Vollständige eBook-Ausgabe der Hardcoverausgabe München 2018

© 2018 arsEdition GmbH, Friedrichstraße 9, 80801 München

Alle Rechte vorbehalten

Text: Gina Mayer

Cover- und Innenillustrationen: Gloria Jasionowski

Das Projekt wurde vermittelt durch Literaturagentur Arteaga.

ISBN ebook 978-3-8458-2923-4

ISBN Print 978-3-8458-2576-2

www.arsedition.de

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Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Schöne Ferien

Bitte ein bisschen lauter!

Gruselgeister

Das geheimnisvolle Buch

Annabells Geschichte

Falsch verbunden!

Nachtwache

Jupiter junior

Das Haus in den Dünen

Zombie-Tanz

Blau-gelbes Dunstmistelgarn

Einbrecher

Der Bittermahr

Die Autorin

Leseprobe zu "Das Hotel der verzauberten Träume - Fräulein Apfels Geheimnis"

Schöne Ferien

»Nun mach doch nicht so ein Gesicht, Joëlle!«, rief Kim. »Die Sonne scheint, das Meer ist blau, es könnte nicht besser sein!«

Kim war der Vater von meinem Freund Benny und mein Segellehrer. Mein Kurs hatte erst vorgestern begonnen und ich hatte jetzt schon die Nase voll.

Gleich am ersten Tag waren wir in einen schrecklichen Sturm geraten und mir war total schlecht geworden. Hinterher hatte Kim gesagt, dass das Ganze gar kein Sturm war, sondern nur eine kleine Turbulenz, und das machte die Sache auch nicht besser.

Am zweiten Tag – also gestern – sollte ich ein Seil am Mast anbinden und hatte den Knoten nicht richtig festgezogen. Er löste sich wieder, und das Segel flat terte wie verrückt herum und hätte mich ins Meer gefegt, wenn Kim mich nicht festgehalten hätte. Dabei hätte es mir überhaupt nichts ausgemacht, über Bord zu gehen. Es regnete nämlich die ganze Zeit in Strömen und ich war ohnehin nass bis auf die Knochen.

Heute schien die Sonne wieder, aber meine Laune war trotzdem im Keller. Mein Bruder Lancelot und Benny durften schon allein segeln, ihre Jolle hüpfte vergnügt über die Wellen. Und Lancelot und Benny hüpften vergnügt über das Deck, sie schienen genau zu wissen, welches Seil sie wann wo wie festbinden und wieder losmachen mussten. Dabei segelten die beiden doch auch erst seit ein paar Tagen! Wieso kapierten die alles so schnell und ich nicht?

»Wie wäre es, wenn du heute mal das Ruder übernimmst?«, schlug Kim vor.

Das Ruder war das Steuer – auf einem Segelschiff haben alle Dinge möglichst abwegige Namen, um die Segelschüler zu verwirren – und war ganz hinten im Boot untergebracht. Die Bedienung war recht einfach. Wenn man nach links wollte, musste man die Ruderpinne nach links schieben, und wenn man sie nach rechts drückte, segelte die Jolle nach rechts. Das würde sogar ich schaffen. Dachte ich.

»Wir segeln erst mal geradeaus, aufs Meer«, sagte Kim.

Ich ließ die Pinne also in der Mitte stehen und nutzte die Gelegenheit und winkte zum Strand hinüber, wo Mama und Papa im Sand saßen. Um sie herum jagte Dornröschen Strandfliegen. Dornröschen war der Dackel von Fräulein Rose, und Fräulein Rose war eine der beiden Besitzerinnen des Traum-Hotels, in dem wir unsere Ferien verbrachten.

Mama und Papa winkten zurück, und Dornröschen kläffte laut und hopste auf eine Möwe zu, die ein paar Meter neben ihr gelandet war. Der Vogel wartete, bis der Dackel ihn fast erreicht hatte, dann flatterte er einen Meter weiter. Dornröschen bekam vor Enttäuschung fast einen Herzinfarkt.

»Pass auf, Joëlle!« Ein gellender Schrei riss mich aus meiner Dackelbetrachtung. Ich fuhr herum und sah Lancelots und Bennys Jolle, die direkt vor unserem Kiel herumdümpelte. Wo kam die denn so plötzlich her?

»Backbord, Joëlle!«

Bevor ich darüber nachdenken konnte, ob backbord links oder rechts bedeutete, hatte sich Kim auf das Ruder gestürzt und riss es nach links. Unser Schiff segelte haarscharf an Lancelots und Bennys Jolle vorbei.

»Das ist gerade noch mal gut gegangen.« Kim wischte sich den Schweiß von der Stirn. Sein Gesicht war vor Aufregung fast so rot wie sein Bart und seine Haa re. »Du darfst doch nicht träumen, Joëlle. Segeln ist kein Kinderspiel!«

Das hatte ich inzwischen auch begriffen. Und dass es kein Vergnügen war, wusste ich auch.

»Ich glaub, es hackt!«, schrie mein Bruder zu mir rüber. »Du hättest uns fast umgebracht, Joëlle! Wie blöd kann man eigentlich sein?«

Benny sagte nichts, aber man sah ihm an, dass er das Gleiche dachte oder zumindest etwas Ähnliches.

»Ist ja schon wieder gut«, rief Kim zurück. »Alles im grünen Bereich.«

Doch da täuschte er sich. Bei mir war nichts im grünen Bereich, ich kochte vor Wut. Ich war sauer auf meinen Bruder und auf diese bescheuerte Jolle und auf die blöde Segelei.

Ich zog meine Schuhe aus und schleuderte einen nach Backbord und einen nach Steuerbord. Und dann sprang ich über Bord.

Eigentlich hatte ich mit einem eleganten Kopfsprung ins Meer tauchen wollen, aber leider blieb ich mit einem Fuß an der Reling hängen.

Deshalb landete ich mit einem fürchterlichen Bauchplatscher auf den Wellen und ging unter wie ein Stein.

»Alles okay, Joëlle?«, schrie Kim, als ich wieder auftauchte.

Alles bestens, wollte ich antworten, doch ich schluckte so viel Wasser, dass ich nur ein Röcheln hervorbrachte. Es war aber auch egal, diese Antwort hätte mir eh keiner abgenommen.

Hustend schwamm ich zum Strand, wo mich Dornröschen mit begeistertem Gebell begrüßte.

»Was willst du denn schon hier?«, fragte Papa erstaunt. »Die Segelstunde hat doch erst angefangen.«

»Für mich ist sie aus«, sagte ich. »Und zwar für immer.«

Vielleicht war es ja doch eine blöde Idee gewesen, dass wir unseren Urlaub im Holiday-Beach-Club Superior abgesagt hatten und die Ferien stattdessen im Null-Sterne-Hotel von Rose und Linde Apfel verbrachten, auf das wir vor zwei Wochen durch einen puren Zufall gestoßen waren.

Das Traum-Hotel – wie die beiden Zwillingsschwestern es nannten – hatte nur ein paar Zimmer und lag nahe am Meer hinter den Dünen unweit des Städtchens Korbutz. Lancelot und ich waren am Anfang total sauer gewesen, als wir hier gestrandet waren. Aber dann hatten wir schnell herausgefunden, dass es in Korbutz kein bisschen langweilig war, sondern ziemlich spannend. In dem niedlichen kleinen Hotel ging es nämlich nicht mit rechten Dingen zu.

Die Apfel-Schwestern waren Traumfängerinnen. Überall in der Stadt hingen ihre selbst gebastelten magischen Traumfänger und sammelten die Albträume der Bewohner ein. Die Zwillinge zogen die bösen Träume dann aus den Netzen heraus (wie das genau ging, wollten sie nicht verraten) und schickten sie zur Trauminsel, wo sie so lange behandelt wurden, bis sie besänftigt waren und man sie wieder freilassen konnte (wer die Träume auf der Trauminsel behandelte und wie man sie besänftigte, darüber schwiegen sich die Schwestern ebenfalls aus).

Das war aber noch nicht das Verrückteste an der ganzen Geschichte. Der absolute Hammer war, dass sich bei dem Abenteuer herausstellte, dass ich, Joëlle Fröhlich, eine Traumdeuterin bin.

Ich habe die Gabe, die Träume anderer Menschen in mich aufzunehmen, als wären es meine eigenen. Und ich kann gefangene Träume befreien und verlorene Träume an ihre Besitzer zurückgeben.

Angeblich kann ich mit meinen Fähigkeiten auch Menschen helfen. Aber wie das gehen soll, davon habe ich keinen blassen Schimmer. Denn immer wenn Lancelot und ich versuchten, die Apfel-Schwestern auszuquetschen, flitschten sie uns durch die Finger wie ein Stück Seife.

Ich weiß nur, dass es auf der Welt nur ganz, ganz wenige echte Traumdeuter gibt. Lancelot und Benny gehörten nicht dazu und die Apfel-Schwestern selbst auch nicht.

Fräulein Rose und Fräulein Linde konnten die Träume nur einfangen, aber nicht lesen. Deshalb hatten die beiden Schwestern jahrelang sehnsüchtig auf einen Traumdeuter gewartet, der ihnen bei ihrer Arbeit half.

Nun könnte man meinen, dass sie mich mit offenen Armen empfangen hätten und ich ab sofort alle Hände voll zu tun gehabt hätte. Aber so war es überhaupt nicht. Die Zwillingsschwestern erzählten mir so gut wie gar nichts über ihre Geheimnisse, obwohl ich natürlich darauf brannte, alles zu erfahren.

»Es ist zu gefährlich«, sagten sie nur, wenn ich sie beschwor, mir mehr über die Sache zu verraten. »Und du bist noch so jung. In ein paar Jahren werden wir dich nach und nach in alles einweihen, hab noch ein bisschen Geduld.«

Geduld! Das ist nun wirklich nicht meine stärkste Tugend. Wenn ich irgendwo anrufe, werde ich schon ungeduldig, wenn es öfter als einmal klingelt, bevor jemand drangeht. Und nun sollte ich Jahre warten, bevor ich mehr über meine eigene magische Gabe erfuhr?

Es gab einen einzigen Lichtblick: Fräulein Rose hatte nämlich mehr oder weniger aus Versehen ausgeplaudert, dass der magische Weißkopfadler, der die extrahierten Albträume aus dem Traum-Hotel zur Trauminsel brachte, immer in den Vollmondnächten auftauchte.

Seitdem fieberten Lancelot und ich dem nächsten Vollmond entgegen. Wir hatten uns geschworen, dass wir den Boten auf jeden Fall beobachten würden, um mehr über die Traumdeuterei herauszufinden.

Allerdings schien mein Bruder die Sache total vergessen zu haben. Seit er zum ersten Mal auf Kims Jolle gestiegen war, redete er jedenfalls nur noch vom Segeln.

»Was machst du denn für ein mürrisches Gesicht?«, fragte Mama, als ich mich neben sie in den Sand fallen ließ. »Die Sonne scheint, das Meer ist blau, es könnte doch nicht besser sein!«

Nun reichte es aber! Ich schoss wieder hoch, wie von einem Sandfloh gestochen.

»Was ist denn jetzt los?«, fragte Papa.

»Ich geh zurück ins Hotel«, erklärte ich wütend. »Da scheint wenigstens keine Sonne. Und das blaue Meer sehe ich auch nicht.«

Ich würde den Rest des Tages auf meinem Zimmer verbringen. Und zwar schweigend. Das hatten sie nun alle davon, dass sie so blöd zu mir waren.

Bitte ein bisschen lauter!

Ich stürmte mit gesenktem Kopf den kleinen Trampelpfad entlang, der zum Traum-Hotel emporführte. Und weil ich nur auf meine nackten Füße starrte, prallte ich fast mit der Frau zusammen, die mir entgegenkam.

»Hoppla!«, rief die Frau. »Du hast es aber eilig!« Sie war sehr groß und ziemlich dick, und ich hatte sie schon mal gesehen, aber ich erinnerte mich nicht, wo.

»Entschuldigung«, sagte ich, obwohl ich mir gerade geschworen hatte, dass ich den ganzen Tag kein Wort mehr sagen würde.

»Was macht dein Artikel für die Schülerzeitung, Joy?«, fragte die Frau.

Und nun erkannte ich sie wieder. Es war die Pastorin von Korbutz, Frau Lieblich. Lancelot und ich hatten sie vor Kurzem kennengelernt, als wir nach dem Besitzer eines verlorenen Traums gesucht hatten.

»Joëlle«, korrigierte ich. »Der Artikel ist fertig.«

»Joëlle!«, wiederholte Frau Lieblich. »Genau. So ein fröhlicher Name.«

Joëlle ist nämlich Französisch und bedeutet Freude. Und unser Nachname ist auch noch Fröhlich. Normalerweise passt das auch super zu mir, ich bin echt gut im Freuen. Nur heute war ich kein bisschen fröhlich.

Das stellte auch Frau Lieblich fest. »Du siehst aber gar nicht besonders glücklich aus«, sagte sie. »Dabei scheint die Sonne doch so schön und das Meer …«

»Ich weiß«, unterbrach ich sie. »Ich muss jetzt leider weiter. Ich hab was im Hotel vergessen.«

»Natürlich«, sagte Frau Lieblich. »Aber wo ich dich gerade treffe, kann ich dir ja auch was sagen. Heute gibt’s eine Girls’ Night im Gemeindehaus.«

»Was ist das denn?«

»Das ist eine Übernachtung nur für Mädchen.« Frau Lieblich zwinkerte mir verschwörerisch zu, als habe sie mir gerade ein Wahnsinnsgeheimnis verraten. »Wir singen und machen Spiele und danach gibt es eine tolle Nachtwanderung. Und morgen gehen wir zusammen ans Meer und haben Spaß.«

Sie strahlte vor Stolz über ihr ganzes rundes Gesicht. »Das klingt doch gut, oder?«

»Klar«, log ich. Das waren alles Sachen, die ich ohnehin schon jeden Tag machte. Bis auf die Nachtwanderung natürlich. Na ja, und Spaß hatte ich in den letzten drei Tagen eher weniger gehabt, wenn ich mal ehrlich war. Und wenn es so weiterging, dann würde das für den Rest des Urlaubs auch so bleiben. Lancelot und Benny wären bestimmt die ganze Zeit auf dem Meer und ich konnte mich allein langweilen.

»Wäre das nichts für dich?«, fragte Frau Lieblich. »Du siehst aus, als könntest du ein bisschen Abwechslung gebrauchen.«

Wo sie recht hatte, hatte sie recht. Das gab ich aber nicht zu, sondern zuckte nur mit den Schultern.

»Kannst es dir ja mal überlegen«, sagte die Pastorin. »Wir treffen uns um sechs im Pfarrheim. Bring einen Schlafsack und Waschzeug mit. Und Badesachen. Es wird bestimmt super!«

So ein Quatsch, dachte ich, während ich wütend weiterstürmte. Eine Übernachtung im Pfarrheim mit lauter Mädchen, die ich nicht kannte. Das konnte ja nur in die Hose gehen. Nie und nimmer würde ich mich darauf einlassen.