Vollständige eBook-Ausgabe der Hardcoverausgabe

© 2018 arsEdition GmbH, Friedrichstraße 9, 80801 München

Alle Rechte vorbehalten

Text: Gina Mayer

Cover- und Innenillustrationen: Gloria Jasionowski

Das Projekt wurde vermittelt durch Literaturagentur Arteaga.

ISBN ebook 978-3-8458-2922-7

ISBN Print 978-3-8458-2575-5

www.arsedition.de

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Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Sie haben Ihr Ziel erreicht!

Pizza und Frisbee

Der Bote

Kein Zutritt für Gäste!

Alles geht schief

In Seenot

Das doppelte Fräulein Apfel

Der gefangene Traum

Hausbesuche

Kim Lavendel

Auf Albtraumfang

Jenny

Bennys Geheimnis

Die Autorin

Leseprobe zu "Das Hotel der verzauberten Träume - Annabells Tagebuch"

Sie haben Ihr Ziel erreicht!

»Wo ist denn das Meer?«, fragte Papa. »Es müsste doch längst zu sehen sein. Der Club liegt direkt am Strand, haben die geschrieben.«

»Warte mal, bis wir um die Kurve da vorn sind«, sagte Mama. »Dann sehen wir es bestimmt.« Ihre Hände umklammerten das Lenkrad. Die Straße, auf der wir fuhren, wurde immer schmaler und holpriger. Und die Büsche, die zu beiden Seiten des Weges wuchsen, wurden immer riesiger. Ein großer Zweig peitschte gegen die Windschutzscheibe. Papa zuckte zusammen, Mama schrie erschrocken auf und hätte um ein Haar das Steuer herumgerissen.

»Ich glaub, wir sind total falsch.« Mein Bruder Lancelot hatte sein Handy sinken lassen, auf dem er gespielt hatte, seit wir vor über viereinhalb Stunden von zu Hause losgefahren waren.

»Unsinn. Das Navi sagt, dass wir gleich da sind.« Jetzt hatten wir die Kurve erreicht. Und tatsächlich – dahinter lag das Meer. Blau und weit und wunderschön erstreckte es sich bis zum Horizont. Nur ein Ferienclub war nirgends zu sehen. Stattdessen stand da ein schiefes Haus, dessen Wände über und über mit Kletterrosen bewachsen waren. Obendrauf saß ein buckliges Dach, das aussah wie ein alter Filzhut.

»Na, das kann es ja wohl nicht sein«, sagte mein Vater im selben Moment, in dem das Navi verkündete: »Sie haben Ihr Ziel erreicht.«

»Bitte was? Das ist doch nie und nimmer der Holiday-Beach-Club Superior.« Meine Mutter stellte den Motor ab.

»Ist es auch nicht.« Ich zeigte auf das krumme Holzschild, das neben unserem Wagen stand. Darauf stand in Schnörkelschrift:

Mama schnappte ihr Handy aus der Mittelkonsole und wischte auf dem Bildschirm herum. »Ich check noch mal die Buchung«, sagte sie. »Hier ist die Adresse. Holiday-Beach-Club Superior, Strandweg 8, Karbotz. Genau wie ich es eingegeben habe.«

»Nicht ganz.« Papa starrte auf das Display des Navigationsgeräts. »Du hast Korbutz eingegeben.«

»Hab ich nicht.« Mama warf einen genervten Blick auf das Navi. Dann erstarrte sie. »Oh.«

»Hast du doch.« Mein Bruder hatte die Adresse auf seinem eigenen Handy gegoogelt. »Karbotz und Korbutz sind 400 Kilometer voneinander entfernt. Karbotz liegt an der Nordsee, wir sind an der Ostsee. Wir sind komplett in die falsche Richtung gefahren.«

»Zeig her.« Meine Mama beugte sich nach hinten und nahm ihm das Handy aus der Hand. Stirnrunzelnd starrte sie auf die Karte, die er aufgerufen hatte. Sie hasste es, einen Fehler zuzugeben. Dabei lag es auf der Hand. Wir hatten uns total verfahren.

»Ich wusste es«, murmelte ich. »Es war alles zu schön, um wahr zu sein.«

Sonst verbrachten wir unsere Sommerferien immer bei Oma Lore auf dem Land, aber in diesem Jahr hatte Papa fünf Bilder verkauft, deshalb konnten wir uns etwas ganz Besonderes leisten.

Unsere Eltern hatten zum ersten Mal einen richtigen Traumurlaub gebucht: zwei Wochen in einem exklusiven Ferienclub am Meer. Lancelot und ich hatten uns die Homepage bestimmt zweihundert Mal angeguckt: Im Holiday-Beach-Club Superior gab es eine riesige Indoor-Pool-Landschaft mit künstlichem Korallenriff, eine zwanzig Meter hohe Kletterwand und eine Bungee-Jumping-Anlage. Man konnte Tauchen, Bowlen, Bogenschießen, Ponyreiten, Fallschirmspringen und Feuerspucken lernen. Für Gäste war alles umsonst, das Schwimmen, Tauchen und Klettern, aber auch die Drinks und Leckereien, die es in der Anlage gab.

Lancelot freute sich besonders auf das Feuerspucken und ich auf das Tauchen. Und auf das Ponyreiten und Bogenschießen. Eigentlich auf alles. Ich bin echt gut im Freuen. Mama und Papa müssen das bereits geahnt haben, als ich geboren wurde, denn sie haben mich Joëlle getauft. Das ist Französisch und heißt Freude. Und unser Nachname ist auch noch Fröhlich!

Mein Aussehen passt auch ganz gut zu meinem Namen. Ich habe viele Sommersprossen, die mir nicht nur auf der Nase, sondern auch auf der Stirn und auf den Armen herumtanzen. Und meine blonden Locken springen in alle Richtungen.

Bei meinem Bruder hatten meine Eltern damals keinen so guten Riecher. Der erste und echte Lancelot war nämlich ein Ritter und Held, aber mein Bruder ist leider weder ritterlich noch heldenhaft. Er kann nicht mal reiten, geschweige denn fechten.

»Das kann doch nicht wahr sein«, sagte Papa. »Sag, dass das nicht wahr ist, Silke.«

»Nun mach doch nicht so ein Drama«, erklärte meine Mutter gut gelaunt. »Wir sind einen kleinen Umweg gefahren. Na und?«

»Wir sind 400 Kilometer von unserem Ziel entfernt.« Papas Stimme bebte. Er wurde selten wütend, aber jetzt war er es. »Weil du das Navi falsch programmiert hast.«

»Aber schau dich doch mal um!«, sagte Mama. »Findest du es nicht zauberhaft? Wir bleiben eine Nacht hier. Und morgen geht es mit frischem Schwung nach Karbitz.«

»Du meinst Korbitz«, sagte Papa.

»Karbotz!«, korrigierte Lancelot.

Aber meine Mutter war schon ausgestiegen, atmete tief durch und reckte und streckte sich. »Herrlich! Ich fühl mich jetzt schon erholt!«

Papa sah dagegen kein bisschen erholt aus.

Ich blickte mich um. Der Wind strich sanft durch das Dünengras und die Sonne spiegelte sich im unendlichen Meer. Es war wirklich schön hier. Aber Lancelot und ich hatten uns wie verrückt auf das riesige Büfett im Beach-Club gefreut und danach wollte ich zum Mitternachtsschwimmen und Lancelot ins 3D-Kino. Und nun verpassten wir den ersten Abend und den ganzen ersten Tag und mussten dafür in einem Null-Sterne-Hotel übernachten. So ein Mist!

»Hoffentlich haben die noch Zimmer frei!« Mama marschierte mit großen Schritten auf das Haus zu. Sie blieb stehen, als ein Dackel um die Hausecke stürmte und laut bellend auf sie zurannte. Vor ihren Füßen ließ er sich auf den Rücken fallen und streckte alle viere in die Luft.

»Na, du bist ja ein toller Wachhund.« Mama bückte sich und streichelte ihn am Bauch. »Wo ist denn dein Frauchen?«

Das war ein bisschen dumm von ihr, der Dackel konnte natürlich nicht sprechen. Er winselte nur enttäuscht, als Mama sich wieder aufrichtete und zur Haustür ging. Dann rannte er sofort zu mir und Lancelot. Wir hatten gerade angefangen, ihn zu streicheln, als wir Mama erschrocken schreien hörten.

Pizza und Frisbee

Papa rannte als Erster ins Haus, um Mama zu retten. Lancelot und ich stürmten hinterher und der Dackel folgte uns.

Als wir den Vorraum betraten, blieb mir fast das Herz stehen. Direkt neben der Tür thronte ein riesiger Adler auf einem Podest. Er hatte schwarzes Gefieder, nur sein Kopf und sein Hals waren weiß. Die runden gelben Augen über dem spitzen, gebogenen Schnabel fixierten uns böse. Aber im Gegensatz zu mir hatte Papa überhaupt kein bisschen Angst vor ihm.

»Na, alles klar, alter Knabe?«, fragte er nur und stupste ihn mit dem Zeigefinger in die Federn.

»Nicht, Papa!«, schrie ich erschrocken und zerrte ihn am Ärmel weg. Lancelot lachte laut.

»Haha, bist du doof, Joëlle. Der ist doch ausgestopft.«

»Ich bin auch drauf reingefallen«, gab Mama zu. »Aber er sieht ja auch total lebendig aus. Genau wie die Gans da drüben.«

Die ausgestopfte Gans bemerkte ich erst jetzt. Sie stand neben der Hintertür und starrte uns mit glitzernden Augen an.

»Du siehst ja genauso aus wie unser letzter Weihnachtsbraten.« Lancelot war zu ihr gegangen und streckte die Hand aus, um sie am Schwanz zu zupfen.

Aber nun war er es, der erschrocken aufschrie. Die Gans reckte nämlich plötzlich den weißen Hals nach vorn, riss den Schnabel auf und zischte ihn wütend an. »Chchchchchch!«

Vor Schreck machte Lancelot einen Satz zur Seite, verlor das Gleichgewicht und plumpste zu Boden.

Die Gans hörte auf zu zischen, dafür schnatterte sie laut und wütend und schlug mit den Flügeln. Neben mir fing der Dackel wieder zu bellen an, er kläffte wie verrückt, und zu allem Überfluss begann jetzt auch noch das uralte Telefon zu klingeln, das auf dem kleinen Rezeptionstischchen stand.

»DINNNNGDRINNGDRINNNGGGGG!!! HAFFFAAFFFAFFAFFFAFFF! NACKNACKNACKNACKNACK!« Der Lärm war ohrenbetäubend.

»Rückzug!«, brüllte Papa. »Nichts wie weg hier!«

Aber bevor Lancelot sich hochrappeln konnte, sprang die Hintertür auf und eine kleine dicke Frau stürmte in den Raum. Sie hielt einen Besen im Arm wie ein Gewehr, ihre Locken standen in alle Richtungen ab und ihre runden, roten Wangen glühten.

»Wenn ihr nicht augenblicklich Ruhe gebt, jag ich euch alle zum Teufel«, rief sie wütend. »Ich schwör’s!«

Die Gans und der Dackel verstummten abrupt. Die Frau marschierte zum Telefon und hob den riesigen geschwungenen Hörer von der Gabel. Stille. Wir atmeten alle auf.

»Hallo?«, sagte die Frau in den Hörer. »Um Mitternacht? Alles klar.« Als sie auflegte, fiel ihr Blick auf Lancelot, der immer noch auf dem Boden saß, und dann bemerkte sie den Rest der Familie.

»Guten Tag«, sagte Papa. »Sorry für die Störung, aber wir …«

»Ach du liebe Zeit.« Die Frau stellte den Besen nun zur Seite und rang ihre Hände. »Sie sind doch nicht etwa … Gäste?«

»Na ja.« Papa räusperte sich. »Wir wollten tatsächlich fragen, ob sie vielleicht noch ein Zimmer …«

»Nur für eine Nacht«, sagte Mama hastig.

»Gäste.« Ein glückliches Lächeln breitete sich in dem runden Gesicht aus. »Das ist ja fantastisch. Herzlich willkommen!«

Sie breitete die Arme aus, und einen Moment sah es so aus, als wollte sie Lancelot, der sich gerade wieder aufgerappelt hatte, an ihren dicken Busen drücken. Hastig verzog er sich hinter Mamas Rücken.

»Entschuldigen Sie bitte das Chaos«, sagte die Frau. »Dornröschen und Agathe sind unmöglich.«

»Dornröschen?«, fragte ich.

»Agathe?«, fragte Lancelot.

»Dornröschen ist der Dackel«, erklärte die Frau. »Und die Gans heißt Agathe. Ich bin Fräulein Apfel.«

»Und wie heißt dieser komische Vogel?«, fragte Lancelot und deutete auf den ausgestopften Adler neben der Tür.

»Das ist Jupiter«, sagte die Frau. »Er bewacht unsere Geheimnisse. Aber jetzt zu Ihnen. Verraten Sie mir Ihre Namen?«

»Henry Fröhlich«, stellte mein Vater sich vor. »Meine Frau Silke und unsere Kinder Lancelot und Joëlle.«

»Lancelot und Joëlle!«, jubelte Fräulein Apfel. »Das sind ja zauberhafte Namen.«

Lancelot, der seinen Namen hasste, verzog nur sein Gesicht.

»Sie müssen sich unbedingt gleich in unser Gästebuch eintragen«, sagte Fräulein Apfel. »Du liebe Zeit, ich bin ja so aufgeregt. Zwei Doppelzimmer, genügt ihnen das?«

»Perfekt«, sagte Mama.

Während sie die Anmeldung ausfüllte, löcherte Fräulein Apfel uns mit Fragen. Sie wollte einfach alles wissen. Wie alt ich und Lancelot waren (zehn und zwölf), was wir am liebsten aßen (Pizza), wo wir wohnten (Berlin) und was meine Eltern beruflich machten (Mama ist Yogalehrerin, Papa ist Maler).

»Yoga!«, rief Fräulein Apfel. »Das wollte ich schon immer mal lernen. Und Maler trifft sich gut. Sie müssen sich die Zimmer im Dach anschauen, die müssen dringend gestrichen werden. Vielleicht können Sie uns ja einen Tipp zur Farbe geben.«

»Klar«, sagte Papa. »Obwohl – eigentlich male ich Bilder.«

Ein Künstler! Das fand Fräulein Apfel noch viel besser.

»Ich bin schrecklich neugierig, ich weiß«, sagte sie, als sie uns den Schlüssel für unsere Zimmer gab. »Aber hier passiert ja so wenig.«

Doch das war die Untertreibung des Jahrhunderts, wie sich bald herausstellen sollte.

Zum Abendessen gab es für die Erwachsenen irgendwas Ekliges mit Gemüse und Salat und für uns Kinder Pizza.

Mama und Papa waren hin und weg von ihrem ekligen Essen, und die Pizza war auch super, obwohl sie nicht aufgebacken, sondern frisch zubereitet worden war.

»Kompliment an den Koch. Es schmeckt super!«, sagte Papa, als Fräulein Apfel an unseren Tisch trat, um nachzusehen, ob alles okay war. Hinter ihr watschelte Agathe aus der Küche. Als sie uns sah, schnatterte sie vergnügt. Sie hatte wohl kapiert, dass wir keine Einbrecher waren.

»Der Koch bin ich. Vielen Dank.« Fräulein Apfel strich sich strahlend über ihre grüne Schürze.

»Wo ist denn Dornröschen?«, fragte ich.

»Ach, die treibt sich irgendwo rum«, sagte Fräulein Apfel.

»Agathe ist ja sehr anhänglich«, bemerkte Mama.

»Allerdings.« Fräulein Apfel nickte. »Sie hält mich für ihre Mutter. Ich war nämlich dabei, als sie aus dem Ei geschlüpft ist. Und Gänse glauben, dass das Erste, was sie sehen und was sich bewegt, ihre Mutter ist. So langsam müsste ihr allerdings auffallen, dass wir ganz anders aussehen.« Sie streichelte Agathe über den Kopf. »Wie gefallen Ihnen die Zimmer?«, erkundigte sie sich dann.

»Traumhaft«, sagte Mama.