Die Autorin

Bianka Echtermeyer – Foto © Nina Hüttmann

Bianka Echtermeyer, geboren 1975 in Warendorf, hat in Münster Geschichte, Politik und Öffentliches Recht studiert. Danach brachte ihr der deutsche Auslandsrundfunk die Deutsche Welle alles über Journalismus bei. 2008 zog sie für einen Job bei Brigitte Online nach Hamburg, wo sie auch heute noch lebt und inzwischen frei arbeitet. „Netz aus Angst“ ist ihr erstes Buch.

Das Buch

Charlotte Schmidt gerät bei den Ermittlungen an ihre Grenzen

Die Journalistin Charlotte Schmidt ist schockiert über den Hass im Internet, der ihrer Kollegin Hannah Klarenheim derzeit wegen eines Feminismus-Artikels entgegenschlägt. Sie will sich solidarisch zeigen, indem sie Hannah für ihr eigenes Magazin interviewt und ihr so den Rücken stärkt. Doch als sie zum verabredeten Zeitpunkt bei Hannah eintrifft, findet sie diese erstochen auf dem Fußboden in der Küche. Als erste Zeugin am Tatort kommt Charlotte in Kontakt mit der Polizei. Gemeinsam mit Kommissar Daniel Zumsande ermittelt sie in einem Kreis von Frauenhassern und gerät dabei selbst immer mehr in das Visier des Täters. Als sie einen Artikel veröffentlicht, um dem Täter eine Falle zu stellen, spürt sie den Hass plötzlich nicht mehr nur im Internet …

Bianka Echtermeyer

Netz aus Angst

Roman

Midnight by Ullstein
midnight.ullstein.de

Originalausgabe bei Midnight
Midnight ist ein Verlag
der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
September 2018 (1)

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2018
Umschlaggestaltung:
zero-media.net, München
Titelabbildung: © FinePic®
Autorenfoto: © Nina Hüttmann
E-Book powered by pepyrus.com

ISBN 978-3-95819-215-7

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Prolog

Ihre Knie brannten. Sie legte die Hände auf die nackte Haut, aber das machte die Sache nicht besser. Auch das Holz, auf dem sie lag, war eine Qual. Sie rutschte mit dem Rücken und dem Po ein Stück nach rechts und wieder zurück. Es ging nicht. Immer wieder landeten ihre Knochen in der Ritze zwischen den Holzleisten, sodass sie inzwischen anfingen zu schmerzen.

Neunzig Grad Celsius. Sie senkte den Blick und schaute an sich herunter. Ihre Brustwarzen mochten die große Hitze nicht, aber ihr Busen war noch vollkommen trocken. Auch auf ihrem Bauch war kein Tropfen Schweiß. Die Temperatur war unerträglich, aber es kam nichts aus ihr heraus.

Um sich abzulenken, machte sie sich rund, zog ihre Knie zum Mund und küsste erst das eine und dann das andere. Das Holz links von ihr knackte. Erschrocken stellte sie die Beine wieder auf das weiße Handtuch und legte die Arme neben den Körper. Was war das gewesen?

Nach einem kurzen Moment des Innehaltens kam sie sich lächerlich vor. Hier musste sie nun wirklich keine Angst haben. Sie drehte ihren Kopf zur Glastür rechts von ihr. Es war niemand da, sie war allein. Allmählich ärgerte sie sich, weil sie keine Ruhe fand.

»Das liegt daran, dass deine Gedanken so viel Energie produzieren, dass man diese Sauna damit eine Woche durchheizen könnte«, dachte sie und stöhnte leise auf. Von ihrem Bauchnabel und den Armbeugen flossen die ersten Schweißtropfen.

Es klopfte. Sie zuckte zusammen und schaute sich um. Ein Mann mit Glatze und einem kleinen Pferdeschwanz stand vor der Sauna und winkte ihr durch die Glastür zu. Er trug einen langen tiefblauen Bademantel und hatte weiße Gummischlappen an den Füßen. Sie lächelte gequält zurück. Wenn er reinkommen wollte, sollte er es doch einfach tun. Aber hoffentlich sprach er sie nicht an. Sie hatte keine Lust auf ein belangloses Pläuschchen an ihrem Wellnesstag.

Es klopfte wieder. Oh Mann! Sie drehte den Kopf zur Tür und sah, dass inzwischen ein weiterer Mann mit Jogginghose und T-Shirt neben ihm stand. Das war komisch. War irgendetwas falsch? Vielleicht gab es einen Defekt oder so, auf den sie die Männer aufmerksam machen wollten.

Sie setzte sich auf, nahm die Ecken vom Handtuch und wickelte es fest um sich. Um möglichst gelassen zu wirken, schlenderte sie betont langsam auf die Tür zu. Sie drückte die Klinke runter, aber der Mann im Bademantel war schneller. Seine Hand schoss von außen zum Griff und schob sie wieder zu. Jetzt kam noch ein dritter dazu. Alle fingen laut an zu lachen.

Sie starrte die Männer an und war entsetzt. In ihren Armen begann es langsam zu pochen. Das passierte immer, wenn Panik in ihr aufstieg.

»Könnten Sie bitte die Tür öffnen? Ich möchte hier raus. SOFORT!«

Der Kerl im Bademantel kniff seine Lippen zusammen und warf ihr einen Kuss zu. Von hinten sprang ein weiterer Mann nach vorn. Wo kamen sie alle auf einmal her? Der neue schob die anderen zur Seite und hielt seinen Mittelfinger direkt an die Scheibe. Sie schreckte zurück und fasste nach hinten ins Leere. Der Knoten von ihrem Handtuch lockerte sich, und es rutschte zu Boden.

Wenn das ein blöder Scherz sein sollte, ging er aber mächtig daneben. Sie beugte sich runter und wickelte das Handtuch wieder um sich. Diese doofen Typen mussten zur Rede gestellt werden. Sie trommelte mit der linken Faust gegen die Glastür.

»Das ist nicht witzig. Sie lassen mich jetzt auf der Stelle hier raus. Ich werde das melden«, schrie sie.

Die Männer äfften ihre Panik nach. Der Bademanteltyp hielt einen Zettel an die Scheibe. »HEXE!«

Augenblicklich wurde es in ihr still. Sie war in Gefahr. Der Schweiß strömte von ihr herunter.

Denk nach!, sagte sie sich. Denk nach! Sie atmete heftig und schloss kurz die Augen. In jeder Sauna gab es innen einen Panikknopf. Genau, das war die Lösung. Sie öffnete die Lider, und ihr Blick flog durch den Raum. Wo war der Knopf? Sie schaute sich um, aber sie konnte ihn nicht entdecken.

Hastig stieg sie auf die Stufen, aber sie sah immer weniger. Alles war so schummerig. Die Männer hinter der Tür waren für einen Moment ruhig. Doch dann fing einer an zu grölen, und alle anderen stiegen ein. Nicht daran denken, nicht daran denken! Ihr Herz raste. Wenn sie diesen Knopf nicht fände, würde sie sterben. Sie müsste hier drinnen elend zu Grunde gehen. Es war so furchtbar heiß. Sie tastete sich am Holz entlang, ihre Hände spürten die Vertäfelung, die Holzleisten und die Lücken dazwischen. Aber da war kein Knopf. Ihre Finger sausten rauf und runter. Das Handtuch rutschte ihr wieder vom Körper, und draußen schrien alle noch lauter. Sie versuchte es aufzuheben, aber sie konnte kaum noch etwas sehen. Dann verlor sie das Gleichgewicht und fiel von der letzten Stufe. Ein furchtbarer Schmerz durchzuckte ihr Knie, als es aufschlug. Sie berührte es und fühlte Blut zwischen ihren Fingern.

Warum nur das alles? Was hatte sie getan? Ihre Kraft war weg. Sie ließ sich einfach umfallen und blieb auf dem Boden liegen. Bitte, Gott, wenn es einen Ausweg gibt, dann zeig ihn mir, dachte sie.

Neben ihr zischte der Dampf. Der Ofen. Genau. Sie würde ihn stoppen. Wenn sie ihr Handtuch auf die Steine würfe, könnte sie die Glut doch ersticken? Sie stand rasch wieder auf, um es sofort auszuprobieren. Die Steine zischten unter dem nassen Stoff. Mit einem Mal konnte sie wieder klar sehen. Helle Flammen loderten auf.

Sie schaute zur Glastür, aber es war niemand mehr dort. Ihr Kopf drehte sich zurück zum Feuer. Sie wusste, dass sie jetzt weglaufen konnte. Aber sie blieb einfach stehen. Bis alle Bilder verschwanden.

Als sie aufwachte, lag sie auf dem Boden neben ihrem Bett.

Kapitel 1

Er ruhte regungslos auf dem Sand und war eindeutig tot. Charlotte traute sich nicht, ihn in diesem Zustand anzufassen, obwohl ihr diese Angst recht dämlich vorkam. Was sollte schon passieren? Sie hatte ihn schließlich fast jeden Tag in den letzten fünf Jahren berührt. Sie ging zu ihrer Tasche, holte einen Bleistift heraus und stupste ihn vorsichtig in die Seite. Keine Bewegung … Mist!

Er konnte doch nicht einfach sterben. Nicht jetzt, wo sie so viel zu tun hatte. Kraftlos ließ sie sich auf den Rattansessel neben dem Fenster fallen und beobachtete ihn durch die Stäbe. Ihr Luzifer, ihr kleiner Wellensittich. Wie oft hatte sie ihn verflucht, seit ihn ihre ehemalige Mitbewohnerin völlig dreist und herzlos bei ihr stehen gelassen hatte. Seit jenem Tag musste sie ihre Zeit so einteilen, dass sie sich um ihn kümmern konnte, er immer genug Essen und Freiflug bekam. Jeden Urlaub hatte sie so organisiert, dass ihn so lange jemand nehmen konnte. Und nun starb er an einem gewöhnlichen Montag eingeschlossen in seinem Käfig.

Sie beugte sich hoch und sah in seinen Napf. Es lag noch genug Futter drin, das Wasser war auch frisch. Hm. Hatte sie etwas falsch gemacht? Hätte sie mit ihm zum Tierarzt gehen müssen? Aber ihr war gar nichts aufgefallen. Er sah so aus wie immer, mit seinen roten Flügeln und dem hellgrünen Kopf. Nun war er ein armer Teufel. Und sie hatte ihn in seinen letzten Stunden nicht retten können. Hastig stand sie auf und ging über die knackenden Dielenböden in die Küche.

»Charlotte, das ist nur ein Vogel«, sagte sie laut zu sich. Die sterben nach ein paar Jahren. Und bei den ganzen Räucherstäbchen, die immer in Katies Zimmer gequalmt haben, war er wahrscheinlich sowieso vorgeschädigt. Sie riss ein paar Streifen von ihrer Küchenrolle ab und machte kehrt zum Wohnzimmer.

Luzifers Käfig stand am schönsten Platz in ihrer kleinen Zwei-Zimmer-Altbauwohnung, die ansonsten wenig Luxus zu bieten hatte. Aber die Balkontür und die zwei Fenster links und rechts waren in einen kleinen Erker eingelassen. Innen gab es einen kleinen Vorsprung aus verschnörkeltem weißem Holz, von dem aus Luzifer einen prächtigen Blick über ihre Straße gehabt hatte. Nicht, dass diese mit den schmucklosen weißen Häusern und den kleinen Balkonen besonders hübsch wäre. Besonders nicht an so einem typischen kargen Märztag in Hamburg.

Sie legte die Küchenrolle über Luzifer und schloss den Käfig wieder. »Mach’s gut, kleiner Freund! Morgen früh werde ich dich anständig begraben.«

Sie atmete tief ein und ging rüber zu ihrem Sekretär. Hoffentlich war das die letzte schlimme Aufregung für diese Woche. Sie musste fit sein, so was von fit. Vor ihr stand ihr MacBook, dass sie hochfuhr.

Mit einem Klick öffnete sie das Dokument mit ihren Interviewfragen. Sie begann alle noch einmal durchzugehen, aber das Dokument verschwamm vor ihren Augen. Mach es zu, sagte sie sich. Du hast schon so viele Interviews in deinem Leben geführt, du bist eine gute Journalistin. Aber eine kleine, miese Stimme in ihr setzte nach: Aber dieses Interview ist etwas ganz Besonderes. Sie schloss die Augen und sagte innerlich zu sich: »Stopp! Es wird besonders! Punkt!«

Es lief doch alles gut. Hannah Klarenheim wollte sich mit ihr treffen und ihr ihre Geschichte erzählen.

Damit hatte sie eine spannende Protagonistin für ihren Artikel, und wenn sie den Text gut schrieb, könnte er sehr bewegend werden. Dann wäre die Chance groß, dass eine angesehene Nachrichten-Redaktion wie Versus Interesse daran hätte. Ihre Traumüberschrift hatte sie auch schon im Kopf: Hass im Internet – was Frauen in Shitstorms erleben.

Ihre Interviewpartnerin stand gerade mitten in einem solchen Shitstorm. Die Tatsache an sich war natürlich noch nicht spektakulär. Inzwischen gab es ja tagtäglich Berichte über digitale Hasswellen gegen irgendwas oder irgendwen auf Facebook, Twitter, in den Kommentaren unter Artikeln oder überall sonst, wo man Buchstaben ins Netz tippen konnte. Wer heute virtuell »Pieps« sagte und jemanden traf, dem das nicht gefiel, konnte sicher sein, dass er im Internet einmal durch den Dreck gezogen wurde.

Aber Charlotte hatte ausgiebig recherchiert und festgestellt, dass es wenig Artikel gab, die sich explizit mit Hass gegen Frauen im Netz beschäftigten. Dabei war der besonders häufig. Zu diesem Thema existierten noch viel zu wenig Untersuchungen, aber die britische Tageszeitung The Guardian hatte angefangen und ihre siebzig Millionen Online-Kommentare auf ihrer eigenen Website ausgewertet. Dabei hatten sie herausgefunden, dass von den zehn Autoren, die bei ihnen schrieben und am meisten von Usern beschimpft wurden, acht weiblich waren. Acht von zehn waren weiblich! »Frauenhass in öffentlichen Online-Räumen wächst sich zur Epidemie aus«, schrieb auch die britische Bloggerin und Autorin Laurie Penny in ihrem Buch »Unsagbare Dinge«. Wer im Netz also eine Frau war, egal ob in Großbritannien, Deutschland oder anderswo, und etwas zu sagen hatte, musste damit rechnen, dass starker Gegenwind aufkam, und zwar oft auch unter der Gürtellinie. User beschimpften die Autorinnen, drohten ihnen sexuelle Gewalt an und versuchten sie mundtot zu machen. Feministische Themen waren natürlich Hass-Zielscheibe Nummer eins, aber es konnten manchmal auch ganz harmlose Dinge sein. Sportreporterinnen, die es »wagten«, ein Männerfußballspiel zu kommentieren, gerieten oft ins Schussfeld von Hatern. Charlotte fand, dass es wichtig war, mehr über diese Zusammenhänge zu berichten. Was widerfährt diesen Frauen? Welche psychologischen Muster sind bei den Shitstormern feststellbar, und wie kann sich etwas ändern, damit sich Frauen auch im Internet sicher fühlen?

Hannah Klarenheim war Online-Redakteurin bei der feministischen Website Gloria, und Charlotte bewunderte sie für ihren Mut. Sie schrieb trotz aller Hasstiraden unbeirrt über die Dinge, die sie bewegten, und war bei Podiumsdiskussionen immer schlagfertig. Sie kämpfte dafür, dass Frauen in der Gesellschaft sichtbarer wurden. Das bedeutete für sie besserer Lohn, mehr Präsenz in Führungsebenen oder im Fernsehen, beispielsweise in Talkshows. Ihr ging es nicht darum, die Rechte der Männer zu beschneiden, sondern um Gleichheit. Erst wenn alle gehört würden, könnte eine Gesellschaft ihr volles Potenzial entfalten. Charlotte hatte das Gefühl, dass Hannah mit ihrem Engagement etwas bewegte. Sie nahm nicht den einfachen Weg, sie lebte ihre Überzeugungen.

Sie hatte sie schon ein paarmal live erlebt und sich nun ein Herz gefasst. Der neueste Shitstorm gegen Hannah war ein guter Anlass dafür.

In der Gloria hatte sie eine kurze Kolumne über alltäglichen Sexismus geschrieben. Nur in einem Nebensatz hatte sie dabei den jungen YouTube-Star Collin X erwähnt. Die Art des Neunzehnjährigen aus Kassel war tatsächlich nichts für Frauen um die dreißig, aber Teenie-Jungs und ein paar Mädels standen auf ihn. Er war erst einmal auffallend wegen seiner Haare – blonde, wuschelige Locken, die nach allen Seiten abstanden. Wenn er den Mund öffnete, quatschte er wild drauflos – meistens über Musik, Games und Pornos. Wobei der Pornokram, den er auf Blogs fand, bei den Hormongesteuerten am besten ankam.

Er hatte seinen Spaß daran, Frauen daran zu erinnern, dass ihr Mund vor allem für Blowjobs gemacht sei. In einigen Clips ließ er sich von zwei Bikini-Schönheiten aus seiner Fangemeinde unterstützen, die seine Sätze mit eindeutigen Gesten untermalten und das vermutlich bereits in weniger als zwei Jahren bereuen würden.

Dass mal jemand über ihn selbst kritisch berichtete, fand der lässige Collin X allerdings gar nicht lustig. Er lästerte drei Folgen lang über Hannah Klarenheim und montierte ihr Foto in SM-Pornos und Ego-Shooter-Filmchen. Bei 1,7 Millionen Abonnenten hatte das Wirkung. Hannah Klarenheim musste sich seit sieben Tagen so ziemlich alles anhören, meistens jedoch, dass sie mal wieder einen richtigen Arschfick brauchen könnte.

Charlotte wollte das aktuelle Beispiel von Hannah nehmen und persönliche Statements von ihr in ihrem Artikel einbauen. Daneben würde sie noch Psychologinnen interviewen und die Guardian-Studie zitieren. Das würde ein guter Text werden.

Sie lehnte sich in ihren Stuhl zurück, hob ihre langen braunen Haare hoch, als wollte sie einen Zopf machen, und ließ sie wieder fallen. Morgen würde sie Hannah in ihrer Wohnung besuchen, weil sie das so gewollt hatte. Als Charlotte über sie nachdachte, musste sie zugeben, dass sie sie trotz Shitstorm beneidete. Sie hatte eine tolle Position in einer einflussreichen Redaktion und schrieb Artikel, die Inhalt hatten. Die etwas Neues aufdeckten oder einem bestehenden Thema mehr Tiefe gaben. In vielen anderen Online-Redaktionen ging es oft nur noch um »schnell, schnell«.

Ihre Eltern würden sich über einen festen Job bestimmt auch freuen. Sie taten sich schwer damit, dass Charlotte keine Banklehre gemacht hatte, sondern »irgendwas mit Medien«, und das auch noch freiberuflich!

So und jetzt noch mal »Stopp!« im Kopf, dachte sie sich. Sie würde es schaffen. Ihr Wille war schon immer stark gewesen. Und irgendwann wäre sie auch wieder der fester Teil eines Teams.

Vorerst arbeitete sie nämlich drei Tage die Woche als freie und gleichzeitig einzige Online-Redakteurin bei dem Kitsch-Heft Schicksalstage, das auch im Internet »aktiv und dabei« sein wollte. »Wir schreiben Geschichten von normalen Leuten. Unsere Artikel haben einen Hauch Sehnsucht und einen großen Strauß Gefühle.« Diesen Slogan hatte sich ihr Chefredakteur Eugen Rehweiler ausgedacht. Etwas verrückt. Aber der Job zahlte die Miete.

Aber nicht mehr lange hoffentlich. Wenn sie ihren Artikel über Hannah Klarenheim verkaufen könnte, hätte sie endlich wieder eine aktuelle, gute Arbeitsprobe, die sie bei Vorstellungsterminen für seriöse Redaktionen vorlegen konnte. Sie war fünfunddreißig Jahre alt und noch lange nicht zu alt für einen neuen, festen Job. Scheitern war keine Option.

Ein letztes Mal drehte sie sich um zu Luzifer. Kleiner Mann, wo du jetzt auch bist, bald wirst du stolz auf mich sein.