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MUSIK-KONZEPTE Neue Folge

Die Reihe über Komponisten

Herausgegeben von Ulrich Tadday

Heft 182

Rolf Riehm

Herausgegeben von Ulrich Tadday

August 2018

Wissenschaftlicher Beirat:

Ludger Engels (Aachen, Regisseur)

Detlev Glanert (Berlin, Komponist)

Jörn Peter Hiekel (HfM Dresden/ZHdK Zürich)

Birgit Lodes (Universität Wien)

Laurenz Lütteken (Universität Zürich)

Georg Mohr (Universität Bremen)

Wolfgang Rathert (Universität München)

Print ISBN 978-3-86916-708-4
E-ISBN 978-3-86916-710-7

Umschlaggestaltung: Thomas Scheer

Umschlagabbildung: Rolf Riehm, © Hans Reinard

Die Hefte 1–122 und die Sonderbände dieses Zeitraums wurden von Heinz-Klaus Metzger und Rainer Riehn herausgegeben.

E-Book-Umsetzung: Datagroup int. SRL, Timisoara

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

© edition text + kritik im Richard Boorberg Verlag GmbH & Co KG, München 2018

Levelingstraße 6a, 81673 München

www.etk-muenchen.de

Inhalt

Vorwort

Hans Zender
Beim Hören der Musik von Rolf Riehm

Bernd Leukert
Zur Wahrhaftigkeit
Rolf Riehms Komponieren zwischen künstlerischer Freiheit und kultureller Verpflichtung

Jörn Peter Hiekel
Zwischen Distanz und Distanzlosigkeit
Sinnliches Vergegenwärtigen von Kulturgeschichte in einigen Werken Rolf Riehms

Jim Igor Kallenberg
Bilder des Begehrens und des Vernichtens
Zur Kompositionsweise des Archipels in der Musik Rolf Riehms

Marion Saxer
Archipel Remix
Notationsstrategien in Rolf Riehms gleichnamigem Orchesterwerk

Robin Hoffmann
»Ich bin ein Konglomerat – eine Gemengelage!«
Aspekte der Riehm’schen Orpheus-Erzählungen

Hans-Klaus Jungheinrich
Die Systeme des Zufalls
Der Komponist Rolf Riehm und die Tonträger

Abstracts

Bibliografische Hinweise

Zeittafel

Autorinnen und Autoren

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Vorwort

Rolf Riehm meint es ernst, sehr ernst sogar, denn seine Musik wird von dem hohen moralischen Anspruch getragen, wahrhaftig zu sein. Wahrhaftig zu komponieren bedeutet für Riehm aber nicht, dass Musik sich rein selbstbezüglich verhält. Riehms Musik setzt sich ins Verhältnis zur Welt, die gegenwärtig ist, dadurch wird sie politisch. Und sie steht immer im Verhältnis zu ihren Hörern, dadurch kann sie emotiv und kognitiv wirksam werden – menschlich. So wie die Welt und die Menschen ist Riehms Musik im Ausdruck stets wandelbar, nie vorhersehbar. Warum dies so ist und wie dies geschieht, führen Hans Zender und Bernd Leukert eingangs vor Augen, und zwar auf höchst unterschiedliche Art und Weise. Als Ausdruck künstlerischer Freiheit und kultureller Verpflichtung ist, wie Jörn Peter Hiekel weiter ausführt, der originelle, oft bewusst verfremdende Umgang Riehms mit Elementen der Kulturgeschichte bezeichnend. Immer wieder geraten dabei, so Hiekel, existenzielle und sogar irritierende Momente des Ausgangsmaterials in den Fokus. Dabei gibt es auch so etwas wie kulturgeschichtliche Konstanten im Werk Riehms, sich in Erinnerung rufende literarische Motive wie der Mythos der Sirenen, der insofern eine besondere Bedeutung besitzt, als er – so die These Jim Igor Kallenbergs – im kompositorischen Schaffen Riehms insgesamt formbildend wirkt. Form erscheint in Riehms Kompositionen aber nicht als geschlossene Gestalt, sie ist, wie Marion Saxer am Beispiel von Archipel Remix für großes Orchester (1999) zeigt, in Beziehung auf den Hörer geöffnet: »Dass jede Hörerin und jeder Hörer damit ein jeweils einzigartiges Hörerlebnis aktiv mitgestaltet, ist von Riehm ausdrücklich erwünscht.«1 Riehms Werken wohnt also eine gewisse Offenheit inne, die sich auch an der Notation derselben ablesen lässt. Anhand mehrerer »Orpheus-Stücke« vertieft Robin Hoffmann den Gesichtspunkt einer disparaten Form, die sich in den Worten des Komponisten wie eine Art »ästhetische Gemengelage« anfühlt bzw. darstellt. Hans-Klaus Jungheinrich macht schließlich darauf aufmerksam, dass der Komponist Riehm nicht nur über die Musik selbst, sondern seit Jahrzehnten auch mittels distributiver Medien, gemeint sind die Tonträger Schallplatte und CD, sehr erfolgreich mit dem Publikum kommuniziert, allerdings ohne das Medium zur Message zu machen.

Allen am Band beteiligten Autoren und der Autorin dankt der Herausgeber sehr.

Ulrich Tadday

1 Marion Saxer, »›Archipel Remix‹, Notationsstrategien in Rolf Riehms gleichnamigem Orchesterwerk«, im vorliegenden Band, S. 68.

Hans Zender

Beim Hören der Musik von Rolf Riehm

Freundlich – hör – Freundlich blickt die fremde Gestalt – hör doch – hör doch zu – die fremde Gestalt dich an und ihr – hör doch auf das was ich – schönes Angesicht lächelt. Aber verstehst du sie nicht – unmöglich – wie bitte – als hätte ich nie – niemand wär da drauf – was – so was – das ist wirklich kreativ: niemand würde das so – ja! – so muss es weitergehen – da wäre ich jetzt nie drauf – es schneit – sowas – das war ganz symmetrisch – das – auch: wiederholung – warum? holung – ist es eine systematisch – hör – gibt es eine systematik der – was ist – wieso das? – eine systematik des unsystematischen? – anstößig – stoß an – hör zu: – stößt – stößt an das gewohnte das ungewohnte – das ist es – ist es das – es schneit noch mehr – »möchten Sie vom Schneehuhn«? – das bekannte unbekannte – hör zu neu – hör das bekannte – neu an – und zu und – – – niemals wär ich da drauf gekommen – so eine verrücktheit – »vom Schneehuhn« – »ich bewundere« – war das ein ton ein wort eine – fremde sprache – hör drauf – νηα κατάστησον, ίνα νωιτέρην όπ΄ ακούσεις hier fuhr noch keiner im schwarzen Schiff vorüber, eh er dem süßen Gesang gelauscht aus unserem Munde – fremde sprache wiederho – E r  v e r t r a u t e  v o l l s t ä n d i g  d e r  H a n d v o l l  W a c h s  u n d  d e m  G e b i n d e  K e t t e n

– sprachlos. was ist das? – DIE VERLETZTEN LAGEN NEBEN DEN TOTEN. IM MOMENT SIND DIE HELFER DABEI, DIE LEICHEN ZU IDENTIFIZIEREN. DIE KLINIKEN VOR ORT SIND ÜBERFÜLLT. GESTERN WAR EIN GRAUEN – schrecklich – S a n g  d e r  S i r e n e n. sprachlos – GRAUENVOLLER TAG – – sprachlos – berge von schnee – warum das – wie damit – schnee – umgehen – keine vermittlung möglich – leichentuch schnee – ENTDECKTEN DIE HELFER, DASS SICH KÖRPER IN DEN LEICHENTÜCHERN PLÖTZLICH WIEDER ZU REGEN BEGANNEN. Blickt die fremde Gestalt dich an, und ihr schönes Angesicht lächelt. Aber verstehst du sie nicht – schnee – W a c h s  i n  d i e  O h r e n – D e r  S a n g  d e r  S i r e n e n  d u r c h d r a n g – schnee – a l l e s,  u n d  d i e  L e i d e n s c h a f t e n  d e r  V e r f ü h r t e n  h ä t t e  m e h rETWA 20 KLEINE KINDER LIEGEN AUF WEISSEN FLIESEN, DIE AUGEN GESCHLOSSEN – schnee – m e h r  a l s  K e t t e n  u n d  M a s t  g e s p r e n g t. schnee schnee –

doch hör zu – doch hör zu doch – nicht denken – nicht hören: jetzt – S a n g  d e r  S i r e n e n – a m  M a s t  f e s t s c h m i e d e n – W a c h s  i n  d i e  O h r e n – sprachlos – tonlos – Aber verstehst du sie nicht: so erhebt sie die – so erhebt sie die

also Rolf: solche töne habe ich schon immer bewundert bei dir – neulich (den langsamen für saxophon tiefe Lage – niemals wäre ich darauf) wieso ich – hörer ich höre ich denke danke – schneit ja unentwegt – gedankenschnee – was solls – form weder systematisch noch – nein nicht komisch – das ungewohnte kann komisch wirken aber – das gewohnte liegt ihm zugrunde – jetzt: das un –

– hör gut zu: das gewohnte war – es lief fort aus dem reich des vernünftigen – nass geworden – wir müssen schneeschuhe – ungewohnt – schneeberg: schneemann! »Schneehuhn« – was ist das was – »möchten Sie vom« – jetzt hör dir das doch also seit bald 50 Jahren versuche ich das zu ergründen: das ist kreativität – nicht komisch nein nicht die musik ist komisch, die komik ist musikalisch – B e w e i s  d e s s e n,  d a s s  a u c h  u n z u l ä n g l i c h e,  j a k i n d i s c h e  M i t t e l  z u r  R e t t u n g  d i e n e n  k ö n n e n – wir brauchen keine logik, um die alogik zu erfinden. Also riefen mir süß die Singenden, dass mir das Herz schwoll. musik: mythos ohne worte – … verstehst du sie nicht, erhebt sie die – Tatzen.

E s  i s t  z w a r  n i c h t  g e s c h e h e n,  a b e r  v i e l l e i c h t  d e n k b a r,  d a s s  s i c h  j e m a n d  v o r  i h r e m  G e s a n g  g e r e t t e t  h ä t t e,  v o r  i h r e m  S c h w e i g e n  g e w i s s  n i c h t.  v o r  i h r e m  S c h w e i g e n – wortlos. tonlos. – v o r  i h r e m

Zitate aus:

Jean Paul, Polymeter

Homer, Odyssee

Franz Kafka, Das Schweigen der Sirenen

taz. Die Tageszeitung 24./25. August 2013 (aus einem Bericht über den Krieg in Syrien)