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Lisa-Marie Hartung

Die Pianistin
des Vampirs

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© 2018 Lisa-Marie Hartung

Verlag und Druck: tredition GmbH, Hamburg

ISBN
Paperback:978-3-7439-7059-5
Hardcover:978-3-7439-7060-1
e-Book:978-3-7439-7061-8

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

I

Zuerst war es nur ein sanfter Hauch, ein zartes Streicheln am Rande seines Bewusstseins.

Keleigh Morgan wandte den Kopf zu den Klängen einer zarten Melodie. Ganz leise hatte die Melodie begonnen, kaum hörbar war sie gewesen. Doch nun schwoll sie an, gewann an Leben und Stärke. Doch es war keine freudige Melodie.

Ganz im Gegenteil.

Sie war herzzerreißend traurig.

Immer stärker wurde die Flut der Gefühle, immer flinker fuhren die zarten, blassen Finger über die Tasten des Instruments. Weltvergessen spielte die Gestalt am Klavier und schlug jeden der Gäste in ihren Bann.

Keleigh konnte die Augen nicht von diesen zarten Fingern nehmen, die diesem Instrument derart schöne Töne entlocken konnten. Die Gestalt war vollkommen in Schwarz gekleidet. Ein Schal verbarg den größten Teil des schmalen Gesichts. Dunkles Braun verhängte die Stirn und Augen. Nur eine schmale, kleine Nase war zu erkennen. Viel zu schnell endete das Stück und die Gestalt schien aus ihrer Trance, die jeden im Raum ergriffen hatte, aufzutauchen.

Überrascht wandte die Gestalt den Kopf und Keleigh sah nussbraune Augen unter sanft geschwungenen Augenbrauen. Da zog sich die junge Frau, denn als solche hatte er sie soeben erkannt, ihren Schal nach oben, über die kleine Nase, verbarg ihr Gesicht und sprang auf.

Er konnte seinen Blick nicht von ihr lassen und sah ihr dabei zu, wie sie schnell unter dem tosenden Applaus der Gäste des Restaurants aus dem Saal huschte.

„So fasziniert habe ich dich noch nie gesehen“, erklang die Stimme seines Schützlings zu seiner Linken. Keleigh wandte den Kopf, war sich erst in diesem Moment der Tatsache bewusst, dass er der jungen Frau noch immer hinterher sah. Vollkommen in Gedanken versunken.

„Wer ist sie?“, konnte er sich der Frage nicht verwehren und spähte noch einmal zur Tür. Doch die mysteriöse Frau, mit dem so traurigen Lied, war verschwunden.

In den hellen Augen von Chandrina blitzte es belustigt auf. Chandrina hieß Mond und er hatte ihr diesen Namen am Tag ihres Erwachens höchst selbst gegeben, da ihre hellen, klugen Augen ihn an kleine Monde im Schein der Dunkelheit erinnert hatten.

„Die Spielerin?“, fragte sein Schützling. Ein leichtes Neigen des Kinns war Antwort genug.

„Keiner kennt sie. Sie ist eine Unbekannte. Alle paar Wochen taucht sie an unterschiedlichen Orten auf und spielt ihr trauriges Lied. Sie rührt die Herzen der Menschen, bringt sie zum Weinen und Zittern und verschwindet einfach wieder. Genauso spurlos, wie sie aufgetaucht ist. Es ist das erste Mal, dass ich sie selbst spielen hörte.“ Keleigh lehnte sich in seinem Stuhl zurück und legte die Fingerspitzen aneinander. Sein Interesse war geweckt.

„Niemand kennt sie?“

Chandrina schüttelte den Kopf, dass ihre dunklen Locken flogen.

„Niemand. Man hat versucht sie aufzuhalten, hat Agenten auf sie angesetzt. Jeder will wissen, wer die geheimnisvolle Frau mit dem traurigen Lied ist. Die Plattenfirmen würden sich einen Arm ausreißen, um sie zu bekommen.“

Kurz herrschte Stille zwischen ihnen.

„Du müsstest eigentlich von ihr gehört haben. Ich weiß, du gibst nichts auf moderne Nachrichtensender oder Radios. Aber es war auch wochenlang in den Zeitungen. Nachrichtenblätter liest du doch noch?“

Besorgtheit lag in ihrer Stimme und entlockte Keleigh tatsächlich ein feines Lächeln. Er kannte ihre Sorge. Sie dachte, er sei nach all der Zeit der Welt überdrüssig. Dem war auch so, aber dies war bei Weitem nicht der Grund, weswegen er sich aus dem öffentlichen Leben zurückgezogen hatte.

Sondern wegen der Welt. Sie war es, die ihn vertrieben hatte. Zu schnell wandelte sie sich, veränderte sie ihre Form ein ums andere Mal.

„Tatsächlich habe ich die Geschichte der mysteriösen Spielerin einige Zeit verfolgt“, gestand er schließlich ein und sein Schützling wirkte nicht mehr ganz so von Sorge zerfressen.

„Doch es wurde ruhig um sie. Ich dachte, sie wäre verschwunden.“

Chandrina nickte eifrig, scheinbar besorgt, er könne wieder in Trübsal verfallen. Erneut hoben sich seine Mundwinkel leicht. Es war doch eine gute Idee gewesen, mit Chandrina auszugehen. Viel zu lange war er nicht nur der Welt, sondern auch ihr ausgewichen.

Und nun hatte er eine solche Entdeckung gemacht.

„Viele denken, es war ihr Plan. Sich zurückzuziehen und erst einmal Gras über die Sache wachsen zu lassen.“

„Und nun ist sie wieder erschienen“, führte Keleigh ihren Gedanken weiter.

Sie nickte nur stumm.

Eine Weile schwiegen sie und er drehte verträumt sein noch volles Weinglas in den Fingern. Erst Chandrinas leises Lachen ließ ihn wieder zu ihr blicken.

„Du hast dieses Glitzern in den Augen“, erklärte sie ihm und nippte an ihrem eigenen Weinglas.

„Du planst schon wieder etwas“, schlussfolgerte sie. Keleigh legte den Kopf zur Seite und lauschte ihren Worten.

„Du planst sie wiederzusehen.“

Seine Mundwinkel zuckten. Wie raffiniert sie darin geworden war, aus seiner Miene zu lesen.

„Ich plane es nicht nur, es wird geschehen, noch bevor der Mond ganz voll ist“, prophezeite er verschwörerisch und sah aus der großen Glasfront des Restaurants hinaus in die Nacht, die von einem fast vollkommen runden Mond erhellt wurde.

Clair seufzte sehnsüchtig und konnte den Blick nicht von dem Schmuckstück lassen. Schwarz glänzte der Lack ihr entgegen, weiß schimmerten die Tasten im Schein der Sonne. Es war ein richtiger Konzertflügel, nicht so ein modernes Keyboard mit dem ganzen unnützen Kram. Betrübt nahm sie die Hand von der Schaufensterscheibe. So etwas würde sie sich nicht mal in einer Million Jahre leisten können.

Sie hatte ja schon Glück, wenn sie genug Geld für ihr nächstes Abendessen zusammenbekam. Mürrisch sah sie gen Himmel.

Dunkle Wolken zogen auf, verhängten das strahlende Blau und sperrten die Sonne und ihre warmen Strahlen aus. Es würde bald anfangen zu regnen.

Für Mitte Januar nicht unüblich, aber lästig. Vor allem, wenn man kein Dach über dem Kopf hatte.

Trauer legte sich um ihr Herz und mit gesenktem Kopf, die Hände in den Taschen ihres viel zu großen, schwarzen Mantels vergraben, schlurfte sie durch die Straßen. Hier und da hob sie ein paar Centstücke vom Boden auf und fand tatsächlich einen ganzen Euro im Geldfach eines Parkscheinautomaten. Würde man das ganze Geld, das auf der Welt einfach so auf dem Boden liegen gelassen wurde, aufheben … man wäre Millionär.

Doch so reichte es gerade aus, um beim Vortagsbäcker eine handvoll Brötchen zu kaufen, die den beißenden Hunger endlich stillten.

Die nette Verkäuferin schenkte ihr sogar ein Schokocroissant. Gegen Abend fielen dann tatsächlich die ersten Tropfen und Clair fluchte leise, stellte sich an einer Hausecke unter und sah gen Himmel. Die Wolken waren dicht, schwer und rabenschwarz. Es würde wohl noch stundenlang regnen. Sich in ihr Schicksal fügend, sank sie in die Hocke und schlang die Arme um die Knie, um wenigstes einen Rest Körperwärme speichern zu können. Vollkommen emotionslos beobachtete sie die Menschen, die an ihr vorbeiliefen.

Eltern mit lachenden Kindern, die in jede sich bildende Pfütze sprangen und erfreut kreischten. Pärchen, die eng umschlugen durch den immer stärker auf den Boden prasselnden Regen hetzten.

Sie alle waren glücklich, sie alle wurden geliebt, hatten ein warmes, trockenes zu Hause, in das sie zurückkehren konnten. Einst hatte auch sie dies besessen, war geliebt worden, hatte ein warmes Nest, das sie mit Freude Heim nennen konnte. All dies hatte sie für selbstverständlich empfunden bis …

Tränen sammelten sich in ihren Augen. Entschlossen erhob sie sich und wischte sich die Zeichen ihres Verlustes und ihres Schmerzes weg.

In ihrer Seele, ihrem Herzen begann erneut die Melodie zu spielen. Ein kleines Lächeln stahl sich in all dem Trübsal auf ihre Lippen und sie schloss die Augen.

So stand sie eine Weile da, vergaß den Regen um sich, die vorbei hastenden Menschen und sogar die Kälte, die in ihre Glieder kroch.

Da wurde sie hart zur Seite gestoßen, sodass sie sich mit der Hand an der Hauswand abfangen musste. Überrascht sah sie einen alten Mann, der sie hasserfüllt anstierte.

„Verdammte Bettlerin! Geh woanders betteln, elendes Gör!“, keifte er.

Verschreckt wich Clair zurück. Vorbei war der Moment der Stille und Geborgenheit. Kalte Tränen sammelten sich erneut in ihren Augen und sie wandte sich ab, rannte davon.

Der alte Mann keifte ihr noch einige Worte hinterher. Viele waren Schimpfwörter, die sie nicht einmal denken würde.

Der Schock saß tief. So etwas war ihr schon einmal passiert und doch erschreckte sie der kalte Hass, der ihr von wildfremden Menschen entgegengebracht wurde, zutiefst.

Die Musik in ihrem Kopf schwoll immer lauter an, als wolle sie sie beruhigen … oder erdrücken. Clair hielt es einfach nicht mehr aus, sah sich kurz um, orientierte sich und rannte dann durch den strömenden Regen zu dem Grand Playa an der Ecke Richtung Dom.

Längst war sie nass bis auf die Knochen, doch dass interessierte sie gerade wenig. Zu wild, zu drängend war der Ansturm an Gefühlen in ihrem Inneren. Nur kurz musste sie draußen warten, dann betrat eine größere Gruppe Geschäftsleute das Gebäude. Clair hängte sich einfach hinten dran und schlüpfte geschickt an der Empfangsdame vorbei, ins warme Innere des Restaurants.

So schnell hatte sie eigentlich nicht hierher zurückkehren wollen. Erst gestern war sie hier hereingeschlichen und hatte ihr Lied gespielt. Doch jetzt ging es nicht mehr anders. Schnell zog sie sich ihren dunklen Schal über Kinn und Nase, dann schlich sie weiter, immer an der Wand entlang. Noch nie hatte sie in ein und demselben Restaurant zweimal hintereinander gespielt. Schon gar nicht an zwei aufeinanderfolgenden Tagen.

Niemand würde sie hier vermuten.

Deswegen sah sie auch keiner, wie sie noch immer tropfend vom Regen durch die Schatten des Restaurants schlich. Schon sah sie das Prachtstück eines Flügels in einer Ecke des Raums stehen. Er war nicht so gewaltig und glänzend wie der, den sie am Mittag im Schaufenster gesehen hatte. Doch er hatte einen Klang, der ihr gefiel. Außerdem konnte gerade sie sich nicht erlauben, wählerisch zu sein. Verträumt strich sie mit den Fingern über die Tasten. Da saß sie auch schon und die Melodie in ihrem Kopf wurde leiser, schwächte zu einem erwartungsvollen Summen herab.

Der erste Ton ließ sie verträumt die Augen schließen. Das hektische Treiben der Kellner, das Klirren des Bestecks, die summenden Gespräche der Gäste, all dies verstummte, rückte in den Hintergrund. Der nächste Ton flog in die Luft, zart und weich gesellte sich der nächste hinzu.

Schwach begann ihr Lied, schüchtern und furchtsam, wurde schließlich lauter, schneller. Dabei flogen Bilder ihres Lebens durch ihren Kopf, alte, verblasste Bilder eines längst vergangenen Lebens.

Trauer und Verlust stiegen in ihr hoch, trieben ihr erneut die Tränen in die Augen. Dieses Lied war nicht einfach nur ein Lied, es war ihr Leben, ihr Verlust. Wie stürmisch und leidenschaftlich die Melodie auch wurde, desto leiser und gebrochener klang sie aus. Der letzte Ton tönte in ihren Ohren nach, überdeckte ihr leises Seufzen. Kurz ließ sie die Finger noch auf den Tasten ruhen, legte sie anschließend in ihren Schoß.

Es war, als würde sie aus einem langen Schlaf erwachen. Die ganzen Geräusche schlugen in einer Welle über ihr zusammen. Die hektischen Laute, das Rufen und Jubeln. Überrascht hob sie den Kopf, ließ ihren Blick über die Menge gleiten. Da saßen sie.

Die Reichsten der Reichen, die Größten der Größten. Und applaudierten ihr, einem Straßenmädchen.

Würden sie auch so jubeln, wenn sie wüssten, wer sie wirklich war, was sie wirklich war?

Offensichtlich.

Sie würden ihre Geschichte breittreten, sie bestmöglich vermarkten, jedes Detail in die Öffentlichkeit zerren. Clair wollte sich schon abwenden und genauso spurlos verschwinden, wie sie es immer tat, da traf ihr Blick auf dunkle Tiefen, die ihr direkt in die Augen blickten. Verdutzt hielt sie inne.

Dort, etwas abseits in der Ecke ihr gegenüber, saß ein Mann allein mit einer jungen Frau am Tisch und sah ihr direkt in die Augen. Sein Blick war fest und stark. Begeistert erleuchtet von dem Feuer der sinnlichen Überraschung und Ekstase. Doch diese Augen blickten nicht kühl, abschätzend, ihren Wert eisern kalkulierend. Sie blickten fasziniert und gebannt, gefesselt.

Laute Schritte ließen Clair zusammenzucken. Der Kontakt mit dem geheimnisvollen Fremden riss ab. Ein Mann im mittleren Alter kam auf sie zugeeilt, mit einer Visitenkarte winkend. Oh nein!

Sie war zu lange geblieben, hatte zu lange am Klavier verharrt! Schnell sprang sie auf, wich dem Mann, der sie schon fast erreicht hatte, in die entgegengesetzte Richtung aus, hastete durch die Tische und Stuhlgruppen. Viele Hände griffen nach ihr, zwei Männer versperrten die Tür. Schlitternd änderte Clair ihre Route, stieß fast mit einem überraschten Kellner zusammen. Ohne lange darüber nachzudenken, hastete sie auf den Balkon, riss sich von einem Mann los, der sie festhalten wollte. Der Balkon lag einsam und verlassen da. Ein Blick über das Geländer zeigte ihr, dass er nicht sehr hoch war, höchstens zwei Meter. Noch einmal sah Clair zurück, sah der auf sie zueilenden Menschenmasse entgegen, die laut nach ihr rief, sie bat doch zu bleiben.

Nur der Mann mit den ausdrucksstarken Augen und seine Begleitung saßen nach wie vor auf ihren Stühlen. Er nippte an seinem Weinglas. Als sich ihre Blicke trafen, prostete er ihr zu. Sie blinzelte.

Dann wurde sie sich der Situation bewusst, in der sie sich noch immer befand. Ohne zu zögern, schwang sie sich über das Geländer und sprang in die Tiefe. Hart kam sie auf, hörte die erschreckten Schreie und Rufe. Clair fing sich ab, taumelte kurz und rannte dann, so schnell sie konnte, durch den dichten Regen. Schnell waren ihre angetrockneten Haare wieder vollkommen durchnässt. Doch niemand folgte ihr.

Sie war entkommen.

II

Keleigh sah der jungen Frau nach, wie ihre schmale Gestalt langsam im Dunkeln der Nacht verschwand.

„Sie ist tatsächlich gesprungen“, murmelte Chandrina neben ihm fassungslos. Ja, war sie. Keleigh musste eingestehen, dass selbst er überrascht war. Er hätte nie gedacht, dass sie wirklich springen würde. Langsam setzte er sich wieder und wurde sich da erst der Tatsache bewusst, dass er aufgesprungen war, als er sie springen sah.

Sein Herz schlug ungewöhnlich schnell. Mit einem gezielten Gedanken beruhigte es sich jedoch wieder und schlug in dem langsamen, gleichmäßigen Rhythmus, den er gewohnt war.

„Sie war völlig durchnässt“, meinte da Chandrina und Keleighs Blick flog zu ihr. Auch damit hatte sein Schützling recht. Wie nasse Taue hatten ihre Haare dunkel und von Wasser glänzend an ihren Wangen geklebt. Der Klavierhocker war von feinen, kleinen Tropfen bedeckt. Darunter hatte sich eine Wasserlache gebildet.

„Warum hatte sie keinen Schirm oder wenigstens eine Regenjacke?“, überlegte Chandrina laut.

Sein Blick folgte der Spur aus kleinen Tropfen, die bis zum Balkon führte. Ihr unfassbarer Geruch stieg ihm dabei in die Nase. Seine Sinne schärften sich. Ein Entschluss wuchs in ihm. Schweigend stand er auf, reichte einem vorbeigehenden Kellner seine Karte und nickte seinem Schützling ruhig zu. Sie wusste, was er nun beabsichtigte und versuchte nicht ihn aufzuhalten, da es ohne Zweifel vergebens gewesen wäre.

„Das werden wir nun herausfinden“, beantwortete er ihre eben gestellte Frage und schritt aus dem hell erleuchteten Gebäude. Keleigh brauchte keinen Schirm. Der Regen prallte von ihm ab, wie von einem Wachstuch und hinterließ keine Spuren. Weder auf seiner Haut noch auf seiner Kleidung.

Er hatte ihren Geruch noch immer in der Nase, den er während ihres Spiels aufgenommen hatte. Der Spur zu folgen war leichter, als zunächst angenommen. Trotz des Regens.

Ihr Spiel.

Es war so traurig gewesen, genauso traurig und verzweifelt wie am Tag zuvor und doch so vollkommen anders. Nicht nur Schmerz und ein tiefer Verlust waren durch seine Nerven geschossen, sondern auch eiskalte Wut und … Verbitterung.

Durch die Schatten hindurch folgte er ihrem Duft, rückte immer näher an ihre schmale Gestalt heran, bis er direkt hinter ihr war. Sein Herz schlug erneut schneller. Es dauerte lange, bis er es wieder zur Räson gebracht hatte. Keleigh hätte die Hand ausstrecken und ihr glänzendes Haar berühren können. Und doch tat er es nicht.

Noch immer lief die junge Frau durch die Straßen, scheinbar ziellos rannte sie durch die Dunkelheit. Stumm und verborgen folgte er ihr. Da hörte er den ersten verdächtigen Laut, dann noch einen. Seine Miene blieb ausdruckslos. Selbst, als er einen Blick auf ihr Gesicht erhaschte.

Silberne Tränen rannen über ihre nassen Wangen.

Sie weinte.

Da blieb sie stehen und auch Keleigh stoppte, sah sich um. Hatte sie ihr Ziel erreicht? Sie befanden sich vor einem alten Gebäude mit vielen Fenstern. Seine kleine Pianistin hatte die Hände fest an ihren Seiten zu Fäusten geballt, die Augen schmerzhaft zusammengepresst. Schweigend sah er ihr dabei zu, wie sie langsam einmal ein- und wieder ausatmete. Als die kurz angehaltene Luft ihren Lungen wieder entwich, sanken ihre angespannten Schultern ein Stück hinab und sie öffnete die Augen. Diese waren nun trocken und entschlossen, wie Keleigh mit Erstaunen feststellen konnte. Ihre Selbstkontrolle war außergewöhnlich.

Fasziniert sah er ihr dabei zu, wie sie noch einmal tief einatmete und schließlich mit festem Schritt auf das dunkle Gebäude zuschritt. Behutsam schlich Keleigh näher, bemüht, sich im Schatten gut verborgen zu halten. Für seine Art war es ein Leichtes mit den Schatten der Nacht zu verschmelzen und beinahe vollkommen unsichtbar zu werden. Doch er wollte kein Risiko eingehen, obwohl irgendetwas in ihm ihn unaufhaltsam dazu trieb mehr über sie zu erfahren. Er war selbst über die Intensität dieses zerreißenden Dranges überrascht.

Der kalte Nachtwind wehte ihm erneut ihren Duft in die Nase und lenkte seine Aufmerksamkeit zu ihr zurück. In dem Moment, in welchem er ganz seinen Gedanken nachgehangen hatte, hatte die junge Frau das Gebäude betreten. Er sah nur noch die Tür hinter ihr zufallen. Neugierig trat er nun aus den Schatten heraus, nachdem er sich vergewissert hatte, dass ihn auch niemand beobachtete.

Das große Haus stand still und gähnend vor ihm. Es schien so, als hätte komplette Einsamkeit es verschluckt. Doch das Gebäude wirkte nicht wie ein Wohnhaus. Zu unbelebt, zu trist und kahl war es. Es gab nicht einmal Vorhänge. Leise schritt Keleigh vor die Tür. Hier wurde ihr Geruch intensiver. Sie hatte gezögert dieses Gebäude zu betreten. Eine Spur Furcht färbte ihren Duft. Sein Blick fiel auf das kleine Schild neben dem einzigen Klingelknopf und er erstarrte. Ohne sein Zutun las er das vergilbte, ausgeblichene Schild erneut und seine Augenbrauen zuckten in die Höhe.

Gedanken rasten wie die lauten Hufe eines Pferdes mit der Geschwindigkeit eines Verfolgten durch seine Nervenbahnen. Lediglich sein Mantel verursachte einen leisen, raschelnden Laut, als er zurücktrat und wieder in den Schatten verschwand.

Leise wie der Wind und ebenso schnell kehrte er zu seiner Behausung zurück, schlüpfte durch die großen Türen, die einem Portal glichen und trat in die Eingangshalle. Dort kam ihm Chandrina entgegengeflogen, während ihm ein Diener Mantel und Schal abnahm.

„Was hast du herausgefunden?“, bestürmte sein Schützling ihn wild und ergriff seine Hände. Sachte drückte er diese kurz, bevor er ihr sanft eine Hand an die Wange legte.

„Nicht heute Nacht, mein Kind. Ich muss nachdenken“, wisperte er leise. Unmut legte sich über ihre sonst so sanften und freundlichen Züge.

„Aber …“

„Nicht heute Nacht“, unterbrach er sie streng, hauchte ihr einen väterlichen Kuss auf die Stirn, als Zeichen seines Wohlwollens und wandte sich den Treppen ins obere Stockwerk zu. Chandrina ließ ihn mit deutlichem Missfallen gehen. Doch sie schwieg.

In seinen Gemächern angelangt, entledigte Keleigh sich seiner Krawatte, knöpfte die ersten paar Knöpfe seines Hemdes auf und wickelte die Ärmel nach oben. Leise seufzend schenkte er sich einen starken Scotch ein, hielt ihn kurz im Mund, genoss sein reichhaltiges Bouquet, bevor er ihn schließlich brennend seine Kehle hinabgleiten ließ. Kurz schloss er die Augen und ließ sich in einen Sessel fallen. Als er die Augen wieder aufschlug, war sein Blick klar und ernst.

Das Gebäude, welches seine junge Pianistin soeben betreten hatte, war wie angenommen kein Wohnhaus gewesen. Zumindest keines, wie man es gewöhnlich kannte.

Es war eine Art Auffangstation für Obdachlose. Keleigh hatte schon von solchen Einrichtungen gehört. Dort konnten sich Menschen ohne Obdach einquartieren und wurden ehrenamtlich versorgt.

Also war seine geheimnisvolle Lady ohne Heim.

Das machte die Lage um einiges schwieriger und … verzwickter. Er musste nachdenken.

Seine nächsten Schritte mussten wohlüberlegt sein. Denn diese würden ihn entweder ans Ziel oder aber in weite Ferne tragen.

Clair hasste es, hier zu sein. Sie wollte das alles nicht. Aber wegen des blöden Regens hatte sie keine andere Wahl. So durchnässt würde sie sich nur den Tod holen, wenn sie die Nacht im Freien verbrachte.

Also hatte sie widerwillig das große Gebäude betreten. Dort war sie auch sofort von einer freundlichen Mitarbeiterin empfangen worden, die ihr ein Handtuch gebracht hatte. Eben dieses lag nun über ihrem Kopf und Clair starrte auf ihre gefalteten Hände. Das kleine Zimmer, das man ihr für die Nacht überlassen hatte, war gerade groß

genug für das schmale Bett, auf dem sie saß. Doch es war mehr, als sie seit langem gehabt hatte.

Trotzdem wollte sie nicht hier sein. Nicht, weil sie sich zu fein für solch eine Einrichtung war. Sondern, weil sie nicht hierhergehörte.

Ihr ging es noch einigermaßen gut. Sie hatte ihre Musik und genug Glück, um wenigstes einmal am Tag etwas Richtiges zwischen die Zähne zu bekommen. Wenn sie nun aber daran dachte, dass dort unten ein armer Mensch, der wirklich gar nichts mehr auf Erden hatte, abgewiesen wurde, nur weil sie hier das Zimmer belagerte, zog sich ihr fast leerer Magen zu einem schmerzenden Klumpen zusammen.

Seufzend schloss sie also die Augen und ließ sich nach hinten fallen. Die Matratze war noch relativ weich und nicht allzu durchgelegen. Wieder schossen ihr die Gedanken an Menschen durch den Kopf, die es so viel schlimmer als sie getroffen hatten.

Ihr wurde schlecht.

Nur eine Nacht, eine einzige Nacht würde sie hier bleiben. Nur so lange, bis der Regen aufhörte.

War es denn so schlecht auch einmal an sich selbst zu denken? Machte sie das gleich zu einem schlechten, bösen Menschen?

Ganz klein rollte sich Clair zusammen und lauschte dem Regen, wie er gegen die Scheibe prasselte. Trotz all der Schuldgefühle waren sie nun begründet oder nicht, durchströmte sie Erleichterung. Hier war sie zumindest trocken und am Morgen bekäme sie ein warmes Essen. Bei dem Gedanken zog sich ihr Magen erneut zusammen. Jedoch nicht wegen aufkommender Schuldgefühle, sondern vor Vorfreude. Es war einfach viel zu lange her, seit sie etwas Warmes gegessen hatte.

Mit diesen Gedanken und dem Lied des Regens in den Ohren schlief sie schließlich ein.

Fest umklammerte sie ihren Magen und schlurfte gekrümmt weiter. Hatte denn wirklich jeder in der letzten Nacht das Loch in seiner Jackentasche, durch das einige Cent purzelten, wenn man nicht achtgab, zugenäht?! Clair hatte an diesem Tag keinen einzigen Cent gefunden. Und ihr Magen knurrte mittlerweile so laut, dass sie die Magenschmerzen schon ganz vergessen hatte. Man kannte vielleicht das Gefühl, wenn man länger als sonst auf sein Essen warten musste und der Hunger irgendwann verschwindet. Doch was danach geschah, das wusste kaum jemand. Dann kehrte der Hunger nämlich mit all seiner Kraft zurück und schien sie von innen heraus zu verschlingen.

Clair stöhnte gequält und ließ sich an einer Hauswand hinabsinken. Das letzte Mal, dass es so weit gekommen war, war schon eine Weile her gewesen und sie hatte gebetet, dass es nicht erneut hierzu kam. Eine Woche war es nun schon her, seit sie das letzte Mal in ein Restaurant gegangen war und gespielt hatte. Nur einmal noch, seit sie dem dunklen Fremden begegnet war, hatte sie erneut gespielt. Und doch war der Fremde wieder dort gewesen. Dabei hatte sie eine Gaststätte ausgewählt, in der sie noch nie gespielt hatte. Aber sein Blick hatte von Anfang an nur auf ihr gelegen. Sie hatte es fast körperlich gespürt, bevor sie ihn auch nur gesehen hatte. Erneut hatte seine dunkelhaarige Begleitung bei ihm gesessen und erneut hatten sie sich in einer dunklen Ecke, etwas abseits befunden. Das war vor rund fünf Tagen gewesen. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie auch ihr Glück verlassen.

Erneut brüllte ihr Magen los, wie ein wildes Tier und Clair drückte ihre Arme noch fester dagegen. Doch es half alles nichts. Stöhnend sah sie gen Himmel. Die Sonne neigte sich dem Horizont entgegen. Bald würde es dunkel werden.

Unter Aufbringung ihrer letzten Kräfte hievte sie sich wieder in die Höhe. Noch einmal würde sie ihre Runde machen und sehen, ob sie nicht doch etwas vergessenes Kleingeld irgendwo finden konnte. Wenn nicht, würde sie zu einem Bäcker gehen und nachfragen, ob es eventuell irgendwelche Reste gab, die man ihr überlassen konnte. Ihre Füße trugen sie durch die noch immer belebte Stadt. Ihr Blick war konsequent auf den Boden gerichtet. Tatsächlich fand sie ein Centstück. Nur würde sie damit nicht sehr weit kommen.

Betrübt wollte sie ihre Suche schon aufgeben, da wäre sie fast mit zwei blank polierten Lackschuhen zusammengestoßen. Erschrocken sah Clair nach oben, wollte sich entschuldigen. Doch sie erhaschte nur noch einen Blick auf einen ihr komischerweise bekannt vorkommenden, scharlachroten Schal.

Verwirrt sah sie in die Menge hinter sich und ihr Hunger war kurzzeitig vergessen. Jedoch war die Gestalt schon in der Menge verschwunden. Sie wollte schon schulterzuckend ihren Weg fortsetzen und zu einem Bäcker in der Nähe gehen, da fiel ihr etwas Kleines, Flatterndes ins Auge. Sie musste mehrfach blinzeln, bis sie begriff, was sie da sah. Vor ihr, von einem kleinen Kiesel gerade so festgehalten, flatterte ein Geldschein im Wind.

Wie im Traum bückte sie sich danach und hielt das kleine Wunder schließlich in den Händen.

War es denn zu fassen?

„Danke, danke, danke Gott! Ich danke dir!“, stieß sie gen Himmel und konnte das aufkommende Lachen nicht mehr unterdrücken. Sie musste total wahnsinnig erscheinen, wie sie hier stand und lachte, wie eine Irre. Sobald Clair sich beruhigt hatte, gab es kein Halten mehr für sie und sie rannte los, den Geldschein fest im Griff. Im nächsten Supermarkt griff sie sich genau fünf Sachen. Eine kleine, krumme Salatgurke, eine Packung günstiges Vollkornbrot, eine Flasche Wasser ohne Kohlensäure, einen kleinen Stoffbeutel und eine Tafel Schokolade. Sogar noch ein paar Cent für eine Packung Käse waren übrig. Glücklich trug sie ihre Schätze in ihr kleines „Haus“.

Dieses bestand aus einem großen Pappkarton, den sie so zurecht gedrückt hatte, dass möglichst viel Platz darin war. So konnte sie sich sogar hinlegen, ohne nass zu werden. Eine alte Plastiktüte bildete ihr Dach.

Flink kroch Clair in ihre schäbige Behausung und packe ihre Schätze aus. Zuerst trank sie einige Schlucke Wasser. Mit der Flasche würde sie problemlos neues aufsammeln können. Dann nahm sie etwa ein Drittel des Brotes aus der Tüte, verschloss diese wieder sorgfältig und legte Käse zwischen die Scheiben. Es schmeckte einfach himmlisch und ihr Magen dankte es ihr mit einem zufriedenen Glucksen.

Zum Schluss öffnete sie die Tafel Schokolade und aß eine Rippe davon langsam und genüsslich. Die Gurke würde sie sich für später aufheben. Mit vollem Magen und Glücksgefühlen im ganzen Körper döste Clair schnell ein.

Erst von lauten Rufen wurde sie mitten in der Nacht geweckt. Es waren eindeutig männliche Stimmen und sie kamen näher. So schnell Clair konnte, krabbelte sie aus ihrer Behausung und drückte die Stofftüte mit ihren Schätzen an sich. Es war so dunkel, dass sie kaum etwas sehen konnte, doch die Stimmen kamen näher. Sie klangen eindeutig betrunken.

Angst stieg in ihr hoch. Nicht schon wieder.

Alle paar Wochen kamen diese finsteren Gestalten hier vorbei, nahmen ihr in ihrem Suff alles, was sie hatte und zogen dann lachend und prahlend wieder davon. Nicht selten versuchten sie dabei noch, sich an ihr zu vergehen. Ohne Erfolg bisher und sie hoffte wirklich, dass es auch so bleiben würde. Dafür musste sie sich aber wieder verstecken. Ohne lange darüber nachzudenken, tauchte sie hinter den Mülltonnen ganz in der Nähe unter und machte sich ganz klein.

Die Betrunkenen hatten ihren Schlafplatz mittlerweile erreicht.

„Ist die Olle schon wieder net da?!“, grölte einer der Kerle und Clair kniff die Augen zusammen. Bitte lass es bald vorbei sein, bat sie dabei innerlich.

III

Er war von ihr fasziniert, das konnte er nun wirklich nicht mehr bestreiten. Ihre Reaktion, als sie den Geldschein gefunden hatte, ihr offensichtlicher Genuss über das einfache Mahl. Ihre Hingabe, als sie die simple Tafel Schokolade ausgepackt hatte. Und ihr Duft erst.

Wie eine Sommerwiese im Sturm hatte ihr blumiger, dennoch leicht herber Duft ihn zu ihr gezogen, wie das Licht die Motten.

Mit Spannung hatte er ihre Taten beobachtet, auf jede neue Reaktion gewartet. Ihr Verhalten war so kindlich und von naiver Freude. Doch sie ließ ihn Dinge fühlen, die er für immer gestorben geglaubt hatte.

Dabei war es bei Weitem nicht leicht gewesen, ihr zu folgen, sie im Auge zu behalten. Unzählige Male hatte er sich direkt hinter ihr befunden und doch war sie nach einer einfachen Wegbiegung verschwunden.

Trotz der Zeit, die er sie nun schon Nacht für Nacht beobachtete, hatte er kaum etwas von ihr erfahren.

Nicht einmal ihren Namen.

Seine kleine, geheimnisvolle Pianistin schien eine Einzelgängerin zu sein. Nie sprach sie mit jemandem, hielt auch nur kurz inne, um ein freundliches Lächeln zu erwidern. Stumm und flink huschte sie durch die Nacht, einsam wie ein Schwan.

Desto merkwürdiger schien ihm das Erscheinen dieser grobschlächtigen, nur allzu offensichtlich betrunkenen Männer vor ihrer „Behausung“.

Geschockt hatte er vor einigen Tagen realisiert, dass seine kleine Pianistin tatsächlich in einem Pappkarton lebte.

Entsetzen hatte ihn gepackt und blinde Wut. Seine Reaktion hatte ihn selbst erschrocken.

„Wer sind diese Menschen?“, fragte Chandrina neben ihm kaum hörbar. Keleigh beobachtete, wie sich die junge Frau, keine drei Schritte von seinem eigenen Versteck, hinter einigen Mülltonnen verbarg. Mit zusammengekniffenen Augen sah er, wie sie sich ganz klein machte, so wenig Angriffsfläche wie möglich bot und ein leises Gebet murmelte.

Doch erst, als einer der Betrunkenen sie ,Olle‘, was auch immer das heißen mag, nannte, zuckte es in ihm.

„Ich werde mich darum kümmern. Hole bitte den Wagen, wir werden gleich nachkommen“, bat er. Kurz zögerte Chandrina, als er „wir“ sagte, nickte dann jedoch und verschwand in den Schatten.

Keleighs Blick glitt teilnahmslos zu den Männern, die gerade die „Behausung“ seiner kleinen Pianistin zertraten und etwas Dunkles erhob sich in ihm. Seine Eckzähne kribbelten vor klarer Vorfreude und ein Lächeln erhellte sein Antlitz.

Dann verschmolz auch er, wie Chandrina kurz vor ihm, mit den Schatten.

Clair zitterte am ganzen Körper. Grölend und lachend zerstörten diese Männer ihr schäbiges Heim und nahmen ihr wie schon so oft das, was ihr noch geblieben war. Tränen sammelten sich in ihren Augen. Warum konnte man sie nicht einfach in Ruhe lassen? Sie kannten sie ja nicht einmal!

Schnell hatten sie den Pappkarton zerrissen und ihre wenigen Sachen in der Gegend verteilt. Gerade machten sie sich auf den Weg zurück, wo auch immer sie hergekommen waren, da musste einer von ihnen pinkeln. Zielgenau trat der Größte von ihnen auf die Mülltonnen, hinter denen sie sich verbarg, zu. Clair rutschte zur Seite, machte sich noch kleiner und zog den dunklen Schal über ihr Gesicht, in der Hoffnung, er würde sie nicht entdecken.

Als er sein Geschäft direkt neben ihr erledigte, hielt sie sich die Nase zu und kniff die Augen fest zusammen. Es schien ewig zu dauern, bis er klirrend seinen Gürtel wieder schloss und sich umwandte.

Doch er ging nicht fort, schloss sich nicht seinen Kumpanen an. Da wusste sie, dass er sie entdeckt hatte. Trotzdem schrie sie erschrocken auf, als ihr ein dreckiges, mit braunen Zähnen versehenes Gesicht entgegensah, kaum, dass sie den Kopf gehoben und die Augen geöffnet hatte. „Na, wen haben wir ’n da?“, grölte der Mann vor ihr und fasste sie grob am Arm, zerrte sie brutal auf die Füße. Schmerzhaft schrie sie auf, wollte sich wehren. Doch der Mann war zu groß. In einem harten Winkel hatte er ihren Arm nach oben gerissen und hielt ihn nun fest. Würde sie sich auch nur ein Stück zur Seite bewegen … ihr Arm wäre ausgekugelt.

„Ist die Olle ja doch zu Hause!“, plärrte der Mann ihr direkt ins Ohr, dass sie zusammenzuckte.

„Warum sagst’de denn nix, he?“, blaffte er sie an und purer Alkohol wehte ihr in die Nase. Gemischt mit seinem Mundgeruch fing sie an zu würgen.

So schnell, wie die anfängliche Heiterkeit des Mannes aufgekommen war, so schnell verschwand sie auch wieder. Hart riss er an ihr, verdrehte ihr schmerzhaft den Arm.

„Warum sagst’de nix? Bist’de taub?“

Was das mit ihrem Schweigen zu tun hatte, war Clair unbegreiflich. Die Angst ließ sie zittern wie Espenlaub. Selbst wenn sie hätte antworten wollen, sie hätte keinen Ton herausgebracht. Ihr Herz schlug schmerzhaft und viel zu schnell gegen ihre Rippen, pumpte das Adrenalin durch ihren Körper, bis das Blut in ihren Ohren zu rauschen begann.

Erneut keifte der Mann sie an, schüttelte sie grob und heftig wie eine Stoffpuppe. Als sie erneut nicht antwortete, warf er sie zu Boden, wandte sich an seine Kumpels. Bei ihrem Sturz hatte Clair nicht mehr genug Kontrolle über ihren bebenden Körper, sodass sie hart aufkam, sich die Wange am dreckigen Boden aufscheuerte.

Hinter ihr war es still geworden, niemand schrie mehr oder näherte sich ihr. Doch Clair sah nicht zurück. Wie ein Käfer kroch sie den dreckigen, nach Urin stinkenden Boden entlang, wollte entkommen.

Irgendwohin, wo sie allein war, sich von diesem Sturz erholen konnte.

Ihr Arm schmerzte stark, ihr Fortkommen war langsam, mühselig. Viel zu schnell füllten sich ihre Lungen mit Sauerstoff und stießen ihn unverbraucht wieder aus. Sie hatte gerade mal einige Meter zwischen sich und die Vandalen gebracht, da traten ihr dunkle Schuhe in den Weg.

Verdutzt hielt sie inne. Das waren keine dreckigen, mit Löchern versehenen, schäbigen Turnschuhe die ihr da den Weg vertraten. Es waren gepflegte Lackschuhe, die im Dämmerlicht leicht schimmerten.

Clair kannte diese Schuhe, hatte sie schon einmal gesehen … irgendwo.

Sie wollte den Kopf heben, sehen, wer ihr da den Fluchtweg abschnitt. Da legte sich tiefe Dunkelheit über sie und das Letzte, was sie sah, war ein dunkler, gestärkter Hemdkragen über dem sich ein makelloses Kinn glatt und männlich abhob. Ein roter Schal flatterte im Wind …

Ein Rütteln riss sie brutal aus ihrer Ohnmacht. Clair stöhnte leise, als das Brennen an ihrer Wange und der Schmerz in ihrem Arm einsetzte. In der Ohnmacht waren diese Schmerzen nicht vorhanden gewesen und sie wünschte sich zurück in die samtene Tiefe, die ihr Ruhe und Frieden versprochen hatte.

Allerdings entschied ihr Körper anders und ihre Augen öffneten sich flatternd.

Das Erste, was sie sah, waren dunkle Tiefen. Sie sahen schon fast schwarz aus. Clair blinzelte und ihre Sicht wurde schärfer. Jetzt erkannte sie helle, nein goldene Sprenkel darin. Und sie sah, dass diese merkwürdigen, dunklen Tiefen zwei Augen waren. Ein Mann sah ihr direkt ins Gesicht.

Verwirrt blinzelte Clair erneut, dann durchfuhr sie der Schreck. Laut schrie sie los, fuhr ruckartig hoch. Erst da wurden ihr zwei Dinge bewusst.

Erstens: Ihr Kopf hatte im Schoß des mysteriösen Fremden gelegen. Zweitens: Als wäre das nicht schon komisch genug, befand sie sich allem Anschein nach auf der Rückbank eines Autos. Erneut entwich ihr ein schriller Schrei, als der Wagen scharf nach rechts ausscherte und fast von der Fahrbahn abkam. Der Fahrer, eine Frau, fluchte heftig und wandte den Kopf nach hinten zu ihr und dem Mann mit den komischen Augen.

„Verflucht! Erschreck mich doch nicht so!“, keuchte die Frau und Clair blinzelte erneut verwirrt. So dunkel die Augen des Mannes gewesen waren, so hell waren ihre. Strahlendes Weiß blickte Clair entgegen. Nur am Rand war ein dunkelblauer Ring zu sehen.

Lange konnte Clair diese Augen jedoch nicht betrachten, da sich die Frau an den Mann neben ihr wandte. Komisch, er versuchte gar nicht sie festzuhalten.

„Soll ich anhalten?“, fragte die Fahrerin mit einem weichen Akzent. Nun flog auch Clairs Blick zu dem Mann. Dieser hatte seine dunklen Augen unverwandt auf sie gerichtet.

„Nein, du weißt, wie sehr ich diese Form der Fortbewegung verabscheue. Beeile dich nur“, erwiderte der Mann tonlos. Da erkannte sie ihn.

Er war der Mann aus den Restaurants, dessen Blick immer genauso unverwandt auf ihr gelegen hatte, wie in diesem Moment. Verunsichert fuhr Clair zurück, stieß mit dem Rücken gegen die Wagentür, sah kurz erschrocken zur Seite. Der Mann vor ihr schwieg beharrlich, betrachtete sie nur stumm und emotionslos, wie ein Gemälde. Angst stieg erneut in ihr auf und sie sah sich hektisch um. Doch es gab keinen Fluchtweg. Der Wagen fuhr viel zu schnell.

Trotzdem tasteten ihre Finger nach dem Türgriff. Gerade, als sie sich darum schlossen, klickte es. Türverriegelung. Clairs Blick flog zu dem Rückspiegel. Dort sah sie die wachsamen Augen der Frau.

„W … was wollen sie von mir?“, fiepste sie wie ein verschrecktes Mäuschen. Da regte sich die steinerne Miene des Mannes das erste Mal, auch wenn sich seine Mundwinkel nur kurz hoben.

Er streckte die Hand aus, machte Anstalten, sie zu berühren. Flach drückte Clair sich an die Tür, versuchte vergebens darin zu versinken. Ihr Atem kam, wie zuvor in der Gasse schon, nur noch in harten Stößen und ihr Herz raste. Was wollten die beiden von ihr? Wie hatten die sie denn überhaupt gefunden?

„Keleigh“, erklang da die leise Stimme der Frau und ihr Blick im Rückspiegel wurde besorgt.

„Ihr Herz schlägt viel zu schnell“, glaubte Clair sie sagen zu hören, war sich wegen des laut rauschenden Blutes in ihren Ohren aber nicht sicher. Der Mann seufzte und zog so ihre Aufmerksamkeit wieder auf sich.