Christopher Germer & Ronald Siegel

Weisheit und Mitgefühl in der Psychotherapie

Weisheit und Mitgefühl
in der Psychotherapie

Achtsame Wege zur Vertiefung
der therapeutischen Praxis

Herausgegeben von

Christopher Germer & Ronald Siegel

Mit einem Vorwort von Seiner Heiligkeit dem Dalai Lama

Aus dem Amerikanischen von Peter Brandenburg

Inhalt

Vorwort

Danksagung

Einleitung

1 Was sind Weisheit und Mitgefühl?
Warum sollten wir uns um sie kümmern?

KAPITELWeisheit und Mitgefühl

RONALD SIEGEL, CHRISTOPHER GERMER

KAPITELAchtsame Präsenz

TARA BRACH

KAPITELLeben mit Mitgefühl und Weisheit aufbauen

BARBARA FREDRICKSON

2 Die Bedeutung von Mitgefühl

KAPITELMitgefühl in der buddhistischen Psychologie

JOHN MAKRANSKY

KAPITELDer mitfühlende Therapeut

ELISSA ELY

KAPITELDie Wissenschaft vom Selbstmitgefühl

KRISTIN NEFF

KAPITELMitgefühl in der Psychotherapie

CHRISTOPHER GERMER

KAPITELNeurobiologische Grundlagen von Mitgefühl

RICHARD DAVIDSON

3 Die Bedeutung von Weisheit

KAPITELWeisheit in der buddhistischen Psychologie

ANDREW OLENDZKI

KAPITEL 10 Der weise Psychotherapeut

RONALD SIEGEL

KAPITEL 11 Die Wissenschaft von der Weisheit

ROBERT STERNBERG

KAPITEL 12 Die Weisheit in Beziehung

JANET SURREY, JUDITH JORDAN

KAPITEL 13 Selbst und Nicht-Selbst in der Psychotherapie

JACK ENGLER, PAUL FULTON

KAPITEL 14 Neurobiologische Grundlagen von Weisheit

THOMAS MEEKS, RAEL CAHN, DILIP JESTE

4 Therapeutische Anwendungen

KAPITEL 15 Mitgefühl, Weisheit und suizidale Klienten

MARSHA LINEHAN, ANITA LUNGU

KAPITEL 16 Drogenabhängigkeit und Rückfallprävention

ALAN MARLATT, SARAH BOWEN, KATHLEEN LUSTYK

KAPITEL 17 Angststörungen

LIZABETH ROEMER, SUSAN ORSILLO

KAPITEL 18 Depression

PAUL GILBERT

KAPITEL 19 Arbeit mit Trauma

JOHN BRIERE

KAPITEL 20 Das Herz der Paartherapie

RICHARD BOROFSKY, ANTRA BOROFSKY

5 Bemerkungen zur therapeutischen Praxis

KAPITEL 21 Achtsame Kindererziehung als ein Weg zu Weisheit und Mitgefühl

TRUDY GOODMAN, SUSAN KAISER GREENLAND, DANIEL SIEGEL

KAPITEL 22 Quellen der Weisheit religiöser Traditionen in der Psychotherapie

KENNETH PARGAMENT, CAROLL ANN FAIGIN

KAPITEL 23 Mitgefühl und Weisheit

STEPHANIE MORGAN

Literaturverzeichnis

Die Herausgeber

Die Autoren

Vorwort

Alle Menschen möchten glücklich sein. Ökonomischer Fortschritt und technische Entwicklung sind notwendig, damit sich die Menschheit weiterentwickeln kann. Daher kann man leicht zu der Vorstellung gelangen, dass sich dauerndes Glück allein mit materiellem Erfolg oder physischem Komfort einstellt, aber das ist ein Irrtum. Sowohl die buddhistische Tradition des Geistestrainings als auch die westliche Tradition der Psychotherapie lehren uns, dass unsere innere Haltung gegenüber unserer Erfahrung für unser Glück und das Glück der Menschen um uns herum oft weit wichtiger ist als unser flüchtiges äußeres Schicksal, sei es gut oder schlecht.

In den letzten Jahren haben Forscher und Psychotherapeuten im Westen entdeckt, dass Prinzipien und Praktiken, die der buddhistischen Psychologie entlehnt sind, sehr nützlich sein können, um den Stress des modernen Lebens zu mindern. Therapieformen, die Achtsamkeit und Akzeptanz einbeziehen, werden mit Erfolg angewendet, um ein breites Spektrum an körperlichen und psychischen Beschwerden zu behandeln. In dem Maß, in dem das Interesse am buddhistischen Verständnis des Geistes und der Psyche unter Medizinern und Psychologen zunimmt, studieren viele Wissenschaftler und Therapeuten buddhistische Lehren und kultivieren die Praxis der Meditation. Sie lernen, dass diese Lehren und Praktiken das Potential besitzen, unser Verständnis von uns selbst und voneinander radikal zu verändern, und dass sie uns helfen können, unsere Arbeit effektiver zu tun.

In der buddhistischen Tradition gibt es zwei Qualitäten, die als essenziell für unser eigenes Wohlbefinden und das anderer Menschen betrachtet werden: Mitgefühl und Weisheit. Man sagt von ihnen, dass sie wie die zwei Flügel eines Vogels oder die zwei Räder eines Wagens sind, denn ein Vogel kann mit einem Flügel nicht fliegen und ein Wagen nur mit zwei Rädern rollen. Zu Mitgefühl gehört, dass man anderen wünscht, frei von Leiden zu sein, denn jeder möchte glücklich sein und Stress und Elend vermeiden so wie man selbst. Weisheit besteht darin, dass man die Dinge mit klaren, offenen Augen so sieht, wie sie sind, und die wechselseitige Abhängigkeit und Verbundenheit und die sich ständig verändernde Natur von Menschen, Dingen und Ereignissen berücksichtigt und anerkennt.

Im Mai 2009 habe ich an einer Tagung an der Harvard Medical School teilgenommen, bei der es um die Rolle von Mitgefühl und Weisheit in der Psychotherapie ging. Wir haben diskutiert, wie Mitgefühl und Weisheit entwickelt werden können, wie Therapeuten bei ihrer Arbeit von ihnen profitieren und wie sie Patienten helfen könnten, ihre Probleme zu überwinden, wenn man ihnen hilft, diese Qualitäten bei sich zu entwickeln. Dieses Buch entstand als Ergebnis dieser Tagung und vertieft viele der Ideen und Vorstellungen, die wir da zu untersuchen begannen. Neben den Beiträgen vieler Teilnehmer an dieser Tagung enthält es interessante Beiträge von anderen innovativen Forschern und Therapeuten.

Ich bin sehr glücklich zu sehen, dass uralte Lehren und Praktiken aus der buddhistischen Tradition heute oft von Nutzen sein können, wenn sie von westlichen Wissenschaftlern und Therapeuten angewendet werden. In der heutigen Welt wenden sich viele Menschen an die Psychotherapie, um zu verstehen, was sie unglücklich macht, und um herauszufinden, wie sie ein sinnvolleres Leben leben können. Ich glaube, dass Psychotherapeuten, wenn sie Mitgefühl und Weisheit tiefer verstehen, ihren Patienten besser helfen und so zu mehr Frieden und Glück beitragen können.

SEINE HEILIGKEIT DER DALAI LAMA

Danksagung

Mit den Augen von Weisheit und Mitgefühl betrachtet könnte dieser Abschnitt des Buches leicht der umfangreichste sein. So wie das Universum in einem einzigen Blatt Papier enthalten ist – die Erde und die Sonne, die den Baum genährt haben, der den Rohstoff für das Papier geliefert hat, das Öl, das die Elektrizität erzeugt hat, die wiederum die Druckerpresse angetrieben hat, der Lastwagenfahrer und der Lastwagen, die das Buch geliefert haben –, so hatte jeder einzelne Autor eines Beitrages zu diesem Buch ein Universum an Unterstützung. Wir danken daher diesen vielen helfenden Händen, den sichtbaren und den unsichtbaren.

Die Herausgeber möchten besonders Seiner Heiligkeit dem Dalai Lama für sein unermüdliches Bemühen danken, Mitgefühl und Weisheit in unsere globale Gemeinschaft zu bringen. Seine Anwesenheit bei der Tagung zum Thema Meditation und Psychotherapie an der Harvard Medical School im Jahr 2009 war der Hauptkatalysator für dieses Buch. Auch ohne die beachtlichen Fähigkeiten von Judy Reiner Platt, der Mitorganisatorin dieses Ereignisses, und Lobsang Sangay von der Harvard Law School, der zurzeit Premierminister der tibetischen Exilregierung ist, hätte diese Tagung nicht stattfinden können.

Wir leben in Kreisen innerhalb von Kreisen von Unterstützern. Jeder Herausgeber braucht einen Lektor, und wir verdanken Jim Nageotte seine Vision, sein tiefes Gefühl und seine erfahrene Führung durch dieses ganze Projekt. Ferner danken wir auch seinen so vertrauenswürdigen Mitarbeitern in The Guilford Press. Viele der Autoren, die Beiträge zu diesem Buch geliefert haben, hatten bei der Arbeit an ihren Kapiteln in einem gewissen Umfang eine unterstützende Begleitung. In dem Zusammenhang möchten wir besonders Christa Smith, klinische Psychologin, erwähnen, die Richard Davidsons Tagungsbeitrag für dieses Buch kompetent in eine schriftliche Form gebracht hat. Und dann gibt es unsere Freunde und Kollegen am Institute for Meditation and Psychotherapy; einige von ihnen haben Kapitel zu diesem Buch beigetragen und alle haben unser Projekt unterstützt. Sie alle leben in einem Teil unseres Herzens und sie lächeln.

Wenn man ein Buch wie dieses herausgibt, ist das ein lehrreiches Abenteuer, und wir sind unseren Autoren dankbar, die unser Verständnis von Mitgefühl und Weisheit unermesslich darüber hinaus erweitert haben, wo es begann. Besonders würdigen möchten wir Alan Marlatt, der verstarb, kurz nachdem er und seine Kollegen ihr Kapitel beendet hatten. Alan war ein Pionier der Integration buddhistischer Psychologie und empirisch gestützter Psychotherapie und setzte sich für Meditationsretreats und tiefere Praxis zur Transformation unserer Sicht der Welt ein. Daher ist dieses Buch seinem Andenken gewidmet.

Wir möchten auch unseren formalen Lehrern danken – neben anderen Seiner Heiligkeit dem Dalai Lama, Thich Nhat Hanh, Sharon Salzberg, Joseph Goldstein, Jack Kornfield und Jon Kabat-Zinn. Sie verkörpern die Weisheit und das Mitgefühl, die in diesem Buch überall anwesend sind. Ferner möchten wir unsere vielen therapeutischen Kollegen, Trainer und Supervisoren erwähnen, die uns geholfen haben, die Kunst und die Wissenschaft der Psychotherapie zu verstehen. Unsere vielleicht wichtigsten Lehrer sind aber unsere Patienten, die uns jeden Tag ihr verborgenes Leben in der Hoffnung anvertrauen, wirklich verstanden und so angenommen zu werden, wie sie sind, und durch schwierige Zeiten geführt zu werden. Sie sind der Grund, weshalb dieses Buch konzipiert und verwirklicht wurde, und sie sind die Quelle erneuerbarer Energie hinter diesem Unternehmen. Obwohl unsere Patienten das Rampenlicht verdienen, wurde ihre Identität unkenntlich gemacht, um Vertraulichkeit zu wahren.

Schließlich gelten herzliche Umarmungen und Küsse unseren Familien, die so viel gegeben und so viel ertragen haben, damit wir das Buch verwirklichen konnten. Wir suchen immer nach Möglichkeiten, wie wir ihre zahllosen Freundlichkeiten, die sie uns Tag für Tag entgegengebracht haben, erwidern können.

RONALD SIEGEL UND CHRISTOPHER GERMER

Einleitung

CHRISTOPHER GERMER

RONALD SIEGEL

Welche persönlichen Eigenschaften und Qualifikationen sollte ein Psychotherapeut haben? Wenn jemand emotional leidet, wird es ihm wahrscheinlich nicht um akademisches Wissen, Ausbildung in einer bestimmten Methode und nicht einmal um Lebenserfahrung gehen. Vielmehr wird man einen Begleiter wollen, der mitfühlend (fähig ist, sich Leiden gegenüber empathisch zu verhalten, und sich Mühe gibt) und weise ist (ein tiefes Verständnis davon besitzt, wie man gut lebt). Man kann sich nur schwer vorstellen, dass man von einem Therapeuten profitieren kann, der nicht weise oder nicht mitfühlend ist. Obwohl Angehörige heilender Berufe auf dem Gebiet psychischer Gesundheit Mitgefühl und Weisheit im Allgemeinen nicht thematisieren und diese Qualitäten auch nicht ausdrücklich in sich oder ihren Patienten zu entwickeln versuchen, gehen wir dennoch von der Annahme aus, dass sie wichtige Elemente jeder guten Behandlung sind.

Aber was genau ist Mitgefühl? Was ist Weisheit? Im Mai 2009 fand an der Harvard Medical School eine bahnbrechende Tagung – Cultivating Compassion and Wisdom in Psychotherapy – mit dem Dalai Lama und prominenten Therapeuten, Wissenschaftlern und Gelehrten aus den ganzen USA statt. Es war ein faszinierender Austausch, der von Momenten der Verwirrung und tiefen Einsichten, wie man mit Leiden leben kann, wie auch gelegentlich von herzhaftem Lachen gekennzeichnet war. Bei diesem Treffen wurden viel mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet. Einige Beispiele:

• Sind Mitgefühl und Weisheit wirklich wertvolle Attribute eines Psychotherapeuten?

• Kann man Mitgefühl und Weisheit wirklich bewusst entwickeln und kultivieren? Wenn ja, wie?

• Haben uralte Traditionen, die behaupten, Mitgefühl und Weisheit zu entwickeln, modernen Therapeuten etwas zu sagen?

• Sind Mitgefühl und Weisheit wichtig für seelisches Wohlsein? Sollten sie, wenn das so ist, in die Planung der Behandlung integriert und bei der Formulierung der Therapieziele berücksichtigt werden?

• Ist es möglich, dass Patienten im Verlauf der Therapie Mitgefühl und Weisheit lernen?

• Wie ist der Stand der Forschung über Mitgefühl und Weisheit und was können Therapeuten aus ihr lernen?

• Gibt es erkennbare neurobiologische Grundlagen von Mitgefühl und Weisheit?

• Ist es möglich, Mitgefühl und Weisheit objektiv zu messen oder diese Qualitäten im Behandlungszimmer zu erkennen?

• Sind Mitgefühl und Weisheit Wirkmechanismen therapeutischer Veränderung? Und wie geschieht das, falls das so ist?

• Was hindert Therapeuten daran, bei ihrer Arbeit Mitgefühl und Weisheit auszudrücken oder mit Mitgefühl und Weisheit zu handeln? Was hindert Patienten daran, diese Qualitäten in ihrem Leben zu kultivieren?

• In welcher Beziehung stehen Mitgefühl und Weisheit zu bestimmten Störungen wie Depression, Angst, Trauma, Substanzmissbrauch oder Beziehungskonflikten?

Diesen Fragen ist dieses Buch gewidmet. Die Autoren, kompetent und führend auf ihren jeweiligen Gebieten, standen vor der Aufgabe, ihre Einsichten über Mitgefühl oder Weisheit in einem relativ kurzen Kapitel darzustellen. Viele haben sich bemüht, ihre Ideen und Vorstellungen zu vermitteln, ohne als „Experten“ für Mitgefühl oder Weisheit aufzutreten – wofür sich im Geist des Themas niemand qualifiziert fühlte. Als Herausgeber hoffen wir, dass Sie auch der Meinung sein werden, dass die Autoren ihre Ziele auf bewundernswerte Weise erreicht haben.

Mitgefühl und Weisheit sind seit mindestens 2500 Jahren für die buddhistische Psychologie und andere introspektive Traditionen zentral, sowohl als wesentliche Konzepte als auch als praktische Wege zur Befreiung von Leiden. Im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte konvergiert besonders die buddhistische Psychologie in einem beachtlichen Ausmaß mit der modernen Psychologie, vor allem in Form empirisch unterstützter achtsamkeits- und akzeptanzbasierter Behandlungsformen. In dem Maß, in dem die persönliche und professionelle Praxis von Achtsamkeit für viele Therapeuten an Bedeutung gewinnt und reift, wächst auch das Interesse daran, neue Möglichkeiten zu finden, unseren Weg durch komplexe und komplizierte Lebensumstände zu verstehen und zu sehen (Weisheit) und unser Herz für Leiden zu öffnen (Mitgefühl).

Der Dalai Lama hat sowohl die Tagung in Harvard als auch dieses Buch inspiriert. Er ist nicht nur ein brillanter Lehrer von Weisheit und Mitgefühl, sondern er verkörpert diese Qualitäten auch in seinem Leben. Dieser Satz fiel während der Tagung: „Seine Heiligkeit macht uns stolz, Menschen zu sein.“ Und der Dalai Lama arbeitet unermüdlich mit Wissenschaftlern aus aller Welt an der Erforschung der Möglichkeiten, wie Weisheit und Mitgefühl dabei mitwirken können, individuelles und kollektives Leiden in der modernen Zeit zu verringern. Sein Ansatz ist für einen religiösen Führer unkonventionell, wie eine Bemerkung in einem Vortrag im Jahr 2005 verrät:

… empirische Beweise sollten über die Autorität von Schriften triumphieren, gleich, wie sehr eine Schrift verehrt wird. Auch wenn Wissen durch Vernunft oder auf dem Weg von Schlussfolgerungen erlangt wurde, muss seine Gültigkeit letztlich von beobachteten Erfahrungstatsachen abgeleitet sein.

Dieses Buch ist von den Einsichten der buddhistischen Psychologie und Praxis sowie von psychotherapeutischen und wissenschaftlichen Entdeckungen geprägt. Wie wir auf der Tagung erlebt haben, kann der Austausch zwischen diesen unterschiedlichen Weltsichten zugleich aufregend, verwirrend und fruchtbar sein.

Psychotherapie und buddhistische Ausbildung des Geistes haben ein gemeinsames Ziel: emotionales Leiden überwinden. Mitgefühl und Weisheit sind Qualitäten des Geistes, die möglich machen, Leiden zu ertragen und anzunehmen und sogar durch Leiden zu wachsen. Wenn man zum Beispiel Empathie mit dem Schmerz eines Patienten empfindet, aber nicht zugleich die positive innere Haltung von Mitgefühl nährt, oder wenn man sich selbst aus dem Kreis derjenigen, mit denen man Mitgefühl hat, ausschließt, kann es leicht dahin kommen, dass man in das gerät, was wir Erschöpfung des Mitgefühls (compassion fatigue) nennen.

Und auch Weisheit hilft. Sie erlaubt uns, Probleme aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten, zu erkennen, dass die Umstände sich ständig verändern, und zu verstehen, dass sich auf unser Gefühl von Wohlsein noch mehr als unsere Lebensbedingungen auswirkt, wie wir uns zu unserer Erfahrung verhalten (zum Beispiel empfindsam und zart oder gleichgültig, annehmend oder mit Widerstand, neugierig oder vermeidend). Mit Mitgefühl und Weisheit gibt es immer Hoffnung.

Weisheit und Mitgefühl sind auch nicht zu trennen, das eine kann einfach nicht ohne das andere sein. Die meisten nehmen wahr, dass sich ihr Herz öffnet, wenn sie das Problem eines Patienten auf mehreren Ebenen verstehen. Umgekehrt sieht man mehr Behandlungsmöglichkeiten, wenn man gegenüber einem Klienten warme Gefühle empfindet. In diesem Buch wird beschrieben, wie sich Weisheit und Mitgefühl auf der relativen Ebene – Tag für Tag in der Erfahrung der Psychotherapie – wie auf der absoluten Ebene – in unserer fundamentalen, nicht konditionierten Natur – mischen. Je nach unserer Perspektive können wir sagen, dass Mitgefühl aus Weisheit oder dass Weisheit aus Mitgefühl entsteht. In jedem Fall aber sind diese zwei Qualitäten auf der tiefsten Ebene der Erfahrung und des Verstehens nicht zu unterscheiden.

Die überraschendste Entdeckung besteht für viele Menschen darin, dass Weisheit und Mitgefühl eigentlich Qualitäten sind, die man bewusst entwickeln und kultivieren kann. Wenn wir bei der Achtsamkeitsmeditation still in unser inneres Leben schauen, können wir Weisheit und Einsicht entwickeln: Wie unser Geist und unsere Psyche und unsere Abneigungen und Empfindlichkeiten funktionieren und arbeiten. Wir nehmen wahr, wie bestimmte Gedanken und Emotionen unser Bewusstsein vereinnahmen und uns zu unbewusstem, häufig mit Stress verbundenem Grübeln verleiten. Wir können auch Mitgefühl entwickeln – das innere Gespräch von entwertender Selbstkritik zu Selbstermutigung verändern –, und zwar mithilfe bestimmter Übungen, von denen viele in diesem Buch beschrieben werden. Interessanterweise entstehen in der intimen therapeutischen Beziehung Weisheit und Mitgefühl oft zugleich im Geist und im Herzen des Therapeuten und des Klienten, wenn sie empathisch aufeinander eingestimmt sind. Wenn wir das Wesen dieser Qualitäten erforschen und erkennen, wie sie sich entwickeln, können wir lernen, sie in unserem persönlichen und professionellen Leben weiter zu kultivieren.

Ein besonderer Zug buddhistischer Ausbildung des Geistes ist das Bodhisattva-Ideal. Ein Bodhisattva ist eine Person, die sich dem Wohlergehen anderer widmet. Die meisten Psychotherapeuten fallen in diese Kategorie, wenigstens zeitweise. Das traditionelle „Gelöbnis“ eines Bodhisattva ist eine Verpflichtung, Erleuchtung nicht nur für sich selbst anzustreben, sondern die Bemühungen darum so lange fortzusetzen, bis alle Wesen von Leiden befreit sind – denn wie kann man frei von Leiden sein, wenn man jemandem begegnet, der noch damit ringt? Der Weg von Mitgefühl und Weisheit ist daher eine gemeinschaftliche Anstrengung. In diesem Geist übergeben wir unseren Freunden und Kollegen in der ganzen Welt dieses Buch.

Mögen wir mit Mitgefühl und Weisheit offen für Leiden sein.

Mögen wir uns selbst und andere annehmen, wie sie sind.

Mögen wir unsere tiefste Natur erkennen.

Mögen wir frei sein.

1

Was sind Weisheit und Mitgefühl?
Warum sollten wir uns um sie kümmern?

 

Viele Therapeuten haben mittlerweile ein gewisses Verständnis von Achtsamkeit. Obwohl Achtsamkeit ihrem Wesen nach eine vorbegriffliche Erfahrung ist, haben die Bemühungen, sie zu definieren und zu messen, dazu beigetragen, dass über diagnostische und theoretische Aspekte hinaus ein anhaltendes Forschungsinteresse entstanden ist. Mit der Zeit und mit mehr Praxis und Übung führt die unmittelbare Erfahrung von Achtsamkeit zu den verwandten Erfahrungen von Mitgefühl und Weisheit. Was Mitgefühl und Weisheit eigentlich sind, wird bisher weniger gut verstanden, auch wenn es Bemühungen, sie zu beschreiben, schon so lange gibt wie schriftliche Aufzeichnungen der Geschichte. Auch diese Begriffe und Konzepte können sich auf die therapeutische Forschung und die Praxis der Psychotherapie auswirken.

In Kapitel 1 wird die Bedeutung von Mitgefühl und Weisheit in Ost und West sowie ihre enge Beziehung miteinander und mit Achtsamkeit untersucht. In Kapitel 2 wird modellhaft beschrieben, wie Therapeuten achtsame Präsenz herstellen können – ein Schatz an Weisheit und Mitgefühl –, auch wenn sie in ihrem Leben mit Schwierigkeiten konfrontiert sind. In Kapitel 3 sehen wir dann, wie positive Emotionen wie Liebe und Mitgefühl zu einer Basis dafür werden können, wie man sich innerlich öffnen und Bewusstheit erweitern und vertiefen kann. Das kann dazu führen, dass sich Weisheit und Mitgefühl als Züge der Persönlichkeit ausbilden.

Wir laden Sie ein, die Übungen in diesen drei Kapiteln und im ganzen Buch auszuprobieren und die Ideen, denen Sie begegnen, vor dem Hintergrund Ihrer eigenen Erfahrung zu prüfen.