RUSSELL KOLTS & THUBTEN CHODRON

Die Weisheit eines offenen Herzens

RUSSELL KOLTS & THUBTEN CHODRON

Die Weisheit
eines offenen Herzens

Eine Synthese aus buddhistischer Praxis
und westlicher Psychotherapie

Mit einem Vorwort des Dalai Lama

Aus dem Amerikanischen von Christine Bendner

Arbor Verlag
Freiburg im Breisgau

Dieses Buch ist Seiner Heiligkeit dem 14. Dalai Lama gewidmet und allen fühlenden Wesen, die nur glücklich sein und nicht leiden wollen.

Solange der Raum besteht und

solange es fühlende Wesen gibt,

solange möge auch ich verweilen,

um das Leid der Lebewesen zu beseitigen.1

Inhalt

Vorwort von seiner Heiligkeit dem Dalai Lama

Vorwort von Paul Gilbert

Einleitung

Unsere Motivation ausrichten

TEILMITGEFÜHL

Was ist Mitgefühl und warum brauchen wir es?

Mitgefühl, wechselseitige Abhängigkeit und universale Verantwortung

Echtes Mitgefühl

Falsche Vorstellungen loslassen und Frieden mit unseren Ängsten schließen

Mitgefühl bedeutet Mut

Verwirrung über Mitgefühl

Eine andere Art von Stärke

TEIL II DIE „BAUSTEINE“ DES MITGEFÜHLS

Achtsames Gewahrsein

10 Mitfühlendes Verstehen von Emotionen

11 Optimismus – eine positive Kraft

12 Drei Arten von Emotionen

13 Mit unerwünschten Gedanken und Gefühlen arbeiten

14 Freundschaft mit sich selbst schließen

15 „Folge deiner Linie“

16 Gesunde Nahrung für den Geist

17 Verantwortung für die eigenen Gefühle übernehmen

18 Jenseits von Schuld

19 Mitfühlende Gewohnheiten entwickeln

20 Imagination und Method Acting: Unser mitfühlendes Selbst ausbilden

TEIL III MITGEFÜHL ENTWICKELN UND KULTIVIEREN

21 Wie wir Mitgefühl entwickeln

22 Gleichmut

23 Die Sieben-Schritte-Anleitung zu Ursache und Wirkung

24 Liebe und Mitgefühl

25 Sich selbst und andere als Gleiche betrachten und die Perspektive wechseln

26 Die Freundlichkeit der anderen

27 Die Nachteile der Selbstbezogenheit

28 „Die Regeln des Universums“

29 Andere wertzuschätzen ist von Vorteil!

30 Andere an die Stelle des Selbst setzen und Nehmen und Geben

31 Selbstmitgefühl und mitfühlende Selbstkorrektur

32 An der Neigung zum Urteilen und zur Parteilichkeit arbeiten

33 Mitgefühl und Empathie

34 Mitfühlendes Denken und „Mentalisieren“

35 Die vier Unermesslichen

36 Die Bedeutung regelmäßiger Praxis

TEIL IV MITGEFÜHL UND VERBUNDENHEIT

37 Sich mitfühlend verbinden

38 Sich anderen mitfühlend zuwenden

39 Das Beste in anderen entdecken

40 Einander helfen, sich sicher zu fühlen

41 Mitfühlende Kommunikation

42 Situationen präzise beschreiben

43 Die eigenen Gefühle identifizieren

44 Wahrgenommene Bedrohungen und Bedürfnisse beachten

45 Einfühlsames Zuhören ist wichtig

46 Uns selbst und anderen mit Empathie begegnen

47 Humor

48 Die Achtsame-Gefühle-Ampel

49 Um etwas bitten

50 Entschuldigen und Vergeben

51 Positives Feedback und Lob

52 Das Überleben der Kooperativsten

53 Mitgefühl und Bindungen

54 Mitgefühl in uns selbst und anderen wachrufen

55 Die Bedeutung von Beständigkeit

TEILSCHLAGLÖCHER IN DER STRASSE

56 Mitgefühl und eigener Schmerz

57 Mitgefühlsmüdigkeit

58 Parteilichkeit überwinden

59 Fehlgeleitetes Mitgefühl

60 Schlechter Rat von Freunden

61 Angst vor Mitgefühl, Beständigkeit und im eigenen Tempo „auftauen“

TEIL VI MITGEFÜHL IN AKTION

62 Mitgefühl als Heilmittel gegen niedriges Selbstwertgefühl

63 Mitgefühl als Heilmittel gegen den kritischen, urteilenden Verstand

64 Innehalten und den Dingen Raum lassen

65 Mitgefühl und ethische Lebensweise

66 Mitgefühl, Unsicherheit und unbequeme Wahrheiten

67 Jede kleine mitfühlende Tat kann große Wirkungen haben

68 Wie uns Mitgefühl verändert

69 Mitgefühl in jeden Augenblick hineinbringen

Danksagung

Anmerkungen

Literatur

Vorwort von seiner Heiligkeit dem Dalai Lama

Ich sage den Leuten immer, dass „Herzensgüte“ meine Religion ist, denn Güte ist uns angeboren. Ohne Güte und Freundlichkeit könnte keiner von uns überleben. Wenn wir auf die Welt kommen, werden wir mit Güte und Mitgefühl empfangen. Aufgrund der Güte und Freundlichkeit anderer haben wir Nahrung, ein Dach über dem Kopf, Kleidung und Medizin – alles, was wir brauchen, um zu überleben. Als Kinder erhalten wir unter der Obhut anderer eine Bildung und lernen viele wertvolle Dinge, die uns im Leben weiterhelfen. Wenn wir von der Güte anderer profitiert haben, ist es nur natürlich, dass wir etwas zurückgeben.

Manchmal hält uns unser Eigeninteresse allerdings davon ab. Außerdem gibt es Leute, die behaupten, wir seien genetisch darauf programmiert, ohne Rücksicht auf andere nach unserem persönlichen Vorteil zu streben. Ich glaube nicht, dass wir uns von solchen simplen Instinkten einschränken lassen müssen. Es ist ganz natürlich, dass wir unsere eigenen Interessen verfolgen, aber wir müssen es mit Intelligenz tun, nicht mit Dummheit. Und der intelligente Weg ist, auch auf andere Rücksicht zu nehmen.

Heute gelangen immer mehr Wissenschaftler zu der Erkenntnis, dass bewusstes Kultivieren von Mitgefühl sich positiv auf die Gehirnfunktion auswirkt und bestimmte neuronale Schaltkreise stärkt. Mit anderen Worten, unser wunderbares menschliches Gehirn kann transformiert werden, indem wir unsere besten Eigenschaften – Großzügigkeit, Mitgefühl, Liebe, Toleranz, Vergebung, innere Stärke, Geduld und Weisheit – nähren. Und die uralten, auf reiner Vernunft basierenden Methoden, die der Buddha lehrte, um uns zu helfen, negative Gefühle loszulassen und positive zu stärken, können uns dorthin führen.

Die globale Vernetzung und somit wechselseitige Abhängigkeit in der Welt nimmt immer mehr zu, aber ich frage mich, ob wir wirklich verstehen, dass unsere interdependente menschliche Gemeinschaft mitfühlend sein muss – mitfühlend in der Wahl ihrer Ziele, mitfühlend in der Zusammenarbeit und der Art und Weise, diese Ziele zu verfolgen. Mitgefühl stärkt die Grundprinzipien der Würde und Gerechtigkeit für alle. Vom buddhistischen Standpunkt aus gesehen entspringt alles dem Geist, dem Bewusstsein. Echte Wertschätzung von Menschlichkeit, Mitgefühl und Liebe ist das Schlüsselthema. Wenn wir anfangen, mit Herz an die Dinge heranzugehen, ob im Bereich der Wissenschaft, der Wirtschaft oder der Politik, wird – weil die Motivation so ungeheuer wichtig ist – uns alles mehr zum Segen gereichen. Mit einer positiven Motivation, die die Interessen anderer genauso ernst nimmt wie die eigenen, kann unser Handeln dem Wohl der Menschheit dienen, aber ohne eine solche Motivation wird unser Handeln wahrscheinlich Schaden anrichten. Deshalb ist Mitgefühl so immens wichtig für die Menschheit.

Ich freue mich besonders darüber, dass dieses Buch Die Weisheit eines offenen Herzens gemeinsam von einem Psychologen und einer buddhistischen Nonne geschrieben wurde. Beider Traditionen sind reich an Wissen und Weisheit und können viel miteinander teilen und voneinander lernen. Da ich selbst seit vielen Jahren in den Dialog zwischen moderner Wissenschaft und buddhistischer Wissenschaft involviert bin, macht es mich froh, zu sehen, dass auch andere daran teilnehmen und das Gespräch bereichern. Die Autoren präsentieren das Thema „Mitgefühl“ in einer leicht verständlichen Sprache und auf eine Weise, die für jede und jeden umsetzbar ist, gleich, welchem Glauben (oder auch gar keinem) er oder sie sich zugehörig fühlt. Die kurzen Betrachtungen am Ende jedes Beitrags geben den Lesern und Leserinnen einfache und doch effektive Hinweise darauf, wie man anfangen kann, die segensreichste aller menschlichen Eigenschaften zu entwickeln und zu kultivieren: Mitgefühl.

Der Dalai Lama, 29. August 2013

Vorwort von Paul Gilbert

Die westliche Psychologie hat sich darauf konzentriert, den menschlichen Geist wissenschaftlich zu erforschen – vor allem den individuellen. Sie hat ihren Blick auf psychische Probleme, Aggression, Selbstsicherheit, Durchsetzungsvermögen und Selbstwertgefühl gerichtet, darauf, wie Menschen konkurrenzfähiger werden, schönere Körper und besseren Sex haben können. Tatsächlich mehren sich die Beweise dafür, dass wir im Laufe der vergangenen 30 Jahre immer selbstbezogener, habgieriger und narzisstischer geworden sind, zunehmend mit unserem Selbstgefühl und unserer Selbstdarstellung beschäftigt, ob in der „realen“ Welt bei der Arbeit oder der Partnersuche oder in der virtuellen Welt der sozialen Netzwerke. Wir wurden, wie der verstorbene Christopher Lash bemerkte, zu Theaterschauspielern, von Selbstkritik, Scham und Angst vor Zurückweisung gequält, wenn unsere „Performance“ nicht den Beifall der anderen findet. Unglücklicherweise führt unsere „Tu-mehr-habemehr-sei-mehr-Haltung“ nicht unbedingt zu größerer Zufriedenheit, sondern birgt ein erhöhtes Risiko, Depressionen und Angststörungen zu entwickeln, die in westlichen Ländern gerade unter jüngeren Menschen auf dem Vormarsch sind.

Was geschieht also, wenn wir das auf den Kopf stellen, das heißt, wenn nicht vor allem Selbstoptimierung der Schlüssel zum Glücklichsein ist, sondern Mitgefühl – der Wunsch, sensibel für das eigene Leiden und das anderer zu sein –, verbunden mit dem Wunsch, sich damit auseinanderzusetzen, es zu lindern und zu verhindern? Was geschieht, wenn wir das Leiden bei uns selbst und anderen nicht als Zeichen dafür betrachten, dass etwas „schiefgelaufen“ ist, oder als persönliches Versagen oder Schwäche, sondern stattdessen als einen normalen Lebensprozess, der von uns verlangt, Einsicht und Mut zu entwickeln.

Das war der Weg des Buddha vor etwa 2500 Jahren. Er wurde als Prinz geboren, und um ihn vom Leid der Welt fernzuhalten, ließ ihm sein Vater von hohen Mauern umgebene goldene Paläste bauen, in denen alle seine Wünsche erfüllt wurden: das beste Essen, der beste Wein, die schönsten Frauen. In den ersten 30 Jahren seines Lebens konnte er also ein Leben führen, in dem ihm alle weltlichen Freuden im Überfluss zur Verfügung standen. In gewisser Weise bekommen wir heute in den westlichen Gesellschaften ja gesagt, dass wir genau das tun sollen: mehr kaufen, mehr haben, mehr tun, mehr sein, und uns den Vergnügungen hingeben – Essen, Trinken, Urlaub, Autos, TV-Shows – und das Leid in unserem eigenen Herzen und bei anderen nicht so sehr beachten.

Doch Siddhartha (der künftige Buddha) ahnte, dass es jenseits der Mauern, jenseits aller seiner Vergnügungen etwas anderes gab. Und so schlich er sich eines Tages mit einem Diener aus dem Palast. Draußen begegnete er vier Botschaftern. Einem alten Mann, dessen körperlicher Verfall offensichtlich war, einem Kranken, der Schmerzen litt, und einem verwesenden Leichnam. Ihm wurde bewusst, dass, wie sehr man sich auch von den Vergnügungen oder Anforderungen des Lebens ablenken ließ, das Leiden letztendlich nie weit entfernt war. Der vierte Botschafter war ein heiliger Mann, den er in der Stadt umhergehen sah. Als Siddhartha seinen Begleiter fragte, wer dieser Mann sei, erwiderte der Diener, das sei ein heiliger Mann auf der Suche nach den Ursachen des Leidens und dem Ende des Leidens. Da begann der Buddha, sich für die Realität des Leidens zu öffnen, und er beschloss, ebenfalls die Ursachen des Leidens zu erforschen, den Weg zur Beendigung desselben zu suchen und den Dingen auf den Grund zu gehen.

Ich habe mich oft gefragt, ob ich an seiner Stelle denselben Weg gewählt hätte. Oder hätte ich mir gesagt: „He, Mann, die Hölle ist da draußen, außerhalb dieser Mauern. Ich werde hierbleiben und weiterhin den guten Wein und das Zusammensein mit den Frauen genießen, singen und tanzen und feine Kleider tragen“? Das tun die meisten von uns: Wir versuchen, das Leiden draußen zu halten, und hoffen, dass das Leben uns nicht allzu hart anfassen wird. Doch im tiefsten Innern wissen wir, dass das nicht wirklich funktioniert. Wir sehen, dass die Probleme in dieser Welt immer größer werden: Der Planet wird nach und nach zerstört, die Banken und andere Wirtschaftsunternehmen fördern die Habgier und anderes unmoralisches Verhalten, fügen dem sozialen Gefüge der Gesellschaft immensen Schaden zu, Waffenfabrikanten machen riesige Profite auf der Basis von Konflikten, von denen wir nicht wissen, wie wir sie lösen sollen, und Millionen Menschen sterben Jahr für Jahr an Hunger und vermeidbaren Krankheiten. Und wir wissen, dass wir auch in unserem eigenen Leben nicht gefeit sind vor wirtschaftlichen Unsicherheiten, Beziehungskonflikten und Trennungen, Enttäuschungen, Krankheiten, dem Altwerden und schließlich unserem eigenen Sterben und dem geliebter Menschen.

Was geschieht also, wenn wir einen völlig anderen Weg wählen, wenn wir aufhören, unseren Blick darauf zu richten, mehr, mehr, mehr zu haben, wenn wir uns umdrehen und die wahre Natur des Lebens betrachten? Was geschieht, wenn wir tatsächlich den Weg des Buddha wählen? Natürlich kommt uns da als Erstes der Gedanke: „Du musst verrückt sein! Wie kannst du von mir verlangen, dass ich der Existenz des Leidens auf den Grund gehe, wenn ich doch glücklich sein will und mir nichts anderes wünsche, als dass das Leiden verschwinden möge?!“ Aber die Wahrheit ist, dass wir, indem wir uns mit dem Leiden auseinandersetzen, unsere Fähigkeit zum Glücklichsein auf eine viel breitere Basis stellen. Bei der Auseinandersetzung mit den unbefriedigenden Aspekten des Lebens geht es nicht um ein masochistisches Vergnügen daran, uns im Elend zu suhlen, sondern um eine echte innere Reise der Veränderung. Und das Entwickeln von Mitgefühl ist das Herzstück dieser Reise.

Bis vor Kurzem mussten wir uns auf persönliche Aussagen verlassen, dass Mitgefühl tatsächlich die Bedingungen für größere Lebenszufriedenheit schafft, dass es zu mehr Harmonie in unseren Beziehungen beitragen kann, uns helfen kann, weniger selbstkritisch zu sein, weniger anfällig für Gefühle der Scham, dass es uns helfen kann, der Welt mit einer fürsorglicheren Haltung zu begegnen und zu innerem Frieden, zu Freude und Zufriedenheit zu finden. Dankenswerterweise hat sich, teilweise durch die Anregung des Dalai Lama, inzwischen die westliche Wissenschaft des Themas angenommen. Und es zeigt sich, dass das Entwickeln und Kultivieren von Mitgefühl für uns selbst und andere erstaunliche Dinge in unseren Gehirnen und Körpern bewirkt. Wenn wir Mitgefühl kultivieren, erhöht sich die Aktivität in bestimmten Hirnregionen, die mit positiven Gefühlen assoziiert werden. Außerdem wirkt es sich positiv auf das Herz-Kreislauf-System und unser Immunsystem aus. Das Entwickeln von Mitgefühl dient also tatsächlich auch unserem körperlichen Wohl. Auch auf der geistigen Ebene hilft es uns, tiefere Einsichten in die Natur unseres Leidens zu gewinnen. Anstatt weiterhin selbstkritisch zu sein und anfällig für Schamgefühle, entwickeln wir eher Selbstakzeptanz, Einsichtsfähigkeit und Selbstfürsorge. Indem wir Mitgefühl in uns nähren, werden wir rücksichtsvoller und fürsorglicher in unseren Beziehungen sein, und diese werden eher gedeihen, wenn wir uns nicht ständig enttäuscht fühlen und Kritik üben.

Wir können auf die Weisheit und die Erkenntnisse über den menschlichen Geist aus 2500 Jahren buddhistischer Praxis und Tradition zurückgreifen und wir haben die Forschungsergebnisse der modernen Wissenschaft, die die positiven physiologischen und psychologischen Auswirkungen des Mitgefühls untersucht hat. Es steht nun also außer Frage, dass Mitgefühl bei allem, was wir tun, die Grundlage bilden sollte: im Erziehungs- und Bildungswesen, im Umgang mit unseren Kindern, im Geschäftsleben, in unseren Beziehungen untereinander und vor allem auch in unserer Beziehung zu uns selbst.

In diesem bemerkenswerten und wunderbaren Buch erklären mein Freund Russell Kolts, ein Psychologieprofessor, und die buddhistische Nonne Thubten Chodron gemeinsam, wie wir die Weisheit des Mitgefühls in unser Leben bringen können. Das Buch gliedert sich in sechs Teile, die leicht verständlich aufeinander aufbauen, wobei es im ersten Teil darum geht, das wahre Wesen des Mitgefühls zu verstehen und die Mythen darüber aufzulösen. Mitgefühl wird vielleicht manchmal als Schwäche oder als etwas Schwammiges betrachtet, aber es ist weder das eine noch das andere. Mitgefühl beginnt damit, dass man das Leiden anschaut, und deshalb ist Mut sein Hauptmerkmal. Manche Menschen meinen, Mitgefühl sei eine Art, Leute „vom Haken zu lassen“, aber auch das ist eine falsche Vorstellung, wie wir noch sehen werden. Indem wir Klarheit über die wahre Natur des Mitgefühls gewinnen, können wir uns Erfahrungen genau anschauen, die wir bisher gemieden haben oder vor denen wir geflüchtet sind. Wir lernen unsere menschliche Fähigkeit zum Gewahrsein zu nutzen, um tiefere Einblicke in die Mechanismen unseres Geistes zu bekommen. Anstatt uns einfach wütend zu fühlen und aus diesem Gefühl heraus zu sprechen und zu handeln, können wir anfangen, „achtsam“ wahrzunehmen, was in unserem Inneren vor sich geht. Ausgerüstet mit dieser Fähigkeit, unsere Aufmerksamkeit unter unsere persönliche Kontrolle zu bringen, können wir uns nun auf diejenigen oder dasjenige fokussieren, für die oder das es Mitgefühl zu entwickeln gilt. Indem sie traditionelle buddhistische Weisheit mit wissenschaftlichen Erkenntnissen verbinden, stellen Russell und Chodron eine Reihe von Praktiken vor, die uns dabei helfen, Mitgefühl in unseren Alltag zu bringen. Das ist ein ganz wesentlicher Punkt, denn auch wenn manche Ansätze tägliches Meditieren empfehlen, ist dies doch für viele von uns schwierig. Wichtiger ist es, in jedem Moment aufzuwachen und, so gut wir können, bewusst die jeweils sich bietende Gelegenheit wahrzunehmen, Mitgefühl in das hineinzubringen, was wir gerade tun. Die von Russell und Chodron vorgestellten Übungen werden unsere diesbezüglichen Bemühungen sehr unterstützen. Beziehungen sind für uns natürlich ein wichtiger Glücksfaktor. Wir sind eine hoch entwickelte soziale Spezies und unser Geist wurde im Laufe von Millionen von Jahren auf soziale Kontakte ausgelegt. Vom Tag unserer Geburt bis zum Tag unseres Todes hat die Güte und Freundlichkeit anderer einen enormen Einfluss auf unsere Lebensqualität. Die Qualität der Beziehungen in der Kindheit beeinflusst den genetischen Ausdruck und die Gehirnentwicklung. Kinder, die in einem Umfeld aufwachsen, in welchem sie sich geliebt und geschätzt fühlen, entwickeln sich anders als solche, die misshandelt, missbraucht, kritisiert und unter Druck gesetzt werden. Der Versuch, Harmonie in den Beziehungen zu anderen herzustellen, kann zu einer Quelle der Freude für die Kinder und uns selbst werden. Aber wie auf jeder Reise tauchen auch hierbei Probleme auf und unerwartete Hindernisse stellen sich uns in den Weg. Im hinteren Teil des Buches werden uns Russell und Chodron also auch durch schwierigeres Terrain und potenzielle Problemfelder führen.

Es ist mir ein Vergnügen und eine Ehre, Ihnen dieses Buch empfehlen zu können. Ich wünsche mir, dass die Worte auf diesen Seiten Ihnen sogar in schweren Zeiten helfen, Frieden und Freude zu finden. Für mich war es so.

Paul Gilbert, Autor von Mitgefühl *

Mitgefühl: Wie wir Mitgefühl nutzen können, um Glück und Selbstakzeptanz zu entwickeln und es uns wohl sein zu lassen, Freiburg: Arbor, 2011 (Original: The Compassionate Mind: A New Approach to Life’s Challenges, London: Constable, 2009).

Einleitung

Ein alter Cherokee-Indianer lehrt seinen Enkelsohn etwas über das Leben:

„In meinem Inneren tobt ein Kampf“, sagte er zu dem Jungen.

„Es ist ein schrecklicher Kampf zwischen zwei Wölfen. Der eine ist Wut, Neid, Kummer, Bedauern, Habgier, Hochmut, Selbstmitleid, Schuld, Groll, Minderwertigkeitsgefühl, Lügen, falscher Stolz, Überheblichkeit und Ego.“

Er fuhr fort: „Der andere ist Freude, Frieden, Liebe, Hoffnung, heitere Gelassenheit, Demut, Güte, Wohlwollen, Empathie, Großzügigkeit, Wahrheit, Mitgefühl und Vertrauen.

Derselbe Kampf spielt sich auch in dir ab – und in jedem anderen Menschen.“

Der Enkel dachte einen Moment über diese Worte nach und fragte dann seinen Großvater: „Und welcher Wolf gewinnt?“

Der alte Cherokee erwiderte nur: „Der, den du fütterst.“

Eine Indianerlegende1

In diesem Buch geht es darum, zu lernen, den gütigen Wolf zu füttern.

Mitgefühl ist immer auch mit dem Wunsch verbunden, andere mögen frei von Leiden sein, sowie mit der Hoffnung, dieses Leiden lindern zu können. Es gibt viele Gründe, Mitgefühl zu nähren. Vielleicht haben wir das Leiden in der Welt beobachtet und wurden davon berührt. Vielleicht kämpfen wir seit Längerem mit einem Gefühl der Unzufriedenheit und suchen nach Wegen, unserem Leben einen Sinn zu geben. Vielleicht ist uns bewusst geworden, dass wir uns auf eine Weise verhalten, die nicht mit unseren inneren Werten übereinstimmt, und wollen das ändern. Vielleicht wurden wir inspiriert durch einen Menschen, der Mitgefühl, Güte, Beständigkeit und Rücksichtnahme lebt, und möchten mehr wie er oder sie sein. Vielleicht wollen wir unsere Beziehungen zu anderen verbessern, Konflikte ausräumen und warmherziger und gütiger werden. In einer Welt voller Probleme, Herausforderungen und Leiden wollen wir vielleicht Teil der Lösung werden. Und um dahin zu kommen, müssen wir bei uns selbst anfangen.

Wenn wir lernen, mitfühlend zu sein, lernen wir gleichzeitig, weniger selbstbezogen, eifersüchtig und konkurrenzorientiert zu sein und uns mehr auf unser Wohlergehen und das aller anderen Wesen zu fokussieren. Wenn wir aus einer mitfühlenden Haltung heraus handeln, aus dem Wunsch, alle Wesen mögen glücklich und frei von Leiden sein, sind wir eher in der Lage, fürsorglich mit uns selbst und anderen und der Welt umzugehen.

Die meisten Menschen sind im Alltag eingespannt und denken, sie hätten weder den Raum noch die Zeit, Mitgefühl zu praktizieren. Doch selbst in stressigsten Phasen können wir Mitgefühl in unser Leben bringen. Mitgefühl zu kultivieren bedeutet nicht, dass wir unserem Leben noch etwas hinzufügen müssen, es bedeutet, dass wir etwas ändern: nämlich unser Verständnis für und unseren Umgang mit uns selbst, mit anderen Menschen und all dem, was wir bereits tun.

Wir haben dieses Buch in Form einer Reihe relativ kurzer Beiträge gestaltet. Einige enthalten Gedanken über Mitgefühl, einige stellen Methoden für das Entwickeln von Mitgefühl und den damit verbundenen Stärken vor und andere beschäftigen sich eingehender mit unseren Gefühlen und unseren Möglichkeiten, sie zu verstehen und mit ihnen zu arbeiten. Wenn Sie Ihr Herz für Mitgefühl öffnen, beginnt sich Ihr Leben zu verändern. Der Drang, andere niederzumachen, weicht dem Wunsch, für andere zum Segen zu werden; Gefühle der Isolation und Getrenntheit weichen dem Gefühl der Verbundenheit. Indem wir lernen, unsere Gefühle zu akzeptieren – auch die negativen wie Eifersucht und Wut –, hören wir auf, uns dafür zu beschuldigen, und können besser mit ihnen umgehen. Während wir unsere Empathie, unsere Zuneigung und unser Mitgefühl für andere vertiefen, stellen wir fest, dass unser Bedürfnis, zu urteilen und zu kritisieren, schwindet und durch den Wunsch ersetzt wird, sie zu verstehen und ihnen zu helfen. Mitgefühl ist eine Tür zum Glücklichsein, zu emotionaler Stabilität und guten Beziehungen.

Unser Ansatz

Dieses Buch hat zwei Autor(inn)en: Der eine ist klinischer Psychologe und die andere eine buddhistische Nonne. Als ich (Russell) darüber nachdachte, ein Buch mit kurzen theoretischen Beiträgen sowie praktischen Methoden zum Entwickeln von Mitgefühl herauszubringen, wollte ich sowohl aus dem Wissen der westlichen Psychologie als auch der buddhistischen Tradition schöpfen, denn beide versuchen, das menschliche Leiden zu verstehen und zu lindern. Ich stellte mir vor, wie großartig es sein müsste, einen buddhistischen Lehrer oder eine Lehrerin als Koautor/ in zu haben. Glücklicherweise kannte ich genau die richtige Person. Da ich die Gemeinschaft Sravasti Abbey besucht und in meinem Bemühen, Mitgefühl zu entwickeln, enorm von ihren Schriften, Lehren und den dort gelebten Werten profitiert hatte, war ich begeistert, als die Ehrwürdige Thubten Chodron sich einverstanden erklärte, mich auf dieser Reise zu begleiten. Mein Anliegen ist es, zu zeigen, dass Buddhismus und Psychologie gemeinsam auf dasselbe Ziel hinarbeiten können: uns zu helfen, mit offenem Herzen zu leben, Güte und Mitgefühl für uns selbst und andere zu entwickeln, auch und gerade in einem von Hektik und Stress geprägten Alltag. Mitgefühl ist etwas, das wir in jeden Moment unseres Lebens hineinbringen können, und sowohl die uralten Traditionen des Buddhismus als auch die heutigen Ansätze der Psychologie können, wie Sie noch sehen werden, viel zu diesem Bemühen beitragen.

Und obwohl es einige Berührungspunkte zwischen diesen beiden Wegen gibt, bietet jeder Bereich seine eigenen, einzigartigen Perspektiven. Wir fanden es aufregend, diese Traditionen miteinander zu verbinden.

Für uns beide ist Mitgefühl ein hohes Gut, wir versuchen, es in unserem Alltag zu leben, und bemühen uns, mit anderen zu teilen, was wir darüber wissen und damit erlebt haben. Wir beide haben großen Respekt vor Menschen – seien sie bekannt oder nicht –, die leuchtende Beispiele für gelebtes Mitgefühl sind. Beide haben wir sehr von den buddhistischen Lehren über Mitgefühl profitiert und haben Ansätze der westlichen Psychologie zum Entwickeln von Mitgefühl in unserem eigenen Leben und als Lehrer genutzt.

Wir denken, dass es in unserer Herangehensweise auch interessante Unterschiede gibt. Chodron, eine Nonne in der Tradition des tibetischen Buddhismus, nähert sich dem Thema Mitgefühl hauptsächlich aus einer spirituellen Perspektive: Sie studiert und praktiziert seit Jahrzehnten die Lehren des Buddha und großer buddhistischer Meister. Diese Lehren beschreiben Schritt für Schritt Methoden, um über Wut hinauszugehen, Vergebung zu kultivieren sowie bedingungslose Liebe und Mitgefühl für alle Wesen zu entwickeln.

Als klinischer Psychologe und durch meine Arbeit als Therapeut, Forscher und Universitätsprofessor, der sich auf Bereiche wie emotionale Störungen, Achtsamkeit, Wut und Compassion Focused Therapy spezialisiert hat, betrachte ich (Russell) die Dinge mehr aus der wissenschaftlichen Perspektive der westlichen Psychologie. Das zeigt sich auch darin, wie ich mich dem Thema Mitgefühl nähere: Ich betone die Rolle, die das entwickelte Gehirn bei der Entstehung unserer emotionalen Reaktionen spielt, und beziehe auch die Praxis der Achtsamkeit ein, so wie sie gegenwärtig in der westlichen Psychologie gelehrt wird.

Wir hatten auf der Basis unseres unterschiedlichen Erfahrungshintergrundes und unserer unterschiedlichen Ausbildungswege viele interessante Gespräche über Mitgefühl. Aber vor allem treibt uns ein gemeinsames Engagement an: uns für Mitgefühl, Güte, Toleranz und die Linderung des Leidens einsetzen zu wollen. Wir hatten viel Freude an der gemeinsamen Arbeit, beim Untersuchen der Frage, was Mitgefühl ist, und beim Schreiben darüber, und wir hoffen, dass auch Sie Freude an dieser gemeinsamen Arbeit haben.

Geist und Gehirn

An verschiedenen Stellen des Buches werden wir über den menschlichen Geist, das Gehirn und die Interaktion zwischen beiden sprechen, es ist also von Vorteil, zunächst einmal zu definieren, was wir mit dem einen und dem anderen meinen. Mit „Geist“ meinen wir die mentale und emotionale Aktivität – jenen Teil von uns, der denkt, wahrnimmt, fühlt und erlebt. Das schließt die bewussten, kognitiven, intelligenten und gefühlsbedingten inneren Anteile von uns als menschlichen Wesen ein. Anders als das Gehirn besteht der Geist nicht aus Materie.

Buddhisten sehen den Geist als reine Klarheit und reines Gewahrsein. Klarheit bezieht sich dabei auf die immaterielle Natur des Geistes sowie auf den Geist als Spiegel, der alles reflektiert, was vor ihm auftaucht. Gewahrsein weist auf die Fähigkeit des Geistes hin, wahrzunehmen, zu erleben und uns mit Dingen zu beschäftigen.

Die Natur des Geistes ist grundsätzlich rein, klar und unberührt, obwohl er manchmal von störenden inneren Zuständen vernebelt ist, wie Anhaftung, Wut und Verwirrung. Eine Analogie kann hier hilfreich sein: Der Geist gleicht dem klaren Himmel, während seine Inhalte – Gedanken, Emotionen und so weiter – wie Wolken sind, die über den Himmel ziehen. Die himmelsgleiche Natur des Geistes an sich ist rein, die Wolken (Gedanken und Emotionen) sind kein inhärenter Bestandteil davon. Störende oder verstörende Gefühle trüben den Geist, sodass wir die Dinge nicht sehen können, wie sie wirklich sind. Glücklicherweise kann das aufgelöst werden, indem wir Weisheit entwickeln, die uns befähigt, die reine, himmelsgleiche Natur unseres Geistes zu erkennen.

Das Gehirn ist dagegen ein physisches Organ, das sich im Laufe der Evolution weiterentwickelte, aus Neuronen genannten Zellen besteht und mithilfe komplexer elektro-chemischer Prozesse funktioniert. Die Interaktion zwischen Geist und Gehirn ist kompliziert und das ist beispielsweise ein Bereich, in welchem wir leicht abweichende Standpunkte vertreten. Chodron betrachtet die Beziehung zwischen Gehirn und Geist als korrelativ: Sie ist der Ansicht, dass das Gehirn mentale Aktivitäten und Emotionen oft spiegelt oder reflektiert, sie aber kaum verursacht. Russell stellt mehr die Rolle des Gehirns als „Produzent“ unseres Erlebens der Realität in den Vordergrund und betrachtet seine physische Aktivität als Teil der Kausalkette, die unsere mentalen und emotionalen Erfahrungen hervorbringt, auch wenn es selbst wiederum von diesen Erfahrungen geformt wird. Wenn es um das Kultivieren von Mitgefühl geht, tritt dieser Unterschied in den Hintergrund. Während die Standpunkte in unseren Beiträgen möglicherweise ein wenig voneinander abweichen, verfolgen wir mit diesem Buch dennoch dasselbe Ziel: aufzuzeigen, wie man lernen kann, Geist und Gehirn zu unserem Besten zu nutzen, um Mitgefühl zu entwickeln – für ein besseres Leben und eine bessere Welt.

Format und Übersicht

Wir haben dieses Buch geschrieben, um Ihnen praktische Werkzeuge an die Hand zu geben, mit deren Hilfe Sie Ihren Geist so transformieren können, dass Sie in der Lage sind, Ihren innersten Werten wie Güte, Mitgefühl und Großzügigkeit im Alltag Ausdruck zu verleihen, wie unspektakulär Ihre Aufgaben und Interaktionen auch erscheinen mögen. Und vielleicht stellen Sie, wenn Sie von Mitgefühl erfüllt sind, sogar fest, dass keine Aufgabe oder Interaktion banal ist.

Wir haben eine Reihe von kurzen Beiträgen zusammengestellt, die Ihnen als Inspirationsquellen dienen sollen und die Praktiken und Techniken vermitteln, die Sie im täglichen Leben umsetzen können. Diese Beiträge werden Ihnen helfen, zu erkennen, wie Sie Mitgefühl in Ihren Alltag hineinbringen und mit Hindernissen umgehen können, die Ihre Fähigkeit, mitfühlend zu sein, auf die Probe stellen. Jedem Beitrag folgt eine kurze Betrachtung, die das Reflektieren über und die Umsetzung der im betreffenden Beitrag angesprochenen Punkte unterstützt.

Die Beiträge sind in sechs Hauptabschnitte gegliedert:

• Teil I dreht sich um die Definition von Mitgefühl, klärt, was Mitgefühl ist und was nicht, und untersucht, warum es sich lohnt, es in unser Leben hineinzubringen.

• Teil II hilft uns, uns auf das Kultivieren von Mitgefühl vorzubereiten, indem wir andere sensibler wahrnehmen und verstehen lernen, wie unsere Emotionen funktionieren.

• In Teil III geht es konkret um die Frage, wie man Mitgefühl entwickeln und kultivieren kann. Hier wird eine Reihe von Praktiken und Strategien vorgestellt, die uns helfen können, Mitgefühl in unser Alltagsleben zu bringen.

• Teil IV untersucht das Verhältnis zwischen Mitgefühl und unserer Art und Weise, uns mit anderen zu verbinden und mit ihnen zu kommunizieren.

• Teil V widmet sich den Hindernissen und Herausforderungen, mit denen wir beim Entwickeln und Kultivieren von Mitgefühl möglicherweise konfrontiert werden.

• Teil VI konzentriert sich auf spezifische Möglichkeiten, Mitgefühl in unser Leben zu bringen und in die Gesellschaft zu tragen.

Die Beiträge wurden zwar in einer bestimmten Reihenfolge geschrieben, aber die meisten können auch für sich allein gelesen werden. Vielleicht möchten Sie zunächst einfach ein bisschen im Buch blättern, ein zufällig aufgeschlagenes Kapitel lesen und im Laufe des Tages über diese Worte nachdenken. Da das Kultivieren von Mitgefühl ein Entwicklungsprozess und eine kontinuierliche Praxis ist, möchten Sie dieses Buch vielleicht immer wieder zur Hand nehmen und jedes Mal etwas mehr Wissen daraus beziehen.

Symbole

Da bei unserer eingehenden Betrachtung und Erforschung des Mitgefühls zwei verschiedene Traditionen zum Tragen kommen, dachten wir, es wäre vielleicht nützlich, zu wissen, wessen Stimme in den verschiedenen Beiträgen gerade im Vordergrund steht. Um daran zu erinnern, haben wir jedem Beitrag ein Symbol vorangestellt, um auf den Autor des jeweiligen Beitrags hinzuweisen. Russell wird durch das Symbol , (den griechischen Buchstaben Psi) repräsentiert, das oft für das Gebiet der Psychologie verwendet wird. Chodrons Beiträgen ist ein Dharma-Rad , vorangestellt, ein bekanntes buddhistisches Symbol. Man sagt, der Buddha habe „das Rad des Dharma gedreht“, das heißt, er lehrte, wie das menschliche Potenzial voll entfaltet und verwirklicht werden kann. Den Beiträgen, an denen beide Autoren in etwa gleichem Maße mitgearbeitet haben, ist das Symbol eines Lotos vorangestellt . Der Lotos ist eine wunderschöne Blume, die aus dem Schlamm emporwächst, von ihm aber nicht beschmutzt wird. Menschen, die ihre Fähigkeit zum Mitgefühl in höchstem Maße entwickelt haben, können in der Welt mit all dem Leiden und der Verwirrung leben, ohne davon negativ beeinflusst zu werden. In der buddhistischen Kunst wird der Buddha oft auf einem Lotos sitzend oder stehend abgebildet. Unten finden Sie auch einen Hinweis darauf, wer von uns welchen Beitrag verfasst hat:

Russell: 1, 2, 6, 8–10, 12, 13, 15, 16, 19, 20, 31–34, 36, 40, 48, 53–55, 60, 61, 64, 66, 69

Chodron: 3–5, 7, 11, 14, 17, 18, 21–30, 35, 37–39, 41, 46, 47, 49, 50–52, 56–59, 62, 63, 65, 67, 68

Gemeinsam: 42–45

Unsere Motivation ausrichten

In diesem Buch geht es darum, zu lernen, Mitgefühl in unseren Alltag zu bringen, wie hektisch oder fordernd dieser auch sein mag. Wenn man sich auf eine wichtige Reise begibt, lohnt es sich, einige Vorbereitungen zu treffen – und auf diese Reise kommt es ganz besonders an. Bereiten wir uns also gemeinsam darauf vor, indem wir uns mit der Frage der Motivation befassen, die ein wesentliches Element des Mitgefühls ist.

Haben Sie sich jemals gefragt, warum Sie tun, was Sie tun? Wir haben viele unterschiedliche Motive, die mit einer ganzen Reihe von Zielen verknüpft sind: Vielleicht wollen wir Beziehungen aufbauen, Geld verdienen, Status oder Besitz erwerben, einen Sinn im Leben finden oder glücklich werden. Manchmal sind uns unsere Motive auch überhaupt nicht bewusst und wir haken den ganzen Tag über eine „To-do-Liste“ ab, ohne uns im Klaren darüber zu sein, warum wir diese Dinge tun. Wir können uns allerdings für eine Motivation entscheiden und sie bewusst kultivieren, so wie wir Setzlinge in einem Garten hegen und pflegen. Insbesondere können wir beschließen, alles, was wir tun, zum Wohle aller Beteiligten zu tun. Und das hat beträchtliche Vorteile: Das Motiv hinter einer Tat – der Grund, warum wir dies tun – hat einen enormen Einfluss darauf, wie wir es tun, wie wir uns dabei fühlen sowie auf das Ergebnis der Aktion. Wenn wir innehalten, um uns bewusst auf eine mitfühlende Motivation auszurichten, bevor wir handeln, verändert sich im Laufe der Zeit unser Bewusstseinszustand, wir treffen klügere Entscheidungen und unsere Lebensqualität verbessert sich.

Wir alle haben verschiedene Verantwortlichkeiten und Pflichten im Beruf oder zu Hause. Stellen Sie sich vor, eine Ihrer Aufgaben bestünde darin, das Abendessen für Ihre Familie oder Ihre Mitbewohner zuzubereiten. Wenn Sie nach einem anstrengenden Arbeitstag müde nach Hause kommen, könnten Sie die Zubereitung des Essens leicht als eine weitere Erledigung auf Ihrer To-do-Liste abhaken. Vielleicht verspüren Sie sogar einen gewissen Widerwillen und denken: „Ich muss das tun“, selbst wenn es eine Aufgabe ist, die zu übernehmen Sie sich bereit erklärt haben und die ihnen oft Freude macht.

Stellen Sie sich vor, Sie würden mit einer anderen Haltung an die Zubereitung des Essens gehen. Was wäre, wenn Sie, zu Hause angekommen, „in einen anderen Gang schalten“ würden, indem Sie sich ein paar Minuten für sich allein gönnten oder einfach eine Minute tief durchatmeten, um die Spannung in Ihren Muskeln zu lösen? Was, wenn Sie sich dann bewusst auf die Motivation ausrichteten, eine schmackhafte Mahlzeit zuzubereiten, um diese Menschen zu nähren, die Ihnen am Herzen liegen, um ihr Leben besser zu machen? Stellen Sie sich vor, wie Sie dieses Essen mit einer Absicht zubereiten – einer Absicht, die die Werte widerspiegelt, die Ihnen wichtig sind, wie Güte, Liebe, Mitgefühl und Freundlichkeit. Stellen Sie sich weiter vor, wie sich die anderen freuen und durch die von Ihnen mit Liebe zubereitete Mahlzeit gestärkt werden. Wenn wir Mitgefühl in unsere Motivation hineinbringen, kann das die alltäglichsten Aufgaben auf eine andere Ebene heben. Wir können das Geschirr so spülen, dass andere daraus essen können, ohne krank zu werden. Als Eltern und Lehrer können wir Kinder leiten und gelegentlich disziplinieren, mit der Absicht, ihnen zu helfen, Qualitäten zu entwickeln, die ihnen zugutekommen, wenn sie heranwachsen. Wir können mit Kunden mit der Absicht kommunizieren, ihnen zu helfen, das zu finden, was sie brauchen und woran sie sich erfreuen. Buddhistische Lehrer ermutigen uns, unsere Motive zu hinterfragen, bevor wir handeln, um sicherzugehen, dass es keine selbstsüchtigen oder unfreundlichen sind und dass es unser höchstes Ziel ist, anderen zum Segen zu gereichen und dazu beizutragen, ihr Leiden zu lindern. Stellen Sie sich vor, sie würden aus der Motivation heraus handeln, alle Wesen – auch sich selbst – vom Leiden zu befreien. Bremsen Sie sich nun nicht mit dem Gedanken: „Das ist Unsinn, völlig unmöglich, das kann ich doch nicht.“ Stellen Sie sich einfach vor, wie Sie sich fühlen würden, wie Sie denken und handeln würden, wenn das Ihr Motiv wäre.

BETRACHTUNG:

Mit einer Motivation arbeiten

Denken Sie nun am Anfang unseres Diskurses über Mitgefühl einmal darüber nach, dieses Buch mit der Absicht zu lesen, positive Qualitäten zu entwickeln und zu kultivieren, damit Sie zum Wohlergehen aller beitragen können, mit denen Sie in Kontakt kommen, auch Sie selbst. Stellen Sie sich vor, dass Sie mit der aufrichtigen Motivation handeln, die Welt um Sie herum zu einem freundlicheren, glücklicheren Ort zu machen und das Leiden derjenigen zu verringern, mit denen Sie zu tun haben. Versuchen Sie, sich jeden Morgen, bevor Sie aufstehen, einen Moment Zeit zu nehmen, um Ihre Motivation auszurichten: „Heute will ich mein Bestes tun, um den Menschen, mit denen ich zu tun habe, mit Freundlichkeit und Mitgefühl zu begegnen.“ „Heute will ich versuchen, weniger zu urteilen.“ „Heute werde ich meinen Kindern ein Beispiel für Geduld und Beständigkeit sein, damit sie diese Eigenschaften verinnerlichen.“ Experimentieren Sie damit, jeden Morgen Ihre Motivation auf diese Weise auszurichten und schauen Sie, ob das Ihren Tag in irgendeiner Weise verändert.

TEIL I

Mitgefühl:

Was es ist, was es nicht ist
und warum es sich lohnt, es zu
entwickeln und zu kultivieren

Was ist Mitgefühl und warum brauchen wir es?

Die Definition von Mitgefühl, ob aus dem Wörterbuch oder vom Dalai Lama, beinhaltet immer zwei Elemente: Sensibilität für das Leiden und die Motivation, zu seiner Linderung beizutragen. Ersteres setzt die Offenheit voraus, sich angesichts von Schmerz und Leid berühren zu lassen – wir sind bereit, hinzuschauen, wenn wir und andere mit Problemen und Schwierigkeiten konfrontiert werden, und uns davon berühren zu lassen. Diese Erfahrung, vom Leiden bewegt zu sein, ruft das zweite Element wach: Die Motivation, zu einer Verbesserung der Situation beizutragen.

Seine Heiligkeit der Dalai Lama sagt oft: „Wenn du willst, dass andere glücklich sind, praktiziere Mitgefühl. Wenn du selbst glücklich sein willst, praktiziere Mitgefühl.“ Warum stimmen der Dalai Lama und so viele andere darin überein, dass gerade diese innere Qualität es wert ist, entwickelt und kultiviert zu werden? Das Leben kann schwierig sein und wir sitzen alle im selben Boot. Sogar wenn wir in eine privilegierte Situation hineingeboren werden, Eltern haben, die uns lieben und gut versorgen, gutes Essen im Überfluss, ein schönes Zuhause und Zugang zu Bildung und medizinischer Versorgung haben, hat dennoch jeder von uns große Schwierigkeiten im Leben zu überwinden. Jeder von uns wird mit Krankheit, Altern und Tod konfrontiert. Jeder von uns verliert geliebte Menschen. Manchmal geben wir unser Bestes und scheitern dennoch. Die meisten von uns wissen, wie es ist, wenn einem das Herz gebrochen wird – nicht nur einmal, sondern mehrmals. Manchmal tauchen auch andere schmerzliche Gefühle auf: Angst, Traurigkeit, Wut oder innere Unruhe. Das ist der Schmerz, der zum menschlichen Dasein gehört. Das ist der „Eintrittspreis“. Hinzu kommt, dass viele von uns in Situationen hineingeboren werden, die die normalen Schwierigkeiten noch übersteigen: ein missbrauchendes oder vernachlässigendes Elternhaus, extreme Armut oder ein kulturelles Umfeld, in dem systematisch bestimmte Menschen bevorzugt und andere benachteiligt werden. Das Leben ist eine Herausforderung und die Chancen sind alles andere als gleich.

Angesichts all dieses Leidens und dieser Not ist Mitgefühl die einzig sinnvolle Antwort. Natürlich könnten wir eine ganze Reihe anderer Dinge tun. Wir könnten uns aufregen, nach Sündenböcken Ausschau halten und wütend auf sie werden. Wir könnten einfach die Augen vor all den Dingen verschließen, die uns missfallen, könnten schmerzliche Gefühle unterdrücken oder mit Drogen oder Alkohol betäuben. Wir könnten den Blick abwenden, wenn wir mit dem Leiden anderer konfrontiert werden oder ihnen sogar die Schuld daran geben. Das Dumme daran ist nur, dass die Herausforderungen des Lebens – seien es unsere eigenen Gefühle, die wir nicht haben wollen, oder Konflikte mit anderen Menschen oder die Probleme in der Welt – nicht verschwinden, wenn wir sie ignorieren. Im Gegenteil, sie werden im Allgemeinen größer.

Obwohl es gewiss nicht einfach ist, dem Schmerz und all den Schwierigkeiten ins Gesicht zu sehen, hat dies dennoch einen großen Vorteil. Wenn wir erst einmal aufgehört haben, unsere Probleme zu leugnen, vor ihnen zu flüchten oder sie zu ignorieren, können wir daran arbeiten, die Dinge zu verbessern. Mit Mitgefühl auf die Welt zu schauen befreit uns von dem Drang, uns selbst und andere dafür zu verurteilen und zu beschämen, dass wir ganz menschliche Gefühle haben. Stattdessen können wir lernen, innerlich ausgeglichener zu werden, damit wir das Beste aus uns hervorholen können. Unsere Zuversicht und unser Selbstvertrauen wachsen, wenn wir die Erfahrung machen, dass wir schwierige Gefühle und Situationen konfrontieren und aushalten können und daran arbeiten können, die Dinge zu verbessern. Dieses Selbstvertrauen hilft uns, das Leben zu nehmen, wie es ist, ohne von Ängsten und Sorgen aufgefressen zu werden. Es lässt uns von einer ängstlichen Grundhaltung, mit der wir ständig potenzielle Fehler oder Probleme wittern, auf eine offenere, gelassenere Haltung umschalten, mit der wir auf Herausforderungen antworten und dennoch die guten Dinge des Lebens genießen können und dankbar dafür sind.

Ich (Russell) habe eine Therapiegruppe in einem Gefängnis aufgebaut, in der wir mit der Compassion Focused Therapy arbeiten. Dieses Programm soll den dort einsitzenden Männern helfen, zu lernen, auf mitfühlende Weise mit ihrer Wut umzugehen. Viele von ihnen gehen mit großen Vorbehalten in die Gruppe, weil sie meinen, Mitgefühl bedeute, schwach und verwundbar zu sein, „ständig nett zu sein“. Aber im Laufe ihrer Teilnahme verändert sich ihre Einstellung zum Mitgefühl dramatisch, wenn sie entdecken, dass Mitgefühl Mut erfordert, den Mut, den Problemen des Lebens und den starken Gefühlen, die manchmal hochkommen, ins Gesicht zu sehen. Es braucht Mut und Engagement, dabei zu bleiben, das Unbehagen auszuhalten, das wir unweigerlich verspüren, wenn wir uns mit diesen Schwierigkeiten auseinandersetzen und lernen, damit zu arbeiten. Mitgefühl ist alles andere als Schwäche.

Und Mitgefühl hat noch weitere Vorteile. Indem uns klar wird, dass wir alle im selben Boot sitzen, hören wir auf, mit dem Finger auf andere zu zeigen oder den Kopf in den Sand zu stecken, und fangen an, einander zu unterstützen. Unser aller Leben ist voller Herausforderungen und wir alle haben manchmal mit intensiven Gefühlen zu kämpfen. Wir können diesen Herausforderungen besser begegnen, wenn wir einander ermutigen. Wenn wir Verantwortung übernehmen, falls wir diejenigen sind, die die Probleme verursachen. Wenn wir uns sicher, angenommen und geschätzt fühlen, sind wir in der Lage, mit den Problemen in unserem Leben umzugehen und verantwortlich auf sie zu reagieren. Das ist ein Geschenk, das wir uns selbst und anderen machen können, ein Geschenk, das dem Gebenden genauso viel gibt, wie dem Empfangenden.

BETRACHTUNG

Drei Schüler und drei Lehrer

Stellen Sie sich vor, drei Schüler versuchten, eine schwierige neue Aufgabe zu bewältigen, wie beispielsweise ein Instrument zu spielen oder ein Mathe-Problem zu lösen. Alle drei haben mit der Aufgabe zu kämpfen. Ein Kind hat einen Lehrer, der es ignoriert und seine Schwierigkeiten gar nicht wahrnimmt. Ein anderes hat einen ungeduldigen Lehrer, der es ständig darauf hinweist, welche Fehler es macht, und es kritisiert. Das dritte Kind hat einen mitfühlenden Lehrer, der es sanft führt und ihm vermittelt, dass diese Aufgabe anfangs schwierig ist, der es aber ermutigt „dranzubleiben“ und der die Fortschritte des Kindes in den Vordergrund stellt. Welches Kind wird die besten Ergebnisse erzielen? Welchen Lehrer würden Sie bevorzugen?1