell!«, stieß Katie hervor, als er quasi im Renngalopp durch den Parcours raste.

»Das kann ich nicht mit ansehen!« Ich drehte mich um, denn die Spannung wurde schier unerträglich, und sah Dörte, die sich mit einem dunkelblonden Jungen in Turnierklamotten und einem blonden Mädchen in einem ärmellosen froschgrünen Top und einer weißen Hotpant unterhielt. Kurz wunderte ich mich, dass Dörte sich gar nicht für die alles entscheidenden letzten Ritte dieser Springprüfung zu interessieren schien.

»Oh nein! Er hat dieselbe Abkürzung geritten wie du und es hat geklappt«, kommentierte Doro. »Jetzt kommt nur noch die Zweifache!«

»Na los, tritt einen runter!«, beschwor Katie das Pferd von Daniel König. Da machte es auch prompt BONG! – und ich hörte zu meiner Erleichterung die Stange poltern. Die Silbermedaillen für Platz zwei waren uns jetzt sicher! Daniel König verließ mit einem langen Gesicht den Parcours, trotzdem klopfte er seinem Fuchswallach ausgiebig den Hals als Dankeschön für eine ansonsten tolle Runde.

»An den Start kommt der letzte Reiter in dieser Prüfung, die Nummer 43, Bisbee, geritten von Marius Weissgerber vom Reitverein Biblis und Umgebung!«, hörte ich den Turniersprecher sagen. »Er hat es nun in der Hand, dieses Springen und die Süddeutschen Mannschaftsmeisterschaften für sich und sein Team zu entscheiden!«

Von der anderen Seite des Turnierplatzes erschollen Applaus und anfeuernde Pfiffe vom Fanklub des RV Biblis und Umgebung.

»Auf, Mädels!« Katie hakte sich bei Doro und mir unter. »Wir gucken ihm jetzt mindestens eine Stange runter!«

War es die Bürde der Verantwortung, die seine Nerven zittern ließ, oder war es einfach Unkonzentriertheit, dass Marius Weissgerber trotz seiner Erfahrung den Parcours vergaß? Nach dem vierten Sprung blickte er sich nämlich ratlos um und auch die Schreie und Gesten seiner Fans und Kollegen, die ihn schließlich wieder auf den richtigen Kurs brachten, konnten nicht verhindern, dass er am Ende einen Strafpunkt für Zeitüberschreitung kassierte und uns damit zu Süddeutschen Mannschaftsmeistern und mich zur Siegerin dieses L-Springens machte. Überglücklich umarmten wir uns und tanzten ausgelassen herum. Marius Weissgerber hielt sein Pferd neben uns an und zeigte sich als fairer Verlierer, als er uns nun gratulierte.

»Des einen Leid, des anderen Freud’«, sagte er und grinste, wenn auch etwas mühsam. »Herzlichen Glückwunsch zum Sieg!«

Ein paar Minuten später waren wir umringt von Gratulanten. Meine Eltern und mein kleiner Bruder Florian beglückwünschten mich und strahlten vor Stolz. Katies sonst so beherrschte Mutter herzte erst ihre Tochter, dann mich, Doro und Dörte, die plötzlich auch wieder da war. Herr Schäfer, der erste Vorsitzende, war knallrot im Gesicht vor Freude, schüttelte uns so heftig die Hand, als ob er uns die Arme herausreißen wollte, und brabbelte: »Das ist das erste Mal, dass eine Mannschaft von unserem Verein an dieser Meisterschaft teilgenommen hat. Und dann haben wir sogar gewonnen! Unglaublich! Fantastisch! Toll gemacht, ihr Mädchen! Großartig, Herr Weyer!«

Der zweite Vorsitzende, Herr Stark, der auf dem Turnier als Richter fungierte, kam die Treppe vom Richterturm herunter. Auch er strahlte vor Stolz und gratulierte uns und unserem Trainer ebenfalls.

»Das muss unbedingt gefeiert werden!«, rief er fröhlich. »Frau von Richter! Wie sieht’s aus, sind wir für eine spontane Grillparty heute Abend gerüstet?«

»Aber selbstverständlich!« Dragon-Mum, die vor ein paar Monaten die Bewirtung unseres Reiterstübchens übernommen hatte, nachdem sich der langjährige Pächter Herr Boshof über Nacht aus dem Staub gemacht hatte, nickte lächelnd. »Im Kühlschrank sind Würstchen und Steaks. Und natürlich jede Menge Sekt!«

Ich hielt Ausschau nach Simon, der noch immer mit Won Da Pie am Zügel auf dem Abreiteplatz herumlief. Gerade als ich zu ihm gehen wollte, trat mir Alex in den Weg.

»Respekt, Respekt, Steinberg!«, übertönte seine Stimme alle anderen. »Ich hätte nie gedacht, dass du jemals so abgezockt und kaltschnäuzig reiten würdest. Früher hattest du doch vor jeder Reitstunde die Hosen voll!«

»Äh, danke«, stammelte ich, ein bisschen peinlich berührt. »Echt nett von dir, dass du mich daran erinnerst.«

»Keine Ursache!« Alex grinste ironisch und klopfte mir auf die Schulter. »Ich habe damals sofort gewusst, dass dein Esel ein Spitzen-Springpferd ist!«

Damit verschwand er, wahrscheinlich um mit seinen Kumpels am Getränkestand noch ein paar Bierchen zu zischen.

»So ein Blödi!«, sagte Florian empört, der mit angehört hatte, was Alex gerade von sich gegeben hatte. »Wie kann er so was sagen? Und Wondy ist doch kein Esel!«

»Na ja, so ganz unrecht hat er nicht«, gab ich zu.

Noch vor gut vierzehn Monaten war ich vor jeder Springstunde tausend Tode gestorben und hatte zwei Tage lang kaum etwas essen können. Wenn ich ein Schulpferd reiten sollte, vor dem ich mich fürchtete, war mir speiübel geworden und ich hätte am liebsten die Flucht ergriffen. Manchmal hatte ich heimlich vor Zorn über meine Angst und Feigheit geweint und mir nichts sehnlicher gewünscht, als genauso furchtlos und mutig zu sein wie Doro, die sich jedes Mal auf die Springstunden gefreut hatte. Hätte ich nicht im letzten Sommerurlaub auf Noirmoutier Nicolas Juneau kennengelernt, so wäre ich wahrscheinlich noch immer eine ängstliche Schulreiterin und vielleicht hätte ich das Reiten sogar eines Tages aufgegeben. Aber dank Nicolas’ strengem Reitunterricht hatte ich gelernt, meine Furcht zu überwinden. Ich hatte begriffen, dass ich mich anstrengen und manchmal auch über Grenzen gehen musste, wenn ich eine gute Reiterin werden wollte. Und dann war Won Da Pie in meinem Leben aufgetaucht: Ein temperamentvolles, junges Pferd, vor dem ich mich früher entsetzlich gefürchtet hätte. Es war von Anfang an nicht einfach gewesen, aber ich hatte unendlich viel von ihm gelernt und grenzenloses Vertrauen in ihn. Dieser Ritt heute, der Sieg in diesem Springen, das war der Lohn für all die Arbeit, die ich mir mit ihm gemacht hatte, eine Entschädigung für die vielen blauen Flecken, die er mir beschert hatte.

»Was ist denn mit deinen Händen?«, riss mich die Stimme meines kleinen Bruders aus meinen Gedanken. »Du blutest ja!«

Ich drehte die Hände um und betrachtete meine Handflächen. Durch die Zügel hatte ich Blasen an den Händen und eine war aufgegangen und blutete. Das hatte ich im Eifer des Gefechts überhaupt nicht bemerkt.

»Ach, nicht so schlimm«, erwiderte ich und ballte die Hände zu Fäusten. »Das geht auch wieder weg.«

»Kommt das vom Reiten?« Mein Bruder verzog das Gesicht.

»Hm, ja.« Ich grinste schief. »Wondy zieht manchmal ganz schön doll an den Zügeln. Ich hätte besser Handschuhe angezogen. Aber sag Papa und Mama nichts davon, okay?«

Flori überlegte einen Moment, dann zuckte er die Schultern.

»Wenn du’s nicht willst, okay. Aber mit Wondy werde ich mal ein Wörtchen reden. Das ist total gemein von ihm!«

Manchmal konnte mein kleiner Bruder total nerven, aber es gab auch Momente wie diese, wo ich ihn echt hätte knuddeln können.

»Guck mal. Ist das nicht Inga da drüben?«, hörte ich Doro hinter mir sagen und drehte mich um.

»Wo?«, fragte ich.

»Na, da! Die mit dem grünen Top!« Sie wies mit dem Kopf in Richtung Abreiteplatz. Auf dem Weg, der zum Hängerparkplatz führte, hatte sich die Mannschaft vom Reitverein Liederbach versammelt. Zwar waren sie in der Meisterschaftswertung weit abgeschlagen auf einem der hinteren Plätze gelandet, doch das schien sie nicht zu bekümmern. Die Stimmung bei ihnen war fröhlich und sie tranken Sekt. Das blonde Mädchen mit dem grünen Top stand neben dem jungen dunkelblonden Mann in weißen Reithosen und lachte gerade über irgendetwas, das er gesagt hatte.

»Mit den beiden hat Dörte eben gequatscht«, sagte ich. In diesem Augenblick wandte sich das Mädchen zu uns um und ich zuckte zusammen. Tatsächlich! Das war Inga! Früher einmal war sie eine Freundin von Doro und mir gewesen; jahrelang waren wir unzertrennlich, doch im letzten Sommer, während ich mit meiner Familie in Frankreich gewesen war, hatte Inga Doro überredet, mit ihr gemeinsam hinter meinem Rücken ein Pferd zu kaufen, obwohl das eigentlich der Plan von Doro und mir gewesen war. Ich hatte nicht kapiert, dass Inga immer schrecklich eifersüchtig auf die enge Beziehung zwischen Doro und mir gewesen war. Die Sache mit Corsario hatte unsere Freundschaft zerstört und beinahe auch die von Doro und mir, denn sie hatte seitdem ein schlechtes Gewissen. Inga hatte noch ein paar richtig schlimme Dinge getan und deshalb vom Vorstand Stallverbot bekommen. Leider lief sie mir in der Schule immer noch über den Weg, aber wir ignorierten einander.

»Boah!«, staunte ich. »Ich hätte sie beinahe nicht erkannt!«

Inga hatte sich immer sehr darüber gegrämt, kleiner und stämmiger zu sein als Doro und ich. Seitdem ich sie zuletzt vor den großen Ferien auf dem Schulhof gesehen hatte, war sie noch etwas dünner geworden. Ihre Haut war sonnengebräunt, sie trug eine große, schwarze Sonnenbrille und hohe Plateauschuhe. Ihr eigentlich schulterlanges mausfarbenes Haar war jetzt goldblond, sorgfältig geglättet und reichte ihr bis in die Mitte des Rückens.

»Mir ist sie vorhin fast um den Hals gefallen, als wären wir die besten Freunde«, sagte Oliver und feixte. »Miss Pummel ist gar nicht mehr pummelig.«

»Aber viel schöner ist sie deshalb auch nicht geworden«, meinte Karsten boshaft. »Von hinten geht’s ja, aber von vorne … uuuh!«

Oliver und Ralf lachten abfällig, aber ich fand, Inga sah richtig toll aus. Ich dagegen war verschwitzt, mit platt gedrückten Haaren, schwarzen Rändern unter den Fingernägeln und blutigen Handflächen! Ganz plötzlich fiel mir ein, wie gehässig Inga letztes Jahr über Won Da Pie gesprochen hatte. Mit deinem verhungerten Franzosenklepper gewinnst du keinen Blumentopf, hatte sie mir zornig ins Gesicht geschrien. An jenem Tag hatte ich begriffen, wie neidisch sie war, und diese Erkenntnis hatte mich tief schockiert. Sie war in Simon verliebt gewesen, hatte ihm sogar mal einen Schal gestrickt und ihn eine Weile regelrecht verfolgt. Dafür, dass ich jetzt mit ihm zusammen war, hasste sie mich wahrscheinlich noch mehr. Trotz der Hitze fröstelte ich.

»Was hat sie denn auf einmal mit den Leuten vom Liederbacher Reitverein zu tun?«, wunderte ich mich. »Hatte sie nicht die Hälfte an einem Dressurpferd auf dem Georgshof?«

»Über wen redet ihr?«, fragte Katie neugierig.

»Da drüben bei den Liederbachern steht Inga Schneider«, erwiderte ich. »Die Blonde mit dem grünen Top.«

»Ist das nicht die Sattelzerstörerin? Was macht die denn hier?«

»Keine Ahnung.« Ich schnaubte. »Vielleicht ist es ja schon wieder vorbei mit dem Dressurreiten bei der Georgshof-Mafia.«

»So, auf, auf! Holt eure Pferde!«, rief Herr Stark in diesem Moment und klatschte in die Hände. »Gleich beginnt die Siegerehrung!«

Katie, Doro und Dörte verschwanden eilig in Richtung Hängerparkplatz, ich drängte mich durch die Menge und lief hinüber zum Abreiten. Simon sah mich kommen und breitete lächelnd die Arme aus. Er war echt der süßeste Junge, den ich kannte, mit den widerspenstigen dunklen Haaren, den haselnussbraunen Augen und seinem goldigen Lächeln. Ich fiel ihm um den Hals und vergaß, dass Inga keine zehn Meter entfernt stand und mir wahrscheinlich die Pest an den Hals wünschte.

»Herzlichen Glückwunsch, meine Süße«, flüsterte Simon und küsste mich. »Du bist wirklich großartig geritten! Die Mannschaft verdankt den Sieg nur Wondy und dir!«

»Wenn mir das einer vor einem Jahr prophezeit hätte, dann hätte ich’s niemals geglaubt!«, erwiderte ich, löste mich von Simon und herzte mein Pferd.

»Danke, Wondy«, sagte ich. »Du bist das allerallertollste Pferd der Welt! Auch wenn du mir manchmal fast die Arme rausreißt!«

Der braune Wallach schnaubte und versetzte mir einen unsanften Stoß mit seiner Nase. Er hatte für solche Gefühlsausbrüche nichts übrig. Ein Zuckerstück oder eine Mohrrübe waren ihm erheblich lieber als Zärtlichkeiten.

»Aua! Das gibt sicher wieder einen fetten blauen Fleck!« Ich verzog das Gesicht und rieb mir die Schulter. »Ein Schmusetier bist du echt nicht gerade!«

Won Da Pie spitzte die Ohren und blickte unschuldig drein.

»Na ja, fürs Schmusen hast du ja mich«, bemerkte Simon grinsend.

»Gott sei Dank!« Ich lachte.

»Hallo, Lotte«, sagte jemand und ich schauderte unwillkürlich, als ich Ingas Stimme erkannte. Nur aus Höflichkeit wandte ich mich zu ihr um. Sie hatte ihre riesige schwarze Sonnenbrille abgesetzt und lächelte, als sei nie etwas gewesen.

»Hi«, antwortete ich zurückhaltend.

»Herzlichen Glückwunsch zum Sieg! Da habe ich deinem Pferd damals ja echt unrecht getan. Es springt super!«

»Danke.«

»Hallo, Simon!«, sagte Inga zu meinem Freund.

»Hallo«, erwiderte er nur höflich.

»Du erkennst mich nicht mehr, oder?« Inga lachte ein bisschen zu schrill.

»Sollte ich?«

Für den Bruchteil einer Sekunde verzerrte sich Ingas Gesicht vor Zorn. Sie hatte einmal sehr für Simon geschwärmt, sein offensichtliches Desinteresse kränkte sie.

»Das ist Inga«, half ich nach, bevor es zu peinlich wurde.

»Ach ja, klar.« Simon lächelte gezwungen. »Du hast dich ganz schön verändert.«

»Ich habe zwölf Kilo abgenommen«, sagte Inga stolz.

»Super.« Simon zog Wondys Sattelgurt nach und die Steigbügel herunter.

»Ich reite jetzt auf dem Lindenhof in Liederbach.« Inga redete einfach weiter, als ich nicht darauf einging. »Auf Dauer war es doch zu weit, immer bis nach Bad Homburg zu fahren. Der Lindenhof ist zwar nicht so modern, aber die Community dort ist viel netter, wir unternehmen dauernd irgendwas zusammen.«

»Aha.«

»Es ist ein bisschen wie früher bei uns, bevor ich mich so blöd benommen habe. Na ja, war eine schwierige Zeit. So was würde ich nie mehr machen. Ich hab echt daraus gelernt.« Sie wickelte sich eine Strähne ihres glänzend blonden Haares um den Finger. »Wir sind eine Superclique! Das hat mir auf dem Georgshof schon irgendwie gefehlt, da war alles so steril. Und den Eltern von meinem Freund gehört der Lindenhof. Er ist auch eben das L geritten. Marco Burmeister, den kennst du doch sicher.«

Sie war immer näher gekommen und stand jetzt direkt neben mir, was mich mit Unbehagen erfüllte. Ich vermied es, in ihre blassblauen Augen zu schauen.

»Hm ja, kann sein«, antwortete ich.

»Weißt du, was total witzig ist? Vom Lindenhof aus können wir beinahe den neuen Reitstall sehen! Dazwischen ist ja nur die B8.«

»Du musst aufs Pferd.« Simon erlöste mich.

»Ist echt ein schicker Kerl geworden«, sagte Inga und strich Wondy über den Hals. »Hätte ich damals gar nicht gedacht.«

»Würdest du bitte ein Stück zurückgehen?«, bat Simon sie. »Charlotte muss zur Siegerehrung.«

»Ach, natürlich, klar! Entschuldigung! Darf ich noch schnell ein Selfie mit euch machen?«

Sie zog ihr Handy hervor, und bevor ich etwas sagen konnte, quetschte sie sich zwischen Simon, Wondy und mich und drückte auf den Auslöser. Was sollte das?

»Super! Danke!« Inga lächelte. »Ich freue mich, dass wir wieder miteinander reden, Lotte. Vielleicht können …«

»Du musst jetzt echt aufs Pferd!«, unterbrach Simon Inga und drängte sie zur Seite. Ich schnallte meinen Helm zu und schwang mich in den Sattel. Wegen der drückenden Hitze hatten die Richter »Marscherleichterung« gewährt, deshalb mussten wir keine Jacketts anziehen. Die Liederbacher Reiter hatten ihre Sektflasche ausgetrunken und gingen zum Turnierplatz – ohne Inga! So viel zum Thema »Superclique«! Und ob Marco Burmeister tatsächlich ihr Freund war, wagte ich zu bezweifeln, denn er hatte sich nicht einmal nach ihr umgeschaut, sondern war mit den anderen einfach weggegangen. Inga war eine unverbesserliche Lügnerin!

»Was für eine lästige Labertasche!«, sagte Simon, als er neben mir her Richtung Einritt ging. »Man kriegt die kaum los. Ich weiß noch, wie sie dauernd im Obstladen aufgetaucht ist und mich vollgequatscht hat.«

»Und sie hat dir mal einen Schal gestrickt«, erinnerte ich ihn.

»Oje, stimmt ja.« Simon grinste. »Den bin ich doch als Wichtelgeschenk in der Schule losgeworden.«

Ich schaute mich nach meinen Mannschaftskameradinnen um, dabei fiel mein Blick auf Inga, die auf ihr Handy starrte. Ein Schauder lief mir über den Rücken und mir war nicht wohl dabei, dass sie nun ein Foto von uns hatte.

Es fühlte sich komplett unwirklich an, als ich wenig später hinter Katie unter dem Richterturm hindurch auf den Turnierplatz ritt. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich an einer Meisterschaft teilgenommen und dann gleich gewonnen! Wir stellten uns neben den anderen Reitern mit Blick zu den Zuschauern auf. Helfer des Veranstalters hatten ein dreistufiges Siegertreppchen aufgebaut und links und rechts Blumenschmuck drapiert. Zwei Richter warteten bereits mit ein paar Leuten vom veranstaltenden Verein, ein Mädchen hielt das kleine, schwarz-weiß gescheckte Pony fest, das schon das ganze Wochenende über bei den Siegerehrungen als Schleifenpony fungiert hatte. Es trug eine Schabracke, auf der die Schleifen befestigt waren.

»Eines Tages werde ich hier an Pfingsten vor vollen Tribünen reiten«, sagte Katie prophetisch und blickte sich sehnsüchtig um. »Das weiß ich.«

»Wenn’s so weit ist, sag Bescheid, dann komme ich als deine Pflegerin mit«, entgegnete Doro mit einem spöttischen Unterton.

»Worauf du dich verlassen kannst«, erwiderte Katie. »Man muss Ziele haben. Und meine Ziele sind der Schlosspark, die Festhalle und Aachen!«

Die letzte Siegerehrung des Turnierwochenendes begann mit der Platzierung der Springprüfung Klasse L. Ich durfte nach vorne reiten und Won Da Pie bekam die goldene Schleife angeheftet. Er konnte es zwar nicht leiden, wenn eine Schleife an seiner Trense befestigt wurde und ihm in die Augen wehte, aber da musste er durch. Anschließend fand die Meisterehrung statt. Simon, Vivien, Draco und Ralf kamen auf den Platz, um unsere Pferde festzuhalten, während wir geehrt wurden. Zuerst waren die Dritt- und Zweitplatzierten der Meisterschaft an der Reihe, zum Schluss erhielten wir, die Siegerinnen, unsere Schärpen und Medaillen. Katie, Doro, Dörte und ich quetschten uns auf die oberste Stufe des Siegerpodests, stemmten gemeinsam den beeindruckend großen Wanderpokal, der nun für ein Jahr bei uns im Stall einen Ehrenplatz bekommen würde, in die Luft und grinsten in alle möglichen Kameras.

»Mann, ist der schwer!«, ächzte ich. Herr Weyer und Alex nahmen ihn uns schließlich ab, aber auch sie hatten ihre liebe Mühe, als sie ihn davonschleppten.

Wir kletterten wieder auf unsere Pferde, an deren Trensen wunderschöne goldene Siegerschleifen flatterten. Die anschließende Ehrenrunde rings um den großen Turnierplatz, die Won Da Pie und ich anführen durften, geriet dann zu einem Erlebnis, das ich in meinem ganzen Leben wohl nicht vergessen würde, ohne eine fette Gänsehaut zu bekommen: Zu dem Lied Stand up for the Champions, das durch den Schlosspark schallte, und unter dem begeisterten Applaus der Zuschauer umrundeten wir zunächst in gesittetem Arbeitsgalopp zu viert nebeneinander den Turnierplatz. Alle anderen Mannschaften folgten uns.

»Jetzt dürfen die Siegerinnen noch allein eine Runde drehen!«, rief der Turniersprecher. Daraufhin ritten alle anderen hinaus.

»Ich bin auch weg!«, rief Dörte uns zu und lenkte Vicky eilig zum Ausritt. Bevor wir sie zurückhalten konnten, erklang Cotton Eye Joe, ein ziemlich alter Song, zu dem man kein anderes Tempo als schnellen Galopp reiten konnte. Katie, Doro und ich blickten uns an.

»Los, lassen wir’s krachen!«, rief ich und Won Da Pie machte einen Satz, dann donnerte er los. Wir legten uns flach auf die Hälse unserer Pferde und gaben richtig Gas. Ich vergaß Inga und die Blasen an meinen Händen und genoss den Moment aus tiefstem Herzen. Atemlos und lachend parierten wir nach zwei Runden im gestreckten Galopp schließlich durch und grinsten uns an. Wir waren die Champions!

Die Pferdetransporter und Lkw parkten auf dem Platz neben den Stallzelten, die dem Turnier irgendwie internationales Flair verliehen. Zwar waren die Reiter nicht aus Frankreich, Schweden oder den USA angereist wie an Pfingsten, aber sie kamen immerhin aus ganz Süddeutschland: aus Bayern, Hessen, Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg und dem Saarland, und viele von ihnen hatten bereits am Freitag ihre Pferde in den Stallzelten untergebracht. Jetzt waren alle damit beschäftigt, ihre Siebensachen zu verladen und der Parkplatz hatte sich schon zu einem großen Teil geleert. Wir zogen rasch unsere Reitstiefel aus, schlüpften in Turnschuhe und warfen Kappen, Reitblusen und Stiefel ins Wohnabteil des Transporters. Dörte stand mit Vicky neben dem Lkw, tippte auf ihrem Smartphone herum und wartete darauf, ihre braune Stute verladen zu können.

Unsere Eltern sahen dabei zu, wie wir unsere Pferde absattelten. Sie waren richtig stolz auf uns. Simon und ein ziemlich griesgrämiger Draco nahmen uns das Sattelzeug ab und verstauten es in der seitlichen Sattelkammer des Transporters, Frau von Richter unterhielt sich mit Jürgen Bergmann, dem Landestrainer der hessischen Junioren. Katie führte Asset die Rampe hinauf, danach Vicky. Während ich Won Da Pie die Transportgamaschen an den Hinterbeinen befestigte, bemerkte ich einen untersetzten Mann von ungefähr sechzig Jahren in einem kurzärmligen karierten Hemd, der sich mit Herrn Weyer unterhielt und dabei interessiert mein Pferd musterte. Der Reitlehrer schüttelte ein paarmal den Kopf, dann wies er auf meine Eltern.

»Kennst du den karierten Typ da drüben beim Weyer?«, fragte ich Katie. »Ich habe den heute schon öfter gesehen, auch am Abreiteplatz.«

Meine Freundin drehte sich um und starrte ungeniert zu unserem Reitlehrer und dem Fremden hinüber.

»Das ist ein Pferdehändler aus der Schweiz. Sein Name fällt mir gerade nicht ein«, erwiderte sie. »Wenn mich nicht alles täuscht, ist er scharf auf Wondy.«

»Das kann er mal voll vergessen!« Ich schnaubte.

Der Karierte lief zu meinen Eltern und schüttelte ihnen freundlich lächelnd die Hände. Was ging da hinter meinem Rücken vor? Plötzlich hatte ich ein mulmiges Gefühl im Bauch. Es war nicht das erste Mal, dass jemand Interesse an meinem Pferd zeigte. Won Da Pie hatte mit den weltberühmten französischen Hengsten Quidam de Revel, Le Tôt de Semilly und Grand Veneur nicht nur erlauchte Vorfahren, sondern er hatte auch deren Springvermögen, Vorsicht und Leistungsbereitschaft geerbt. Jedes Mal, wenn ich ihn auf einem Turnier ritt, weckte seine Art zu springen Begehrlichkeiten. Wahrscheinlich dachten die Leute, wenn er schon mit mir, einer unerfahrenen Fünfzehnjährigen, so gut sprang, dann würde er mit einem richtig guten Profireiter im Sattel noch viel besser sein. Möglicherweise hatten sie mit dieser Vermutung durchaus recht, aber um nichts in der Welt würde ich mein Pferd hergeben! Won Da Pie bedeutete mir mehr als nur Erfolg auf Turnieren. Ich liebte den braunen Wallach trotz oder gerade wegen seiner Eigenarten, seines bisweilen heftigen Temperaments und seiner Eigensinnigkeit heiß und innig.

»Wir wollen zur Meldestelle zum Abrechnen!«, rief Doro. »Kommt ihr mit?«

»Ich muss da ja wohl nicht hin«, entgegnete Dörte mürrisch. »Ich war ja nie platziert.«

»Könnt ihr mir bitte mein Geld mitbringen?«, bat ich meine Freundinnen. »Ich muss hier mal meine Ohren spitzen.«

Doro sah mich verständnislos an, aber Katie kapierte sofort.

»Pferdehändler-Alarm«, zischte sie Doro zu. »Komm mit, ich erklär’s dir auf dem Weg.«

Die beiden verschwanden und meine Eltern kamen mit Florian und dem Pferdehändler zu mir und Wondy.

»Charlotte, das ist Herr Nötzli aus der Schweiz«, sagte mein Vater. »Er kennt Won Da Pie noch aus Frankreich!« Der Karierte sah auch aus der Nähe betrachtet harmlos und nett aus und keinesfalls so, wie man sich landläufig einen Pferdehändler vorstellte.

»Was es für Zufälle gibt!«, ergänzte meine Mutter.

»Hm«, brummte ich.

»Hallo, Charlotte, schön, dich kennenzulernen.« Herr Nötzli hielt mir die Hand hin und ich ergriff sie zögernd. »Ich habe dich eben reiten sehen. Das war eine sehr gute Runde! Herzlichen Glückwunsch zum Sieg!« Er sprach mit einem drolligen Schweizer Akzent.

»Vielen Dank«, erwiderte ich ohne zu lächeln. Ich hatte nicht vor, mich von ihm einwickeln zu lassen. Er trat einen Schritt zurück und betrachtete Won Da Pie vom Kopf bis zur Schweifspitze eingehend. Dann nickte er zufrieden. Offenbar schien ihm zu gefallen, was er sah.

»Deine Eltern haben mir erzählt, dass ihr das Pferd letztes Jahr in Frankreich gekauft habt und du ihn ausgebildet hast.«

»Hm. Ja.«

»Da hast du wirklich gute Arbeit geleistet. Kompliment! Das Pferd hat sich hervorragend entwickelt, seitdem ich es zuletzt gesehen habe.«

Was sollte das alles? Wollte er mir Honig ums Maul schmieren?

»Ich will Won Da Pie überhaupt nicht verkaufen!«, sagte ich. »Und woher wollen Sie wissen, dass er dasselbe Pferd ist, das Sie mal in Frankreich gesehen haben?«

»Ich habe schon mein ganzes Leben lang mit Pferden zu tun.« Herr Nötzli lächelte mild und schenkte meinem Einwand keine Beachtung. »Wenn mir ein Pferd einmal aufgefallen ist, erkenne ich es immer wieder.«

»Tatsächlich?« Mein Vater, der genau wie meine Mutter keinen blassen Schimmer von Pferden hatte, war ganz fasziniert. »Aber Won Da Pie ist doch kein auffälliges Pferd. Und soweit ich das sehe, gibt es sehr viele braune Pferde. Für mich sehen sie alle gleich aus, muss ich zugeben.«

»Ja, richtig«, pflichtete Mama ihm bei. »Won Da Pie hat ja keine Blesse oder andere Besonderheiten, die ins Auge fallen.«

Ich schämte mich für die Ahnungslosigkeit meiner Eltern. Auch wenn Wondy ein Brauner ohne Abzeichen war, so hätte ich ihn aus hundert anderen braunen Pferden ohne Abzeichen sofort herausgefunden.