Schreckensgalerie (Patricia Vanhelsing)

Alfred Bekker

Published by BEKKERpublishing, 2018.

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Schreckensgalerie

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Schreckensgalerie

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Ein Patricia Vanhelsing-Roman

von Alfred Bekker

Der Umfang dieses Buchs entspricht 108 Taschenbuchseiten.

Mein Name ist Patricia Vanhelsing und – ja, ich bin tatsächlich mit dem berühmten Vampirjäger gleichen Namens verwandt. Weshalb unser Zweig der Familie seine Schreibweise von „van Helsing“ in „Vanhelsing“ änderte, kann ich Ihnen allerdings auch nicht genau sagen. Es existieren da innerhalb meiner Verwandtschaft die unterschiedlichsten Theorien. Um ehrlich zu sein, besonders einleuchtend erscheint mir keine davon. Aber muss es nicht auch Geheimnisse geben, die sich letztlich nicht erklären lassen? Eins können Sie mir jedenfalls glauben: Das Übernatürliche spielte bei uns schon immer eine besondere Rolle.

In meinem Fall war es Fluch und Gabe zugleich.

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Ein CassiopeiaPress Buch

© by Author /Cover TONY MASERO

© dieser Ausgabe 2015 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen

www.AlfredBekker.de

postmaster@alfredbekker.de

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Die Augen des Dämons leuchteten weiß. Sein tierhaftes, grünlich schimmerndes Gesicht wirkte verzerrt. Die Mundpartie wölbte sich wie bei einem Affen hervor. Zwei Reihen furchterregender Raubtierzähne wurden durch die dunkelroten Lippen entblößt. Eine seiner gewaltigen, mit messerscharfen Krallen bewehrten Pranken hielt das ganz und gar von einer schuppig wirkenden Haut bedeckte Wesen wie zum Schlag erhoben.

Grace Waters schluckte, als sie dem mordlüsternen Blick des Ungeheuers begegnete.

Sie schüttelte leicht den Kopf, öffnete halb den Mund und versuchte etwas zu sagen. Aber kein Ton kam über ihre Lippen.

Stummer Schrecken ließ sie schweigen.

"Meine Güte, Grace! Du bist ja ganz bleich geworden!", hörte sie wie aus weiter Ferne die Stimme ihres Mannes. "Es ist ein Bild, Darling. Nur ein Bild..."

Mit einer beinahe zärtlichen Geste rückte Ray Waters den aufwendigen Holzrahmen zurecht, der das großformatige Ölgemälde umrandete. Waters war 55 und ein erfolgreicher Industrieller. Eine hochgewachsene Erscheinung mit grauen Schläfen und stets in einen dreiteiligen Maßanzug gekleidet.

Er musterte seine um einige Jahre jüngere Frau nachdenklich.

Sie ist wie hypnotisiert durch dieses Gemälde!, ging es ihm durch den Kopf. Grace war eine hübsche Mitvierzigerin mit aparten Gesichtszügen. Eine kühle Blonde - so der äußere Anschein. Zumindest wirkte sie stets beherrscht. Um so mehr wunderte sich Waters, dass der Anblick dieses Bildes seine Frau derart mitnahm.

Er trat zu ihr, legte den Arm um sie und sagte: "Ich hänge es wieder ab, wenn du willst!"

Grace drehte langsam den Kopf zu ihm herum.

Ihr Gesicht wirkte beinahe verstört.

"Ray, ich..."

"Ich habe es vor zwei Wochen in dieser kleinen Galerie erworben... Hier in London!"

"Aber, um alles in der Welt, warum?"

"Ich kann es dir nicht genau sagen", erwiderte er. Tiefe Furchen bildeten sich auf Waters' Stirn. Er wirkte nachdenklich. Sein Blick war nach innen gerichtet. "Es faszinierte mich einfach... Ich war wie gebannt vom Anblick dieses Dämons - oder was immer das auch für eine Kreatur sein mag, die der Künstler darzustellen versuchte..."

"Es wirkt so... realistisch", murmelte Grace. "So, als würde dieses Wesen jeden Augenblick aus dem Bild heraustreten..." Sie atmete tief durch. Waters legte den Arm um sie, und sie lehnte sich gegen ihn. "Wahrscheinlich hältst du mich jetzt für hysterisch und überspannt. Aber irgendwie glaube ich kaum, dass ich mich im Angesicht dieses Bildes je wohlfühlen kann..."

"Dann kommt es in den Speicher, Darling."

"Nein, das kann ich nicht von dir verlangen!"

"Du kannst alles von mir verlangen", erklärte er und küsste sie leicht auf die Stirn. "Ich liebe dich nämlich und für mich ist das Wichtigste, dass du glücklich bist!" Sie sah ihn an. Für Augenblicke verschmolzen ihrer beider Blicke miteinander.

Dann schüttelte sie den Kopf, lächelte dabei verhalten und nestelte am Revers seines Jacketts herum. "Macht es dir wirklich nichts aus?"

"Ich werde einfach an den Wertzuwachs denken, den das Bild durchmacht, wenn ich es lagere", lächelte er.

"Wer ist denn der Künstler?"

"Ein gewisser Allan Brennan."

"Kein Name, den du schonmal erwähnt hättest..."

"Mir war er bislang auch kein Begriff - bis ich in der Galerie Sounders & McInnerty durch Zufall eines seiner Bilder sah..."

Waters ließ seine Frau los, wandte sich dem Gemälde zu und trat mit leichtem Schaudern dem Bild entgegen. "Es ist so plastisch, so.... lebendig..." Die Faszination hatte ihn vollkommen gefangengenommen. Sein Blick bekam einen eigenartigen Glanz. "Ich habe so etwas noch nie gesehen! Bei keinem mir bekannten Maler! Diese geradezu unheimliche Intensität..."

In diesem Moment betrat das Hausmädchen den Raum.

"Mrs. Waters, da ist jemand an der Tür, der Sie sprechen möchte..."

"Ich komme sofort, Bridget", murmelte Grace Waters etwas abwesend. Sie blickte ihren Mann an, der noch immer in sich versunken vor dem Gemälde stand. Wenn es sich um eine Frau handeln würde, wäre ich jetzt wohl eifersüchtig!, dachte sie.

Sie folgte Bridget und verließ den Raum.

Unterdessen hob Waters die Hand, berührte vorsichtig den Rahmen. Ein eigenartiger, prickelnder Schauder durchfuhr seinen Arm bis hinauf zur Schulter und breitete sich dann über den gesamten Körper aus.

Waters schluckte.

Er war unfähig, sich auch nur Zentimeter weit zu bewegen.

Irgendeine Kraft hielt ihn gefangen und fesselte ihn mit unsichtbaren Banden.

Was geht hier nur vor?, durchschoss es ihn. Zunächst hatte die Faszination im Angesicht dieses unheimlichen Gemäldes überwogen. Doch jetzt war es etwas anderes. Furcht...

Der Dämon bewegte sich.

Seine krallenbewehrte Pranke hob sich wie zum Schlag. Dann ragte der grünlich schimmernde, schuppige Arm aus dem Gemälde heraus.

Blitzschnell packte die Krallenhand zu und schloss sich um Ray Waters's Kehle. Das Maul des Dämons öffnete sich. Die langen Reißzähne schimmerten matt im gedämpften Licht, das den Raum erfüllte. Das Wesen stürzte aus dem Bild heraus und warf sich brüllend auf Waters. Beide fielen zu Boden.

Waters's Augen waren schreckgeweitet. Der Dämon aus dem Ölbild saß auf der Brust des Industriellen. Erneut ertönte ein markerschütterndes, tierhaftes Brüllen. Die gewaltigen Pranken würgten unbarmherzig, während aus Waters Gesicht jegliche Farbe floh. Seiner Augen brachen und starrten ins Nichts.

Und noch während der Dämon von dem Toten herunterstieg, wurde er transparent. Nur Augenblicke vergingen und er wirkte wie eine schwache Dia-Projektion. Er richtete seine tierhafte Gestalt vollends auf. Sie reichte beinahe bis zu den hohen Kronleuchtern. Sein Maul öffnete sich, und ein grollender Laut kam aus seiner Kehle. Allerdings klang er jetzt auf seltsame Weise gedämpft. So als ob sich eine unsichtbare Wand zwischen ihm und seiner Umgebung aufgebaut hatte.

Grace Waters kam zurück.

Bridget folgte ihr dicht auf dem Fuß.

Sie hatten die Schreie gehört.

"Nein!", stieß Grace hervor, als sie ihren Mann am Boden liegen sah. Dann erstarrte sie mitten in der Bewegung. Das verblassende Monstrum stieß einen Zischlaut in ihre Richtung aus. Das Wesen war kaum noch zu sehen...

"Mein Gott, was geht hier vor?", schrie Bridget mit offenem Mund.

Einen Augenblick später war der Dämon verschwunden.

Mit zitternden Knien stand Grace da, blickte auf ihren toten Mann und fühlte, wie ihr Tränen über die Wangen liefen.

Einige Augenblicke lang dachte sie, Gefangene eines furchtbaren Alptraums zu sein. Aber es gab kein Erwachen. Sie hob den Kopf und sah dann, dass das Ölgemälde leer war.

Nichts war von dem furchterregenden Dämon zu sehen, den ein mit einem düsteren Talent begnadeter Künstler in furchterregender Plastizität auf die Leinwand gebannt hatte.

Da war nur noch die Grundierung zu sehen.

Und die Signatur des Künstlers.

Allan Brennan.

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Tante Lizzys Augen leuchteten, als sie mich ansah. In der Bibliothek der alten Dame gab es kaum noch einen freien Platz, weder auf dem Fußboden noch auf den kleinen runden Tischchen, die sie im Raum verteilt aufgestellt hatte.

Überall lagen Papiere und aufgeschlagene Bücher herum. Auf dem eigenartigen antiken Schreibtisch, der sich in einer Ecke des Raumes befand und durch die geschnitzten Dämonenköpfe an allen vier Ecken auffiel, türmten sich Stapel von dicken, staubigen Lederfolianten in die Höhe.

Elizabeth Vanhelsing - für mich Tante Lizzy - war in ihrem Element. Wenn der Forscherdrang die alte Dame gepackt hatte, dann konnte sich nichts mehr bremsen. Nächtelang saß sie dann über den okkulten Schriften und den Unmengen Pressematerial, privaten Briefwechseln und Geheimschriften, die sie in ihrem Okkultismus-Archiv im Laufe von vielen Jahren zusammengetragen hatte. Seitdem ihr Mann - der bekannte Archäologe Frederik Vanhelsing - vor Jahren bei einer Expedition im südamerikanischen Regenwald verschollen war, hatte sie sich ganz der Erforschung des Ungewöhnlichen gewidmet.

Tante Lizzy war nicht allein in der Bibliothek.

In einem der Sessel hatte Professor Hugh St.John platzgenommen, ein Chemiker, dessen Hilfe Tante Lizzy in letzter Zeit für die eine oder andere Analyse in Anspruch genommen hatte. St.John war ein rundlicher, freundlich wirkender älterer Herr, der stets in einem sehr stilvollen maßgeschneiderten Dreiteiler daherkam. Ein Mann, der gleichermaßen intellektuelle Brillanz und gediegenen Stil verkörperte. In letzter Zeit tauchte Professor St. John immer häufiger als Gast in der Vanhelsing-Villa auf. Neuerdings schien er sogar ein gewisses Faible für den Okkultismus entdeckt zu haben, was bei einem nüchternen Naturwissenschaftler wie St.John natürlich verwunderte.

Zumindest auf den ersten Blick.

Auf den zweiten musste jeder Beobachter zu der Erkenntnis kommen, dass Tante Lizzy auf ihre Art eine ebenso akribische Forscherin war, die in paranormalen oder außersinnlichen Phänomenen nichts anderes sah, als Geschehnisse, für die die moderne Wissenschaft - noch - keine Erklärung zu liefern in der Lage war. Ihr war dabei sehr wohl bewusst, wie viele Scharlatane und Geldschinder sich auf diesem Gebiet tummelten und die Leichtgläubigkeit ihrer Mitmenschen ausnutzten.

Tante Lizzy wollte nichts anderes, als die Spreu auf diesem Gebiet vom Weizen zu trennen.

Mochte der Weizen - echte okkulte Phänomene - auch noch so rar sein, wenn man ihn mit der Menge der Spreu verglich: er war da. Ich selbst hatte es erlebt... Und nicht nur einmal!

An diesem Tag hatte ich einen ziemlich stressigen Tag in der Redaktion der LONDON EXPRESS NEWS hinter mir. Am Abend wollte mein geliebter Tom Hamilton mich abholen, um mich in ein neues italienisches Restaurant im West End zu entführen.

Dafür hatte ich mich ein bisschen aufgebrezelt. Ein schlichtes, aber sehr elegantes hellblaues Kleid, dazu Pumps und hochgesteckte Haare. Mit meiner Frisur war ich irgendwie noch nicht hundertprozentig zufrieden gewesen, aber dann war Tante Lizzy in mein Schlafzimmer geplatzt und hatte gemeint, dass ich ihr unbedingt in die Bibliothek folgen müsse. Sie hätte eine Entdeckung gemacht...

"Patti", murmelte sie und hielt mir ein vergilbtes Stück Papier entgegen, beschrieben mit einer eigenartigen, grau schimmernden Tinte. "Ich habe endlich einen Hinweis auf dieses Buch gefunden, auf das du in Darnby-on-Sea gestoßen bist..."

Gerade noch hatte ich ein Gähnen unterdrücken müssen.

Jetzt war ich hellwach. Und an meine Frisur verschwendete ich keinen Gedanken mehr.

"Du meinst..."

"...das LIBRUM HEXAVIRATUM", vollendete Tante Lizzy.

Tom und ich waren bei der Aufklärung einer Serie mysteriöser Todesfälle in einem kleinen Ort in Northumberland auf ein Buch gestoßen, das auf jeden, der in ihm las, eine wahrhaft magische Wirkung ausübte. Verfasst war es von einem geheimnisvollen Rat der Sechs - Wesenheiten, die aus dem Hintergrund angeblich seit Urzeiten die Geschicke der Welt lenken. Und ihr Buch, das LIBRUM HEXAVIRATUM wirkte direkt auf das menschliche Bewusstsein. Innerhalb einer Sekunde war die Erinnerung an jenen Augenblick wieder lebendig, in dem ich das Buch aufgeschlagen und mein Blick die langen Reihen der unbekannten Schriftzeichen entlanggewandert waren...

Das Exemplar des LIBRUMS, das wir auf Darnby Castle gefunden hatten, war zu Staub zerfallen. Aber es musste weitere geben. Ich war überzeugt davon. Niemand, der einmal in einem Exemplar dieses Buches gelesen hatte, würde es je vergessen können. Jedenfalls hatte das Lord Darnby gesagt, jener düstere Unsterbliche, der sich der finsteren Magie des LIBRUMS bedient hatte.

Jetzt war auch er längst zu Staub zerfallen.

Aber er hatte Recht behalten.

Der Gedanke an das Buch hatte mich seit unserer Rückkehr aus Northumberland nicht mehr losgelassen.

Tante Lizzy reichte mir das Schriftstück.

Es war ein Brief, soviel konnte ich erkennen. Die Schrift war ziemlich verschnörkelt. "Das ist französisch", stellte ich fest.

"Das Papier stammt aus einem Briefwechsel, den Hermann von Schlichten mit dem französischen Okkultisten Francois Salasar führte... Ich habe die Papiere letzte Woche bei einer Haushaltsauflösung in Southampton erworben. Auf irgendwelchen verschlungenen Pfaden sind sie in den Besitz einer englischen Lady gefallen, die vor kurzem im Alter von 103 Jahren verstarb. Glücklicherweise wussten ihre Angehörigen den Wert dieser Dokumente nicht im mindesten zu schätzen..."

"Ich fürchte, mein Schulfranzösisch ist nicht gut genug, um diesen Brief zu verstehen", erklärte ich.

"Bei mir ist das nicht anders", lächelte Tante Lizzy. "Aber glücklicherweise habe ich einen Bekannten, der exzellent Französisch spricht!" Tante Lizzy deutete auf Hugh St.

John, der mir mit einem freundlichen Lächeln zunickte.

"Ich hatte eine Gastprofessur in der französischen Schweiz", erklärte der Chemiker.

Tante Lizzy ergriff wieder das Wort.

"Patti, von Schlichten berichtet hier davon, dass ein Buch in seinen Besitz gelangt sei, auf das genau jene Eigenschaften zutreffen, die du mir vom LIBRUM HEXAVIRATUM geschildert hast!"

"Aber es wird nicht beim Namen genannt!"

"Nein, das nicht! Aber die Einzelheiten stimmen überein. Es ist vom Symbol des Sechsecks die Rede. Außerdem spekuliert von Schlichten darüber, wer die Sechs sein könnten..."

"Der Rat der Sechs?"

"Liegt das nicht nahe, Patti?" Tante Lizzy atmete tief durch. "Es ist ein erster Hinweis, Patti. Mehr nicht, das ist mir klar. Aber immerhin eine erste Spur."

In diesem Augenblick läutete der Türgong.

Tante Lizzy lächelte und nickte mir zu. "Das wird Tom sein", meinte sie. "Ich will dich auch nicht länger aufhalten..."

Ich erhob mich. "Tante Lizzy, ich hoffe nicht, dass du wieder die ganze Nacht..."

"Lass nur, Patti!", schnitt sie mir das Wort ab. "Einer der wenigen Vorzüge des Alters ist es, dass man nicht mehr so viel Schlaf braucht..."

"Gehen Sie ruhig, Miss Vanhelsing", erklärte nun Hugh St.John mit ruhiger, tiefer Stimme. "Ich werde auf Ihre Großtante schon aufpassen..."

"Dann wären Sie der Erste, der sie zu bremsen versteht!"

"Nein, das werde ich gar nicht erst versuchen", erklärte St.John. "Das wäre wohl auch völlig sinnlos."

Ich ging wie ein Storch zwischen den Papieren und aufgeschlagenen Büchern hindurch. Tante Lizzy hatte ihre eigene Ordnung, nach der sie ihr Archiv sortierte. Das System, das dahintersteckte musste sehr individuell sein. Ich hatte es bis heute nicht verstanden, obwohl ich seit meinem zwölften Lebensjahr in ihrer Villa wohnte und sie nach dem frühen Tod meiner Eltern mir so nahegestanden hatte wie es sonst nur eine Mutter gekonnt hätte.

Aber es war eine Tatsache, dass sie stets in erstaunlich kurzer Zeit ein bestimmtes Buch oder eine Handschrift aus dem Wust ihrer unermesslich großen Sammlung herausfischen konnte.

Schon oft hatte sie mich bei meinen Recherchen wirkungsvoll unterstützt.

Tante Lizzy trat auf mich zu.

Sie berührte mich leicht am Arm.

"Ich wünsche euch beiden einen schönen Abend", sagte sie dann in gedämpftem Tonfall. "Und im übrigen bin ich kein bisschen böse, dass du mich hier im Schweiße meines Angesichts arbeiten lässt..."

Sie zwinkerte mir zu.

Ich wusste genau, wie sie das meinte.

Der Türgong läutete bereits zum zweiten Mal, als ich endlich öffnete.

Tom Hamilton stand draußen in der regnerischen Nacht. Seine meergrünen Augen blickten mich an. Auch er hatte sich für den Abend in Schale geworfen. Unter einem offenen Regenmantel sah ich ein zweireihiges, dunkelblaues Jackett mit Krawatte.

"Hallo, Patricia", sagte er und der sonore Klang seiner Stimme jagte mir einen wohligen Schauder über den Rücken.

Vielleicht waren es diese geheimnisvollen Augen gewesen, die mich verzauberten, als ich Tom zum ersten Mal begegnet war.

"Tom...", flüsterte ich.

Wir näherten uns. Und während hinter mir die Tür ins Schloss fiel, legte er seinen Arm um mich und drückte mich zärtlich.

Unsere Lippen fanden sich zu einem Kuss voller Leidenschaft.

Der Nieselregen sorgte dafür, dass mein Haar ganz nass wurde und die Strähnen bald feucht am Kopf klebten. Ich bemerkte es nicht.

"Ich muss nochmal ins Haus", meinte ich schließlich, als wir uns voneinander gelöst hatten. "Mein Regenmantel..."

Wortlos strich er mir mit der Hand über das Kinn.

"Du siehst bezaubernd aus, Patti..."

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Wenig später saßen wir beide in Toms Volvo. Mit sicherer Hand lenkte er den Wagen durch das nächtliche London, ein Meer aus sternengleichen, manchmal durch den Regen verwaschenen Lichtern.

Wir brauchten fast eine Dreiviertelstunde, um das Restaurant zu erreichen, in das wir gehen wollten. Es handelte sich um das MANZONI, eine Neueröffnung. London ist berühmt für seine italienischen Restaurants, jedenfalls bei Kennern. Und Tom und ich teilten neben vielen anderen Vorlieben auch die für die italienische Küche.

Während der Fahrt erzählte ich ihm von der Spur, die Tante Lizzy in Bezug auf das mysteriöse LIBRUM HEXAVIRATUM gefunden hatte.

Wenn es eine Spur war.

Nach Lage der Dinge war das nämlich noch keineswegs sicher.

Ein vager Hinweis, mehr war es nicht.

Seit unserem Abenteuer in Northumberland, hatten wir uns oft darüber unterhalten, was an der Legende über dieses Buch und den Rat der Sechs wohl dran war.

"Dieses Buch scheint noch immer deine Gedanken zu beeinflussen", sagte Tom lächelnd. "Selbst jetzt, da das einzige bekannte Exemplar zu Staub zerfallen ist. Du selbst warst dabei..."

"Es wird weitere geben", flüsterte ich. "Und dieser Rat der Sechs..." Mir schauderte bei dem Gedanken. Ein scheinbar unbegründetes Gefühl des Unbehagens machte sich in meiner Magengegend breit. Jetzt nicht!, durchfuhr es mich. Ich wollte nichts weiter, als einen schönen Abend bei Kerzenlicht, ohne einen Gedanken daran, ob irgendwo, an einem verborgenen Ort, geheimnisvolle Wesen schlummerten, die angeblich in der Lage waren, die Geschicke der Welt zu lenken. Aber ich konnte einfach nicht anders, als immer wieder daran zu denken.

Ich atmete tief durch.

Ein dumpfes Druckgefühl meldete sich für Augenblicke hinter meinen Schläfen. Es wurde zu einem unangenehmen Pochen und verschwand dann.

Eine übersinnliche Kraft...

Mein Para-Sinn zeigte mir derartige mentale Energien auf diese Weise an.

Nach einem Augenaufschlag war es bereits wieder vorbei.

Was war das?

Tom parkte den Volvo in einer Nebenstraße. Er öffnete mir die Tür und hielt seinen Schirm über mich. Eine nette Geste, auch wenn sie mich vor der Nässe des Nieselregens kaum schützen konnte. Die Luft schien mehr oder weniger von Feuchtigkeit gesättigt zu sein. Das berüchtigte Londoner Wetter eben...

Arm in Arm gingen wir die Seitenstraße entlang. Hier und da brannte eine Neonreklame. Die feuchte Kühle drang durch meine Kleider. Ich fröstelte etwas und drängte mich nahe an Tom heran.

Schließlich erreichten wir das MANZONI.

Tom war als Reporter auf der Eröffnungsfeier dieses In-Lokals gewesen. Das Ergebnis war eine Zehn-Zeilen-Lobeshymne in den LONDON EXPRESS NEWS gewesen, jenem großen englischen Boulevardblatt, bei dem wir beide unser Geld verdienten.

Innen herrschte gedämpftes Licht.

Die Einrichtung war traditionell und wirkte rustikal. Der Innenraum war in Holz gehalten. Die kunstvollen Kronleuchter, die von der Decke hingen, verbreiteten ein mondänes Flair. Im Hintergrund lief rauschend und kratzend eine uralte Caruso-Platte.

Ich sah Tom an.

"Sehr romantisch", sagte ich.

"Ist das nicht genau das, wonach wir uns im Moment beide sehnen?"

"Natürlich..."

Er nahm mir den Mantel ab und hängte ihn auf. Ein Kellner brachte uns zum Tisch. Tom hatte ihn reservieren lassen.

Kerzen wurden entzündet. Ihr weiches Licht ließ Toms markante, von dunklem Haar umrahmte Züge etwas weicher erscheinen als sonst.

Seine Hand legte sich auf die meine.

"Ich liebe dich, Patti", sagte er. Das Timbre seiner Stimme vibrierte. Ein wohliger Schauder überlief mich dabei.

"Ich dich auch", flüsterte ich.

Mein Hals war trocken. Ich war kaum in der Lage, etwas zu sagen und versuchte zu schlucken. Unsere Liebe war im Laufe der Zeit noch tiefer geworden.

Toms meergrüne Augen musterten mich. Ich brauchte nichts zu sagen. Er wusste, was in mir vorging.

Der Kellner kam und schenkte den Wein ein. Wir hoben die Gläser, ließen sie mit einem kurzen Klirren aneinanderstoßen und ich fragte: "Worauf sollen wir trinken?"

"Auf die Zukunft?"

"Auf unsere Zukunft!"

Ich nippte an dem Glas, nahm einen Schluck des süßen Lambrusco und stellte das Glas wieder hin.

"Gehen wir nachher noch zu dir?", fragte ich.

"Gerne. Wenn deine Großtante dich nicht allzu sehr vermisst..."

"Das glaube ich kaum. Sie hat Besuch. Es ist Professor St. John..."

"Er ist in letzter Zeit ziemlich oft in der Vanhelsing-Villa", stellte Tom Hamilton fest und lehnte sich etwas zurück.

Ich musste unwillkürlich lächeln. "Nicht mehr lange und Tante Lizzy hat aus einem nüchternen Naturwissenschaftler einen kräutergläubigen New Ageer gemacht!" Ich machte eine kurze Pause, senkte den Blick und sah einige Sekunden lang in das dunkle Rot des Lambruscos in meinem Glas. "St. John ist Witwer. Seine Frau starb vor Jahren durch einen mysteriösen Verkehrsunfall... Das heißt, der Unfall selbst war nicht sonderlich mysteriös, nur die Umstände!"

"Welche Umstände?"

"Eine Geisterseherin auf dem Jahrmarkt in Southgate sagte ihr den nahen Tod voraus. Mrs. St. John nahm das natürlich nicht ernst. Als sie und ihr Mann wenig später an einem Spiegelkabinett vorbeikamen, sahen sie beide dort für Sekunden das Unfallgeschehen voraus..." Ich zuckte die Achseln. "Jedenfalls versteht Tante Lizzy sich sehr gut mit Professor St. John..."

Unsere Blicke begegneten sich und verschmolzen förmlich miteinander.

Später fuhren wir zu Toms Wohnung in der Ladbroke Grove Road. Ich wollte in dieser Nacht einfach nicht allein sein.

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Michael T. Swann erhob sich hinter seinem völlig überladenen Schreibtisch und reichte mir eine dünne Mappe. Unser Chefredakteur hatte Tom und mich in sein Büro gerufen, noch bevor sich einer von uns an seinen Schreibtisch hatte setzen können. Es musste sich um etwas Dringendes handeln. Und Swann war ziemlich ein Eile. Er verzichtete sogar auf ein "Guten Morgen", so ohne Umschweife kam er zur Sache.

"Der Industrielle Ray Waters ist auf sehr mysteriöse Weise gestorben", erklärte er. Der Name Waters war mir ein Begriff.

Er war nicht nur ein wichtiger Industriekapitän, sondern auch eine bekannte Jet-Set-Größe. In den letzten Jahren war er darüber hinaus als Kunstmäzen hervorgetreten, der auf zahlreichen Auktionen als Käufer von sich reden gemacht hatte.

Swann deutete auf die Mappe.

"Alles, was ich an Informationen habe, ist da drin. Eine dürre Pressemitteilung der Polizei und der Waters Industrial Holding Group... Ja, und dann war da noch ein Anruf der Witwe, Mrs. Grace Waters."

Ich hob die Augenbrauen und strich mir mit einer beiläufigen Handbewegung eine verirrte Haarsträhne aus dem Gesicht. "Hier bei den LONDON EXPRESS NEWS?", vergewisserte ich mich etwas überrascht.

Swann nickte.

"Mrs. Waters wollte Sie sprechen, Patricia. Ich habe vereinbart, dass Sie so schnell wie möglich bei ihr vorbeischauen. Die Adresse der Waters liegt der Mappe bei..."

Swann atmete tief durch. Er umrundete den Schreibtisch. Wir standen ihm direkt gegenüber. An diesem Morgen hatte er uns nicht einmal einen Sitzplatz angeboten. Er tickte mit dem Zeigefinger auf die Mappe, die er mir gegeben hatte. "Es geht im Kern darum, dass Mr. Waters durch die Hand einer unbekannten Kreatur erwürgt worden sein soll... Sie sehen, dass fällt in Ihr Spezialgebiet, Patricia."

"Eine unbekannte Kreatur?", echote ich.

Swann nickte.

"Ja, jedenfalls nach Aussage des Hausmädchens. Die Polizei gibt sich bedeckter. Aber auch sie kommt um die Tatsache nicht herum, dass die Würgemale am Hals von ungewöhnlich großen Händen stammen. Von Händen, die Krallen gehabt haben müssen..." Swann zuckte die Achseln. "Wie auch immer... Versuchen Sie Ihr Glück bei Mrs. Waters!"

Zehn Minuten später saßen wir in Toms Volvo und quälten uns durch den Londoner Stadtverkehr. Eine graue Dunstglocke hing über der Stadt und sorgte dafür, dass man zwischendurch auf die Uhr schauen musste, um nicht auf den Gedanken zu kommen, dass dies vielleicht schon die hereinbrechende Dämmerung war.

Während der Fahrt versuchte ich per Handy Mrs. Waters zurückzurufen.

Vergeblich.

Der Anschluss war laufend besetzt.

"Wahrscheinlich wird die arme Frau jetzt von der Presse geradezu gejagt", vermutete Tom. "Jetzt will doch jeder ein Foto der Trauernden auf Seite 1...."

Ich seufzte.

"Ich fürchte, du hast recht", gestand ich ein, während ich zum vierten Mal auf die Wahlwiederholungstaste drückte. Auch diesmal wieder ohne Erfolg. Ich legte den Apparat zurück in meine Handtasche.

"Um so seltsamer ist, dass sich Mrs. Waters von sich aus an die NEWS wendet", hörte ich Tom sagen.

Die Waters-Villa befand sich in der Templeton Street. Sie wurde von einem hohen gusseisernen Zaun umgeben. Wir hatten Schwierigkeiten, einen Parkplatz zu finden, denn die Templeton Street war bereits durch die Fahrzeuge mehrerer Reporterteams von Radio, Fernsehen und den Printmedien zugestellt. Wir ernteten jede Menge böser Blicke, als wir durch die lauernden Journalisten hindurchmarschierten, die Gegensprechanlage am Tor betätigten und sofort hereingelassen wurden, als ich meinen Namen nannte.

Ein stummer Leibwächter in dunklem Sakko holte uns vom Tor ab. Die giftigen Kommentare der Kollegen hatten wir im Nacken. Jemand vermutete einen Exklusivvertrag und empörte sich darüber, dass Mrs. Waters offenbar selbst den Tod ihres Mannes finanziell auszuschlachten hoffte.

Die Witwe empfing uns dann wenig später in einem weitläufigen Raum, der an eine Kunstgalerie erinnerte. Die Wände waren mit Ölgemälden unterschiedlichster Epochen vollgehängt. Werke der Moderne waren hier ebenso zu finden wie naturalistische Landschaftsbilder des 19. Jahrhunderts.

Ein Bild fiel mir sofort ins Auge.

Es zeigte nicht mehr als eine schlammfarbene Farbgrundierung und die Signatur des Malers.