Wien-Leopoldstadt, September 1942: Hansis Eltern und sein jüngerer Bruder müssen ins Sammellager. Sie sollen umgesiedelt werden nach Theresienstadt. Schlechter als in Wien, glauben sie, kann es dort nicht sein. Zur gleichen Zeit verlässt der 17-jährige Hansi das Haus. Im Flur nimmt er den gelben Stern ab, dann steigt er in die Straßenbahn und fährt zu Josef Feldner, einem alleinstehenden Kinderarzt. Seine Familie wird Hansi nie mehr wiedersehen. Bis zum Ende des Krieges versteckt und versorgt »Pepi« den jungen Mann in seiner Wohnung. Auch später, nach seiner Heirat und bis zu Pepis Tod, bleibt Hansi mit seinem Retter verbunden, sie frühstücken täglich miteinander, fahren gemeinsam auf Urlaub.

Anna Goldenberg, die Enkelin von Hans und Helga Feldner-Bustin, rekonstruiert diese singuläre Geschichte als große Reportage und zeichnet gleichzeitig das Porträt eines Helden, der nie einer sein wollte.

 

Zsolnay E-Book

Anna Goldenberg

 

VERSTECKTE JAHRE

 

Der Mann, der meinen Großvater rettete

 

 

Paul Zsolnay Verlag

 

 

Für Laura, Joni, Dylan, Beni, Adam, Nunu, Luc, Gina, Ella und Rafi

 

 

INHALT

 

Poughkeepsie, New York, 2013

Die Aufzeichnungen meines Großvaters

Eine Kindheit in Wien: Hansi

Eine Kindheit in Wien: Helga

Das Jahr 1938

»… am liebsten alle zusammen«

»Auswandern? Wo denkst du hin!«

»Nur für Arier«

Letzte Hoffnung Shanghai

Theresienstadt/Terezín

Verschlafen

Pepi

Neubaugasse

Das Ende

Hansi und Helga

Poughkeepsie, New York, 1955

Rückkehr nach Wien

 

Danksagung

Literatur- und Quellenverzeichnis

 

 

POUGHKEEPSIE, NEW YORK, 2013

 

»Fotografieren verboten.« Der breitschultrige Sicherheitsmann in der dunkelblauen Jacke klingt bestimmt, aber höflich und mustert mich kurz. Ich habe gar nicht bemerkt, dass er sich mir genähert hat, so vertieft bin ich, die Eingangshalle des Krankenhauses zu fotografieren. Es steht in Poughkeepsie, im Norden des Bundesstaates New York. Auf den Bänken sitzen einige Menschen, die Wand hinter der Rezeption, einem länglichen, mintgrünen Tresen, ist ziegelrot gestrichen. Die gläserne Eingangstür surrt, wenn sie sich öffnet. Ich lasse mein Smartphone, das ich auf das riesige Fenster zum Parkplatz gerichtet habe, sinken und stecke es in die Manteltasche, etwas eingeschüchtert. Der Sicherheitsmann dreht sich weg, sichtlich beruhigt, die Gefahr hat er abgewendet. Ich fasse Mut und spreche ihn an. Ob es jemanden gebe, der mir weiterhelfen könnte, historische Personalakten zu finden? Er scheint verwundert, überlegt kurz und führt mich in die wie ausgestorben wirkende Spitalsbibliothek, wo ich von einer Bibliothekarin enthusiastisch begrüßt werde.

In den fünfziger Jahren arbeiteten zwei junge Ärzte aus Wien an diesem Krankenhaus, erzähle ich. Sie waren am Anfang ihrer praktischen Ausbildung, sogenannte »Interns«, die ein Jahr lang an den verschiedenen Abteilungen ihren Dienst versahen. Nun bin ich auf der Suche nach Dokumenten, Zeugnisse oder alte Dienstpläne vielleicht, irgendetwas, das mir mehr über ihre Zeit hier erzählen könnte. Sie schaue gerne nach, erwidert die Bibliothekarin, sichtlich geschmeichelt ob der internationalen Bekanntheit des Provinzspitals. »Wie sind denn die Namen?« – »Helga und Hans Feldner-Bustin.« Die Bibliothekarin verschwindet in einem Hinterzimmer. Fünf Minuten später ist sie wieder da. Nein, leider, die scheinen in den alten Akten nicht mehr auf. Ich sehe wohl so enttäuscht aus, dass sie nachfragt, warum mich das interessieren würde. »Das sind meine Großeltern.«

Am Abend fahre ich mit dem Zug die 130 Kilometer zurück nach New York City, niedergeschlagen, dass sich hier niemand an meine Großeltern erinnert. Schließlich hat meine Großmutter Helga so oft davon erzählt. In ihrem Schlafzimmer hängt sogar ein ausgeschnittener Zeitungsartikel, der 1955 in einer amerikanischen jüdischen Zeitung erschien. Auf dem Foto lächelt das junge Paar, Helga ist 26, Hansi 29. »Auch an Bord der Saturnia waren Dr. Hans und Helga Feldner-Bustin, die aus Wien kamen, um am Poughkeepsie-Krankenhaus zu assistieren«, steht darunter. »Dr. Helga wurde 1945 aus einem Konzentrationslager befreit. Dr. Hans sagte, sein Bruder und seine Eltern kamen im KZ um, doch er entkam, weil ihn ein christlicher Arzt adoptierte.«

 

 

 

Als sie in die Staaten gereist waren, waren die beiden noch unentschlossen gewesen. Ein Jahr würden sie auf jeden Fall weg sein, hatten sie gesagt, und dann entscheiden, ob es ihnen gefiel. Aufgrund des Ärztemangels in den Vereinigten Staaten wurde Helga in Poughkeepsie sofort zu anspruchsvollen Tätigkeiten herangezogen, ganz anders als in jenem Wiener Krankenhaus, in dem sie die vorhergehenden zweieinhalb Jahre als Assistenzärztin gearbeitet hatte. Außerdem war das Gehalt gut. Hansi war zuvor unbezahlter Gastarzt an einer neurologischen Klinik in Wien gewesen und nur für Nachtdienste entlohnt worden. In Poughkeepsie konnten sie sich sogar ein Auto leisten, das sie sich mit zwei anderen Ärzten teilten. Und trotzdem: Im April 1956 kehrten sie wieder zurück nach Wien, wo sie den Rest ihres Lebens blieben.

Warum das so kam, begann ich erst zu hinterfragen, als ich selbst in die Vereinigten Staaten zog. Im Sommer 2012 begann ich ein Masterstudium in New York. Ich war 23 Jahre alt, nur wenig jünger als meine Großmutter damals. New York hatte mich fasziniert, seit ich ein Teenager war, wegen der Filme natürlich, in denen die Stadt die Kulisse für aufregende Handlungen bot. Hier war Woody Allen auf eine Art komisch, die ich lange lustig fand. Hier rettete der sympathisch schüchterne Spiderman die Menschen vor verschiedenen Bösewichten. Hier fanden die Protagonisten der romantischen Komödien, die ich so gerne schaute, trotz widriger Umstände zueinander.

Mit ihren unterschiedlichen Vierteln, vielen Kulturen und riesigem Angebot an Möglichkeiten war die Stadt so sichtbar vielfältig, dass ich überzeugt war, mir meinen eigenen kleinen Platz zu schaffen. Genauso wie meine Großeltern würde ich auf jeden Fall ein Jahr hierbleiben und dann entscheiden, ob es mir gefiel.

Schon in den ersten Wochen nach meiner Ankunft merkte ich, dass ich auf Unverständnis stieß, wenn ich erzählte, woher ich kam – insbesondere, wenn ich mit jüdischen New Yorkern zu tun hatte. Viele, die meinen Akzent hörten und erfuhren, dass ich Österreicherin war, wurden zunächst misstrauisch. »Ich bin Jüdin«, sagte ich dann, als ob ich sie beruhigen müsste, dass meine Vorfahren keine Kriegsverbrechen begangen hatten. Das nahmen sie verwundert auf: Wie, in Österreich gab es noch Juden? Ob meine Großeltern vielleicht nach dem Krieg aus der Sowjetunion zugewandert wären? Nein, erklärte ich dann, meine Großeltern sind Holocaustüberlebende, die nach dem Krieg in ihrem Geburtsort Wien geblieben waren. Das stieß auf noch mehr Unverständnis. Wie konnten sie in dem Land leben, in dem sie so grausam behandelt worden waren? Hin und wieder klangen die Reaktionen vorwurfsvoll, als ob es meinen Großeltern an Stolz oder Mut gefehlt hätte, Österreich zu verlassen. »Viele blieben aus finanziellen Gründen«, erklärte mir einmal jemand in einem herablassenden Tonfall.

Ich hatte mir nie sonderlich viel aus meinem Heimatland gemacht, fühlte mich, wie wohl jede Angehörige einer Minderheit, oft ignoriert. Wieso gab es zu Weihnachten Ferien, obwohl ich das gar nicht feierte? Ich fühlte mich nicht besonders österreichisch. Trotzdem machte es mich nun wütend, dass die Entscheidungen meiner Großeltern in Frage gestellt wurden. Hieß das, an meiner Kindheit und Jugend in Wien war etwas falsch gewesen, weil sie auf dem fragwürdigen Entschluss meiner Großeltern beruhten? Gleichzeitig hatte ich selbst keine geeigneten Antworten auf die Fragen. Das ärgerte mich umso mehr. Ich verstand ja tatsächlich nicht ganz, warum meine Großeltern nach Wien zurückgekehrt waren. Wie konnten sie sich mit Österreich versöhnen? Wurden sie in Wien nicht ständig an die Erniedrigungen erinnert, denen sie nach dem »Anschluss« Österreichs an Hitlerdeutschland im Jahr 1938 ausgesetzt waren?

Je länger ich in New York lebte, weit weg von meinem gewohnten Umfeld, desto mehr interessierte ich mich für meine Familiengeschichte. Im Winter 2012 will ich für den Radioworkshop, den ich an der New Yorker Universität besuche, einen Beitrag darüber machen und rufe meine Großmutter Helga in Wien an. Was war dein erster Eindruck von Amerika?, will ich wissen. »Es gab genug zu essen«, lautet ihre Antwort.

Ein paar Wochen später, an jenem kalten, sonnigen Tag im Jänner 2013, fahre ich nach Poughkeepsie: Ich will das Amerika sehen, dem meine Großeltern eine Chance geben wollten. Die einstige Industriestadt liegt am Hudson, der von zahlreichen Brücken überspannt wird. Ich sehe bunte, dreistöckige Häuser mit gepflegten Vorgärten, großzügige Grünflächen und viktorianische Anwesen. Heute leben viele Studenten in der Stadt. Poughkeepsie wirkt ein wenig verschlafen und ganz nett.

Ein paar Monate später erwähnt meine Mutter beiläufig, dass es ja noch Hansis Aufzeichnungen gebe. Ihr Vater, mein Großvater, starb 1996, als ich sieben Jahre alt war. In Erinnerung habe ich seine schwarzen Haare und die buschigen Augenbrauen. Seine Lesebrille trug er an einem Band um den Hals, sodass sie auf seinem Bauch auflag, den Helga stets zu groß fand, er aber liebevoll als »Backhendlfriedhof« bezeichnete. Wenn er zuhörte oder nachdachte, setzte er Daumen und Zeigefinger an seine Nasenflügel und fuhr die Falten links und rechts von Oberlippe und Mund entlang, bis sich die Finger am Kinn wieder trafen. Ich war mir sicher, dass er sich die beiden Falten durch die wiederholten Bewegungen selbst zugefügt hatte.

Mehr als hundert verschiedene Textdateien finde ich in dem Ordner, den mir meine Mutter nun schickt. Um 1986 hatte Hansi begonnen, über sein Leben zu schreiben. Vielleicht hatte ihn die Waldheim-Affäre, die eine Diskussion über Österreichs Mitschuld am Holocaust auslöste, dazu bewogen, seine Erfahrungen zu dokumentieren. Vielleicht wollte er seinen ersten eigenen Computer ausprobieren. Seit er damals in Poughkeepsie die Fabrik von IBM besucht hatte – er bezeichnete sie als »jene Firma, die die elektronischen Gehirne produziert« – und begeistert nach Wien schrieb, es bahne sich hier »eine industrielle Revolution an, von der bei uns noch nicht viel bekannt ist«, faszinierten ihn Computer.

Es vergehen Wochen, bis ich mir seine Texte ansehe. Ich möchte als Journalistin Fuß fassen und mich mit dem schnelllebigen Jetzt und nicht mit der Vergangenheit auseinandersetzen, über die man schon so viel gehört hat. Und außerdem kenne ich viele von Hansis Erlebnissen schon; oft wurden sie innerhalb der Familie erzählt.

Irgendwann lese ich sie doch.

 

 

DIE AUFZEICHNUNGEN MEINES GROSSVATERS

 

Über seine Kindheit erfahre ich bei Hansi wenig. Hauptsächlich beschreibt er seine jugendlichen Missetaten, denn die Schule interessierte Hansi kaum. 1931, mit knapp sechs Jahren, war er in die Volksschule in der Kleinen Sperlgasse im zweiten Wiener Bezirk gekommen. Von Anfang an schlechte Noten. Es war nicht die mangelnde Intelligenz, klagten die Lehrer, sondern Trotz und Unwillen, sich Autoritäten zu beugen. Fühlte er sich angegriffen, wurde er schnell wütend. Er wollte seine Freiheit zum Fußballspielen, um über Zäune zu klettern und die schmalen Seitengassen, versteckten Hinterhöfe und den Prater zu erkunden. Einer seiner Streifzüge führte ihn in das Kinderfreibad am Franz-Josefs-Kai, allerdings zu einer Tageszeit, zu der es geschlossen war. Hansi landete vor dem Jugendgericht und kam ohne Strafe davon. Ein anderes Mal wurde er beim unerlaubten Kicken im Park erwischt und auf der Polizeistation den Eltern übergeben.

Sein Verhalten, betont Hansi, sei keine Rebellion gegen die Eltern gewesen. Grenzen auszutesten verlockte ihn einfach. Er wusste, die Familie würde ihm nie den Zusammenhalt und die Liebe entziehen: »Sie haben geschimpft und gedonnert, aber sie waren immer verlässlich für uns da, und wir wussten immer, dass für uns familiäre Sicherheitsnetze gespannt waren.«

Hansis Eltern Rosa und Moritz Bustin führten ein Möbelgeschäft auf der Margaretenstraße im fünften Bezirk. Rosa hatte es als Mitgift in die Ehe gebracht. Den täglichen Betrieb regelte Moritz, der aus einer deutschsprachigen Familie im mährischen Uherský Brod stammte und nach dem Ersten Weltkrieg, in dem er an die Front musste, nach Wien gezogen war. Wie sich seine Eltern kennenlernten, geht aus Hansis Unterlagen nicht hervor. Als Hansi am 18. Oktober 1925 auf die Welt kam, waren Rosa und Moritz bereits zwei Jahre lang verheiratet. Im Jänner 1928 bekamen sie ein zweites Kind, Herbert.

 

 

Hansi und seine Eltern Moritz und Rosa Bustin, zirka 1930

 

Hansi beschreibt seinen Vater als charmant, ausgeglichen und heiter. Er trug seinen Schnurrbart stets sorgsam gepflegt. Von ihm hat Hansi nicht nur das schmale Gesicht, die schwarzen Haare und Augen und den südländisch anmutenden, olivfarbenen Hautton, sondern auch die Freude am Handwerk geerbt. Die Arbeit im Geschäft machte meinem Urgroßvater Spaß, er war geschickt und reparierte viel selbst. Zu Moritz’ Leidenschaften zählten Fußball und Fotografieren. Er dokumentierte die Familienausflüge in den Wienerwald, die Sommerfrische in Bad Vöslau, die beiden Söhne beim Spielen im Hof. Hansi nahm er manchmal zu Fußball-Länderspielen mit.

Meine Urgroßmutter, Rosa, war intelligent und interessiert, las Bücher und ging in Konzerte. Es gab Zeiten, in denen sie wenig sprach und in sich gekehrt schien, nachdenklich und ein wenig traurig. »Meine Mutter war das Gehirn der Familie«, schreibt Hansi. »Die Fronten waren vollkommen klar.« War es eine glückliche Ehe? Während der Sommerurlaube sei der Vater öfters nicht dabei gewesen, notiert Hansi. Er gab vor, sich um das Geschäft kümmern zu müssen, tatsächlich soll er Affären gehabt haben. Das erfuhr Hansi viele Jahre später von entfernten Verwandten. Stimmt es? Darüber gibt es keine Gewissheit.

Die Stimmung zuhause war jedenfalls harmonisch, erzählt Hansi, vor seinem Bruder und ihm stritten die Eltern nicht. Er vermutet, dass seine Mutter von den Fehltritten ihres Ehemanns nie erfuhr, sicher ist er sich aber nicht: »Als Kind kennt man seine Eltern nicht«, resümiert er.

Das Möbelgeschäft lief so gut, dass sich die Familie eine große Wohnung im zweiten Bezirk nahe der Innenstadt leisten konnte. Ich verlaufe mich, als ich die Adresse suche. Die Schöllerhofgasse ist nämlich wirklich eine Gasse, einspurig und kurz und nicht, wie es in Wien oft vorkommt, eine Straße, die zu Unrecht die Bezeichnung Gasse trägt. Sie liegt parallel zur Taborstraße, und ich bin erstaunt, wie nah sie Orten ist, die ich gut kenne. Gleich dort ist der Schwedenplatz mit der U-Bahnstation, auf dem sich rund um die Uhr Menschen tummeln. Ganz nah auch der Donaukanal mit der Uferpromenade, an der entlang ich oft spazieren oder laufen gehe. An einem Ende der Gasse befindet sich eine Wohnhausanlage, an deren Stelle bis zu seinem Abriss in den sechziger Jahren das zweistöckige Biedermeierhaus stand, in dem mein Großvater aufwuchs.

Mir fällt eine Geschichte ein, die mir meine Tante einmal erzählte: 1966, im Teenageralter, fuhr sie gemeinsam mit ihrem Vater, Hansi, zum Flughafen, um einen Bekannten abzuholen. Meine Tante saß auf der Rückbank des Autos, sie trug einen Beingips und hatte ihre Krücken neben sich. Auf der Autobahn wurden sie von einem anderen Fahrer geschnitten, woraufhin Hansi diesen bis zum Flughafen verfolgte, dort ausstieg, eine der Krücken wie einen Baseballschläger in die Hand nahm und sich drohend neben dem anderen Fahrzeug aufbaute. Der Fahrer reagierte dermaßen eingeschüchtert, dass Hansis Wut so schnell verflog, wie sie entstanden war. Ich betrachte den Ort, an dem er aufgewachsen war und den es nicht mehr gibt, versuche die Anekdote mit dem Bild, das ich als Kind von meinem freundlichen Großvater hatte, in Einklang zu bringen, und frage mich, ob ich meinen Großvater überhaupt gekannt habe – oder je verstehen können werde.

In der Wohnung in dem Haus, das nicht mehr steht, gab es ein Badezimmer mit fließendem Kaltwasser und einem hohen, kupfernen Badeofen, in den zwanziger Jahren seltene Neuheiten. Im geräumigen Vorzimmer spielten Hansi und sein Bruder Herbert Fußball; weil sich im darunterliegenden Stock das Lager einer Getreidefirma befand, beschwerte sich niemand über den Lärm. Eine Köchin versorgte die Familie, ein Kindermädchen passte auf Hansi und Herbert auf. Diese Arbeitsteilung war aber nicht konfliktfrei. Anscheinend mochte die Köchin die beiden Buben – oder sie wollte der anderen Frau das Leben schwermachen: »Da war ein ständiger Kleinkrieg um den Aufgabenbereich im Gange, den wir Kinder sehr genossen«, schreibt Hansi.

Die Familie pflegte einen engen Kontakt zu Rosas beiden Schwestern. Rosa, Hansis Mutter, war in Wien geboren und hatte ihre Mutter verloren, als sie und ihre eineiige Zwillingsschwester Frieda dreizehn Jahre alt gewesen waren. Ihre damals achtzehnjährige Schwester Sophie fühlte sich als älteste Frau im Haus für ihre Geschwister verantwortlich. Ihr Vater, der als Jugendlicher aus Polen nach Wien zugewandert war, Deutsch mit Wiener Dialekt sprach und sich mit Möbelgeschäften eine bürgerliche Existenz aufgebaut hatte, heiratete bald erneut. Die Abneigung gegen die Stiefmutter schweißte die Schwestern noch enger zusammen.

Genau wie Rosa bekamen auch Sophie und Frieda vom Vater Möbelgeschäfte als Mitgift. Beide befanden sich in Seitengassen der Landstraßer Hauptstraße, einer Geschäftsstraße im dritten Bezirk, nahe der Innenstadt. Die Kinder der Schwestern kamen in knapper Abfolge auf die Welt: Friedas Tochter war drei Jahre, Sophies Sohn zwei Jahre älter, ihre Tochter ein Dreivierteljahr jünger als Hansi. Fünf Kinder waren es insgesamt, die wie Geschwister aufwuchsen.

Jeden Sonntag traf sich die ganze Familie bei Hansis Tante Sophie, die als Älteste der drei Schwestern ganz selbstverständlich die Gastgeberin war. Sie aßen zu Mittag, dann spielten die Männer Rummy, mal im Wohnzimmer, mal in einem der Kaffeehäuser in der Umgebung. Die Schwestern redeten, die Kinder spielten. War das Wetter schön, unternahmen sie Ausflüge. Auch in den Schulferien fuhr meist die ganze Familie gemeinsam weg.

Als ich Hansis Erinnerungen an seine Kindheit lese, fällt mir auf, wie ähnlich sie meiner eigenen war. Mit meinen Cousinen und Cousins war ich beinahe ständig zusammen, oft ging ich nur zum Schlafen nachhause. Insgesamt sind wir elf Enkelkinder, von denen acht in Wien aufwuchsen. Nach und nach hatte die Familie auch die anderen Wohnungen des Hauses im neunzehnten Bezirk bezogen, in das meine Großeltern in den sechziger Jahren eingezogen waren. Meine Eltern und ich lebten einen Häuserblock davon entfernt. In der Wohnung meiner Großeltern hatte ich sogar ein eigenes Zimmer, in dem ich meine Hausaufgaben machte, wenn meine Eltern arbeiteten. Jeden Abend um halb sieben gab es Abendessen. Selten saßen weniger als acht Menschen um den Esstisch meiner Tante. Ruhe gab es im Haus fast nie.

Natürlich ist es kein Zufall, dass Hansis und meine Kindheit Parallelen aufweisen. Ihm war das Zusammenleben wichtig, und selten versäumte er eines der Abendessen. Stets saß er am selben Tischende. Nach jedem Essen schob er das Tischtuch ein Stück zur Seite und öffnete eine kleine Lade, die in den Tisch eingebaut war. Darin befanden sich seine Tabletten gegen Sodbrennen. Während ihn meine Großmutter streng anblickte und erklärte, er habe schon wieder zu viel und zu schnell gegessen, steckte er sich eine Kapsel in den Mund und spülte sie mit Wasser herunter.

Als ich nach New York ging, merkte ich, dass ich es nicht gewohnt war, allein zu essen. Zunächst fand ich das befreiend. Für mein Studium war ich ohnehin ständig unterwegs. So aß ich Bagels in der U-Bahn, Sushi auf der Parkbank und fertig angerichtete Salate aus dem Supermarkt, während ich in der Lobby des Institutsgebäudes hektisch einen Text in meinen Laptop tippte. Das war was anderes, als beim familiären Abendessen in Wien zu sitzen und mir das alltägliche Geplänkel anzuhören. Aber schon bald verlor sich dieser neuartige Reiz. Nein, nach Wien zurück wollte ich nicht, aber die gemeinsamen Abendessen fehlten mir. Warum gab es keine Technologie, die mich blitzschnell für ein paar Stunden an den Familientisch beförderte und dann wieder auf den Straßen von Manhattan ausspuckte?

 

 

EINE KINDHEIT IN WIEN: HANSI

 

Auf allen Kinderfotos sieht Hansi frech aus. Dunkle Haare, schmales Gesicht, schlaksige Figur. Er blickt stets aus dem Augenwinkel, ein wenig spöttisch, und scheint dabei abzuschätzen, wer ihm gerade zusieht. Auf einem dieser Fotos ist er etwa sechs Jahre alt, der kleine Bruder Herbert, vielleicht drei oder vier, hat sich bei ihm eingehängt. Beide tragen kurze Lederhosen mit bestickten Lätzen und darunter weiße Hemden. Hansi fällt eine Haartolle über die Augenbrauen, im Mundwinkel steckt ein Holzstück, das wie eine Pfeife aussieht. Seine Haltung ist aufrecht und selbstbewusst. Herbert blickt etwas unsicher in die Kamera.

Es ist nicht das einzige Foto, auf dem die Familie in Tracht zu sehen ist. Das verwundert mich zunächst. Ich hatte mich immer geweigert, solche Kleider zu tragen. Für mich standen Trachten für eine Identität, mit der mir nicht wohl war. Zu viel Stolz auf die eigenen Wurzeln, für die man ja nichts kann, und außerdem jede Menge konservatives Gedankengut. Sogenannte »Lederhosene« war in den dreißiger Jahren ein Synonym für illegale Nazis, und Trachtenfeste waren für sie ein beliebter Treffpunkt. Als ich das Foto von Hansi und Herbert entdecke, lese ich nach. Für viele, auch jüdische Stadtmenschen wie meine Familie, war es damals normal, sich für Ausflüge aufs Land so zu kleiden, erfahre ich. Wer es sich leisten konnte, fuhr auf Sommerfrische, und wer dort, zwischen Semmering und Salzkammergut, dazugehören wollte, trug die örtlichen Trachten. Wie identitätsstiftend diese Kleidung war, merkt man daran, dass es Juden bereits am 6. Juli 1938 verboten wurde, Trachten zu tragen – »zur Vermeidung der Gefährdung der öffentlichen Sicherheit«, weil es »unter der deutschen Bevölkerung berechtigten Unwillen auszulösen« drohte.

Einige Monate, nachdem ich das gelesen habe, im Sommer 2016, findet in meiner Nachbarschaft ein Kirtag statt. Normalerweise meide ich Veranstaltungen, auf denen es ein Gedränge gibt. Ich bin nicht gerade groß und lasse aus Angst, gerempelt zu werden, anderen den Vortritt, sodass ich nur mühsam vorankomme. Nun lebe ich aber seit kurzem wieder in Wien, und einige Freundinnen, die ich aus meiner Schulzeit kenne, wollen hin. Im Dirndl. Bin ich dabei? Auf einmal muss ich gar nicht mehr zögern. Hansi trug sein Leben lang gerne Lederhosen, meist am Wochenende, wenn er mit seinem Werkzeugkoffer durch das Haus ging und Reparaturen vornahm, da ein tropfender Wasserhahn, dort ein lockeres Scharnier. Bekleidung ist nur ein oberflächliches Erkennungsmerkmal. Ich ziehe das Dirndl an, es gehört meiner Cousine, sie hat es Jahre zuvor für eine Hochzeit in Salzburg gekauft. Ich bin mir nicht einmal sicher, aus welcher Region es stammt. Für mich steht es jetzt für meine eigene Geschichte.

Die Sache mit der Tracht sehe ich als Hinweis, wie selbstverständlich sich Hansis Familie als jüdische Österreicher gefühlt haben muss. Den zweiten Bezirk, ein schmaler Streifen Land zwischen Donau und Donaukanal, nannte man Mazzesinsel, weil dort so viele Juden lebten, dicht und weitgehend friedlich neben ihren nichtjüdischen Nachbarn. Zu den jüdischen Feiertagen wurden Gottesdienste in Kaffeehäusern gehalten. Im 17. Jahrhundert hatte sich hier in der Leopoldstadt eine Zeitlang das jüdische Getto befunden, bevor die Juden wieder aus der Stadt vertrieben worden waren. Das Gebiet lag außerhalb der Stadtmauern und war bis zur Donauregulierung in der Mitte des 19. Jahrhunderts sumpfig und ständig von Hochwasser bedroht. Als das Staatsgrundgesetz 1867 den Juden beinahe völlige gesetzliche Gleichstellung einräumte, wurde Wien zu einem Zentrum des jüdischen Lebens, das Menschen aus dem gesamten Habsburgerreich anzog. Mit dem Ersten Weltkrieg kamen Flüchtlinge aus Galizien und der Bukowina. Als meine Urgroßeltern heirateten, lebten mehr als 200.000 Juden in der Stadt. Etwa jeder zehnte Wiener war jüdisch. Auch in New York waren zehn Prozent der Bevölkerung jüdisch, als ich 2012 hinzog.

Nach Hitlers Machtergreifung in Deutschland 1933 flohen zahlreiche deutsche Juden ins Nachbarland. Viele Juden sympathisierten mit dem christlichen Einparteienstaat, zu dem Österreich 1934 wurde. Er schien, verglichen mit den Nazis, das kleinere Übel zu sein. Juden genossen zudem Religionsfreiheit und bürgerliche Rechte. Mit dem neuen System war auch der Religionsunterricht wieder verpflichtend geworden. Nur so, schreibt Hansi, erfuhr er, welche seiner Freunde in der Volksschule in der Kleinen Sperlgasse auch Juden waren, weil er sah, wer mit ihm jede Woche in die Synagoge ging und sich durch den Hebräischunterricht quälte, Inhalte, die Hansi fremd waren. Bis auf seinen Großvater, der kein Schweinefleisch aß und im Vorstand einer Synagoge saß, war das Judentum im Familienleben nur ein paarmal im Jahr präsent, ähnlich wie auch in meiner Kindheit. Wie viele assimilierte Familien feierten sie die wichtigsten Festtage zweier Religionen: das jüdische Neujahr und den Versöhnungstag Jom Kippur im Herbst, Weihnachten und Chanukka im Winter, Ostern und Pessach im Frühjahr.

Im Herbst 1935 wechselte Hansi von der Volksschule auf ein öffentliches Gymnasium in der Radetzkystraße im dritten Bezirk. Hansis Cousin besuchte es bereits, auch dessen jüngere Schwester sollte im Jahr nach Hansi dort eingeschult werden. Vielleicht hofften die Eltern, dass es dort besser laufen und Hansi endlich gute Noten nachhause bringen würde, um später einmal studieren zu können. Aber nein. Einige Wochen nach Schulbeginn gelang es Hansi sogar, in einem Krankenhaus die zuständigen Ärzte zu überzeugen, seine unverletzte rechte Hand einzugipsen, sodass er von Hausaufgaben befreit war. Wenig verwunderlich, dass man ihm bald nahelegte, eine akademisch weniger anspruchsvolle Schule zu wählen. »Am 6. Mai 1936 ausgetreten«, war in einer säuberlichen Handschrift auf seinem Katalogblatt vermerkt, das mir eine Lehrerin im Archiv zeigte. Hansi wechselte in eine vierjährige Hauptschule, eine Enttäuschung für die Familie. Warum er so knapp vor Schuljahresende gegangen war, steht nicht auf dem vergilbten Papier. Auch in Hansis Aufzeichnungen finde ich dazu nichts, und niemand in der Familie kann mir weiterhelfen. Waren es wirklich nur die Noten – im Halbjahreszeugnis hatte er kein einziges »sehr gut«, »genügend« in Naturgeschichte, Mathematik und Sprachen –, oder gab es einen anderen Vorfall? Ich wüsste das gerne genauer, denn das Dreivierteljahr auf der Radetzkyschule sollte sein Leben prägen. Doch nicht zum ersten Mal gibt es niemanden mehr, der mir das erzählen kann.