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Florian Ludwig

Brandenburg muss brennen, damit wir grillen können

Roman

Florian Ludwig wurde 1972 im Szenebezirk Rathenow/Brandenburg (damals noch DDR) geboren und veröffentlicht seit den frühen Nullerjahren in Blogs und diversen Punk- und Fußball-Fanzines (»Messeblatt«, »all to nah«, »Saufen aktuell«). Seit 2015 ist er Gastautor bei der Ostberliner Dissidentenzeitschrift »telegraph«.

Ludwig absolvierte diverse Lesebühnenauftritte zwischen Münster und Berlin, Kaiserslautern und Jena vor Fußballrabauken, Trinkern und weiterem Fachpublikum.

Er hat sich politisch engagiert und deshalb im Gefängnis gesessen. Im Oktober 2014 erschien sein Debütroman »Mit Fußfesseln bin ich nicht so flott« (Trolsen-Verlag).

Der Autor lebt mit seiner Familie in Berlin-Pankow.

E-Book-Ausgabe September 2018

© Volker Surmann, Berlin 2018
www.satyr-verlag.de

Cover: Karsten Lampe
Korrektorat: Jan Freunscht

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über: http://dnb.d-nb.de

Die Marke »Satyr Verlag« ist eingetragen auf den Verlagsgründer Peter Maassen.

E-Book-ISBN: 978-3-947106-17-2

Inhalt

Intro – Oder auch: Wer ist eigentlich Berndte?

Pioniermanöver

Berndte? Kiek an!

Riechsalz

Kassenbonkontrolle

Berndte – Kreisstadtpogo

Wir, die wunderlichen Widerständigen

Prag, du Perle

Hans-Dietrich stürmt den Gästeblock

Berndte – Brandenburg muss brennen

Noch ein König

Bauernrevolte

Ostler jawoll, Ossis aufs Maul

Berndte – Punkrock und Müßiggang

Wider die melodisch unterpinselte Massenkultur

Guten Morgen, Bomber-Manu

Opferpunks

Tschüss, Berndte

Ein bisschen Struggle

Island, halt’s Maul

Die Einschläge kommen näher

Jahreswechsel, ich beschütze die Katze

Revolution? 7:31 Uhr ab Bahnhof Gesundbrunnen, Gleis 4

Outro

Intro
Oder auch: Wer ist eigentlich Berndte?

Nach unserer Lesung, die wir als literarisches Trio in einem dieser angesagten Schuppen in Berlin-Friedrichshain hinter uns gebracht haben, teilen wir die Einnahmen des Abends auf. Eintritt, verkaufte Bücher, Austritt. Wie wild tippe ich auf dem Taschenrechner meines Handys und jongliere mit Zahlen. Einer der Kollegen hängt im Ledersessel und stöhnt:

»Mann, ick bin schon janz schön besoffen.«

Irgendwie komme ich zu einem Ergebnis und verteile an jeden eine zweistellige Summe. Der auswärtige Artist aus Sachsen-Anhalt bekommt wegen Reisekosten noch einen drauf. Verschämt nimmt er es an.

»Hier! Du musst da wohnen.«

Schön sitzt es sich, hier in einem sogenannten Backstageraum, dort, wo sich sonst nur durchtriebene Punkrocker und verkokste Elektroniker mit ihren Groupies lümmeln. Nur bei uns Vorlesetypen klopft kein Fräulein an die Tür.

Etwa 32 der 39 zahlenden Zuhörer waren männlich. Dafür brauche ich keinen Taschenrechner. Dabei hatte ich auch nichts anderes erwartet, wenn wir im Spaßbezirk mit Geschichten um die Ecke kommen, bei denen es sich um die Lieblingsbeschäftigung dreht, die uns alle eint: Besuche von Fußballstadien, ob nun in Magdeburg, West- oder Ostberlin.

Bei anderen Lesungen, bei denen ich meine Fußballhottenstorys eher beiläufig einfließen ließ, brachte ich auch schon die eine oder andere linksalternative Studentin zum Schmunzeln. An diesem Abend war jedoch klar, dass der Anteil an kernigen Freaks, aufgrund der offensiven Werbung zum Thema, hoch sein würde. Da der 1. FC Union am selben Nachmittag ein Heimspiel hatte, wurde es noch kerniger und freakiger als erwartet. Bereits vor Beginn der Lesung schnarchte ein erster Anhänger auf der Couch im Billardraum. Während ich eine meiner Geschichten vor mich hin ins Mikro trällerte, brüllte ein Unioner ständig dazwischen:

»Beeetooonung!«

Irgendwann reichte es mir, und ich entgegnete, dass ich weder Nina Hagen noch der bekloppte Stadionsprecher aus seiner Alten Försterei sei und er sich seine Stadionhymnen-CD zu Hause in den MP3-Player schieben soll, wenn er so auf Betonung steht.

»Wir lesen hier ausdrucksstark, dit muss reichen!«

Im Anschluss gab es noch eine schöne Geschichte von einem weiteren Nichtbetonenden, in der es um ein Landespokalspiel zwischen dem BFC und Union in den frühen Nullerjahren geht, nach dem die Fans von Union auf die Fresse bekommen hatten wie schon lange nicht mehr.

Nach der Lesung eskaliert es trotzdem nicht, weil der anschließend auflegende DJ selbst Unioner ist.

Ich tänzele durch den Veranstaltungsraum auf der Suche nach meinen Kumpels, also denen, die ich persönlich eingeladen habe und sich daraufhin nicht abzusagen trauten. Zwei Köpenicker schlafen den Schlaf des gerechten Rausches, einer mit dem Kopf auf dem Tresen, ein anderer mit dem ganzen Körper auf dem Ledersofa im Eingangsbereich. Ein befreundetes Pärchen ist auf der Jagd nach Widmungen für die frisch erstandenen Literaturerzeugnisse. Ich gebe ihnen einen wertvollen Tipp:

»Die beeden andern sind noch hinten! Backstageraum heißt der Puff.«

Meine Kumpels sitzen in einer eingeräucherten Ecke, fröhlich fraternisierend mit den Kräuterhexen vom Nebentisch. Ohne großes Hallo setze ich mich dazu.

»Na!?«

»Na!?«

»War janz jut.«

»Schön.«

Wir quasseln und trinken ein bisschen vor uns hin. Später wollen meine Kumpels noch zu einem Geburtstag, als Mitveranstalter der Lesung fühle ich mich hingegen verpflichtet, noch zu bleiben. Eigentlich könnte ich auch jetzt schon nach Hause fahren, da mich dieser nächtliche Kulturbetrieb mit all seinen Begleiterscheinungen schon seit Jahren nicht mehr motiviert, bis zum Morgengrauen durchzuziehen. Gut könnte ich mich jetzt in die Straßenbahn setzen und mit fieser Fresse den freien Sitzplatz neben mir gegen erlebnishungriges Partyvolk verteidigen.

Plötzlich greift mir ein Unbekannter von hinten an die Schultern.

»Ey, hab dein Buch jelesen. Janz schön was erlebt, wa? Schreibste noch eens?«

Am Tisch spitzen einige die Ohren.

»Jute Frage! Ideen sind da.«

Obwohl seit der Veröffentlichung meines Erstwerkes ein Jahr vergangen ist und ich doch einiges an Lesungen hinter mich gebracht habe, verschwende ich nur wenig Energie und Fleißarbeit an neue Geschichten. Klar ist nur, dass eine Mischung aus Fußball, Feierabendterrorismus und Alltagsboogiewoogie mit dem ersten Buch ausgereizt ist.

Der neugierige Fremde glotzt mich erwartungsfreudig an. Ich gebe mich selbstbewusst.

»Wird wohl um Punkrock und Krawall jehn. In Brandenburg, in den Neunzigern! Vielleicht auch mit Liebe.«

In Wirklichkeit ist diese Idee zum jetzigen Zeitpunkt noch relativ halbgar und wenig ausgereift. Sollte ich wirklich einen Erinnerungsschinken schreiben, der sich um Erlebtes, Skurriles und Schrulliges dreht? Um Typen und Freaks, die nach der Wende orientierungslos durch die Gegend schießen wie Luftballons, die nicht zugeknotet wurden? Konzerte, Faschos, billige Autos? Provinzbullen, Haschisch, Langeweile? Fußballspiele wurden in diesen bekloppten Zeiten auch besucht.

»Gabs dit nich alles schon mal?«, fragt einer der Gäste.

»Na klar! Aber eben nich aus Brandenburg. Dem Bundesland der Sülzefresser.«

Auf dem Weg zur Tramhaltestelle verdichten sich meine Gedanken. Die frühen Neunziger: Ich hab so viele Charaktere kennengelernt, die ich gut zu einer fiktionalen Hauptfigur zusammenschrauben könnte. Bilder, Erinnerungen, Momente; von Frust und Lust, von Fuck und Off, von Krieg und Frieden. Meine Schädelfestplatte rattert, ich stolziere motiviert durch das Friedrichshainer Halbdunkel. Auf der anderen Straßenseite schnauzt eine Punkmadame ihren Typen an: »Mann, Berndte, du Riesenrind!«

Halleluja, ein Baby sei euch geboren! Am Himmel leuchtet ein heller Stern.

Pioniermanöver

Da der Klassenfeind nie schlief, war in der DDR ständige Wachsamkeit angesagt. Zumindest wurde uns das so schon frühzeitig in der Schule eingebläut. Eine Maßnahme zur »Abwehr der imperialistischen Aggression« war die Einbindung von uns sehr jungen Heranwachsenden mittels Pioniermanövern. Eigentlich eine luschige Angelegenheit, waren doch unsere imitierten Massenschießereien mit Plastikpistolen und -gewehren, nachmittags auf dem Spielplatz, um einiges blutiger: Am Ende solcher Schlachten gab es viele tote Indianer und Cowboys oder auch mal verstorbene Russen und gefallene Zivilisten. Wer getroffen war, bestimmten die mit der größten Klappe. Nach einmal Bis-zehn-Zählen war der Tod dann vorbei, und man konnte sich wieder einbringen in die wüsten Ballereien, mit oder ohne Zündplätzchen.

Die von der Schule veranstalteten Pioniermanöver waren dagegen harmlose Schnitzeljagden. In unförmigen Trainingsanzügen standen wir ohne Gewehr bei Fuß und sollten mithilfe eines untauglichen Geländeplanes und eines Kompasses einzelne Zwischenstationen aufsuchen, dort irgendwelche Rätsel lösen oder anderen Quatsch beantworten, nur um dann weiterzuhetzen und am Ziel, mitten im tiefsten Mischwald, eine Erbsensuppe mit Bockwurst aus der Gulaschkanone hinunterwürgen zu dürfen.

Bei einer dieser paramilitärischen Großveranstaltungen verrannte sich unser stahlharter Klassenverband schon auf den ersten hundert Metern. Anstatt in Richtung Stadtforst trabten wir durch die Gartenkolonie nahe unseres Schulgartens. Erst nach einer Weile wunderten wir uns, warum keine der Stationen in Sicht kam, an denen uns entweder die Reinigungskraft aus der Turnhalle nach mindestens fünf Tieren des heimischen Waldes abfragte oder die Sportlehrerin uns über ein Hangelseil scheuchte.

Unser Klassenverbandsanführer fluchte über den scheiß Ostkompass, obwohl er ihn bis zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht benutzt hatte. Der Geländeplan gab zumindest so viel her, dass der Klassenstreber mit ihm klarkam. Er gab neue Richtungen vor, wir trabten ihm hinterher. Wertvolle Minuten waren verloren, aber auch mit schlechter Gesamtzeit durfte man sich im Ziel von der Erbsen- und Bockwurstkanone ins Visier nehmen lassen.

Auf dem Rückweg unserer siegreichen Bockwursttruppe in Richtung Schule begleitete uns unsere Klassenlehrerin Frau Kusch, damit wir nicht doch noch in einen fiesen Hinterhalt gerieten oder uns eventuell angreifende Tiefflieger in alle Richtungen scheuchten. Im lockeren Marsch ohne Gleichschritt trabten wir durch die märkischen Wälder.

Wir Jungs liefen hinten. Teuber, unser Klassenganove, der uns bald zwecks Wiederholung der siebten Klasse verlassen sollte, zauberte drei Zigaretten und eine Schachtel Risaer Streichhölzer aus der Tasche. Er grinste uns an. Drei Kippen mit Filter, alter Falter. Fünf Jungs ohne jegliche Erfahrung glotzten zurück. Teuber wollte wissen, ob wir richtige Frontschweine seien. Klar waren wir das, und schon einige Male hatten wir im Westfernsehen gesehen, wie amerikanische GIs lässig durch den vietnamesischen Dschungel schlenderten und dabei eine Lucky Strike zwischen den Mundwinkeln hängen hatten. Wenn so einem lahmen Pioniermanöver noch etwas abzugewinnen war, dann das pubertäre Nuckeln an einer Cabinet würzig. Teuber befeuerte eine Kippe nach der anderen und reichte durch. Nach den ersten Zügen erschall aus den meisten Pionierlungen ein mehr oder weniger kräftiges Husten. Nikotingeschwängerte Nebelschwaden zogen durch das waldige Kampfgebiet. Nachdem eines der Mädchen loskreischte, dass wir rauchen würden, befahl unsere Klassenlehrerin zwar nicht das sofortige Überziehen von Gasmasken, forderte aber im harschen Ton, sofort die Zigaretten auszumachen.

Bei der nächsten Elternversammlung verpetzte sie uns und entpuppte sich als Kameradensau und Verräterin. War die frühmilitärische Erziehung in der DDR daran schuld, dass ich ein Vierteljahrhundert später als militanter Friedensengel vor dem Berliner Kammergericht stand und wegen versuchten Ankokelns von Bundeswehrkutschen drei Jahre in den Knast abkommandiert wurde? Ja, nein, vielleicht. Bitte ankreuzen.

Berndte? Kiek an!

»Kartenzahlung erst ab zehn Euro!«

Konzentriert krame ich mein Kleingeld aus dem Geldbeutel, um der Servicetante im Bahnhofskiosk die 8,20 Euro bar auf den Tisch zu knallen.

»Hier! Wer keen Plastikjeld will, muss zähln!«

Zwischen uns entbrennt ein kleiner Wettkampf. Hat sie die Klimpermünzen schneller durchgezählt, oder habe ich die Fahrkarte für den Regionalexpress flotter verstaut? Würde sie mich aufhalten können, sollte die Summe nicht stimmen? Ich beeile mich nicht extra, werde aber den Becher Kaffee beim anatolischen Anbieter nebenan kaufen. Mit dem Schließen der automatischen Schiebetür grunzt die Verkäuferin mir hinterher: »Danke!«

Die Haltestelle Jungfernheide mit ihrem Westberliner Achtzigerjahre-Charme ist ein kleiner Zentralbahnhof für U- und S-Bahn sowie Reisende im Nahverkehr. Eigentlich hätte ich auch zum Potsdamer Platz düsen können, um dort den von mir vorgesehenen Zug in die Umlandprovinz zu entern. Von meinem Zuhause in Pankow wäre es genauso weit gewesen. Doch warum sollte ich mich dort am frühen Vormittag von Touristen dabei fotografieren lassen, wie ich die Rolltreppen auf und ab fahre, während mich am Bahnhof Jungfernheide die Typen, die sich schon um neun den ersten Döner reinleiern, gepflegt ignorieren.

Die Abfahrt des Zuges zieht sich noch hin, ich schlendere durch die zugigen Bahnhofskatakomben.

»Kleener Kaffee. Schwarz!«

Die Verkäuferin schenkt mir ein Lächeln und akzeptiert die 90 Cent in bar. Prima! Ein Verhuschter steht vor dem Blumenladen nebenan.

»Schenkste mir eine Mark?«

»Hier! Ne Zijarette.«

Er freut sich und grinst mir mit seiner ramponierten Knabberleiste hinterher: »Danke, Kolleje!«

»Nich dafür, Sensodyne-Sven.«

Auf dem Bahnsteig ist die Luft frisch und zugig. Kalt und feucht kriecht sie mir in Hals und Hosenbein. Ich verkrieche mich hinter einem Pfeiler und gucke den Pendlern sowie den Schnäppchengangstern, die in den Mega-Outletstore nach Elstal wollen, beim Schweigen zu. Es macht Spaß, die Leute zu kategorisieren. Der Mittfünfziger im schwarzen Mantel könnte ein Anwalt sein, er vertritt vielleicht einen Gebrauchtwarenhändler vor einem Amtsgericht in Nauen oder Rathenow. Zumindest seine Aktentasche sieht wie so ein Advokatenkoffer aus.

»Ja ja, is dir ejal, das olle Altöl einfach so in den Boden abzulassen«, denke ich, »für ein fettes Honorar machste dich auch für so nen skrupellosen Provinzzocker krumm.«

Zwei Jungs um die zwanzig wollen in den Outletstore, da bin ich mir sicher. Adidas, Douglas, Carhartt heißen ihre Tempel der Glückseligkeit, in denen sie sich erhoffen, jene Zutaten preisgünstig erstehen zu können, die ihnen auf dem Balz- und Baggermarkt einen sexuellen Vorsprung verschaffen. Lieber ein scharfer Prinz aus Moabit als eine Billigpalme aus Spandau sein.

In der Mitte des Bahnsteigs schnattert eine Schar aufgedrehter Rentner. Die wollen zur Landesgartenschau, so meine Vermutung. Bloß nicht mit denen ins selbe Abteil. Die quatschen die ganze Zeit vom schönen Leben. Tulpen, Astern, Kasseler Kotelett. Aufgedreht werden sie in ihren Broschüren blättern und von einem kurzweiligen Tag zwischen Rankelpflanzen und Schautafeln schwadronieren. In diesen Stimmungskessel wird dann selbst der Zugbegleiter miteinbezogen.

»Junger Mann, son kleiner Feichling wird ja Ihnen nich vaboten sein? Hahaha!«

»Mensch, Jünter, lass den Jungen arbeeten. Hahaha!«

Ja, dieser Truppe von Tatterhorsten und Diabeteshelgas gilt es, aus dem Weg zu gehen. Diese Mischung aus vertriebenen Schlesiern und Westberliner Wurststullenfressern ist ab Gruppen größer als zwei nur schwer zu ertragen, auch wenn die Fahrt nur eine knappe Stunde dauern wird.

Bis auf ein paar andere lichtlose Gestalten ist der Bahnsteig sonst ziemlich leer. Der Flaschensammler zählt nicht, der will wahrscheinlich nicht mitfahren. Auf dem gegenüberliegenden S-Bahnsteig ebenfalls gähnende Leere, potenzielle Fahrgäste verjubeln ihre Zeit auf dem Arbeitsplatz, im Jobcenter, in der Geschlossenen oder auf dem Friedhof.

Der Pfandflaschenselbstständige hat inzwischen das Ende des Regionalbahnsteiges erreicht und verhandelt mit einem Rohstofflieferanten, soweit ich das aus der Ferne erkennen kann. Sein Gegenüber ist mit Hund und Rucksack unterwegs. Punkige Haare, punkige Klamotten, wahrscheinlich ein Punk. Nicht mehr jung und noch nicht ganz alt. Eine Flasche, wahrscheinlich leer, wechselt ihren Besitzer. Ich beobachte diesen Alltagstransfer ohne Wertausgleich nicht weiter, die Automatenamsel plärrt aus den Lautsprechern ihr Lied vom einfahrenden Zug auf Gleis 4. Ich postiere mich mittig, um am Zielbahnhof sofort im Fußgängertunnel abtauchen zu können, bevor mir der restliche Reisemob einen zügigen Trab verhindert. Ein kurzer Blick zwecks Abstandskontrolle in Richtung der Bundesgartenschaurentner. Alles paletti, die sind weiter hinten.

Im Doppelstockwaggon orientiere ich mich aufwärts. Die oberen Sitzplätze garantieren einen weiten Blick über Berlins Vororte und brandenburgische Monokulturen. Würde vielleicht heute mal ein Jagdvogel in die Riesenwindräder fliegen, um von diesen frei drehenden Mühlen der regenerativen Stromerzeugung zu Frikassee verarbeitet zu werden? Ein Rudel von Füchsen, die einen unschuldigen Jagdhund aus Wannsee durch genmanipulierte Rapsfelder jagen? Entgleiste ICEs, flachgelegt auf märkischen Kartoffeläckern? Nein, wahrscheinlich wird es so langweilig wie immer – eine Fahrt, so monoton wie die Innenausstattung der Ostdeutschen Eisenbahngesellschaft. Die Werbeaufkleber des Unternehmens fragen bedrohlich, ob man diesen Zug nicht selber fahren wolle. Links, rechts, oben sind Überwachungskameras angeschraubt, damit der Zugbegleiter vorher schon gucken kann, ob ich mir die Fahrkarte nicht selber male. In den modernen öffentlichen Verkehrsmitteln wimmelt es nur so von dieser Spannertechnik.

Als der Zug anrollt, sitze ich bereits. Am Bahnhof Spandau fange ich an, meine Stulle mit Leberkäse zu verspeisen, und fühle mich beobachtet. Kurz vor Staaken wünscht mir der Schaffner guten Appetit. Lässig knipst er meine Fahrkarte, mit meinem Pappticket fordere ich ihm grundsolide Handarbeit ohne Scanner und RFID-Chip ab. Später wird er sich im Namen der Ostdeutschen Eisenbahngesellschaft über die Lautsprecher bei allen Fahrgästen für die Mitfahrt bedanken und noch einen schönen Tag wünschen, verbunden mit dem flehenden Hinweis, doch bald mal wieder eine angenehme Reise mit seiner Schaukel anzutreten.

Kurz vor der Haltestelle Elstal macht sich der konsumwütige Mob bereit zum Ausstieg. Es gilt, möglichst als Erster den Zug zu verlassen, um auf der Überführung in Richtung Outletstore nicht wertvolle Zeit im Fußgängerstau zu verlieren. Im Abteil ist es nun merklich leerer, die schnatternden Rentner sind nicht zu hören. Aber vielleicht wollten die doch bei Forever 18 oder New Yorker ein paar Röhrenjeans kaufen und sind ausgestiegen, anstatt weiterzufahren und auf der Bundesgartenschau Astern anzugaffen.

Ich lümmele mich in den Sitz und glotze aus dem Fenster. Keine Unfälle, keine Naturkatastrophen, nur grauer Himmel und ein einsamer Hase auf dem kahl rasierten Acker. Im Mittelgang höre ich eine Stimme: »Nun loof doch mal, du blödet Vieh.«

Der Flaschenspenderpunk kommt den Gang entlang und zieht seinen Köter hinterher, der anscheinend nicht mehr laufen will. Ich schalte um auf desinteressiert und schenke ihnen keine weitere Beachtung. Da erklingt plötzlich mein Spitzname, den ich vor langen Zeiten eigentlich abgeschafft hatte: »Mensch, Lude, wat machstn du hier!?«

Schon in der Schule nannten mich Freund und Feind »Lude«, abgeleitet von meinem Familiennamen. Warum auch nicht? Ein junger Mensch ohne Spitzname ist ein späterer Kandidat für ein tristes Leben als Randerscheinung. Erst als ich nach der Wende erfuhr, dass der Begriff »Lude« für jene Berufsgruppe stehe, welche Frauen nach bezahltem Geschlechtsverkehr die verdienten Mücken abknöpft, bemühte ich mich, diese Betitelung wieder loszuwerden, da ich nicht in Verruf geraten und für Gerüchte sorgen wollte.

Der Punk strahlt mich an, und erst jetzt erkenne ich ihn: »Ach! Tach, Berndte. Lange nich jesehn, wa? Setz dich!«

Na ja, der Berndte. Er hatte sich verändert. Aber nach anderthalb Jahrzehnten galt das wohl auch für mich. Trotzdem war er noch forever Punk.

»Hast dir verändat, Lude. Bisschen auseinanderjejangen, wa?«

»Na, kiek dir mal deine Sufffresse an. Wie heißtn der Hund?«

»Stalin. Willsten Bier?«

Da sitzt er mir gegenüber, der Berndte, während Stalin sich unter die Sitze verkriecht. Erinnerungen an wilde Provinzpunkzeiten kommen in mir hoch. Berndte verkörpert in diesem Moment all die ganzen Nasen, die in den Neunzigern in unserer kleinen Stadt, egal ob mit Bierpulle, E-Gitarre oder Zwille bewaffnet, die Flagge der Rebellion hochhielten.

Berndte kramt in seinem speckigen Rucksack und holt klappernd zwei Flaschen Sternburger an das Tageslicht. Frühstück ohne Kaiserschnitt. Stalin hält die Nase in den Klimaanlagenwind und schnuppert.

»Für dich gibts jetz nischt. Hinlegen!«

Mit Feuerzeug und Bauarbeitercoolness köpft er die beiden Billigbiere und reicht mir eins rüber.

»Prost erst mal, Lude! Uff die alten Zeitn.«

»Ja, ja, Cheers. Wohin willstn?«

Berndte sagt erst einmal nichts und nimmt einen langen Schluck. Stalin schielt mit einem Auge hoch zu seinem Herrchen. Ein Hundeblick, so hoffnungslos wie routiniert. Berndtes Rucksack lässt mich einen längeren Trip vermuten.

»Kurz mal bei meine Alten Jutn Tach sagn und danach uffs Land. Ick hab da ne Freundin, weeßte.«

»Uffn Dorf? Verpass die Postkutsche nich«, halte ich mich kurz.

»Wir sind schon ne Weile zusammen«, gibt Berndte sich monogam, »meene Süße macht da mit andern Leuten uff Landkommune. Hühner, Hunde, jute Luft und so.«

»Stressurlaub für Stalin, wa!?«

Die Regionalbahn trollert so dahin, und wir zuppeln an unseren Vormittagsbieren. Kurze Gesprächspause, abschweifende Gedankengänge. Bilder aus den Neunzigern kommen hoch, Konzerte, Haschisch, Action. Berndte war oft mit dabei, seine verschworene Combo innerhalb unserer kleinen Szene hatte einen gewissen Ruf. Preisgünstige Fahrräder waren bei ihnen genauso zu haben wie die blauen Flecken, die man sich holte, wenn man ihnen beim Pogo tanzen zu nah kam. Je krawalliger die Band, desto wilder zelebrierten sie ihren Volkstanz. Bei einem Spiel des FC St. Pauli in Berlin schlappten er und seine Kumpels mit Plastiktüten an den Füßen durch den Gästeblock. Dass in den Stadien der Bundesrepublik Boots mit Stahlkappen seit Jahren verboten waren, war glatt an ihnen vorbeigegangen.

»Und, Berndte, immer noch unterwegs? Konzerte, Fußball und so?«

»Ach, mal son gepflegter Auftritt von ner Band, die coole Mucke macht, da bin ick noch dabei. Neulich war ick bei EA80 im SO36. War jut. Und du, Lude? Wie heißt der Verein, wo du die letzten Jahre immer hinjerannt bist? Blau Weiß Neunzich?«

»Tennis Borussia, Berndte, kurz auch TeBe betitelt. Jepp, da geh ich noch hin.«

Vor ein paar Jahren hatten wir uns dort mal getroffen, als TeBe gegen St. Pauli in der ersten Runde des DFB-Pokals spielte. Berndte und ein paar andere Punks hingen vor dem Gästeeingang ab, um für einen Tag als lässige Norddeutsche durchzugehen. Unsere Begrüßung war kurz und wurde herzlos, als ich verkündete, dass ich weitermüsste, zum Heimeinlass. Für Berndte und Co war ich ab dem Moment der Freak, der zum Berliner Bonzenclub rannte. Von unserer kleinen Combo im Block E konnten sie nichts wissen, waren wir doch eine von vielen Randgruppen mit entsprechender Attitüde, die in einer großen Stadt schnell mal untergingen. Etwas später erfuhr ich, dass Berndte und Anhang während des Spiels die Vereinsfahne von TeBe von der Fahnenstange im Stadion geklaut hatten, um sie später in ihrer Wärmestube mit Eddingstiften zu besudeln. Jahre später, als TeBe zweimal abgestiegen war und beim Fußballverein in unserem ehemaligen Heimatkaff zum Punktspiel antreten musste, besuchten wir nach dem Match noch die Kneipe, veranstalteten lila-weiße Berliner Folklore und nahmen die inzwischen verranzte Fahne wieder mit in die Hauptstadt. Ein paar Gestalten in Lederjacken leisteten keine Gegenwehr, hingen am Tresen und grinsten uns an.

»Hä, hä.«

»Schöne Bilder mit nackige Frauen habta hier in eurem linken Café an der Wand«, meinte ein Berliner Fan.

»Hö, hö.«

Drei trinkfeste Brüder schenkten uns ihr charmantestes Lächeln.

Inzwischen ist das Bier alle, und wir nähern uns unserem Zielbahnhof. Berndte will mir noch ein Wegbier andrehen, ich lehne dankend ab.

»Mensch, Lude, nun sind wa schon fast da«, stellt Berndte richtigerweise fest. Er zottelt an der Hundeleine, und Stalin macht sich mit einem ausgiebigen Gähnen bemerkbar. In Berndtes Rucksack klappern noch mindestens drei Flaschen Bier.

»Na klar, Berndte, war jut. Danke fürs Sterni!«

Gemeinsam schlendern wir durch den Bahnhofstunnel. Stalin kläfft die Rentnergruppe an. Westbrandenburgische Reviermarkierung. Eine Mittfünzigerin mit Serviceweste hält uns keine Broschüren über die Bundesgartenschau unter die Nase. Für sie sind wir keine Blumenfreunde, die den Weg zum Shuttlebus wissen wollen. Auf dem Vorplatz lässt Berndte zwecks Auslaufs seinen Hund von der Leine. Stalin dreht eine Runde und lüftet seine Zunge. Anschließend kackt er in die Blumenrabatten, die den in Stein gemeißelten berühmten Sohn der Stadt umgeben. »Ohne Hermann keine Brille, ohne Duncker keine Durchsicht.« Die Stadt der Optik sieht so trostlos aus wie immer. Die Rentner tapern zum Shuttlebus. Aus der ehemaligen Mitropa, die jetzt ein Spielautomatencasino ist, stolpert ein angetrunkener Typ. Berndte bleibt am Bahnhof hängen, um den Busfahrer der Stadtlinie auf sein Herz für Tiere zu testen. Seine Eltern wohnen inzwischen in einer Einfamilienhaussiedlung am Stadtrand. Sie sind, wie viele, dem Plattenbaughetto im Stadtteil Ost entflohen. »Warum also laufen«, meint Berndte zum Abschied noch zu mir und köpft sein drittes Sternburger. Ob der Busfahrer ein Herz für Sternitrinker hat, sollte sich mir nicht mehr erschließen.

Gemächlich schlendere ich durch die herzlose Stadt und lasse meine Begegnung mit Berndte nachwirken. Es ist immer schräg, Leute zu treffen, die ich Jahre nicht mehr gesehen habe. In den ersten Minuten entscheidet sich meistens, ob wir uns noch etwas zu sagen haben. Falls nicht, und wenn dann der Absprung nicht geschafft wird, kann es anstrengend werden. Mit Berndte war es aber in Ordnung, auch wenn wir unterschiedlich ticken. Er St. Pauli, ich TeBe, er ein Sternitrinker, ich ein Berliner-Pilsener-Prominenter. Aber Berndte ist eine der Kutten, die mir ehrlich begegnen, ohne Verstellung und ohne Verschraubung. Kein inszeniertes Geträller, keine geheuchelte Freude. Ich freue mich über die Berndtes dieser Welt und verachte die Pseudos dieses Sonnensystems. Hinter mir schallt es über den Bahnhofsvorplatz: