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Über dieses Buch:

Was wären wir ohne unsere Träume? Chary wünscht sich eine glückliche Beziehung und ihren Durchbruch als Schriftstellerin –stattdessen hat sie eine Schreibblockade und einen Freund, der es mit der Treue nicht so genau nimmt. So geht das nicht weiter! Wenn das Glück nicht zu ihr kommt, muss Chary ihm eben selbst auf die Sprünge helfen … Also reist sie kurzentschlossen an Spaniens sonnige Südküste. Kaum in der Ferienwohnung angekommen, stolpert Chary prompt ihrem äußerst charmanten Nachbarn vor die Füße. Der ist eigentlich wie gemacht für ein unvergessliches Abenteuer! Doch als sie seinen besten Freund Patrick kennenlernt, schlägt ihr Herz schon wieder Saltos. Chary muss entscheiden, auf welchen der beiden potentiellen Traumtypen sie sich einlassen will … und ob sie den Mut hat, die Heldin in ihrer eigenen Liebesgeschichte zu sein!

Über die Autorin:

Ana Capella ist das Pseudonym einer 1963 geborenen Autorin. Nach ihrem Studienabschluss in Wirtschaftswissenschaften, Psychologie und Französisch wanderte sie nach Spanien aus, wo sich auch heute noch mit ihrem französischen Partner und ihren vier Kindern lebt. Unter ihrem zweiten Pseudonym Lea Korte veröffentlichte die Autorin bereits zahlreiche historische Romane, in denen sich die reiche Kultur und Geschichte ihrer Wahlheimat widerspiegeln.

Bei dotbooks veröffentlichte die Autorin auch ihre Romane »Sommerregenküsse«, »Sommerblumenträume« und »Sommerkuss und Meeresglitzern«.

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Aktualisierte eBook-Neuausgabe August 2018

Dieses Buch erschien bereits 1998 unter dem Titel »Tequila, Tapas und ein Traummann« bei Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München, und 2015 als Neuausgabe bei dotbooks GmbH, München

Copyright © der Originalausgabe 1998 by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München

Copyright © der Neuausgabe 2015 dotbooks GmbH, München

Copyright © der aktualisierten Neuausgabe 2018 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von Bildmotiven von shutterstock/Kletr, Matusciac Alexandru, Juanjo Tugores, Nella und Oteera

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)

ISBN 978-3-96148-236-8

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Ana Capella

Sommerduft und Strandgeflüster

Roman

dotbooks.

Für Mama und Alina. Y para Dolores! And my special thanks to Emily.

1. Kapitel

»Aber Sebastian, das kannst du doch nicht machen!«

Fassungslos sank Chary auf einen der Esszimmerstühle und starrte ihren Mann mit vor Schreck geweiteten Augen an. »Du kannst mir doch nicht … du kannst mir doch nicht einfach meine Schecks wegnehmen! Wie soll ich denn ohne Schecks an Geld kommen?«

»Die Schecks, Chary!« preßte Sebastian wütend hervor, wankte noch einen Schritt auf sie zu und streckte ihr ebenso fordernd wie drohend seine große Pranke entgegen. »Und zwar ein bißchen plötzlich!«

»Aber so warte doch mal, so hör doch«, stammelte Chary und versuchte, der in ihr aufsteigenden Panik dadurch Herr zu werden, daß sie ihre Hände zu Fäusten ballte, bis sich ihre Fingernägel schmerzhaft ins Fleisch bohrten. Bleib ruhig! beschwor sie sich, verdammt noch mal: bleib ruhig! Wenn du jetzt anfängst, hysterisch zu werden, machst du ihn nur noch wilder, und so stockbesoffen, wie er ist, ist er dann zu allem fähig! Es wäre ja schließlich nicht das erstemal, daß er dich in diesem Zustand windelweich prügelt. Ruhig, ganz ruhig mußt du mit ihm reden!

»Sebastian, bitte! So nimm doch Vernunft an. Wir leben in Spanien! Ich kann hier nicht um die nächste Ecke gehen und mir eben mal bei meiner Mutter Geld leihen.«

»Die Schecks, Chary! Ich sage es nicht noch einmal!«

»Aber warum, Sebastian? Warum? So komm doch zu dir: du weißt ganz genau, daß ich noch nie auch nur einen einzigen Pfennig von unserem Geld ausgegeben habe, der nicht wirklich dringend nötig gewesen wäre! Du bist doch wohl derjenige, der …«

»Die Schecks, Chary! Die Schecks, oder ich vergesse mich!«

»Aber wie denkst du dir das denn«, stotterte Chary. »Außerdem ist es genauso mein wie dein Konto und …«

»Irrtum: es war dein und mein Konto! Sobald ich die Schecks habe, ist es nämlich nur noch mein Konto!«

»Und wovon soll ich einkaufen gehen?«

»Chary!«

»Gib mir wenigstens etwas Geld, dann gebe ich dir auch die Schecks!« brachte Chary nervös hervor und überlegte verzweifelt, wie sie ihn hinhalten konnte, während ihr Blick zur gleichen Zeit abschätzend zwischen seiner bedrohlich zuckenden Hand und der Treppe hin und her hastete: wenn sie rasend schnell wäre, könnte es ihr vielleicht gelingen, mit einem Satz an ihm vorbeizuhechten, die Treppe hinunterzurasen, aus dem Haus …

»He! So nicht!« Sebastian grinste plötzlich, ein breites, häßliches, widerliches Grinsen, schwankte mit schweren Schritten zur Treppe herüber und baute sich breitschultrig vor dem Absatz auf. »Diesen deinen Fluchtblick kenne ich mittlerweile. O nein, mein liebes Mädchen – du kommst hier nicht weg, bevor du mir nicht die Schecks und die Scheckkarte ausgehändigt hast.«

»Aber ich, also, ich ha-habe die Schecks und die Karte gar nicht hier, weil … weil ich sie nämlich gestern …«

»Schon wieder was versteckt, wie? Das scheint ja derzeit dein allerliebstes Hobby zu sein!« Sebastians Grinsen wurde noch eine Spur breiter, noch eine Nuance verächtlicher, dann kniff er plötzlich die Augen zusammen, als müßte er seine ganze Energie aufwenden, um sich auf etwas konzentrieren zu können, und warf einen Blick auf seine Uhr.

»Scheiße«, brummte er. »Ich muß ja nach Palamós, um mir dieses Boot anzusehen.«

Er warf Chary einen herrischen Blick zu.

»Ich kann dir nur raten, die Schecks schleunigst herbeizuschaffen! Wenn ich zurückkomme und sie nicht auf diesem Esszimmertisch vorfinde, dann – dann gnade dir Gott: ich vertrimme dich, daß du nicht mehr weißt, ob du Männlein oder Weiblein bist!« Abrupt wandte er sich zum Gehen.

»Aber Sebastian …«

»Ach so!« Auf halber Höhe der Treppe drehte er sich noch einmal zu ihr um, zog ein kleines, ölverschmiertes Teil aus seiner Hosentasche und hielt es baumelnd in die Luft. »Damit dir die Besitzverhältnisse hier endlich ganz klar werden: Gemäß Paragraph 17 b der Straßenverkehrsordnung ist ungezogenen Ehefrauen das Führen von Kraftfahrzeugen untersagt.«

»Ja, bist du denn jetzt völlig übergeschnappt! Du kannst doch nicht mein Auto lahmlegen! Sebastian, so warte doch! Sebastian!« Chary sprang auf und stürzte ihm hinterher. »Und überhaupt: wie soll ich denn ohne Auto die Schecks herbekommen?«

Gleichgültig zuckte Sebastian mit den Schultern und warf die Tür hinter sich ins Schloß – und Chary starrte ihm starr vor Angst durch das Fenster hinterher.

Doch schon wenige Sekunden später fühlte sie wieder Leben durch ihre Adern jagen. Sie mußte hier weg. Und wie sie hier wegmußte! Schließlich kannte sie Sebastian lange genug, um zu wissen, daß seine Worte keine leeren Drohungen waren. Sie mußte – sie mußte! – hier weg sein, bevor er wiederkam. Aber das Auto! Wie sollte sie denn das Auto wieder fahrbereit bekommen? Wenn sie nur etwas mehr von Technik verstehen würde, nur wüßte, welches Teil er ihr da entgegengehalten hatte. Oder ob er vielleicht nur geblufft hatte?

Der Schlüssel! Wo hatte sie jetzt wieder diesen verflixten Autoschlüssel versteckt? Dieser Mann machte sie allmählich wahnsinnig! Warum konnte er sie nicht einfach in Ruhe lassen? Warum mußte er sie mit seinem besoffenen Kopf in einer Tour drangsalieren? Ihr dauernd andere wichtige, ja lebensnotwendige Dinge wegnehmen?

Chary sauste die Treppe hoch und sah sich hektisch im Wohnzimmer um. Dann fiel ihr ein, daß sie den Schlüssel unten im Badezimmerschrank zwischen den Handtüchern deponiert hatte. Mit drei Sprüngen war sie die Treppe wieder hinunter, flitzte ins Bad, zerrte Handtuch um Handtuch aus dem Schrank, bis der Schlüssel mit einem dumpfen Klappern zu Boden fiel …

Sie raste aus dem Haus, die Treppe hinunter, sprang in ihren Wagen, steckte den Schlüssel ins Zündschloß, drehte ihn um und – ja, der Motor gab Geräusche von sich … Bitte, spring an! Spring an!

Aber er sprang nicht an.

Der Choke! Sie hatte ja auch den Choke nicht gezogen. Diese alte Gurke von einem Citroën sprang ja sowieso schlecht an. Also noch einmal ganz in Ruhe – in Ruhe, verdammt!

Chary biß die Zähne zusammen, zog den Choke bis zum Anschlag heraus, trat viermal auf das Gaspedal, sendete ein Stoßgebet und drehte den Zündschlüssel herum. Eueueueueueu – kein Funke! Diese verteufelte Kiste wollte einfach nicht!

Fluchend drückte Chary den Hebel für die Motorhaube herunter, sprang aus dem Wagen, öffnete die Motorhaube und sah sofort, daß das Reserverad fehlte. Sie blickte sich um: ja, es lag gegen die Gartenmauer gelehnt. Er hatte also nicht geblufft!

Den Tränen nah knallte Chary die Motorhaube zu, rannte wieder nach oben ins Wohnzimmer und schnappte sich das Telefonregister. Einen Mechaniker. Sie brauchte einen Mechaniker. Wie hieß denn diese Werkstatt, zu der Sebastian immer ging? Maris … Mura … irgend etwas mit M … Hektisch blätterte Chary das Register durch, fand aber keine auch nur im entferntesten ähnlich klingende Eintragung, pfefferte es schließlich mit hilfloser Wut auf das Sofa und warf einen Blick auf ihre Armbanduhr: zwanzig vor vier. Zehn Minuten mochten vergangen sein, seit Sebastian weggefahren war. Zwanzig Minuten würde er für seinen Weg nach Palamós brauchen. Dort würde er sich dieses Boot ansehen, das er kaufen wollte, vielleicht eine Probefahrt machen, zurückfahren … Alles zusammen blieb ihr also wenigstens eine gute Stunde – wenn er es sich nicht plötzlich anders überlegte und die Verabredung mit diesem Mann doch noch platzen ließ. Aber daran durfte sie noch nicht einmal denken!

Die Gelben Seiten!, schoß es ihr durch den Kopf. Natürlich! In fliegender Hast suchte sie die erstbeste Werkstatt in der Nähe heraus und wählte ihre Nummer; nervös attackierten ihre Fingernägel den Apparat. Hoffentlich nahm bald einer ab!

»Sí!« Ein Aufschrei der Erleichterung. »Hola. Buenos dias. Tengo un problema con mi coche y …«

Die jugendliche Stimme am anderen Ende des Telefons verkündete ihr fröhlich, daß sie ihren Vater an den Apparat holen würde. Chary stöhnte ein ergebenes »Vale. Espero.« Ist gut, ich warte.

Als Chary den Vater endlich am Apparat hatte, versuchte sie, ihre Panik nicht durchklingen zu lassen: Wenn sie bei dem Mann den Eindruck erweckte, daß er es mit einer Verrückten zu tun hatte, würde sie ihn wohl kaum dazu bewegen können, herzukommen. Um ihm trotzdem die Dringlichkeit ihres Anliegens klarzumachen, faselte sie etwas von einer Freundin, die sie zum Flughafen fahren müsse, aber nicht könne, weil sich ein Freund von ihr einen Scherz erlaubt und irgend etwas aus ihrem Motor ausgebaut habe. Ob er nicht bitte, bitte!, sofort kommen könne. Die Stimme am anderen Ende lachte heiser und versprach, in einer Viertelstunde da zu sein. Chary wollte schon auflegen, als die Stimme rief: »He! Señora! Wo soll ich denn hinkommen?«

Chary erklärte ihm den Weg: Beim Fahrradgeschäft ›Bici‹ müsse er rechts einbiegen, auf dieser Straße fahren, bis der geteerte Weg in einen Schotterweg überginge und dann noch ca. 500 Meter weiter in den kleinen Wald hinein. Irgendwann sehe er dann einen Weg, der rechts hochging. Dieser Weg führe zu ihrem Haus. Es sei ganz leicht zu finden: es gab dort kein anderes Haus. Als sie auflegte, fragte sie sich wohl zum fünfzigsten Mal in den letzten Wochen, wieso, um alles in der Welt, sie eigentlich zugestimmt hatte, ein derart abgelegenes Haus zu kaufen. Aber sie wußte schon, warum: weil sie es liebte, ohne Nachbarn zu leben, es liebte, tun und lassen zu können, wonach immer ihr zumute war, mit nichts als Ruhe und trautem Vogelgezwitscher um sich herum. Und als sie das Haus vor zwei Jahren gekauft hatten, hatte sie ja nicht ahnen können, daß sie einmal auf den Schutz von Nachbarn angewiesen sein würde und daß sich Sebastian hier so … ja, wie sollte sie es nennen: daß er sich hier so verändern würde? Daß aus ihrem sanftmütigen Ehemann ein trunksüchtiger, prügelnder Chaot werden würde? Aber für solche Gedanken blieb ihr jetzt wahrhaftig keine Zeit. Viertel vor vier. Ihr blieb noch nicht einmal mehr eine Stunde, um das Nötigste einzupacken. Und in der Zwischenzeit konnte sie nur hoffen, daß diese spanische Viertelstunde des Mechanikers wirklich nur eine Viertelstunde war.

Chary hatte gerade begonnen, im Bad ihre Sachen in eine Reisetasche zu packen, als sie ein durchdringendes Hupen zusammenfahren ließ. Ihr erster Gedanke war: Sebastian! Wenn er jetzt schon zurückkam! Windelweich würde er sie prügeln, wenn er herausfand, daß sie, statt ihm die Schecks auszuhändigen, ihre Sachen packte! Oder sie womöglich gleich umbringen! Mit wild jagendem Herzen hetzte Chary an das Schlafzimmerfenster – ein Mann stieg aus einem Renault-Kastenwagen – kein Zweifel: der Mechaniker. Und das schon nach zehn Minuten!

Sie lief ihm entgegen, setzte ihm das ganze Problem noch einmal in wenigen Worten auseinander, ignorierte sein ungläubig-süffisantes Lächeln, als sie ihm wieder mit diesem ›ein dummer Scherz von einem Freund‹ kam, dachte mit einem Anflug von Galgenhumor, daß er noch viel ungläubiger lächeln würde, wenn sie ihm erzählen würde, daß sie gerade dabei war, mit nichts als 10.000 Peseten und drei Schecks vor ihrem verrückt gewordenen Ehemann zu fliehen, und drückte ihm dann entschlossen den Autoschlüssel in die Hand.

Mit zufriedenem Grinsen quittierte er das matte Leiern des Motors, öffnete die Motorhaube, wackelte an ein paar Kabeln und pfiff dann plötzlich anerkennend:

»Ihr Freund scheint ja eine Menge von Autos zu verstehen!« Er wandte sich zu Chary um und grinste. »Keine dumme Idee, die ihr Freund da hatte. Der Verteilerfinger – wirklich, keine dumme Idee!«

»Aber Sie können es doch reparieren, nicht?«

»Ich muß nur einen neuen Verteilerfinger einbauen, allerdings habe ich keinen dabei.«

»Aber Sie haben doch sicher einen in der Werkstatt!«

»Natürlich, aber ob ich auch den für ihr Modell passenden habe …das wäre schon der blanke Zufall!«

»Aber ich muß doch meine Freundin zum Flughafen fahren!«

»Warum rufen Sie denn Ihre Freundin nicht an, und sagen ihr, sie soll sich ein Taxi nehmen?«

Ich kann doch nicht meine letzten 10.000 Peseten einem Taxifahrer in den Rachen werfen, zumal ich noch nicht einmal weiß, wohin ich überhaupt soll, hätte Chary ihm am liebsten vorgehalten, doch sie bezwang sich und setzte ihr hilflosestes Lächeln auf, was ihr bei ihrer seelischen Verfassung auch leicht gelang:

»Bitte, ich kann meine Freundin nicht anrufen. Sie hat kein Telefon, und sie muß dieses Flugzeug unter allen Umständen erreichen! Können Sie sich das Teil nicht notfalls in einer anderen Werkstatt besorgen?«

Unschlüssig wiegte er den Kopf, nickte dann und stieg brummelnd in seinen Wagen. »Will sehen, was ich machen kann.«

Chary sah ihm nach und dachte: Und was, um alles in der Welt, mache ich, wenn er nicht mehr auftaucht?

Und wieder sauste Chary die Treppe hoch, fegte oben im Bad ihre restlichen Cremes in die Reisetasche, knäulte ein paar der überall herumliegenden Handtücher hinein, lief ins Schlafzimmer und stopfte noch einige Kleider dazu. Als sie fertig war, war der Mechaniker noch immer nicht zurück. Ein rascher Blick auf ihre Uhr mahnte sie, daß schon 35 Minuten ihrer kostbaren Zeit zerronnen waren. Sie konnte unmöglich riskieren, noch länger als zwanzig Minuten zu warten. Schlimmstenfalls würde sie mit ihrer Reisetasche eben zu Fuß losgehen müssen.

Chary angelte sich ihre Handtasche unter dem Bett hervor, warf einen raschen Blick hinein, ob die Schecks auch wirklich noch darin waren, atmete dann erleichtert auf und blickte sich um, ob sie nicht noch etwas Wichtiges vergessen hatte. Schließlich war ja nicht abzusehen, wann beziehungsweise ob sie überhaupt noch einmal herkommen konnte. Denn über eines machte sie sich keine Illusionen: wenn Sebastian feststellte, daß sie ausgerissen war, würde er sie suchen wie der Teufel die arme Seele. Und wehe, wenn er sie dann erwischte!

Sie durfte also nichts Wichtiges vergessen, sie durfte einfach nicht!

Der Computer! schoß es Chary durch den Kopf. Ihr Buch! Wie sollte sie denn ohne den Computer ihr Buch fertigschreiben! Auch wenn Sebastian sich hundertmal darüber lustig gemacht hatte, daß sie sowieso nie jemanden finden würde, der ihr ›ihren Quatsch‹ abkaufen würde – sicher war doch nur eines: ohne den Computer würde sie es noch nicht einmal beenden und folglich erst gar niemandem anbieten können! Außerdem bestand die Chance, daß sie sich mit Übersetzungen ein paar Peseten verdienen konnte, und auch hierfür brauchte sie den Computer. Daß sie daran aber auch nicht zuerst gedacht hatte!

Und schon warf Chary ihre Hand- und die Reisetasche vor die Haustür, hetzte in ihr Arbeitszimmer, zog in fliegender Eile die Verbindungskabel ab, schnappte sich Tower, Keyboard und Maus, rannte damit zum Wagen hinunter und verstaute alles im Kofferraum. Natürlich war all dies hier sinnlos, wenn der Mechaniker nicht rechtzeitig auftauchte und ihren Wagen nicht in Windeseile fahrbereit machen konnte, aber wenigstens versuchen mußte sie es!

Und wieder hetzte Chary die Treppe hoch, rannte diesmal mit dem Monitor hinunter, eilte – allmählich naßgeschwitzt und atemlos – wieder hoch, trug den Drucker nach unten, keuchte wieder nach oben, griff sich noch ihre Aufzeichnungen, einen Packen Laserdruckerpapier, sammelte vor dem Haus ihre Taschen ein und verstaute auch diese noch im Wagen. Kaum hatte sie den letzten Handgriff getan, hörte sie, daß sich ein Auto dem Haus näherte, und lauschte mit bangem Herzen auf das Motorgeräusch. Lieber Gott, laß dies nicht schon Sebastian sein! Aber nein, das war kein Diesel! Und wenige Sekunden später sah sie tatsächlich den Renault des Mechanikers um die Ecke biegen.

In aller Gemütsruhe stieg er aus und warf spielerisch ein kleines Teil in seiner Hand auf und ab.

»Sie haben das fehlende Teil also auftreiben können!« seufzte Chary erlöst und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

»Nun ja, erst mal sehen, ob es paßt, nicht?« Wichtigtuerisch beugte er sich über den Motor. »Für dieses Modell gibt es so viele verschiedene … Ah! Die Größe stimmt schon mal.«

Er hantierte noch ein Weilchen, stets über den Motor gebeugt, richtete sich dann auf und wischte sich die Hände an seiner Latzhose ab.

»Na, dann versuchen Sie mal, junge Frau«, grinste er zufrieden.

Chary sprang in den Wagen, drehte den Zündschlüssel – und da war er, der Zündfunke! Vor Erleichterung traten Chary Tränen in die Augen.

Um nichts in der Welt wollte sie jetzt noch ein Risiko eingehen, ließ also den Motor laufen, wühlte ihr Portemonnaie aus der Handtasche und stieg aus.

»Wenn Sie wüßten, wie dankbar ich Ihnen bin! Was schulde ich Ihnen?«

»Na ja, sagen wir 3000 Peseten, hm?«

Chary nickte, spürte ein leichtes Schaudern bei dem Gedanken, daß ihr damit nur noch 7000 Peseten blieben, und drückte ihm das Geld in die Hand. Kurz darauf verließ sie das Grundstück, ohne auch nur einen einzigen Blick zurückzuwerfen.

Erst als Chary den Schotterweg hinter sich gelassen hatte und die ersten Häuser von Palafrugell erspähte, begann sie sich zu fragen, wohin sie jetzt eigentlich sollte. Sie beschloß, erst einmal in Richtung La Bisbal zu fahren, einzig aus dem Grund, weil dies die entgegengesetzte Richtung von Palamós und somit die Gefahr weitaus geringer war, daß sie Sebastians Wege kreuzte. Und bis sie dort war, würde ihr eben etwas einfallen müssen.

Große Alternativen boten sich ihr ohnehin nicht: mit den 7000 ihr verbliebenen Peseten konnte sie sich jetzt, Ende August und damit mitten in der Hauptsaison, höchstens zwei Nächte in einem Hotel leisten – und es blieb noch dahingestellt, ob überhaupt irgendwo ein freies Zimmer aufzutreiben war.

Natürlich hatte sie auch noch die Schecks und die Scheckkarte. Sie könnte mit ihrer Scheckkarte Geld abheben … aber was, wenn Sebastian diese hatte sperren lassen? Trotz all seiner Sauferei brachte er es bisweilen immer noch fertig, erstaunlich fix, clever und listenreich zu handeln – wie heute mit dem Ausbau des Verteilerdaumens oder wie dieses Teil auch immer hieß.

Pro Euroscheck würde sie allerdings nur 25 000 Peseten bekommen, womit sie, alles zusammen genommen, gerade einmal knapp über 80 000 Peseten besaß – noch nicht einmal 1000 Mark!

Wenn sie doch nur jemanden kennen würde, bei dem sie erst einmal ein paar Tage wohnen könnte. Aber die Leute, die sie kannte, waren alle Sebastians Bekannte: da er sich dagegen gesträubt hatte, daß sie arbeiten ging, hatte sie keinerlei Gelegenheit gehabt, einen eigenen Freundeskreis aufzubauen, und Sebastians Bekannte wollte sie nicht um Hilfe bitten – außerdem wäre es ohnehin besser, wenn sie sich, zumindest für ein paar Tage, nicht hier in der unmittelbaren Umgebung aufhielt.

Natürlich! Chary schlug sich gegen die Stirn: Dieser dänische Journalist, den sie letztes Jahr auf einer Geburtstagsfeier bei einem Kunden von Sebastian kennengelernt hatte! Sebastian hatte kaum Notiz von ihm genommen, sich mehr an den reichlich zur Verfügung stehenden Schampus gehalten, sie aber hatte sich lange mit Sven unterhalten und seither auch ein paarmal mit ihm telefoniert. Der besaß doch ein Haus in den Pyrenäen, irgendwo in der Nähe von Figueres. Allerdings war er letzte Woche wegen irgendwelcher Recherchen für eine Artikelserie nach Indien geflogen, und von dort hatte sie weder eine Adresse noch eine Telefonnummer. Aber am Tag vor seinem Abflug hatte er sie noch einmal angerufen und ihr die Telefonnummer seiner Nachbarn gegebene »Für alle Fälle«, hatte er gesagt. »Man kann ja nie wissen. Und sobald ich eine Telefonnummer in Indien habe, werden Sie die ersten sein, denen ich sie mitteile.«

Als Chary La Bisbal erreicht hatte, fuhr sie die Hauptstraße entlang, bis sie eine Telefonzelle fand, parkte, stellte den Motor ab und schaute grübelnd vor sich hin. Seine Nachbarn … Chary erinnerte sich noch nicht einmal, welcher Nationalität sie waren, doch, halt: hatte Sven nicht gesagt, sie kämen aus der Nähe von Hamburg? Deutsche also. Ausgerechnet Deutsche. Eigentlich vermied Chary den Kontakt zu Deutschen. Schließlich war sie nicht nach Spanien gezogen, um dann doch wieder nur mit Deutschen zusammenzusein. Die Deutschen, die Sebastian bisweilen anschleppte, langten ihr eh schon. Aber all das spielte ja jetzt auch keine Rolle: wenn überhaupt irgend eine Chance bestand, Sven zu erreichen und ihn zu fragen, ob sie für ein paar Tage in seinem Haus wohnen könnte, dann nur über diese Leute. Und dieses Haus wäre ideal: nie käme Sebastian auf die Idee, sie dort zu suchen!

Kurz entschlossen wühlte Chary Notizbuch und Portemonnaie aus ihrer Handtasche, flitzte in die Telefonzelle und hatte die Nummer dieser Nachbarn schon gewählt, bevor sie sich noch große Gedanken darüber gemacht hatte, welche Story sie ihnen eigentlich auftischen wollte, um ihnen Svens Telefonnummer zu entlocken.

Aber es wurde keine ›Story‹: die weibliche Stimme am anderen Ende der Leitung war Chary sofort sympathisch, und je mehr sie ins Stottern geriet, desto geduldiger und einfühlsamer ging diese Frau auf sie ein. Und dann sagte sie mit einemmal:

»Hören Sie, ich kenne Sie zwar nicht, aber Sie erwecken nicht den Eindruck, als wollten sie Sven nur mal eben so aus Langeweile anrufen. Ich habe seine Telefonnummer in Indien wirklich noch nicht, aber wenn ich Ihnen helfen kann, dann will ich es gern tun. Svens Freunde sind uns stets willkommen, und wenn er Ihnen unsere Telefonnummer gegeben hat, müssen Sie wohl zu seinen Freunden gehören. Warum kommen Sie also nicht einfach her, und dann sehen wir zusammen weiter?«

Für einen Moment konnte Chary hierauf nichts erwidern, ein dicker Kloß quälte sie in ihrem Hals. Doch dann ließ sie ihren Tränen einfach freien Lauf, gestand, daß sie tatsächlich bis zum Hals im Schlamassel steckte und dieses Angebot daher wirklich gern annehmen würde.

»Dann tun Sie es doch auch!« lachte die Frau. »Kennen Sie den Weg zu Svens Haus?«

»Nein«, jammerte Chary kleinlaut.

»Den Weg am Telefon zu erklären ist ein bißchen schwierig. Wissen Sie was: das Einfachste wird sein, wenn wir uns in Figueres treffen. Wissen Sie, wo das Dali-Museum ist?«

»Ja«, schniefte Chary.

»Gut, dann treffen wir uns am Haupteingang. Sagen wir um sechs?«

»Und wie erkennen ich Sie?«

»Mitte 50, kurz und aufgepeppt!« lachte sie. »Und Sie?«

»Ende 20, ziemlich groß und total verheulte Augen!« Auch Chary versuchte ein Lachen.

»Na also! Dann bis gleich!«

Als sie und Pia Mutzenbacher sich am Eingang des Dali-Museums gegenüberstanden, hakte Pia sie sogleich unter, tätschelte ihr mitfühlend den Arm – und öffnete damit in Chary die Schleusen für einen wahren Sturzbach an Tränen.

»Heul nur, Mädchen«, sagte Pia sanft, kramte aus den Hosentaschen ihrer Jeans ein Tempotaschentuch hervor und drückte es Chary in die Hand. »Heulen ist immer noch besser als ein Magengeschwür. Und jetzt kommst du erst einmal mit mir nach Hause und ißt etwas! Dabei kannst du mir dann in aller Ruhe erzählen, was du auf dem Herzen hast, und dann überlegen wir, was zu tun ist.«

Und das taten sie dann auch: während eines kräftigen Imbisses aus selbsteingelegten Oliven, luftgetrocknetem Landschinken, knusprig frischem Weißbrot und einem kühlen Glas herben Rotweins redete sich Chary all die Bedrängnisse, Ängste und Kämpfe, die sie in den letzten Monaten wegen Sebastian durchgemacht hatte, von der Seele. Als sie fürs erste fertig war, nickte Pia verständnisvoll: »Mein liebes Mädel, da hast du ja wirklich einiges auszuhalten gehabt! Mein erster Mann hat zwar auch gesoffen wie ein Loch – weswegen ich ihn dann letztlich ja auch verlassen habe –, aber die Hand gegen mich erhoben … nein, das hat er nie. Ich verstehe nur nicht, warum du nicht schon das erstemal, als Sebastian dich so verprügelt hat, weggelaufen bist!«

»Ach, warum …« Chary zuckte hilflos mit den Schultern. »Hinterher hat er mich ja immer um Verzeihung gebeten, mir geschworen, daß es nie, aber auch wirklich nie mehr vorkäme … und ich, ich habe es ihm eben geglaubt. Und so durchgedreht wie diesmal habe ich ihn auch noch nie erlebt: ich glaube nicht, daß ich es überlebt hätte, wenn er heimgekommen wäre und ich ihm die verdammten Schecks und die Scheckkarte nicht abgeliefert hätte. Aber das konnte ich doch nicht tun, oder? Schließlich war das doch meine einzige Möglichkeit, an Geld und damit von ihm weg zu kommen! Und er kann doch nicht allen Ernstes annehmen, daß ich mich seinen Verrücktheiten weiterhin so völlig ausliefere!«

»He, Chary, nun beruhige dich doch wieder! Beruhige dich!« Beschwichtigend legte Pia Chary die Hand auf den Arm, merkte dabei, daß sie zitterte und drückte sie dann rasch an sich: »Meine Güte, Mädchen, so quäl dich doch nicht so! Niemand auf der Welt macht dir einen Vorwurf! Und ich schon zweimal nicht! Im Gegenteil: ich kann nur wiederholen, daß du schon viel früher hättest türmen sollen. Und das mit mehr im Gepäck als drei läppischen Schecks! Aber du wirst es auch so schaffen, ganz bestimmt! Und für den Moment hast du ja auch erst einmal ein Dach über dem Kopf. Ich muß zwar nachher noch mit Max darüber reden, aber auch er hat sicher nichts dagegen, daß du für ein paar Tage bei uns bleibst. Es wäre nur gut, wenn du bis nächsten Mittwoch eine andere Wohnmöglichkeit finden könntest, da wir dann Besuch von Max’ Kindern samt Enkeln bekommen. Aber bis dahin ist ja noch über eine Woche.«

Chary wischte sich erleichtert ein paar Tränen ab. »Du ahnst gar nicht, wie sehr du mir damit hilfst! Und ich will euch ja auch gern Miete zahlen!«

»Wieso Miete?« Pia fuhr sich mit der Hand durch ihr streichholzkurzes graues Haar und ließ dabei ihre kornblumenblauen Augen spitzbübisch aufblitzen. »Wir haben nichts zu vermieten.«

»Aber ihr kennt mich doch gar nicht, und ich …«

»Papperlapapp. Du bist unser Gast. Weißt du, ich war vor fünfzehn Jahren einmal in einer ganz ähnlichen Situation wie du jetzt. Wenn mir damals eine Frau, die ich zufällig auf der Straße kennengelernt hatte, nicht weitergeholfen hätte, indem sie mir kurzerhand anbot, bei ihr zu wohnen – ich weiß nicht, wie es dann mit mir weitergegangen wäre. Seither habe ich immer auf die Gelegenheit gewartet, es einmal an jemandem gutmachen zu können. Also, schweig stille und warte auf deine Gelegenheit! So, und jetzt helfe ich dir erst einmal, deine Sachen ins Haus zu bringen.«

Wenig später tauchte Max Mutzenbacher auf, der genauso wenig wie seine Frau etwas von einer Miete oder sonstigen Zuwendungen hören wollte:

»Wir schwimmen zwar nicht im Geld«, sagte er mit seiner freundlichen Brummbärstimme, »aber so ein dürres Mädel wie dich werden wir schon noch durchfüttern können. Und damit du siehst, wie ernst es mir damit ist, gehe ich jetzt und richte den Grill her. Ich hoffe, du magst ›Pollo a la brasa‹?«

Chary strahlte: »Gegrilltes Huhn? Und wie! Aber ich muß dich warnen: auch wenn ich durch den Streß der letzten Monaten so manches Kilo verloren habe, bin ich doch ein reichlich guter Esser. Du wirst dein Angebot noch bereuen!«

Max nickte erfreut: »So ist’s recht, nur nicht unterkriegen lassen! Also ziehe ich jetzt los und spiele mal den Zündelmann. Ich rufe euch dann schon, wenn alles verbrannt ist!«

Pia drohte ihm lachend mit dem Zeigefinger und gab ihm einen dicken Kuß.

Ja, dachte Chary, solche Ehen gab es also auch!

Bis spät in die Nacht hinein saßen sie noch draußen auf der Terrasse, plauderten mit gedämpften Stimmen oder gaben sich einfach schweigend und lauschend der Ruhe und Friedlichkeit der sie umgebenden Natur hin. Das feine Zirpen der Zikaden, der ferne Schrei eines Käuzchens, das flüsternde Aneinanderstreichen der Gräser und das leise Plätschern und Froschgequake, das von dem von Max direkt neben dem Haus gestauten Bachlaufs her zu ihnen drang, wirkte wie Balsam auf Charys zerfledderte Nerven. Zum erstenmal seit Wochen fühlte sie sich wieder ruhig und entspannt.

»Wißt ihr eigentlich, daß ihr hier im Paradies wohnt?« fragte sie mit einemmal voller Ehrfurcht.

Max nickte ernsthaft: »Du sagst es, Deern. Du sagst es. Nur hat heute kaum noch einer ein Ohr und einen Blick dafür.«

»Einige unserer Freunde aus Deutschland«, sagte Pia, »haben uns, als sie uns zum erstenmal besucht haben, für verrückt erklärt. Die Gegend schien ihnen zu karg, das Haus zu abgelegen – abgesehen von Sven wohnen die nächsten Nachbarn ja über zwei Kilometer entfernt. Und wenn es schon Spanien sein müsse, sagen sie, warum dann nicht wenigstens am Meer?« Max brummte beifällig. »Und unaufhörlich fragen sie, ob uns die Einsamkeit nicht wahnsinnig macht. Dabei ist das Letzte, wonach mir auf meine alten Tage zumute ist, das Gekreische und Geplapper von irgendwelchen Nachbarn. Und was heißt das überhaupt: einsam? Wir haben doch uns! Ne, ne, hier isses schon recht, und wenn wir uns wirklich einmal nach der Zivilisation sehnen, fahren wir eben nach Figueres. Aber je älter wir werden, desto seltener kommt das vor.«

Eine Weile saßen sie wieder nur einfach schweigend beisammen, dann sagte Max nachdenklich:

»Aber du, Chary – meinst du nicht, daß es für dich das beste wäre, nach Deutschland zurückzugehen, ich meine, wenigstens für eine Weile?«

Chary fuhr mit beiden Händen unter ihr langes, blondes Haar, faltete sie im Nacken, verharrte so einen Moment, schleuderte ihr Haar dann mit einem energischen Auffahren ihrer Hände hoch und schüttelte ebenso trotzig wie entschlossen den Kopf: »Nein. Alles, nur nicht Deutschland! Wißt ihr, ich war diejenige von uns beiden, die unbedingt nach Spanien ziehen wollte. Schon als ich mit zwölf zum erstenmal mit meinen Eltern in Calella war, habe ich mich in dieses Fleckchen Erde verliebt und mir geschworen, daß ich genau hier einmal leben werde – und zwar nicht erst im Rentenalter! Mit siebzehn habe ich angefangen, mir meine ersten Brocken Spanisch beizubringen, später habe ich dann Romanistik studiert, und wenn ich nicht Sebastian kennengelernt hätte, wäre ich direkt nach dem Studium hergezogen. Schon am Tag unserer Begegnung habe ich ihm gesagt, daß ich nach Spanien, an die Costa Brava gehen will. Und er hat damals freudig genickt und gesagt: fein, dann laß uns mal zusammen gehen – und dann kam es zu unserem ersten Kuß. Nichts in der Welt bringt mich mehr fort von hier. Nichts und niemand!«

»Aber du weißt, daß du jetzt, zum Ende der Hauptsaison, kaum Chancen hast, eine Arbeit zu finden«, sagte Pia. »Und an Leuten, die ein bißchen herumübersetzen, herrscht auch kein Mangel. Es sind zwar keine Profis, wie du einer bist, aber den meisten ist eine holprige Übersetzung genauso lieb, wenn sie nur billig ist.«

»Ja, ich weiß. Aber eher gehe ich putzen als von hier weg.«

»Kennst du denn niemanden, den du wegen Arbeit fragen kannst?«

»Nein, eigentlich nicht. Ich bin ja nie irgendwo allein hingegangen, und so sind die Leute, die ich kenne, allesamt Sebastians Bekannte – und an die will ich mich nicht wenden. Ich könnte höchstens Pedro anrufen: das ist der Makler, über den wir unser Haus gekauft haben. Ich weiß zwar nicht genau warum, aber irgendwie habe ich bei dem einen Stein im Brett. Und er kennt in der Umgebung von Palafrugell so ziemlich jeden.«

»Du willst zurück nach Palafrugell?«

Chary nickte: »Ja, denn das ist der Platz, an dem ich immer wohnen wollte – meine Wahlheimat.«

»Aber Sebastian wird dich suchen!«

»Ja, das wird er wohl. So muß ich mir eben eine Wohnung suchen, die Sebastian nicht so leicht ausfindig machen kann. Und auf offener Straße wird er mich schon nicht anfallen – hoffe ich zumindest.«

Max wog bedenklich den Kopf: »Meine liebe Deern – alle Hochachtung vor deiner Courage, aber ob das eine so weise Entscheidung ist?«

Chary aber nickte nur trotzig.

2. Kapitel

Gleich nach dem Frühstück schnappte sich Chary ihr Notizbuch, suchte Pedros Nummer heraus, hob den Hörer ab, wählte – und legte wieder auf. Verdammt, was sollte sie ihm eigentlich sagen? Etwa: Hallo, Pedro, ich bin vor meinem Mann geflohen und suche jetzt eine einbruchssichere Wohnung mit Alarmanlage und einem Hinterausgang? Und falls du keine mit Alarmanlage hast, würde es vielleicht auch eine mit ein paar netten Nachbarn tun, die nachts Schmiere stehen und sofort, wenn Sebastian auftaucht, die Polizei alarmieren? Ach, und ehe ich es vergesse: eine Arbeit müßtest du mir auch noch verschaffen, weil ich nämlich sonst meine Miete gar nicht bezahlen kann.

Chary ließ sich in den Sessel neben dem Telefontischchen sinken und schüttelte ungläubig den Kopf. Wie konnte sie nur in eine derart besch… Lage geraten! Das mußte doch alles nur ein schlechter Traum sein! Das war doch nicht ihr Leben! Ihr Leben!

»Willst du auch noch eine Tasse Kaffee?«

Chary schrak zusammen und sah auf; Pia lachte ihr von der Küche her entgegen: »Bist du immer so schreckhaft?«

»Nein, eigentlich nicht.«

»Ich wollte nur wissen, ob du nach deinem Anruf noch eine Tasse Kaffee mit mir trinkst.«

»Ja, gern. Aber es kann noch eine Weile dauern, bis ich diesen Anruf gemacht habe. Bis jetzt habe ich nämlich noch nicht die leiseste Ahnung, was ich Pedro sagen soll. Wenn ich ihm die Wahrheit erzähle, glaubt er, ich hätte einen Sonnenstich.«

»Sag ihm doch einfach, eine Freundin von dir aus Deutschland wolle für ein paar Monate herziehen und für die würdest du jetzt eine Wohnung suchen.«

Chary nickte nachdenklich: »Ja, das wird wohl das beste sein«. Und dann wählte sie.

»Eine Wohnung?« murmelte Pedro, und Chary hörte, wie er in seinen Unterlagen herumblätterte. »Warte mal, ja, ich hätte hier ein hübsches Apartment in Tamariú. Das wäre ab Mitte September frei.«

»Aber das ist viel zu spät, Pedro. Ich habe dir doch gesagt, daß meine Freundin schon nächste Woche kommt. Spätestens ab Mittwoch brauche ich etwas für sie.«

»Ab Mittwoch?« Er lachte nur. »Chary, wir haben August! Das absolut einzige, was ich im Moment frei habe, ist ein Haus in Calella. Die Mieter mußten ihren Urlaub wegen eines Todesfalls in der Familie abbrechen. Wenn sie das mieten will …«

»Was kostet das denn?«

»100 000 Peseten.«

»Hunderttau…«, Chary schluckte. »Und das ist wirklich das einzige?«

»Ja. Und das Haus kann sie auch nur zweieinhalb Wochen lang haben, womit uns noch immer eine Woche fehlt, bis diese Wohnung in Tamariú frei wird.«

»Wenn das Haus zweieinhalb Wochen lang frei ist, müßte ich, äh, müßte sie also um die 60 000 Peseten bezahlen.«

»Wieso 60? 250! Der Preis ist pro Woche!«

»Hu-hu-hunderttausend Peseten die Woche?« stammelte Chary fassungslos.

»Na klar, was denkst denn du! Wir sind schließlich in der Hauptsaison.«

»Schon, aber so viel! Und diese Wohnung in Tamariú – was soll die kosten?«

»So um die 40 000 – im Monat, aber nur, wenn Sie sie für mindestens ein halbes Jahr mietet.«

»Das ist auch nicht gerade geschenkt! Weißt du, meine Freundin schwimmt nicht im Geld.«

»Ich kann zwar bei ein paar anderen Maklern herumhören, aber günstigere Sachen sind in der Regel vor Mitte oder Ende Oktober nicht zu haben. Warum kann sie bis dahin nicht bei euch wohnen? In eurem Haus habt ihr doch reichlich Platz!«

Witz komm raus, du bist umzingelt! dachte Chary und unterdrückte nur mit Mühe ein verzweifeltes Aufstöhnen.

»Das wird Sebastian nicht recht sein. Aber warte mal – eigentlich bringst du mich damit auf eine Idee: Kennst du nicht privat jemanden, bei dem sie ein Zimmer mieten könnte?«

»Mmh, nein, auf Anhieb nicht.«

»Aber du denkst mal darüber nach, ja?«

»Werde ich. Hast du sonst noch etwas auf dem Herzen?«

»Ehrlich gesagt, ja. Ich wollte dich fragen, ob du nicht weißt, wo ich ein bißchen arbeiten könnte? Ich, also, irgendwie ist es mir zu langweilig, immer zu Hause herumzusitzen.«

»Chary, du kommst aber auch mit allem zur Unzeit! Im Frühling hätte ich dir drei Stellen auf einmal vermitteln können, aber jetzt – nein. Absolut nichts. Nada y nada!«

»Aber es müßte gar nicht unbedingt als Übersetzerin sein, ich meine, eigentlich wäre mir jede Arbeit recht.«

»Selbst dann fällt mir nichts ein. Noch nicht einmal Putzfrauen werden im Moment gesucht, und an denen herrscht sonst chronischer Mangel.«

»Na ja, aber wenn du etwas hörst, kannst du vielleicht an mich denken.«

»Das tue ich doch sowieso! Wenn du nicht einen so kräftig gebauten Ehemann hättest …«

»… und du nicht eine so reizende Ehefrau und ein so niedliches Enkelkind!« Chary gab sich Mühe, auf seinen scherzenden Tonfall einzugehen, obwohl ihr nach all diesen seinen ›Neins‹ eher zum Heulen zumute war. Aber wie hatte ihre Oma immer so schön gesagt: man muß den Kopf hochhalten – auch wenn der Hals dreckig ist. »Also, wann kann ich dich wieder anrufen?«

»Wann? Nun, sagen wir morgen abend. Bis dahin habe ich mich zumindest wegen einer Wohnung umgehört.«

»Ein Zimmer täte es auch schon!«

»Wie sieht deine Freundin denn aus?«

»Pedro!«

»Na, dann eben nicht!« Er lachte. »Bis morgen also!«

»Ja, bis morgen.«

Chary legte den Hörer auf und ging niedergeschlagen in die Küche, wo Pia ihnen gerade Kaffee einschenkte.

»Deiner Miene nach zu urteilen, war dieses Telefongespräch nicht gerade ein Bombenerfolg.«

»Nein, allerdings nicht.«

Pia knuffte sie aufmunternd in die Seite und schob ihr eine Tasse zu: »Na komm, so schnell wirst du doch nicht aufgeben!«

Chary zuckte mit den Schultern: »Nein. Aber Pedro war eben die einzige Hoffnung, die ich hatte.« Sie atmete tief durch und zwang sich zu einem Lächeln. »Nun denn. Wenn ich ohnehin nichts weiter tun kann, als zu warten, werde ich jetzt erst einmal meinen Computer aufbauen. Schon seit Tagen bin ich nicht mehr zum Weiterarbeiten gekommen.«

»Was sagt Sebastian eigentlich dazu, daß du an einem Roman arbeitest? Das muß ihn doch sehr stolz machen!«

»Sebastian und stolz auf meine Schreiberei?« Chary lachte bitter auf. »Pure Zeitverschwendung ist das für ihn.«

»Aber du hast mir doch erzählt, daß du schon einige deiner Kurzgeschichten veröffentlichen konntest. Das ist doch schon ein erster Erfolg.«

»Aber kein finanzieller, da diese Literaturzeitschriften nichts bezahlen. Und nur die blanke Münze würde Sebastian davon überzeugen, daß meine Schreiberei einen Wert hat. Weißt du, was er gesagt hat, als ich ihm die Zeitschrift mit meiner ersten veröffentlichten Kurzgeschichte unter die Nase gehalten habe: für umsonst könnte er seine Verstärker auch überall loswerden.«

Pia grinste: »Charmant, charmant!«

»Ja, nicht? Und zudem liegen seiner Ansicht nach Welten zwischen meinen – so wörtlich – popeligen Kurzgeschichten und einem ordentlichen Roman.«

»Was für eine Art Roman schreibst du eigentlich?«

Chary lachte heiser auf: »Eine heitere Liebesgeschichte – paßt doch, wie?«

»Warum schreibst du nicht lieber eine richtig dramatische Ehegeschichte? Da könntest du wenigstens aus deinem reichen Schatz an eigener Erfahrung schöpfen!«

»Eine derart trostlose Geschichte würde einem sowieso kein Mensch abkaufen. Verzweifeln tun die Leute schon von allein.«

Die Stunden bis zum nächsten Abend erschienen Chary wie eine Ewigkeit: Auf ihren Roman konnte sie sich nicht konzentrieren, brachte folglich in den vier Stunden, die sie sich vor den Bildschirm zwang, noch nicht einmal eine magere Seite zustande und war sich, als sie den Computer ausschaltete, zudem sicher, daß sie auch diese Seite morgen gerade wieder würde löschen können. Nach dem Mittagessen versuchte sie, im Schatten der Pinien ein wenig zu schlafen, fand aber keine Ruhe. Wie aus einem Maschinengewehr schossen ihr ihre Ängste, Zweifel und Unsicherheiten entgegen: wo sollte sie bloß hin, wenn sie bis Mittwoch keine Wohnung auftrieb? Und selbst wenn sie eine fand: was, wenn Sebastian sie dort aufstöberte? Denn daß er sie suchen würde, daran zweifelte sie keinen Moment. Schon allein wegen dieser verdammten Schecks!

Und wenn sie eine Arbeit finden und ihm die Schecks zurückgeben würde? Vielleicht würde er dann ja seine Wut auf sie vergessen … Aber wirklich sicher vor ihm könnte sie sich selbst dann nicht fühlen, denn niemand konnte garantieren, daß ihn in irgendeinem Vollrausch nicht doch wieder die Wut auf sie packen würde und dann …

Außerdem hatte sie ja noch gar keine Arbeit und war somit auf diese leidigen Schecks mehr als angewiesen. Und wenn sie ihre Mutter anriefe und sich von ihr Geld leihen würde? Ach, ihre Mutter! Einen Herzschlag würde sie bekommen, wenn sie erführe, was sich hier alles abgespielt hatte!

Also doch von hier wegziehen? Aber wohin? Außer diesem gräßlich eisigen Deutschland gab es natürlich auch noch ein paar andere nette Länder auf dieser Welt – Portugal … oder Kalifornien … Florida … die Malediven … Aber wie sollte sie einen solchen Umzug finanzieren? Und eigentlich wollte sie weder in Italien noch in Hinterindien noch sonstwo leben – hier wollte sie leben. Hier und sonst nirgends! Ach, verdammt! Verdammt, verdammt, verdammt! Was war nur aus all ihren Träumen geworden, aus ihren und Sebastians Träumen. Ein Alptraum, nichts als ein einziger Alptraum!