Text © Katelyn Erikson, 2018

Cover & Umschlaggestaltung: Marie Grasshoff, www.marie-grasshof.de

Lektorat: Libri melior, Michael Weyer

Satz & Layout: Grittany Design, www.grittany-design.de

ISBN: 978-3-96111-497-9

© GedankenReich Verlag, 2018
Alle Rechte vorbehalten.


Vergangenheit

Logan, jetzt halt endlich still.«

Wiederstrebend sah er an sich herab, während seine Mutter an seiner Kleidung zog. Es widerstrebte ihm, all diese Frauen kennenzulernen. Ginge es hierbei nicht um seine geliebte Mutter, so wäre er längst verschwunden und hätte sich irgendwo anders zurückgezogen.

Potentielle Gefährtinnen. Wie er diese zwei Wörter hasste. Er hatte sie bereits zu häufig gehört und zu oft war er enttäuscht worden, weil die Richtige nicht dabei gewesen war.

Sein innerer Wolf entschied sich strikt gegen jede Frau, die dem Mann in ihm gefiel. Ein innerer Konflikt zwischen Bestie und Gott. Drei Bälle hatte er bereits hinter sich gebracht.

Drei Chancen, die er frustriert verstreichen lassen musste, weil der Wolf in seinem Inneren darauf beharrte, auf die passende Gefährtin zu warten.

Weshalb sollte sich ausgerechnet dieses Mal etwas ändern? Es würde nicht anders verlaufen, auch wenn sich seine geliebte Mutter, Göttin und Königin Sinah immerzu bemühte, neue junge Frauen zu Hofe zu laden.

»Mutter, beruhige dich doch. Es ist nur ein Ball.«

»Nur ein Ball? Womöglich begegnest du genau heute deiner Traumfrau. Ich möchte nicht, dass du sie abschreckst, indem du aussiehst wie ein Landstreicher.«

»Es gibt genügend anderer Gründe, weshalb sie abgeschreckt sein könnte.« Bei dieser Aussage erntete Logan einen bösen Blick, den er mit einer Unschuldsmiene quittierte.

Sanft ergriff er ihre zitternden Hände und fing den Blick ihrer meeresblauen Augen auf. Augen, die den seinen so fremd waren. In ihren Augen erkannte Logan den Himmel, das Wasser, das Leben, während in seinen eigenen eine tiefe Finsternis herrschte, die von Jahr zu Jahr präsenter wurde. Das Einzige, das Logan von seiner Mutter geerbt hatte, war die dunkelblonde Mähne. Seine tiefgrünen Augen hatte er von dem Mann geerbt, den er in all den Jahrhunderten noch nicht ein einziges Mal gesehen hatte.

»Ich bin müde, Mutter. Es wird auch dieses Mal keine passende Frau zugegen sein.« Noch während er die Worte aussprach, wusste er, dass es ein Fehler war.

Königin Sinah zog eine Augenbraue empor und neigte den Kopf in der bereits vertrauten Art, die bedeutete, dass Logan den Kampf bereits verloren hatte. »Komm mit, mein Schatz.« Mit lieblicher Stimme bat sie ihren Sohn neben sich, als sie sich auf das Fensterbrett seines Gemachs sinken ließ. Ihr Blick glitt in die Ferne ihres Reiches. Selbst unter den Göttern regierte Sinah als Königin und lebte entsprechend im Schloss des Landes.

»Es gibt keine Garantie, dass wir heute erfolgreich sein werden, Loren Gandriel.« Sie sah auf, als sich ihr Sohn widerstrebend zu ihr gesellte. »Du bist etwas Besonderes. Du bist der Sohn deines Vaters und hast keinen Grund dazu, dich für seine Gene zu schämen. Ich möchte das Beste für dich. Ich sehe dir an, wie der Wolf in deinem Inneren zu rebellieren beginnt. Er sehnt sich nach seiner Partnerin und wird unruhig. Dasselbe hat dein Vater damals durchlebt, bevor wir einander kennengelernt haben«, erklärte sie mit einem Lächeln. Logan erkannte in ihren Augen die sehnsuchtsvolle Vergangenheit.

»Mutter, dieses Gespräch haben wir bereits unzählige Male geführt. Ich weiß, dass die Eine irgendwo dort draußen ist und auf mich wartet, jedoch wird sie heute Abend nicht hier sein. Ich spüre es. Sie ist keine schlichte Göttin, die zum Bankett geladen werden kann. Sie ist etwas Besonderes. Jemand Wundervolles, so wie du.«

Sinah entwich ein sanftes Lachen. »Ich habe dich gut erzogen, dass du so über mich denkst.« Lächelnd ergriff sie seine Hand und drückte diese zärtlich. »Du wirst sie finden, da bin ich mir sicher. Doch wir müssen sämtliche Möglichkeiten ausschöpfen, die uns geboten werden, mein Schatz. Jeden einzelnen Tag müssen wir nach ihr Ausschau halten, bevor es zu spät ist und der Wolf in deinem Inneren die Kontrolle übernimmt. Bitte versprich mir, dass du mir Bescheid geben wirst, wenn der Kampf zu schlimm wird.«

Logan entzog ihr die Hand, nickte jedoch stumm. Würde es dazu kommen, dann würde seine Mutter ihn in einen tiefen Schlaf legen müssen. Einen Schlaf, der erst durch die Berührung seiner Gefährtin erweckt werden konnte. Es erinnerte ihn an ein altes Märchen, jedoch war es dieses Mal nicht die Prinzessin, die gerettet werden musste, sondern der Prinz. »Ich werde ehrlich zu dir sein. Das war ich immer, Mutter.« Bei ihrem Blick fiel es ihm schwer, nein zu sagen. Diese unendliche Trauer und der Kummer, den er ihr seit einigen Jahren bereitete, mussten bald ein Ende finden.

Mit einem schweren Seufzer trat er an den Spiegel und betrachtete die weiße Uniform. Er hätte schwarz bevorzugt, jedoch wirkte schwarz abweisend und kühl, wie es sein Innerstes war. Sinah wollte jedoch, dass ihr Sohn offen und fröhlich erschien. Einladend und auch ein wenig umwerbend.

»Die Uniform beginnt bereits zu spannen.« Sinah war hinter ihren Sohn getreten und zupfte kritisch an dem Stoff an seiner Schulter. »Du trainierst zu viel.«

»Das war dein Rat. Kompensation, erinnerst du dich?«

»Ich weiß.« Sie fuhr die goldenen Verzierungen über dem weißen Stoff entlang. Gold durfte nur ein reinblütiger Gott tragen. »Ich kann dir jedoch nicht jedes Mal, wenn wir vor einem Ball stehen, die Uniform neu schneidern lassen.«

»Dann lass es mit den Bällen und ich brauche keine Uniform mehr.« Logan grinste schelmisch, während seine Mutter ihm in die Seite knuffte.

»Werd ja nicht frech.«

»Das würde ich nie wagen, Mutter.« Obwohl Sinah es nicht beabsichtigte, fühlte sich Logan unter Druck gesetzt. Jeden Tag erhoffte sich die Königin, dass ihr Sohn eine Partnerin fand und jeden Tag enttäuschte er sie von Neuem. Die beißende Angst, ihren Anforderungen nicht gerecht zu werden, beunruhigte ihn.

»Sei einfach offen für eine Beziehung. Du musst es zulassen, damit es funktionieren kann. Nicht dass du ihr bereits begegnet bist und es einfach nur nicht gesehen hast.«

Das war gewiss nicht geschehen. Sein innerer Wolf hätte die Eine sofort erkannt und aufbegehrt. Die Schwierigkeit war, dass Logan noch nicht einmal wusste, wie er handeln sollte, wenn er die Eine fand. Dank seinem inneren Wolfsgott gelang es ihm nicht, eine Frau näher an sich heranzulassen. Seine Mutter war die Einzige, die der Wolf tolerierte. Würde Logan auch nur einen Augenblick unachtsam sein, würde er die Kontrolle verlieren. Sein Wolf würde dann eine eigene Party feiern und die würde nicht ohne ein Blutbad enden.

Doch ob es heute groß anders werden würde? Ob er ausgerechnet heute die passende Frau fand? So groß der Wunsch danach auch war, so groß war die Angst vor einer Zurückweisung.

»Komm mit. Wir müssen den Ball eröffnen.«

Mechanisch folgte Logan seiner Mutter. Sie schritten durch das halbe Schloss, bis sie endlich den Ballsaal erreicht hatten. Während sie eine Rede hielt und ihre Gäste willkommen hieß, sah Logan sich unauffällig um. Zahlreiche Frauen waren erschienen. Junge Göttinnen, denen er zum größten Teil noch nicht begegnet war. Alles Frauen, die mit ihm reden und tanzen würden. Frauen, die Interesse hegten, weil er ein reinblütiger Gott war und Macht repräsentierte.

Nachdem seine Mutter geendet hatte, kam es, wie es kommen musste. Ein Tanz folgte dem nächsten, ein belangloses Gespräch dem anderen. Künstliches Lächeln, hervorgehobene Brust und übertriebenes Lachen bei jedem seiner Worte.

Dass er nicht zum Scherzen aufgelegt war und ihn dieses ohrenbetäubende Quietschen immer weiter reizte, bemerkte niemand.

Je nerviger die Frauen wurden, desto häufiger stahl sich Logan davon, um sich selbst zu beruhigen und dazu zu ermahnen, weiterhin Ausschau zu halten. So vieles würde er lieber tun, als weiterhin hierzubleiben und sich von nervösen Frauen auf die Füße treten zu lassen.

»Loren Gandriel? Seid Ihr das?«

Unauffällig stieß Logan die Luft aus. Er war gerade erst der Tanzfläche entkommen. Was waren diese Weiber? Blutegel, die sich irgendwo an ihm festgesaugt hatten?

Bemüht fröhlich wandte er sich mit einem charmanten Lächeln der jungen Göttin zu. In dem Moment, in dem er in diese bernsteinfarbenen Augen sah, verblasste jeder Unmut. Die zu einem betörenden Lächeln verzogenen Lippen, die zarten, unscheinbaren Grübchen und dann erst dieser Duft … Logan wusste nicht, was sie ausstrahlte, jedoch war da definitiv etwas. Der Duft benebelte seine Sinne und zog ihn näher zu dieser Frau, die ihn mit einem verführerischen Augenaufschlag stärker in den Bann zog.

»Ich bin Lana.«

Welch schlichter und doch schöner Name. Er passte zu ihr. Logan hatte Schwierigkeiten, ihr nicht sämtliche Stoffe vom Leib zu reißen und sie auf der Stelle zu der Seinen zu machen. Ihre Hand ergreifend und einen Kuss auf ihren Handrücken drückend, trat er benebelt näher und verbeugte sich. »Loren Gandriel. Höchst erfreut. Nennt mich gern Logan.«

Weshalb bot er ihr seinen Kosenamen an? Bislang war es niemandem – bis auf seiner geliebten Mutter – gestattet, ihn so zu nennen. Doch allein die Vorstellung, wie diese sinnlichen Lippen seinen Namen stöhnten, erregte ihn. Wie er sich kontrollierte, wusste er im Nachhinein nicht, jedoch verflog die Zeit und damit auch unzählige Tänze. »Wer bist du?«

»Das sagte ich doch längst. Ich heiße Lana.«

Doch Logan schüttelte den Kopf. »Nein, ich meinte damit, woher du stammst, wer deine Familie ist, was dich ausmacht.«

Ihr Lächeln wurde breiter. »Das ist gerade nicht von Bedeutung.« Sie schob ihre Hand von seiner Schulter hinab über seine Brust.

Logan spannte seine Muskeln an, in der Hoffnung, ihr zu imponieren, während sich sein Innerstes immer weiter zusammenzog, je tiefer ihre Hand glitt.

»Lass uns irgendwo hingehen, wo wir unsere Ruhe haben«, bat sie mit einem verheißungsvollen Blick. Ihre Hand blieb unterhalb seines Bauchnabels liegen. Wie sehr wünschte er sich, sie würde tiefer greifen.

Für einen Moment spürte er den Blick seiner Mutter auf sich. Logan war geneigt, zu ihr zu sehen, jedoch widerstand er dem Drang und ergriff stattdessen Lanas Hand. Stumm führte er sie in eines der privaten Gemächer, die sich im oberen Stockwerk befanden. Die meiste Zeit bewohnte Logan dieses Schloss allein, da seine Mutter über Aegeria, einem menschlichen Land, regierte, während er ihre Geschicke in Kalani, dem Reich der Götter, übernahm.

Als sie in einem seiner Gemächer ankamen, blieb Logan stehen und wandte sich Lana zu. Jung, attraktiv und anscheinend auch intelligent. Was wollte ein Mann mehr? Bei dieser Frage verzogen sich seine Lippen zu einem diabolischen Grinsen. Ihm würde so einiges einfallen, was Mann wollte.

Für einen kurzen Moment kamen Zweifel in ihm auf. Der Wolf rührte sich nicht. Weder im negativen noch im positiven Sinne. Es war beinahe so, als wäre er nicht bei Bewusstsein. Noch ehe Logan dem näher nachgehen konnte, presste Lana ihre Honiglippen auf die seinen. Ihr verlockender Duft ließ ihn alles vergessen. Sämtliche Anspannung wich von seinen Schultern. Willenlos ließ sich Logan berühren, bis es in seinem Kopf Klick machte. Schlagartig versteiften sich seine Muskeln. Er riss Lana herum und presste ihren Busen gegen die nächste Wand. Ihr leises Jauchzen ignorierend, griff er in ihr Haar und zog ihren Kopf in den Nacken, um von der Seite besser an ihren Hals zu gelangen, den er mit Lippen und Zunge liebkoste.

Aufstöhnend griff sie nach hinten und ertastete seine harte Erektion, die sie durch den Stoff seiner Hose massierte. Knurrend rieb Logan seine Hüfte an ihrer Handinnenfläche, während er neckende Bisse auf ihrer Schulter hinterließ. Erst als ihre Hand unter den Stoff der Hose griff, realisierte Logan, was er soeben tat. Er fuhr zusammen und wich zurück. Er kannte diese Frau nicht. Wie könnte er bereits jetzt das Bett mit ihr teilen, wo sie doch eine Fremde für ihn war? Benommen fasste er sich an den Kopf und wandte sich ab, bereit zu gehen, als Lanas Stimme ihn zurückhielt.

»Bleib. Bitte.«

Er wollte gehen und dem viel zu süßen Duft ihres Körpers ausweichen, der unnatürlich stark zu sein schien.

»Sieh mich an.«

Er wollte gehen und doch lockte ihn diese Stimme. In dem Moment, in dem sich Logan umdrehte, fiel Lanas Kleid raschelnd zu Boden. Sein Blick glitt über ihren Körper, doch er empfand … nichts. Absolute Leere. Die Erektion, die er soeben noch gehabt hatte, war schlagartig gewichen. Irritiert über seinen plötzlichen Sinneswandel, runzelte Logan die Stirn, bis ihm etwas auffiel. Jetzt, wo er Lana nicht mehr direkt gegenüberstand, war ihr Duft schwächer geworden.

»Man munkelt, du seist noch unberührt. Stimmt das?« Sie schien nichts von seinem inneren Wandel zu bemerken. Stattdessen begab sich Lana zum Tisch, auf dem sie sich niederließ. Dass ihr Duft dadurch noch schwächer wurde, schien sie nicht zu bemerken. »Ich gehöre dir. Dir allein.« Verführerisch spreizte sie ihre Beine und auch wenn dies tatsächlich der erste Frauenkörper war, den Logan bislang nackt gesehen hatte, ließ ihn der Anblick kalt.

Aphrodisiakum.

Nur dadurch war es überhaupt zu dieser Situation gekommen. Zu der körperlichen Nähe, zu dem Verlangen. Mit jedem Schritt, den Logan auf diese Frau zutrat, wurde ihr Duft stärker. Sein Geist drohte, einzunebeln, jedoch war er dieses Mal darauf vorbereitet.

Das aufkommende Verlangen ignorierend, hob Logan die Hand und fuhr scheinbar zärtlich über Lanas Hals, bis er zupackte. »Du dachtest wirklich, du könntest mich überlisten.« Seine Lippen verzogen sich zu einem bestialischen Grinsen. Seine Augen nahmen den animalischen Glanz des Wolfes an, der mit einem Mal in ihm erwacht war und die Kontrolle übernahm. »Du wirst es bereuen, mich je angesehen zu haben, du hinterlistige Zirkelhexe.« Eine Frau, geschickt vom Hohen Rat. Eine Hexe, getarnt als Göttin. Welch Verschwendung.

Aus Logans Fingernägeln wurden zentimeterlange Krallen, die sich tief in den Hals der jungen Frau bohrten. Noch bevor ihr ein Schrei hätte entweichen können, durchtrennte er mit einem Zug ihre Stimmbänder. Hass glomm in Logans Augen, während die Hexe nach Luft schnappte und ihn mit panischem Blick flehend ansah.

Gnade. Sie erhoffte sich tatsächlich Gnade. Er sah es ihr an. Die Angst vor dem Tod. Doch die würde es nicht geben. Stattdessen riss er sie zu Boden und stürzte sich mit einem wütenden Knurren auf sie, als sie versuchte auf allen vieren davonzukommen. Niemals würde er sie jetzt gehen lassen. Er würde ihr zeigen, was es bedeutete, einen Gott zu erzürnen und ihn für die eigenen Zwecke zu benutzen.

Immer wieder riss er an ihrem Körper, während sich seine Seele über sie legte und verhinderte, dass sie starb. Jeden Fetzen Haut, den er ihr entriss, konnte sie spüren. Jedes einzelne Haar, das er büschelweise herausriss, hinterließ eine Welle der Schmerzen bei ihr.

Erst als nicht mehr als ein blutiger Knochenhaufen übrig war, ließ Logan von ihr ab. Wann sie trotz seiner Magie durch den Tod erlöst worden war, wusste er nicht. Er wusste nur eines: Ein weiteres Mal würde er sich nicht derart reinlegen lassen. Erst recht nicht von solch einem dummen Weibsbild.

»Logan? Liebling?«

Erschrocken fuhr er zusammen. Die Krallen zogen sich zurück, die goldenen Wolfsaugen wurden wieder grün.

»Was hast du nur getan?«

Bekümmert sah Logan an sich herab. Sein helles Hemd war ruiniert. Auch an seiner Hose und seinen Schuhen klebten Blut und Muskelfetzen. Zitternd hob er seine Hände an und blickte verstört auf das tiefe Rot, welches bereits an einigen Stellen anfing zu trocknen.

»Wer war das?« Sinah trat in das besudelte Zimmer. Selbst die Wände waren blutbefleckt, ebenso die Tür, die Sinah mit einem Wink magisch schloss.

»Mutter, ich … Es tut mir leid. Ich habe die Kontrolle verloren.« Zerknirscht ließ Logan den Kopf hängen. Er fühlte sich in seine Kindheit zurückversetzt. Damals hatte er viele Streiche gespielt und war regelmäßig von seiner Mutter zurechtgewiesen worden, schließlich war er einer aus den Reihen der Reinblütigen und keiner der normalen Götter.

»Ganz ruhig.« Ihre Augen zeigten Sorge, jedoch keine Verärgerung. »Es ist nichts geschehen, wofür du dich rechtfertigen müsstest.«

Ungläubig sah Logan zu Lana oder zumindest zu dem, was von ihr übrig war. Wenn seine Mutter das dort als nichts bezeichnete, wollte er nicht wissen, was dann etwas Schlimmes sein sollte.

»Ich wollte dich warnen, jedoch warst du bereits fort. Wir haben einige Ratsmitglieder gefasst, die gemeinsam mit dem Hohen Rat der Hexen gegen uns agiert haben. Dabei ist herausgekommen, dass diese reizende junge Frau der Lockvogel war. Ich wollte dich warnen, jedoch hast du offensichtlich selbst herausgefunden, wer sie in Wirklichkeit war.«

Logan schloss die Augen. Er könnte es einfach hinnehmen und zustimmen. Er könnte behaupten, dass er allein deswegen den Tod dieser Frau zu verschulden hatte, jedoch war er niemand, der seine eigene Mutter belog. »Ich habe sie aus gekränktem Stolz getötet, Mutter. Der Wolf in mir ist erwacht und hat die Führung übernommen. Mal wieder.« Er wagte es kaum, zu ihr aufzublicken. »Als ich herausgefunden habe, dass sie Aphrodisiakum benutzt hat, wurde ich so unfassbar wütend.«

»Und deswegen hast du sie ermordet.« Sinah schlussfolgerte richtig. Statt ihren Sohn zur Kontrolle zu mahnen, trat sie zu ihm und umfasste sanft sein blutverschmiertes Gesicht. »Du bist alles, was ich habe. Ich werde mich um das hier kümmern. Niemand wird ihr Verschwinden mit dir in Verbindung bringen, das verspreche ich dir.«

Logan nickte benommen. Trotz allem, was geschehen war, hielt seine Mutter noch immer zu ihm, statt ihn zu verurteilen und dazu zu nötigen, in den magischen Schlaf zu wechseln, bis die Erwählte ihn berührte und den Wolf erweckte. »Du bringst dich selbst in Schwierigkeiten. Sollte es herauskommen, dass du mich gedeckt hast, dann wird man dich verstoßen.« Logan rieb sich über den Nacken, während er seine Mutter besorgt musterte. »Was hast du vor?«

Die Farbe ihrer Augen wurde dunkler, während sich ihre Lippen zu einem Lächeln verzogen. »Ich werde es aussehen lassen, als wäre sie mit einem meiner Bediensteten durchgebrannt.«

Als Logan bewusst wurde, was sie da sagte, stieß er ein leises Knurren aus. »Du kannst nicht einfach jemanden umbringen, nur um mich zu schützen.«

Das Lächeln auf den Lippen seiner Mutter verschwand. »Ich würde alles dafür tun, um meinen Welpen zu schützen. Absolut alles, Loren Gandriel. Vergiss das niemals und unterschätze deine alte Mutter nicht. Ich habe mehr Tricks auf Lager, als du denkst.«

Es war ungewohnt für Logan, seine Mutter derartig kalt zu sehen. Doch jeder Gott trug eine grausame Seele mit sich. Selbst sie stellte keine Ausnahme dar.


Nachdem sich Elenya angezogen hatte, ging sie zu der Stelle, an der Brandon gerade noch gewesen war. Sosehr sie ihn auch hasste, so sehr sehnte sie sich zurück in die Zeit, in der das zwischen ihr und Brandon harmonisch und vertrauensvoll gewesen war. Sie würde ihm zu gerne Vertrauen entgegenbringen und sich auf seinen Deal einlassen. Jedoch wusste sie längst nicht mehr, wer er war und wozu er fähig war. Doch diese Zeit war vorbei. Vieles hätte sie ihm verzeihen können, aber nicht den Mord an Logan.

Etwas auf dem Boden zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. Als Elenya sich bückte und danach griff, erkannte sie, dass es sich um einen Lederrucksack handelte. Neugierig öffnete sie diesen und fand darin Schuhe, wie sie die Frauen aus dem Dorf getragen hatten. »Brandon, du Schwachkopf.«

Bedrückt musste sie wenig später feststellen, dass er sie noch immer besser kannte, als sie gedacht hatte. Außer es war bloß ein Zufall, dass Brandon ihr Schuhe besorgt hatte, die wie angegossen passten. Zwar bezweifelte Elenya, dass es in dieser Welt ein ähnliches System in Bezug auf Schuhgrößen gab, dennoch glaubte sie nicht an Zufälle. Nicht, wenn es um Brandon ging.

Wenn sie wüsste, was er von ihr wollte und zu wem er sie führen würde, hätte sie sich auf seinen Deal einlassen können. So jedoch war es zu heikel. Er könnte das Schlimmste von ihr verlangen und aufgrund des Blutschwurs wäre sie noch nicht einmal dazu in der Lage, ihm seinen Wunsch abzuschlagen.

Aber welche Optionen waren ihr geblieben? Sie könnte hierbleiben und versuchen, zu überleben, aber es würde sie irgendwann in den Wahnsinn treiben. Eine andere Option wäre, dass sie versuchte, sich einzugliedern. Auf ihren Wandertouren war sie auf mehrere Dörfer gestoßen, denen sie sich womöglich anschließen könnte. Da gab es jedoch ein winziges Problem – sie beherrschte die Sprache nicht. Die Menschen würden misstrauisch werden. Die letzte Option war Brandon. Sollte er ihr wirklich die Art von Hilfe verschaffen können, die sie brauchte, dann würde sie einen großen Schritt weiterkommen. Die Problematik bezüglich der Gegenleistung bestand zwar, jedoch war die Option, weiterhin nichts zu tun, schlimmer. Es galt demnach, den Weg zu wählen, der ihr den größten Vorteil bringen würde und der war Brandon. Hätte er sie umbringen wollen, hätte er es bereits getan.

Wie hieß es so schön? Behalte deine Freunde nahe bei dir, deine Feinde noch näher. Blieb nur noch die Frage, wie sie Brandon finden sollte.


In den darauffolgenden Tagen suchte Elenya erfolglos nach Brandon. Sie rief seinen Namen, schickte Arkas los und wartete, doch es geschah nichts. Rein gar nichts.

Nach drei Tagen gab sie die Suche auf. Er könnte sonst wo sein und bevor sie das Risiko einging, sich zu verlaufen, würde sie lieber ausharren und darauf hoffen, dass er zurückkehrte.

Frustriert öffnete Elenya die drei obersten Knöpfe ihres Kleides. Sie wollte das Kleid waschen und sich ein sauberes anziehen. Gerade als sie das Kleid über den Kopf ziehen wollte, erklang ein anerkennender Pfiff hinter ihr. Erschrocken zog sie ihr Kleid über ihren Körper und starrte ungläubig zu Brandon, der sich tatsächlich traute, in ihrer Quelle zu baden, während sie verzweifelt nach ihm suchte.

»Ich hätte nichts dagegen, wenn du dich zu mir gesellen würdest, aber ich dachte mir, dass ich vorher auf mich aufmerksam machen sollte.« Er begrüßte sie mit einem verschmitzten Grinsen. Der Blick, mit dem er ihren Körper musterte, sprach Bände.

»Was tust du hier? Ich suche schon den ganzen Tag nach dir«, entfuhr es ihr gereizt. »Raus aus meiner Quelle!«

»Seit wann ist das hier deine Quelle? Ich habe hier nirgendwo ein Schild mit deinem Namen gefunden.«

»Brandon!«

»Schon gut, schon gut. Dein Wunsch sei mir Befehl.«

Während er lachend aufstand, fragte sich Elenya, warum genau sie ihn gesucht hatte. Vielleicht, weil sie ihn hatte umbringen wollen. Als er sie provokant angrinste und eine Augenbraue hochzog, musterte Elenya ihn genauer … und erstarrte. Er war nackt. Splitterfasernackt und stand einfach da, ohne die geringste Andeutung zu machen, dass er sich anziehen wollte.

»Gefällt dir der Anblick?«, fragte er zuckersüß und brachte sie zum Erröten.

Es war eine Kombination aus Wut und Scham, die in ihrem Inneren um die Oberhand kämpften. In diesem Fall gewann die Scham. »Zieh dich gefälligst an. Ich warte.« Damit drehte sie sich um und knöpfte sich im Gehen das Kleid wieder zu. Sie hörte, wie sich hinter ihr das Wasser in Bewegung setzte. Schritte erklangen und kamen direkt auf sie zu. Ohne darüber nachzudenken, fuhr Elenya herum und ließ ihre Hand mit dem Schwung ihrer Drehung auf Brandons Wange schnellen. Sie staunte nicht schlecht, als er ihre Hand einfach abfing und sie charmant von oben herab anlächelte.

»Na, na, das macht eine Lady doch nicht.«

Hatte er das gerade ernsthaft gesagt? Während er ihr Handgelenk festhielt und ihr mit feuchter, heißer und nackter Haut gegenüberstand? »Habe ich dir nicht gesagt, dass du dich anziehen sollst?«

»Ich wollte dir noch eine letzte Gelegenheit geben, meinen knackigen Hintern zu begutachten. Gern auch etwas anderes.« Lachend ließ er ihr Handgelenk los und wich einem neuen Schlag aus, ehe er in aller Ruhe seine Kleidung zwischen zwei Felsspalten herauszog.

Er legte es darauf an, dass sie ihn nackt sah. Glaubte er wirklich, dass sie schwach werden würde? Nun gut, sie musste zugeben, dass er einen Apfelhintern hatte, jedoch hegte sie keine romantischen Gefühle mehr für ihn. Auch wenn sie es noch tun würde, würde es der Seelenbund weiterhin nicht gestatten, dass sie von einem anderen als Logan berührt werden konnte.

»Ich habe gehört, dass du nach mir gerufen hast. Wie kann ich der holden Maid zu Diensten sein?«

»Hör auf, so geschwollen zu sprechen.« Er machte es ihr wirklich schwer, ihn nicht pausenlos anzuschreien. »Warum hast du nicht reagiert, wenn du mich doch hast rufen hören?«

Brandon zuckte gelassen mit den Schultern, während er in seine Hose stieg. »Es hat Spaß gemacht, dich warten zu lassen. Du sahst richtig süß aus, als du verzweifelt zu flehen angefangen hast.«

»Ich habe nicht gefleht!«

»Leugne es ruhig.«

Als er ihr auch noch zuzwinkerte, hätte sie ihn wieder umbringen können, jedoch beherrschte sie sich und atmete stattdessen tief durch. Sie brauchte schließlich seine Hilfe und nicht umgekehrt. »Ich will mit dir über dein Angebot sprechen.«

»Nimm es an oder lass es bleiben. Ich verhandle nicht neu und wenn, dann nur zu meinen Gunsten.« Gelangweilt fuhr Brandon sich durch sein nasses Haar und musterte Elenya intensiv.

Ihr war zuvor nie aufgefallen, wie leuchtend seine Augen waren. Regelrecht fesselnd. »Ich nehme es an, aber nur unter einer Bedingung.«

»Bin nicht ich in der Position, Bedingungen zu stellen, Teuerste?«

Elenya ignorierte sein freches Grinsen und kämpfte mit ihrer Selbstbeherrschung, diesen Mann nicht einfach zu erschlagen. »Ich werde nichts tun, was jemandem schadet, der mir etwas bedeutet.«

Brandon neigte den Kopf zur Seite und betrachtete sie amüsiert. Sie glaubte bereits, dass er ablehnen würde, als er nickte. »Einverstanden. Kein Schaden an denen, die dir etwas bedeuten. War das alles oder können wir endlich über die wichtigen Dinge reden?« Überrumpelt davon, dass er einfach zustimmte, nickte Elenya. »Fein!« Brandon schlug die Hände zusammen. »Dann brauchen wir nur noch einen kleinen Blutschwur, der unseren Pakt bekräftigt, und dann können wir auch schon los.« Mit einem Wink seiner Hand tauchte eine Tasche auf.

Erstaunt beobachtete Elenya, wie er sich in den Schneidersitz sinken ließ und den Inhalt der Tasche auf der Wiese auskippte. »Wie hast du das gemacht?«

Er ignorierte ihre Frage und begann zu summen. Sie erkannte das Lied Probier’s mal mit Gemütlichkeit von Balu aus dem letzten Disney-Film, den sie gemeinsam als glückliches Paar gesehen hatten.

Das Dschungelbuch.

»Es gibt nicht viel zu beachten. Komm her und setz dich zu mir.« Brandon stellte eine leere Schale vor sich und gab eine gelbliche Flüssigkeit hinein, bevor er zu ihr aufsah und ungeduldig eine Augenbraue hob.

Widerstrebend setzte sich Elenya und ließ Brandon dabei keinen Moment aus den Augen. Mit einem Lächeln auf den Lippen streute er ein seltsames rotes Pulver in die Schale, bevor er einen Dolch hervorholte und sich in die Hand schnitt. Als er ihr den Dolch hinhielt und sie nicht reagierte, gab Brandon ein ungeduldiges Schnauben von sich und ergriff einfach ihre Hand. Bevor Elenya reagieren konnte, schnitt er ihr in den Finger. »Hey!«

»Du bist zu langsam.« Als er ihr keck zuzwinkerte, verdrehte sie nur genervt ihre Augen. »Tunk deinen Finger in die Schale und vermisch alles gründlich.«

Es widerstrebte Elenya, ihren blutenden Finger in diese Brühe zu stecken. Sie könnte sich sonst was einfangen, besonders jetzt, wo sich auch Brandons Blut darin befand. Was man nicht alles für ein paar Informationen tat. Zögernd steckte Elenya ihren Finger in die Schale und rührte das Blut mit dem Pulver zusammen, bis ein klebriger Brei entstand.

»Das reicht.«

Auf diese Bestätigung hatte sie gewartet. Schnell zog sie ihre Hand zurück und wischte sich den Finger am Kleid sauber.

»Das hier gibst du nun Arkas zum Fressen.«

»Wie bitte?« Elenya riss ungläubig die Augen auf.

»Wenn du deinen Schwur brichst, wird er sterben. Es ist eine Art Versicherung für mich, dass du wirklich das tun wirst, was ich von dir verlangen werde. Die Bedingungen haben wir bereits geklärt und sie sind uns beiden bekannt. Der Blutschwur weiß das und wird nur dann aktiv, wenn er gebrochen wird. Das ist alte Magie. Tu es oder lass es. Ich bin nicht auf dich angewiesen, sondern du auf mich. Vergiss das nicht.« Auf seine Erinnerung hätte sie verzichten können. »Ich habe nicht ewig Zeit. Ich kann mich nur wiederholen. Mach es oder lass es bleiben. Das hier ist deine letzte Chance. Noch einmal werde ich nicht herkommen. Also?«

Tränen brannten in Elenyas Augen. Mit einem lauten Klatschen verpasste sie Brandon eine Ohrfeige und verspürte eine grimmige Genugtuung darüber, dass er den Schlag dieses Mal nicht abgefangen hatte. Ihre Hand brannte, seine Wange vermutlich auch. Ein leiser Schmerz, der sie miteinander verband und doch voneinander trennte. »Ich werde alles tun, was du von mir willst. Dann wird Arkas nichts passieren, richtig?«

Brandon nickte. »Richtig.«

»Fein.« Es widerstrebte ihr, dass sie ausgerechnet Arkas in diese Sache mit hineinziehen musste. Er, der ihr als Letzter geblieben war. Doch so schwer es ihr auch fiel, sie würde es tun. Arkas würde nichts geschehen, solange sie sich an die Spielregeln halten würde, und komme was wolle, das würde sie. »Wenn Arkas von der Jagd zurück ist, werde ich es ihm geben.«

»Du kannst dich schon mal umziehen. Ich warte hier auf dich.« Brandon blickte sie unergründlich an. Ob er bereits plante, für welches kranke Spiel er diesen Schwur ausnutzen wollte?

»Du hast mir nichts zu befehlen«, fauchte Elenya ihren Ex an, ehe sie sich nach oben in die Höhle begab und das dreckige Kleid gegen ein sauberes austauschte.

Es verging seine Zeit, bis Arkas von der Jagd zurückkehrte und kaum, dass er Brandon sah, zog er knurrend die Lefzen hoch und setzte zum Angriff an.

Der massige Leib bewegte sich schnell und geschmeidig und setzte gerade zum Sprung an, als Elenya mit einem lauten »Halt« dazwischensprang und Arkas gerade noch so an seinem Angriff hinderte. »Noch nicht«, flüsterte sie und sah verstohlen über die Schulter zu Brandon, der gelassen an dem Felsen lehnte und scheinbar in den Himmel sah. »Wir brauchen ihn noch.«

Arkas quittierte ihre Worte mit einem abfälligen Knurren. Es sollte zeitgleich als Warnung an Brandon dienen und ihn daran erinnern, dass der Wolf nicht vergessen hatte, wer er war und ihm entsprechend nicht traute.

Für einen Moment blieb Elenya bei Arkas stehen und streichelte ihn, bis sich sein Nackenfell wieder gelegt hatte, bevor sie schweren Herzens zu der Schale neben der heißen Quelle ging und diese aufhob. Nach einem kurzen Blickwechsel mit Brandon ging sie zögernd zurück zu ihrem treuen Gefährten und hielt ihm die Schalt hin. »Bitte, friss es. Vertrau mir, mein Großer.«

Ihre Blicke begegneten sich – Elenyas magisch grüne und Arkas‘ mystisch leuchtende goldene Augen. Dann senkte Arkas den Kopf und leckte mit seiner riesigen Zunge das rote Gebräu aus der Schale. »Wenn Arkas irgendetwas geschieht, wirst du es bereuen.« Elenyas Stimme zitterte, während sie die Schale fallen ließ und Arkas‘ Schnauze zärtlich umfasste. Sie würde es sich niemals verzeihen können, wenn ihm etwas passieren würde.

»Gut. Dann können wir jetzt los. Bist du bereit?« Brandon trat auf Elenya zu und blieb zwei Meter vor ihr stehen, als Arkas ein warnendes Knurren ausstieß.

»Was ist mit meinen Sachen?«

Brandon sah zu der Höhle, bevor er den Kopf schüttelte. »Da, wo wir hingehen, wirst du sie vorerst nicht brauchen. Sollte es anders kommen, hole ich sie dir. Einverstanden?«

Nein, nicht einverstanden. Dennoch nickte sie und zog sich die Riemen des Lederrucksacks über die Schultern, den sie von Brandon erhalten hatte und der mit Nahrung und Wasser gefüllt war. Sie fragte nicht nach, woher er das alles hatte. »Ich bin bereit.«

»Dann folge mir.«

Der Weg war lang und beschwerlich. Immer wieder stolperte sie über eine Wurzel oder durfte sich dumme Kommentare von Brandon anhören, wie laut und ungeschickt sie doch sei. Zähneknirschend ließ sie seine ach so witzigen Kommentare über sich ergehen und wanderte stumm weiter. Sie würde sich nicht provozieren lassen.

Stunde um Stunde marschierten sie weiter. Es wurde bereits dunkel, aber Brandon verweigerte ihr eine Pause. »Wir müssen weiter. Für Pausen haben wir später noch Zeit.«

Selbst dann, als die tiefschwarze Nacht über den Wald gekommen war und Elenya kaum noch genug Kraft hatte, um sich auf den Beinen zu halten, hörten sie nicht auf. Sie brauchte eine Ablenkung. Womöglich würde es ihr helfen, wenn sie ein Gespräch anfing? Doch worüber sollten sie schon groß sprechen?

Nachdenklich schritt sie weiter, bevor ihr eine Frage in den Sinn kam, deren Antwort sie nur zu gern wissen würde. »Wieso hast du Logan umgebracht?« Elenya meinte, in der Dunkelheit erkennen zu können, wie sich Brandons Rücken anspannte und sein Tempo für einen kurzen Augenblick langsamer wurde.

»Es gibt Dinge, die nicht anders geregelt werden können.« Er wich ihrer Frage aus. »Ich bin nicht stolz auf die Dinge, die ich getan habe.«

»Dann hättest du vorher überlegen müssen, was du tust. Du hättest deinen Menschenverstand einschalten müssen, statt jemanden umzubringen.« Elenya hatte Mühe, ruhig zu bleiben. Ihre Handinnenfläche juckte, als das Bedürfnis aufkam, ihn zu schlagen. Die neugewonnene Energie verlagerte sie stattdessen in den fortschreitenden Marsch. »Sag mir dann wenigstens, wo wir hingehen. Brandon? Ich habe dich gerade etwas gefragt.« Sie kam einem Wutanfall gefährlich nahe.

»Ich bin nicht taub.«

Empört fixierte sie seinen Rücken. Er hatte allem Anschein nach ziemlichen Spaß daran, sie zu ärgern. Elenya ballte ihre Hände zu Fäusten und sah grimmig drein. »Gib doch zu, dass du mich in irgendeine Falle führst und mir nicht helfen willst. Sonst hättest du mir längst gesagt, wer es ist, zu dem du mich führst.«

Brandon blieb abrupt stehen, sodass sie beinahe gegen ihn gelaufen wäre. Er drehte sich ruckartig um und umfasste Elenyas Kinn. »Hör mir genau zu, Elenya. Ich habe dich geliebt, wie ich noch nie jemanden geliebt habe. Das tue ich noch immer. Würde ich dich nicht lieben, wärst du gestorben, noch bevor dich die Polizei als Säugling hätte finden können.« Sein Griff wurde fester. »Du ahnst nicht, wie viel du mir zu verdanken hast. Ohne mich wäre der Hohe Rat längst auf dich gestoßen und hätte dich noch im Kindsbett erschlagen.« Er ließ sie los und trat einen Schritt zur Seite. Mit finsterer Miene begegnete er ihrem Blick.

Das schockierende waren nicht seine Worte oder sein schmerzhafter Griff, sondern der Ausdruck in seinen Augen. Schmerz, Trauer und Sehnsucht. Als hätte man ihn um etwas betrogen, das ihm gehörte.

»Vergiss nicht, dass du mir etwas schuldest. Und vergiss nie, dass du ohne mich verloren wärst. In beiden Leben wärst du das. Logan hat dich zu keinem Moment so sehr geliebt, wie ich es getan habe. Alles hätte ich für dich gegeben und das nur, damit du glücklich bist.« Brandon wandte ihr den Rücken zu und deutete zu einer Reihe von dichten Gebüschen. »Da ist deine Hilfe. Dein goldener Retter in schimmernder Rüstung. Doch ich, der schwarze Ritter, bin immer in deiner Nähe. Vergiss das nicht. Egal, was du tust, egal, was du sagst, ich werde alles mitbekommen.«

Ein entsetzliches Gefühl breitete sich in Elenya aus. Schuldgefühle. Sie wusste, dass er recht hatte und dass sie ihm viel zu verdanken hatte, dennoch wollte sie es nicht empfinden. Es fühlte sich falsch an. »Brandon, ich …«

Als er sich vor ihren Augen aufzulösen begann, traute sie für einen Moment ihren Augen nicht. Sie stürzte nach vorn und versuchte nach ihm zu greifen, aber ihre Hand glitt durch seinen Körper hindurch. »Brandon, warte!« Doch er sah sie nicht an. Stattdessen erkannte sie immer mehr die Umrisse der dunklen Bäume. »Es tut mir leid«, flüsterte sie in die Finsternis hinein. Sie stand einfach nur da und betrachtete die Stelle, an der er soeben noch gestanden hatte. »Hörst du? Es tut mir leid.« Vielleicht war er wirklich irgendwo in der Nähe und würde ihre Worte hören. Sie hoffte es.

Als der Mond hinter den dichten Wolken hervortrat und ihr endlich mehr Licht spendete, wandte sie sich um und sah zu dem Gebüsch vor sich. Zögerlich trat Elenya näher und hob zittrig die Hände. Sie war erschöpft und wusste, dass sie keine Chance hätte, sollte das hier tatsächlich eine Falle sein. Dies war die letzte Gelegenheit, um umzukehren. »Arkas?« Sie flüsterte und sah sich um, jedoch war von dem Wolf nichts zu sehen. Wo war er schon wieder hin? Jetzt war sie wirklich nur auf sich gestellt.

Ein letztes Mal sog sie tief den Atem ein und schob mit beiden Händen langsam das dichte Blätterwerk auseinander. Für einen Moment erkannte sie nicht, wer dort stand. Erst als eine weitere Wolke weitergezogen war und das Mondlicht gänzlich durchließ, erkannte sie die Person inmitten der Lichtung. Bei dem Anblick erstarrte sie. Tränen sammelten sich in ihren Augenwinkeln. Ein leises Schluchzen entwich ihr. Vergessen war Brandon. Vergessen waren ihre Schuldgefühle. Dies hier konnte noch immer eine Falle sein, doch es war ihr egal. Brandon hatte ihr das größte Geschenk gemacht, das sie sich wünschen konnte. Doch als dieser Mann zu ihr sah, war es zu spät, um zurückzuweichen. Ein Dolch schnellte direkt auf sie zu.


II

Im Schloss

des Dunklen Herrschers

Diese unnützen Windhunde. Da haben sie ein einziges Mal etwas richtig gemacht und was passiert? Statt mir sämtliche Informationen telepathisch zu übermitteln, lassen sie sich einfach abschlachten.

Diese Stümper.

Dieses nutzlose Pack.

Wenn ich die Zeit hätte, würde ich alles selbst machen. Dann wüsste ich wenigstens, dass die Arbeit vernünftig erledigt wird, aber was erwarte ich denn schon? Dieses Versagen meiner Untergebenen ist nichts Neues für mich. Womöglich ist es an der Zeit, ein Exempel zu statuieren und die Bemühungen dieser wertlosen Kreaturen etwas anzukurbeln. Diese Kakerlaken haben wohl längst vergessen, wer ich bin. Ich könnte sie alle hinrichten lassen. Wenn sie glauben, ich sei weichherzig geworden, dann sind sie noch größere Narren, als ich bisher angenommen habe.

Es ist längst an der Zeit, dass man mir Celestia bringt, denn wenn sie wirklich wieder in Aegeria gelandet ist, könnte sie der letzte fehlende Schlüssel sein, um mein Ziel zu erreichen. Als Eheweib von diesem arroganten Schweinehund Loren Gandriel könnte sie Informationen haben, die mir fehlen. Informationen, die mir zu meinem endgültigen Sieg gegen die Götter helfen könnten.

Wenn ich nur daran denke, dass der Boden schon sehr bald vom Blut der Götter gefärbt sein wird, könnte ich vor Vorfreude explodieren. Es ist das erfreulichste Gefühl seit Langem, zu wissen, dass ich meinem Ziel mit jedem weiteren Schritt drastisch näher komme. Welch antreibendes Mittel Hass doch sein kann und diese Frau wird mir als Beschleunigungsmittel dienlich sein. Sie wird mein Adrenalin werden, um alle Götter zu vernichten und alle Menschen zu meinen Untertanen werden zu lassen.

Celestia ist die perfekte Waffe. Das Volk liebt sie. Obwohl sie eigentlich tot sein müsste, wird man sie wieder mit offenen Armen empfangen und ihr alles geben, was sie verlangt. Und das nur, damit sie sämtliche Gaben an mich weitergeben kann. Und ein perfektes Mittelchen für die Erpressung hat sie mir auch schon geliefert. Dieser weiße Wolf wird mir gewiss dienlich sein, wenn es schon nicht Loren Gandriel sein kann, dessen Entführung ihren Willen hätte brechen können. Wenn es nicht der Wolf sein wird, so wird die Heilerin in ihr es nicht zulassen, dass ich mich an den Bürgern dieses Landes vergehe.

Wenn die Götter erst gestürzt sind, werden die Fesseln von meinem Geist weichen und mich zum Alleinherrscher dieser Welt emporsteigen lassen.

Celestia ist schwach und allein. Soll sie sich in Sicherheit wägen und im Glauben leben, dass ihr niemand etwas anhaben kann. Soll sie doch glauben, ich wüsste nicht, dass sie wieder zurück ist und das leider mehr lebendig, als tot. Die Zeit wird kommen und dann wird sie verstehen, wer hier die Macht besitzt. Wer der wahre Herrscher über Aegeria ist. Und das werden weder Loren Gandriel noch seine Frau Celestia sein.



Er wusste nicht, wie lange er bereits bei Bewusstsein war. Wie lange er diesen Wald durchsuchte, nur um das zu finden, was sein Herz begehrte. Wie ein Tier streunte er umher und mied die Menschen, die Hilfe und Tod vereinten. Es war schwer, zu wissen, wer ihm helfen und wer ihm schaden würde, zumal er wie ein Wahnsinniger wirkte.

Alles war falsch und irritierend. Die Vertrautheit dieses Ortes war in seinem Blut verankert. All die Jahre, in denen er hier draußen um sein Überleben hatte kämpfen müssen, hatten ihn geprägt. Kein einziges Haar war ihm zu dem Zeitpunkt gewachsen, als man ihn nackt, nur mit einem Dolch bewaffnet, in die Wildnis geschickt hatte, obwohl er erst ein Knabe gewesen war.

Unschöne Erinnerungen kamen in ihm auf. Erinnerungen daran, wie er rohes Fleisch gegessen und Tiere zum ersten Mal hatte häuten müssen. Dieses Schicksal war selbst ihm als künftigem König nicht erspart geblieben.

Kopfschüttelnd schob er diese Gedanken zur Seite und konzentrierte sich auf den Weg, der vor ihm lag. Irgendwann war er während seiner Wanderschaft auf ein Dorf gestoßen. Statt sich hineinzuwagen, hatte er versucht, aus der Ferne Informationen zu sammeln. Trotz seiner göttlichen Fertigkeiten war die Entfernung zu groß, als dass er auch nur ein Wort hätte verstehen können. Dennoch hatte sich seine Geduld ausgezahlt, denn jetzt wusste er, dass zahlreiche feindliche Wachen in diesem Dorf stationiert waren. Die neuen Uniformen konnten nur der Herrschaft des neuen Königs dienen. Dies machte ihm klar, dass es von höchster Bedeutung war, Elenya zu finden und sie heil hier wegzubringen. Irgendwohin, wo sie geschützt ruhen konnte, während er für sie Hilfe suchte. Jemand musste sie in dem unterrichten, was sie war und er selbst war dafür nicht geeignet. Zumindest hatte dies die Vergangenheit immer wieder aufs Neue bewiesen.

In den folgenden Tagen, in denen er auf der Suche war, aß er, was er erlegte und wusch sich im kalten Wasser der Flüsse und Bäche dieses Waldes. Ruhelos verweilte er nur kurz an einem Ort. Die Suche nach Elenya war wichtiger. Die Blockade in seinem Inneren schien eine Art Test zu sein. Wieso sonst konnte er nichts mehr spüren? Womöglich lag es auch an dem Wahnsinn, der sich schleichend einen Weg an die Oberfläche bahnte und sämtliche Instinkte unterdrückte.

Egal, was es war, es musste ein schnelles Ende nehmen, bevor er selbst auf das Ende zusteuerte. Noch war er nicht gewillt, zu sterben. Erst musste er sie finden und in Sicherheit wissen, bevor er es riskieren konnte, dem Wahnsinn zu verfallen.

Auf seinem Weg hatte er einige der feindlichen Wachen überfallen und ausgeraubt. Die rote Uniform aus unbiegsamem Leder gefiel ihm nicht, aber sie passte und würde ihn nicht nur schützen, sondern auch seine Identität verschleiern. Auch die Waffen hatten Vorteile. Er brauchte das Wild nicht länger mit bloßen Händen zu erlegen.

Unterwegs vernahm er Gespräche über das Gerücht, einen gewaltigen weißen Wolf gesehen zu haben. Eine der Frauen, die am Rande des Dorfes gemeinsam mit drei anderen Beeren sammelte, verkündete übertrieben ausschmückend, dass der Wolf größer sein solle, als ein Mensch im aufrechten Gang. Entweder handelte es sich um eine übertriebene Schilderung, um bei ihren Freundinnen Eindruck zu schinden oder es entsprach der Wahrheit. Egal, was davon zutraf, er musste wachsamer werden und auf alle Eventualitäten gefasst sein. Wundern würde ihn hier im Wald nichts mehr. Dafür gab es zu viele Götter, die in Tiergestalt darauf warteten, dass die Ungläubigen in ihre Fallen tappten und starben.

Dass diese Frau die Wahrheit gesprochen hatte, fand er an dem Tag heraus, an dem er auf viel zu große Spuren eines Wolfes traf. Was jedoch spannender war, waren die Fußspuren neben denen des Wolfes. Wenn er sich nicht irrte, handelte es sich dabei um Frauenfüße.

Gespannt war er stundenlang dieser Fährte gefolgt, bis starker Regen einsetzte und die meisten Spuren hinter ihm verwischte. Auch die Spuren der Frau verschwanden, während Logan die des Wolfes noch erkennen konnte. Zumindest würde niemand, der nicht danach suchte, erkennen, worum es sich dabei handelte.

Die anfängliche Freude über den Regen verschwand, als dieser zu einem Sturm heranwuchs. Fluchend hatte er sich zurückziehen und abwarten müssen, bis der peitschende Regen verklungen war, bevor er eine schier unendlich lange Zeit weiter irrte.

Sein Bart war mittlerweile wegen des ungewöhnlich schnellen Haarwachstums wieder lang geworden. Die einst stolz getragene Haarpracht gefiel ihm nicht länger. Er hatte sich zu sehr an die neue Mode gewöhnt und bevorzugte den klassischen Drei-Tage-Bart. Besonders, weil es Elenya gefiel, sofern er ihre Blicke richtig gedeutet hatte.

Obwohl er die Nähe der Menschen hatte meiden wollen, stahl er sich mitten in der Nacht in eines der Dörfer, an denen er auf seinem Weg vorbeikam. Bevor jemand bemerkte, dass er da war, war er bereits wieder mit seiner Beute verschwunden, einem Laib Brot, mit dem er vor einem winzigen Feuer seinen Hunger stillte. Während er den Teig trocken runterwürgte, blieb er weiterhin wachsam. Gerade wollte er den letzten Rest aufessen, als er hinter sich ein Knacken vernahm. Ohne zu zögern, sprang er auf und fixierte das Gebüsch. Lautlos glitt seine Hand an den Gürtel und zog den Dolch wurfbereit hervor.

In dem Moment, in dem er werfen wollte, erkannte er das tränennasse Gesicht einer Frau. Einer schönen Frau, die ihn jeden Tag bis in seine Träume begleitete. Eine Frau, die er mehr begehrte, als alles andere auf der Welt.

Gerade noch rechtzeitig lenkte er mit der Drehung seines Handgelenks die Wurfbahn des Dolches um, sodass dieser um Haaresbreite an dem Gesicht der Frau vorbeiflog und tief in der Rinde eines der hinteren Bäume versank.

»Elenya.« Seine Augen begannen zu brennen. Tränen verschleierten seine Sicht. Ohne an die Gefahr zu denken, dass er nur halluzinierte, lief er los und zog seine Frau stürmisch an seine Brust. Immer wieder stieß sie seinen Namen aus und vergrub schluchzend ihr Gesicht an seinem Hals, während er ihren zierlichen Körper fest an seinen drückte.

»Logan.«