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MICHAEL MARTEN

BESUCH

ROMAN

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MICHAEL MARTEN

wurde im vergangenen Jahrtausend in Lünen am Rande des Ruhrgebiets geboren. Ein handelsüblicher Lebenslauf mit Abitur, Zivildienst, Universität. Auf das Studium folgten Flucht ins Ausland (Griechenland) und reumütige Rückkehr. Seitdem wohnhaft in Berlin-Neukölln und an einer Berliner Schule tätig. Sein erster Roman »Drei Klausuren und ein Todesfall« erschien 2012 bei Satyr und 2014 als Aufbau-Taschenbuch.

E-Book-Ausgabe September 2018

© Volker Surmann, Berlin 2018

Cover: Karsten Lampe

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über: http://dnb.d-nb.de

Die Marke »Satyr Verlag« ist eingetragen auf den Verlagsgründer Peter Maassen.

eISBN: 978-3-947106-07-3

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

1

»Die Neger werden weiß geboren ...«

Immanuel Kant
Physische Geographie (1802), § 2

Im Wohnzimmer saß ein Afrikaner.

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Marianne war in der Küche, und ich fragte sie, wer der Kerl sei und was er hier in unserer Wohnung mache. Sie wusste es nicht. Er sei halt auf einmal da gewesen. Am Morgen sei sie zum Wochenmarkt gegangen, Wolfsbarsch kaufen, Schalotten und Knoblauchzehen, wie nahezu jeden Freitag, dann auf eine Tasse Kaffee zu Ariane, die habe Beziehungsprobleme, das wüsste ich doch, da gebe es Gesprächsbedarf, die Beziehung zu Harald sei nicht frei von Spannungen da …

Ich seufzte laut und verschränkte die Arme vor der Brust. Als sie heimgekommen sei, die Einkaufstaschen abgestellt habe und ins Wohnzimmer gegangen sei, um durchzulüften, da saß er halt schon da.

Im Fernsehsessel.

Ich fragte sie, warum sie nicht die Hausverwaltung kontaktiert oder die Polizei angerufen habe. Wegen Hausfriedensbruch und so. Aber der sitze doch einfach nur da, ganz friedlich, und tue niemandem was. Wahrscheinlich werde er sowieso bald verschwinden. Vielleicht wolle er sich einfach nur etwas ausruhen. Es sei schließlich ein weiter Weg von Afrika nach Gütersloh-Nord. Außerdem solle ich nicht wegen jeder Kleinigkeit gleich so einen Aufstand machen. Sie zeigte auf die Kartoffeln, die auf dem Tisch lagen, und drückte mir ein Messer in die Hand. Marianne hasst es, Kartoffeln zu schälen, ich mag Oreganokartoffeln.

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Er saß in meinem Fernsehsessel.

Ziemlich groß war er, schätze mal 1,90 Meter, mindestens, dazu kräftig gebaut. Zwei schwielige Hände, die aussahen, als hätten sie sehr viele sehr schwere Dinge tragen müssen. Die Haut: pechschwarz. Sein Alter schwer zu sagen, eher vierzig plus als vierzig minus. Eine Art Umhang bedeckte seinen Körper, löchrig, weiß, übersät mit kleinen Flecken. Auf dem Kopf trug er eine runde, schwarze Mütze mit bunten Stickereien, Blumenmuster.

Die Hände auf dem Bauch gefaltet, starrte er ins Leere, regungslos. Sonst machte er nichts, bewegte sich nicht einen Millimeter. Saß einfach nur da.

Wie eine Statue.

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Beim Abendbrot gab es nur ein Thema.

Julchen fragte, ob sie nicht mit ihm spielen könne. Marianne und ich sagten, wir müssten erst mal selbst mit dem neuen Onkel klarkommen, dann würden wir weitersehen. Julchen plärrte. Wir versprachen eine Extraportion Eis zum Nachtisch. Julchen willigte ein.

Alexander fand ihn cool (oder mega?). Endlich mal jemand, der so gar nicht in unsere spießige Reihenhaussiedlung passe. Sowieso Zeit, dass die ganze Gegend mal ordentlich aufgemischt werde. Für jede Veränderung in dieser »Vorstadthölle« sei er dankbar. Dann nahm er die Schale mit dem Vanillepudding und verschwand in seinem Zimmer.

Gegen acht las ich Julchen noch ein Märchen vor, »Der Teufel mit den drei goldenen Haaren«, zweieinhalbmal, dann schlief sie ein (gerade als der König den Jüngling ermorden lassen wollte!). Leise stellte ich den »Teufel« in ihr Bücherregal und entdeckte »Zehn kleine Negerlein«.

Ich schämte mich ein wenig (laut Widmung ein Geschenk meiner Großmutter für meine Mutter zum Weihnachtsfest 1955). Ich versteckte es im obersten Fach des Wohnzimmerschranks.

Am Laptop klickte ich mich noch durch die Nachrichten. Krisen, wohin man schaute. An der Londoner Börse purzelten die Kurse, bei uns ist irgendwas mit Asylsuchenden. Später, im Bett, hätte ich gern mit Marianne über alles geredet, sie schlief aber bereits.

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Am Morgen stand ich etwas früher auf als üblich und schlich ins Wohnzimmer, in dem unser Gast noch schlief. Ich legte einen Fünfzigeuroschein auf den Tisch, schön nah am Fernsehsessel. Hoffentlich Anreiz genug, um die Wohnung zu verlassen. Auf diese Weise hätte ich unser kleines Problem elegant aus der Welt geschafft, ohne dass Marianne oder die Kinder etwas bemerkten.

Beim Frühstück konnten die Ereignisse des Vorabends nicht besprochen werden, da wie jeden Morgen (fast) alle in Eile waren. Julchen musste – entweder von Marianne oder von mir – in den Kindergarten gebracht werden, bevor wir uns auf den Weg machten, Marianne in die Zahnarztpraxis, in der sie halbtags als Sprechstundenhilfe arbeitete, ich in die Firma. Der Einzige von uns, der die Ruhe weghatte, war Alex, der von uns zur »Schulhölle« mehr oder weniger gepeitscht wurde.

Im Büro das Übliche.

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Am Nachmittag, ich kam etwas früher nach Hause als gewöhnlich, betrat ich das Wohnzimmer in der Hoffnung, unseren ungebetenen Gast nicht mehr vorzufinden. Fehlanzeige. Er lag, wie schon am Vortag, still und schlafend in meinem Fernsehsessel.

Er schnarchte.

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Nach dem Abendbrot wollten Julchen und ich eigentlich fernsehen. Aber unser Gast schlief, wir hörten ihn schnarchen. Ihn zu stören, kam nicht infrage, jedenfalls für Marianne und Alex. Julchen erreichte für ihren Fernsehverzicht eine Verdoppelung ihrer Eisportion – dank zäher Verhandlungsführung. Daher machte ich mich gleich auf den Weg hinunter in den Keller, zur Tiefkühltruhe.

Gern hätte ich den großen Abendfilm gesehen – was über deutsche Nachkriegsgeschichte, Flucht aus dem Osten, Neuanfang im Westen. Laut Fernsehkritik ein spannender Film. Aber das ging nun nicht mehr. Stattdessen spielte ich in der Küche »Fang den Hut« mit Julchen. Alex verschwand in seinem Zimmer, Marianne hörte ein Kulturfeature auf WDR3, eine kritische Darstellung des gar nicht fortschrittlichen Frauenbildes der Achtundsechziger. Marianne nickte ab und zu bestätigend.

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Am nächsten Tag war ich mir ziemlich sicher, unser Problem bald gelöst zu haben. Heimlich, Marianne lag noch im Bett, waren in den frühen Morgenstunden drei nagelneue Fünfzigeuroscheine (sowie eine Monatskarte für den Verkehrsverbund Ostwestfalen!) in die Falten seines Umhangs gewandert. In der Mittagspause telefonierte ich mit meiner Frau. Ich sagte etwas wie: »Vielleicht ist er schon weg, wenn wir nach Hause kommen.« Marianne teilte meinen Optimismus nicht. Wie sich am Nachmittag herausstellte, sollte sie recht behalten.

Am Abend: großer Familienrat.

Was sollten wir mit ihm machen?

Julchen fand, der große Onkel solle bleiben, damit sie endlich einmal mit ihm spielen könne. Falls er gehen müsse, stehe ihr allabendlich ein Eis zu. (Später einmal, im Berufsleben, werden sich Topmanager an meiner Tochter ihre keramikverblendeten Zähne ausbeißen.) Alex war ebenfalls fürs Bleiben, »weil wegen Coolness und überhaupt«. Er sei gespannt, wie der Gütersloher Spießer auf den Gast reagieren werde. Er freue sich bereits auf die betretenen Gesichter unserer erzreaktionären Nachbarn.

Marianne schwieg zunächst, sagte dann: »Es sieht schon extrem blöd aus, einen Afrikaner auf die Straße zu setzen. Hungersnöte, Bürgerkriege, das ganze Zeug, die Zeitungen sind doch voll davon, Talkshows auch.«

Ich stimmte prinzipiell zu, wies jedoch auf allerlei Gefahren hin – wir kannten den Mann doch gar nicht, vielleicht war er gefährlich? Vielleicht würde er uns berauben? Hilfsbereitschaft sei ein nobler Zug, finde aber ihre Grenze in der Gefährdung des Helfenden.

Marianne sagte, wahrscheinlich wolle er uns nichts antun, sondern habe selbst schlimme Dinge hinter sich gebracht. Wir wüssten doch gar nichts über ihn, vielleicht sei er ganz normal, so wie sie und ich. Dann sah sie mich an, schüttelte kurz den Kopf und sagte: »Na ja, vielleicht so normal wie ich.«

Die Abstimmung ging drei zu eins aus. Er durfte also zunächst bleiben.

Später überreichte mir Marianne 200 Euro und eine Monatskarte für den Verkehrsverbund Ostwestfalen. Beides hatte ich offenbar im Wohnzimmer verlegt. Sie fragte, ob ich eventuell schon ein wenig tüddelig würde. Was ich als Autofahrer denn mit der Monatskarte eigentlich anfangen wolle? Dabei lächelte sie so merkwürdig.

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Er hatte sich bewegt!

Na ja, nicht gleich übertreiben, also direkt bewegt, so mit Ortswechsel, von A nach B, hatte er sich eigentlich nicht. Er saß noch immer im Fernsehsessel. Aber bewegt haben musste er sich, denn als ich am späten Nachmittag ins Wohnzimmer kam, hielt er die Fernbedienung, die noch am Vorabend einen guten Meter Luftlinie entfernt auf dem Tisch gelegen hatte, in der Hand und zappte ständig zwischen den Sendern hin und her. Offensichtlich gefielen sie ihm nicht so recht. Als ich vor ihm stand, drückte er mir die Fernbedienung in die Hand, drehte sich auf die Seite und begann bald zu schnarchen.

Marianne, der ich sofort davon erzählte, meinte, die Programme hätten ihm möglicherweise nicht gefallen, Story, Dialoge, Charaktere, lediglich solider Durchschnitt, Vorabendprogramm halt, hätte ihn wahrscheinlich unterfordert, rein intellektuell.

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Wir aßen Abendbrot, es gab Lachscarpaccio, Fettucine als Hauptgang und zum Dessert Pannacotta. Julchen erzählte vom Kindergarten. Der doofe Jonathan habe im See – sie meinte einen kleinen Teich neben der Spielecke: ein Biotop – einen Frosch gefangen und den mit voller Wucht an die Wand geworfen. Genau an die Stelle, an die die Blümchengruppe im letzten Sommer das Gesicht von Prinzessin Lillifee gemalt habe. Diese habe nun drei Augen. Das sei lustig gewesen. Ich fragte Alex nach seinem Schultag, aber er sagte, es gebe nichts zu berichten. Der Alltag in Gefängnissen sei weniger aufregend, als brave Bürger gemeinhin vermuteten. Marianne sagte, er solle froh sein, sich im offenen Vollzug zu befinden.

Mitten in unsere Unterhaltung hinein betrat der Afrikaner das Esszimmer und blieb unschlüssig neben der Tür stehen. Marianne zeigte auf einen freien Stuhl, er nickte und setzte sich zu uns. Marianne holte ein weiteres Gedeck aus der Küche und legte ihm vom Carpaccio auf den Teller. Er lächelte Marianne an und begann zu essen. Julchen sagte, Jonathan habe zur Strafe für das Werfen des Froschs den Nachmittag alleine im Spielzimmer verbringen müssen. Er habe aber dauernd am Fenster gestanden, gelacht und Grimassen gezogen.

Der Afrikaner legte Messer und Gabel auf dem leeren Teller ab und zog sich ins Wohnzimmer zurück. Wir räumten ab, und ich las Julchen noch ein Märchen vor. Später, im Bett, sagte Marianne, unser Gast habe mit einer großen inneren Würde gespeist. Mir nicht aufgefallen, sagte ich, ich fand, er hatte einfach Hunger.

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Am nächsten Morgen stellte ich Harald im Büro eine Frage. Er ließ Computer Computer sein, schaute lange aus dem Fenster und dachte nach. Harald meinte, das Ganze wäre heute doch nicht mehr so. Afroamerikaner würden in den USA zu Präsidenten gewählt, Farbige spielten in der deutschen Fußballnationalmannschaft, die Verhältnisse hätten sich geändert. Er jedenfalls hätte mit so einem Fall kein Problem, aber so gleich gar keins.

Harald hatte gut reden.

Wenn man von etwas las oder es im Fernseher sah, dann war das natürlich kein Problem, da hatte er recht. Aber wenn das Problem im eigenen Fernsehsessel saß, sah die Sache anders aus.

Ganz anders.

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Marianne fand, er müsste mittlerweile erkannt haben, dass wir ihm wohlgesonnen waren, und versuchte, mit ihm zu reden. Allerdings scheiterte sie mit Deutsch, Englisch und Französisch. Er sagte einfach nichts, weder in einer europäischen noch in irgendeiner anderen Sprache.

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Es war schließlich mein Fernsehsessel.

(Ich fuhr ja auch nicht in ein Dorf in der Serengeti und hockte mich dort, mitten im Kral, breitärschig auf den Thron.)

War nicht billig, das Teil, 599 Euro. Dafür mit allen Schikanen. Zwei Motoren für eine Aufstehfunktion. Dazu noch hochklappbare Fußstützen. Echtes Leder, urgemütlich, superbequem. Abends, so ab 21 Uhr, wenn ich Julchen ein Märchen vorgelesen hatte, lag ich darin und schaute fern. Hatte ich mir verdient. Meistens Tierfilme, die schaute ich halt gern. Wie Bären die Lachse in Kanada in den klaren, kalten Gebirgsbächen fingen oder stolze Wale die Ozeane durchpflügten. Auch was über Afrika sah ich mir gern an, Antilopenjagd und so.

Heute nicht mehr.

Was hatte der auch da zu liegen.

In meinem Sessel!

Er hatte einen leichten Bauchansatz, man sah, wie der sich hob und senkte, hob und senkte. Ich dachte immer, die hätten da unten nichts zu essen, so schlecht kann es ihnen gar nicht gehen, da gab es bei uns aber dünnere Menschen. Zum Beispiel Beate, unsere Controllerin, sehr dünn, dabei trotzdem wohlproportioniert. Fand ich die immer schon, auf der letzten Weihnachtsfeier, da hätten wir mal beinahe ...

Beate war inzwischen mit einem zusammen, der promoviert hatte und alles über Computer wusste. Noch keine dreißig und gut aussehend.

Ein Inder.

Na ja.

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Frau Gerbs-Meier aus dem geklinkerten Eigenheim gegenüber sprach mich an, als ich am Nachmittag den Müll rausbrachte. Das war insofern ungewöhnlich, als sie gemeinhin außer »Guten Tag« oder »Guten Abend« kaum etwas zu mir zu sagen pflegte.

Sie arbeitete bei der Sparkasse, war, soweit ich wusste, Leiterin der Kreditabteilung. Sie hatte ihren Schäferhund an einer Leine, er versuchte, an mir hochzuspringen.

Sie finde es prinzipiell gut, sagte sie, dass mein Sohn schon früh Eigeninitiative und unternehmerische Qualitäten zeige. Sie finde es aber gar nicht gut, dass Alexander ihrer Enkelin das Taschengeld abnehme.

Sie bringe der kleinen Sophie gerade bei, wie man mit drei Euro in der Woche nachhaltig wirtschafte. Das sei nun nicht mehr möglich, da Sophie über keine Barmittel mehr verfüge. So gehe das nicht.

Ich hatte keine Ahnung, wovon die gute Frau faselte, versprach ihr aber, mich umgehend darum zu kümmern. Alexander war sogleich geständig.

Alexanders Geschäftsidee machte sich die unschuldige Neugier von Kleinkindern zunutze. Gegen entsprechende Bezahlung zeigte er ihnen einen »waschechten Schwarzen«, den sie gegen Aufpreis auch anpacken, oder, gegen einen weiteren Aufpreis, als Spielkamerad nutzen durften.

Ich war fassungslos.

Ich wies meinen Sohn darauf hin, wie unverantwortlich solch ein Verhalten sei. Es handele sich hier immerhin um einen Menschen, ein Wesen mit Gefühlen und Würde. Nicht um ein exotisches Tier, das man zur Belustigung des Publikums zur Schau stellen könne. Dies sei ein Rückfall in schlimmste koloniale Verhaltensweisen. Er sollte das Geld sofort den Kindern zurückgeben.

Alexander sagte, das sei nicht möglich.

Ich fragte, wieso nicht.

Er sagte, er habe 50 Prozent des Geldes bereits ausgegeben, für Turnschuhe, die neuen von Nike.

Ich fragte nach den verbleibenden 50 Prozent.

Die, so Alexander, habe unser Gast erhalten, denn sie hätten, wenn auch nur per Zeichensprache, den Businessplan gemeinsam entwickelt und fifty-fifty vereinbart. Er zeichne für die Kundenakquise verantwortlich, unser Gast für den Markenkern. Ob und wie er dem Herrn nun das Geld wieder wegnehmen solle?

Ich sagte, dass ich mich darum kümmern würde. Teilte Alexander überdies mit, dass ich 25 Prozent des Taschengeldes vom Folgemonat einbehalten werde, um sie »Brot für die Welt« zu spenden. Er akzeptierte missmutig.

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Mehr und mehr wurde er zum Bestandteil unserer Familie. Er entwickelte feste Angewohnheiten, das Bad schien er eher vormittags zu benutzen, zum Duschen, Baden oder Rasieren, höchstwahrscheinlich, um uns nicht zu stören. Auch saß er mittlerweile oft mit uns am Abendbrottisch, allerdings nicht jeden Abend, manchmal blieb er im Wohnzimmer, dafür hörte man ihn dann kurz vor Mitternacht in der Küche hantieren, Nachmittage verbrachte er gar nicht selten außerhalb unserer Wohnung. Er war stets freundlich, sprach aber nie mit uns.

Marianne hatte ihm einen Wohnungsschlüssel gegeben, das mache ihn unabhängig. Mir war das nicht ganz so recht. Immerhin, es verblieb ein gehöriges Restrisiko – wer wusste denn, in welche Hände der Schlüssel gelangen würde?

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Das Plattencover zeigte ein Gesicht, in dem alle Schicksalsschläge dieser Welt eingegraben schienen. Zigarette im Mundwinkel, Gitarre in der Hand, gestreifter Anzug und herausfordernder Blick kündeten von Rebellion, vom Willen, nicht aufzugeben.

Ich hatte im Keller nach einem Zelt gesucht, Alex wollte am Wochenende an den Baggersee, und war nur zufällig auf den Stapel alter Platten gestoßen, der seit unserem Einzug unter einer Decke verborgen in einer der Ecken gelegen hatte.

Monatelang hatte ich mit sechzehn den rauen, kehligen Gesängen der alten Bluesbarden zugehört, ihren Klagen über schwere Arbeit bei brütender Hitze in Baumwollfeldern, untreue Frauen und brutale Aufseher. Ich kaufte eine Gitarre, meisterte schnell zwei Akkorde und klagte ebenfalls – über die sommersprossige Angelika. Auf Partys präsentierte sie mich als ihren Freund, erlaubte mir sogar Zungenküsse, wenn ich sie nach Hause brachte und wir vor ihrer Haustür im Halbdunkel der Straßenlaterne standen. Niemals jedoch das Entscheidende. Ich klagte über zu niedriges Taschengeld und hartherzige Eltern, die mir partout kein Moped kaufen wollten – eine chromglänzende Kreidler Florett RMC hätte es sein sollen, mit 4-Gang-Schaltung und satten 2,9 PS! Den lausigen Kilometer zum Städtischen Gymnasium könne ich weiterhin mit dem Fahrrad zurücklegen, meinte dazu mein Vater. Sofern ich den platten Hinterreifen reparierte. Bis dahin eben zu Fuß.

An solchen Tagen lag ich auf meinem Bett, vom Aufbruch und Weggehen träumend – leaving a note that I hoped would say more –, hörte »Key to the Highway« in der Zehn-Minuten-Version von Derek and the Dominos. An die Decke starrend verarbeitete ich Halfzware-Tabak zu jointähnlichen Konstruktionen und sah mich unterwegs auf staubiger Straße, vor mir fremde Städte, hinter mir ein perplexer Vater, der weiter auf meine »Negermusik« schimpfte.