Pflegestufe Mord

Herausgegeben von

Ursula Schmid-Spreer - Brigitte Lamberts - Bruno Woda

Pflegestufe
Mord

In dieser Seniorenresidenz gibt es keine
„Natürliche Todesursache“

 
 

1. Auflage September 2018

© 2018
art&words – verlag für kunst und literatur

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Idee und Lektorat:
Ursula Schmid-Spreer und Brigitte Lamberts
 

Umschlaggestaltung: Peter R. Hellinger
 

ISBN 978-3-943140-60-6
Auch als Print erhältlich.

 
 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im
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Die Seniorenresidenz
Ursula Schmid-Spreer

Hermine Schappensiel streichelte zärtlich Antons Kopf, und der ließ sich das gerne gefallen. Nur leise knurrte er, als Pünktchen, die Hauskatze, an ihm und Frauchen vorbei huschte. Hermine stand auf der Terrasse der herrschaftlichen Villa und blickte versonnen auf den Park. »Wie schön es hier ist!«

Sie grüßte freundlich in Richtung der Zwillinge Irene und Isabel, die wie jeden Tag gleich angezogen waren und sich, wie immer, dezent stritten. Der Oberst blieb kurz stehen, wünschte einen guten Tag, grüßte zackig in ihre Richtung, um sich dann seinem morgendlichen Rundgang durch den Park hinzugeben. Die Leiterin der Seniorenresidenz nahm sich fest vor, am Abend ein paar Runden im hauseigenen Pool zu schwimmen. Sie seufzte, was Anton mit Kopfschütteln beantwortete.

»Wir wollen mal in die Küche gehen und sehen, was Frau Kleinmuth für heute geplant hat. Vielleicht fällt auch ein Würstchen für dich ab, mein Lieber.«

Sie stieg in den Lift, drückte auf die Taste fürs erste Untergeschoss. Sie musste nur dem Duft nachgehen; es roch schon verführerisch. Wie in alten herrschaftlichen Häusern früher üblich, ging man ein paar Treppen zur Küche hinunter. Auf dem Weg dorthin begegnete ihr Dr. Braunfels, der jeden Tag morgens seine Sprechstunde in der Villa abhielt.

»Guten Morgen, Berthold. Besondere Vorkommnisse?«

»Alles bestens, meine Liebe. Unsere Gäste fühlen sich wohl, Sabine hat die Medikamente ausgeteilt und nachher treffen sich alle, die noch gut zu Fuß sind, zu einem Rundgang durch den Park.«

»Dann ist ja gut«, meinte Hermine.

Dr. Braunfels deutete eine Verbeugung an und eilte schnellen Schrittes davon.

»Wie gut es hier wieder riecht, Frau Kleinmuth. Sie sind ja schon fleißig am Kochen. Was haben Sie für heute Mittag geplant?«

»Nur eine Kleinigkeit, denn heute Abend gibt es das große Dinner. Finger weg …« Ertappt zog Hermine Schappensiel ihre Hand vom Deckel eines großen Kochtopfes zurück.

»Na gut, dann ziehe ich mich mal in mein Allerheiligstes zurück, ich erwarte gleich einen neuen Gast. Die Buchführung läuft mir leider nicht davon.«

Feuerprobe bestanden

»Mein Gepäck kommt nach«, sagte Margarete Meier-Bix und stellte Frau Schappensiel das Köfferchen vor die Füße. »Bringen Sie mich zu meinem Zimmer.«

Auf dem Weg dorthin kam ihnen ein Herr entgegen. Zackig schlug er die Hacken zusammen. »Oberst a. D. Dr. Dr. Wilhelm Schimmelfuß. Charmant, gnädige Frau«, er ließ seinen Blick wohlwollend auf ihr ruhen. »Darf ich Sie nachher zum Abendbrot begleiten?«

»Margarete Meier-Bix«, nuschelte sie hervor.

Der ging aber ran! Sie nickte huldvoll.

»Dann bis um 19 Uhr.«

Sie hörte noch eine weibliche Stimme, als sie ihre Zimmertür aufschloss, die schneidend sagte: »Schwerenöter, du musst aber auch alles anbaggern.«

»Feechen …« »Lass das! Das einzige Feechen, das es hier gibt, ist ein Kaffeechen.«

Das konnte ja lustig werden. Anscheinend kamen ihre lila getönten Löckchen bei der Männerwelt gut an. Bei der Konkurrenz wohl weniger.

Um 19 Uhr wartete Margarete vergeblich auf ihren Kavalier.

»Fünf Minuten gebe ich dir noch, du Doktor, Doktor. Dann gehe ich alleine. Eine Dame wie mich versetzt man nicht!«, sagte sie zu sich selbst.

Ein schriller Schrei ertönte. Fußgetrappel, Stimmengemurmel. Schnell öffnete sie die Tür und trat auf den Flur.

»Er ist tot.« Die Stimme kam ihr bekannt vor: Feechen.

Welch ein Glück, dass Margarete keinen Tatort ausließ. Ohne Krimi konnte sie gar nicht mehr einschlafen. Mit Miss Marple und Hercule Poirot war sie aufgewachsen. Deshalb wusste sie sofort, was sie tun musste.

Da lag er. Den Kopf in einer Blutlache, seltsam verdreht. Die Augen weit geöffnet. In einiger Entfernung befand sich ein Wellenschliffmesser.

»Doktor, Doktor«, murmelte Margarete. »Treten Sie alle zurück«, sagte sie laut. »Nichts anfassen. Der Tatort darf nicht verändert werden. Hat jemand schon die Polizei verständigt?« Sie tat sehr geschäftig. Als sie sich umdrehte, sah sie in belustigte Gesichter.

»Sie ist es!«, hörte sie Feechen sagen. »Genial.«

»Sie ist es wirklich.«

Margarete hörte begeistertes Klatschen. Sie selbst zog die Augenbrauen hoch. Die Leiche erhob sich.

»Ketchup«, sagte Dr. Dr. Schimmelfuß. Genüsslich schleckte er sich die Finger ab. Er wandte sich an Margarete, dann sah er ihr tief in die Augen: »Willkommen im Seniorenstift mortus deliciti, Abteilung Theatergruppe. Wir brauchen dringend eine Kommissarin. Und Sie, gnädige Frau, haben eben die Feuertaufe bestanden, sprich die Hauptrolle erhalten.«

Tödlicher Kuchen
Brigitte Lamberts

»Helft mir! Otto stirbt!« Jemand hämmert wild an die Wohnungstür. Thomas läuft hin und reißt sie auf. Vor ihm steht die alte Dame von gegenüber. Adelheid Molitor zittert am ganzen Körper und zeigt zur ihrer Wohnung. Thomas sieht durch die geöffnete Tür ihren Mann am Boden liegen und rennt zu ihm. Er kniet sich neben ihn, löst die Krawatte und reißt das Hemd über der Brust von Otto Molitor auf. Dessen Gesicht ist blau angelaufen. Thomas legt seine Hände übereinander und drückt mit den Handflächen den Brustkorb des Bewusstlosen immer wieder hinunter. Schon ist seine Verlobte Frauke neben ihm, greift den Kopf des alten Mannes, biegt ihn vorsichtig etwas nach hinten und beginnt mit der Mund-zu-Mund-Beatmung. Sie sind ein eingespieltes Team, denn sie leiten gemeinsam eine hausärztliche Praxis. Wieder drückt Thomas den Brustkorb des Mannes rhythmisch hinunter.

Den Besuch bei seinen Großeltern in der noblen Seniorenresidenz hatte sich Thomas weniger dramatisch vorgestellt. Etwas nervös war er schon, immerhin wollte er Werner und Irene Kaltenbach, Frauke als seine zukünftige Frau vorstellen. Bisher lief es bestens. Frauke wurde von seinen Großeltern herzlich empfangen, sie unterhielten sich angeregt und der Kuchen war ein Gedicht. Die neue Küchenhilfe Natascha konnte wirklich hervorragend backen, alle Kuchenkreationen seien vom Feinsten, betonte Werner Kaltenbach.

Und jetzt kämpft Thomas um das Leben des besten Freundes seines Großvaters. Er weiß, wie wichtig Otto Molitor für Werner Kaltenbach ist. Die beiden kennen sich seit frühester Jugend und sie haben die Ostfront überlebt.

Wenige Minuten später eilt Dr. Braunfels, der Arzt der Seniorenresidenz, ins Zimmer. Während Thomas und Frauke mit der Wiederbelebung weitermachen, legt er eine Infusion. Doch die beiden wissen: Der Kollege will damit nur der Ehefrau Gewissheit geben, dass für ihren Mann alles getan wird.

Nach zwanzig Minuten geben sie auf.

»Bitte machen Sie weiter«, schluchzt Adelheid Molitor. »Was soll denn aus mir werden?«

Thomas schüttelt den Kopf. Frauke nimmt die alte Dame am Arm und führt sie in die Wohnung der Kaltenbachs.

Dr. Braunfels fasst dem Toten an die Halsschlagader und leuchtet ihm mit der kleinen Stablampe in die erstarrten Augen. Dann steht er auf und setzt sich an den Couchtisch. Er zieht einen Block aus seiner Arzttasche.

»Was machen Sie da?«, fragt Thomas, obwohl er die Antwort schon ahnt.

»Ich fülle den Totenschein aus«, erwidert Dr. Braunfels.

»Ohne sich den Toten näher angesehen zu haben?«

»Ich kenne meine Patienten. Und Otto Molitor litt unter Herzinsuffizienz. Es war nur eine Frage der Zeit, wann sein Herz schlapp machen würde.«

Dr. Braunfels blickt von seinem Formularblock auf. »Wer sind Sie überhaupt und was mischen Sie sich hier ein?«

Ohne zu antworten bückt sich Thomas erneut über den alten Mann und schaut sich Mund und Rachen des Toten an. »Kommen Sie mal!«, fordert er Dr. Braunfels auf. »Haben Sie das gesehen?«

»Was soll da sein?« Braunfels steht auf und beugt sich ebenfalls über den Toten.

»Sehen Sie die Ödeme im Mund- und Rachenbereich? Hier liegt ganz klar ein allergischer Schock vor.«

Thomas erhebt sich, geht zum Esstisch und probiert die Reste des Schokoladenkuchens, der dort steht. Er deutet auf den diesen. »Ein Kuchen mit Kirschsaft, der sich als Schokoladenkuchen getarnt hat.«

»Wie kommen Sie darauf?«

»Probieren Sie selbst.«

Thomas reicht Braunfels einen Dessertlöffel. Der Arzt der Seniorenresidenz kostet. Irritiert schaut er sein Gegenüber an. »Otto Molitor war Allergiker, vor Steinobst musste er sich in Acht nehmen, vor allem vor Kirschen. Dazu gehört auch der Saft, darauf reagierte er hoch allergisch.«

In diesem Augenblick betritt Hermine Schappensiel, die Leiterin der Seniorenresidenz, die Wohnung. Sie schaut auf den Toten und atmet einmal laut ein und aus. »Dann rufe ich gleich unseren Bestatter an.«

»Wir müssen wohl eher die Polizei verständigen«, wirft Dr. Braunfels ein.

Hermine Schappensiel bleibt wie angewurzelt stehen.

»Er hatte aller Wahrscheinlichkeit nach einen anaphylaktischen Schock«, erklärt der Arzt.

»Ist das keine natürliche Todesursache?«, zischt die Leiterin zurück.

Thomas haut mit der flachen Hand auf den Esstisch. »Es ist ja wohl bekannt, dass Otto Molitor gegen Kirschen allergisch war. Wie kann er dann einen Schokoladenkuchen mit Kirschsaft bestellt haben?«

»Und wer sind Sie?« Hermine Schappensiel betrachtet Thomas über den Rand ihrer Brille.

»Dr. Thomas Kaltenbach.«

»Der Enkel von Werner Kaltenbach?«

»Ja.«

»Entschuldigen Sie, ich habe Sie nicht sofort wiedererkannt, so selten, wie Sie Ihre Großeltern besuchen.«

Was für eine herrische Person, denkt Thomas. »Also noch mal: In diesem Schokoladenkuchen ist jede Menge Kirschsaft!«

»Was wollen Sie mir damit sagen?«

»Das sieht nicht nach einem Unglücksfall aus.«

»Sie behaupten also, jemand hat mit Vorsatz den Molitors diesen Kuchen hier serviert?« Hermine Schappensiels Gesichtsfarbe wechselt in Sekundenschnelle von leicht gerötet zu aschfahl.

»Dem muss nachgegangen werden«, fordert Thomas. Als Internist weiß er nur zu gut, dass viele Kollegen mit der äußeren Leichenschau schlampig umgehen und viele Tötungsdelikte deshalb gar nicht als solche erkannt werden.

»Sie wollen wirklich, dass ich die Polizei rufe?«

»Ja, Otto Molitor muss rechtsmedizinisch untersucht werden.«

»Das haben nicht Sie zu entscheiden«, erwidert die Leiterin der Seniorenresidenz, dreht sich um und will die Wohnung verlassen, da hört sie Thomas Kaltenbach noch sagen: »Die Polizei und die Staatsanwaltschaft werden das schon anordnen.«

Thomas kehrt in die Wohnung seiner Großeltern zurück und setzt sich neben Adelheid Molitor. Sie schaut ihn erwartungsvoll an. Er schüttelt erneut leicht den Kopf. Sie schluchzt laut auf. Nachdem sie sich ein wenig gefangen hat, fragt Thomas: »Ist in letzter Zeit etwas Außergewöhnliches in der Seniorenresidenz passiert?«

Die alte Dame blickt ihn fragend an.

»Hatte Otto Streit mit jemandem oder hat er sich seltsam verhalten?«

Adelheid Molitor wischt sich die Tränen aus dem Gesicht. »Ja! Aber nichts Schlimmes, sondern etwas sehr Schönes.« Sie lächelt, doch dann kommen erneut die Tränen.

»Bitte erzählen Sie!«, fordert Thomas die alte Dame auf.

»Na ja, erst habe ich gedacht, Otto wird auf seine alten Tage zum Schürzenjäger. Es wurde schon unter den Mitbewohnern getuschelt.« Sie schaut zu Irene Kaltenbach, die ihr zunickt. »Doch dann kam Otto mit der Sprache heraus: Natascha, die neue Küchenhilfe, ist seine Enkelin.«

»Das wussten Sie nicht?«

»Nein, woher? Er selbst hatte ja auch keine Ahnung. In Russland hatte Otto damals eine kurze, aber heftige Affäre. Das war lange, bevor wir uns kennen lernten.« Sie seufzt. »Natascha erfuhr erst nach dem Tod ihrer Mutter die Wahrheit über ihren Großvater. Denn ihr fiel das Tagebuch ihrer Großmutter in die Hände, das die Mutter versteckt hatte. Also kam sie nach Deutschland, um Otto zu suchen.«

»Hat er ihr geglaubt? Oder anders gefragt: Erschien Ihnen das glaubwürdig?«

»Ja, sie hatte Fotos dabei und das Tagebuch der Großmutter. Otto ließ es übersetzen.«

»Und dann?«

»Otto war ganz vernarrt in seine Enkelin. Morgen wollte er unser Testament zu ihren Gunsten ändern.«

»Und Sie waren damit einverstanden?«

»Natürlich.« Adelheid Molitor tätschelt Thomas Hand. »Wissen Sie, Otto war so glücklich eine Enkelin zu haben, wir haben ja keine eigenen Kinder.«

»Liebe Frau Molitor, bitte entschuldigen Sie die etwas indiskrete Frage, aber hatten Sie in Ihrem Testament schon jemanden als Erben benannt?«

»Ja, selbstverständlich. Wir haben alles geregelt. Sascha, einen Pfleger hier aus der Seniorenresidenz, haben wir sehr ins Herz geschlossen. Er kümmert sich rührend um uns, weit mehr, als es seine Arbeit erfordert. Wir dachten, dass er das Geld gut gebrauchen kann.«

»Wusste Sascha, dass Sie ihn testamentarisch bedacht haben?«

»Ja, das hat Otto ihm wohl gesagt. Aber er weiß natürlich nicht, was er alles erbt.«

Adelheid umfasst das Handgelenk von Thomas ganz fest. »Aber sagen Sie mir bitte: Was ist mit Otto passiert? Alles war gut, dann hat er den Kuchen gegessen und plötzlich keine Luft mehr bekommen.«

»Es war ein Kirschkuchen.«

»Nein, das kann nicht sein. Er hat doch einen Schokoladenkuchen gegessen.«

»Da war aber viel Kirschsaft drin, haben Sie das nicht geschmeckt?«

»Oh, mein Gott.« Adelheid laufen erneut die Tränen über die Wangen. »Er darf doch keine Kirschen essen, noch nicht mal den Saft trinken …«

»Denkst du etwa, Natascha hat Otto vergiftet?«, ruft Irene Kaltenbach entsetzt.

»Ich weiß es nicht, aber nach einem tödlichen Fehler sieht mir das nicht aus«, erwidert Thomas und steht auf. »Ich bin gleich wieder zurück.«

Nachdem er die Wohnungstür hinter sich zugezogen hat, geht er durch den langen Gang bis zur Rezeption. Die Frau am Empfang lässt sich ihre Verwunderung nicht anmerken. Sie hat noch nie erlebt, dass ein Gast nach dem Weg zur Küche fragt. »Dort«, sie zeigt zu den Aufzügen, »nehmen Sie den linken von den Zweien und fahren Sie in das erste Untergeschoss, dann halten Sie sich links. Am Ende des Ganges liegen die Wirtschaftsräume.«

Im Untergeschoss angekommen, schaut Thomas sich um. Auch hier ist alles sehr gepflegt, so wie überall in der Seniorenresidenz. Vom Ende des Ganges her hört er Anweisungen, die laut gerufen werden. In der Küche scheint es turbulent zuzugehen. Er blickt auf seine Armbanduhr. Kein Wunder, es laufen die Vorbereitungen für das Abendessen. Nachdem er sich durchgefragt hat, steht er vor Natascha, die gerade Salat anrichtet.

»Ihr Kuchen war ausgezeichnet«, beginnt Thomas das Gespräch.

»Oh, vielen Dank. Das freut mich.«

»Haben Sie die Kuchen ganz alleine gebacken?«

»Ja, ich bin hier nicht nur die Küchenhilfe, sondern auch die Kuchenmamsell. Aber heute hat mir mein Freund geholfen.« Sie schaut Thomas verlegen an. »Bitte sagen Sie es niemandem, denn es ist nicht erlaubt, dass ein Pfleger in der Küche aushilft. Er wollte mir nur einen Gefallen tun.«

Die Hintertür zur Küche öffnet sich.

»Sascha, du bist zu früh. Ich habe noch zu tun. Aber ich komme nachher zu dir, okay?«

Sascha wirft Natascha eine Kusshand zu und verschwindet wieder.

»Kennen Sie sich schon lange?«

»Nein, erst ein paar Wochen.« Sie strahlt über das ganze Gesicht. »Warum fragen Sie? Ist etwas mit ihm?«

Thomas runzelt die Stirn. »Welchen Gefallen hat er Ihnen denn getan?«

Natascha schaut ihn verdutzt an, dann lächelt sie: »Normalerweise verteilt er nur die Kuchen, aber heute wollte er unbedingt selber einen Schokoladenkuchen backen.«

Treppe – Treffer – Tot
Kriminalinski

Aydin Kaya steht vor der Blutlache, die am Fußende der Treppe von Adalbert von Mallinckcrodt übrig geblieben ist. Er hat das Putzzeug neben sich abgestellt. Während sein Blick den unglückseligen Sturz des hochbetagten aber rüstigen Bewohners der Residenz nachzeichnet, erteilt die eilig herbeigelaufene Leiterin der Seniorenresidenz, Hermine Schappensiel, eine Anweisung: »Herr Kaya, ich möchte, dass Sie hier in Windeseile sauber machen, verstehen Sie mich? Und wenn Ihnen Bewohner Fragen stellen, dann wissen Sie am besten von nichts. Sie wären eine Reinigungskraft in Teilzeit und es ginge Sie nichts an, Sie würden nur putzen. Haben Sie mich verstanden?«

Kaya nickt. »Ich nur wischen!« Dann hebt er beide Hände und nuschelt einen arabischen Vers.

»Und machen Sie flott!«, wiederholt Frau Schappensiel irritiert und ergänzt: »Die Bestatter, diese Deppen, haben schon genug für Aufsehen gesorgt mit ihrer lauten und hemdsärmeligen Art. Der Abtransport der Leiche hat mir viel zu lange gedauert. Nur mit großer Mühe konnte ich die Bewohner dazu bewegen, wieder auf ihre Zimmer zu gehen. Jetzt will ich, dass Sie hier gründlich aufwischen und dabei keine Zeit verlieren, ist das klar?«

»Yalla, yalla!«, kommt es von Kaya, was Hermine Schappensiel zum Anlass nimmt, stampfend und schnaubend von dannen zu ziehen.

Aydin Kaya sieht die Treppe hinauf. »Siktir!«, stößt er ange­ekelt aus, als er die Blutspritzer an der Wand in Höhe der obersten Treppenstufen entdeckt. Mit dem Putzeimer in der Hand stiefelt er nach oben. »Wie kommen die denn dahin?«, überlegt er laut und in einwandfreiem Deutsch. »Herr von Mallinckcrodt ist doch gestolpert und gestürzt. Hat er etwa Blut gespuckt? Könnte auf eine Vergiftung hinweisen.« Für einen kurzen Moment ist sein kriminalistisches Interesse geweckt. Aydin liebt Krimis, besonders solche, bei denen er mitraten kann. Doch er schiebt den Gedanken schnell beiseite. »Ich nur wischen!«, wiederholt er das, was von ihm verlangt wird.

Er streift sich seine Gummihandschuhe über, entnimmt dem Eimer eine Sprühflasche, die er zuvor mit einem Teil Salmiakgeist und zehn Teilen Wasser gefüllt hat, und sprüht das Blut an der Wand kräftig damit ein. Er lässt das Gemisch etwas einwirken, zückt dann ein trockenes Baumwolltuch und tupft das gelöste Blut vorsichtig ab. Hier und da muss er das Einsprühen wiederholen, einige Spritzer erweisen sich als sehr hartnäckig. Beim Austupfen des Blutes dreht er das Baumwolltuch so, dass er stets mit einer trockenen Stelle arbeitet.

»Das machen Sie aber sehr gewissenhaft!«

Aydin erkennt die tiefe, raue Stimme sofort. Er müsste nicht einmal aufschauen, weiß er doch, dass diese unverwechselbare Klangfarbe zu dem faltigen Gesicht der 87-jährigen Witwe Ingeborg Bergner gehört. Dennoch unterbricht er seine Arbeit und blickt zu der Bewohnerin.

»Man sieht, Sie machen das mit Hingabe.«

»Hauptsächlich mache ich das mit Salmiakgeist, Frau Bergner!«

»Obwohl Sie ja eine ungelernte Kraft sind«, röchelt die alte Dame zurück.

»Wie lange stehen Sie schon da und beobachten mich?«

»Eine ganze Weile, junger Mann! Es hat mir gefallen, wie Sie gebetet haben. Sie haben doch gebetet, oder?«

»Evet – ja, das habe ich. Das ist Tradition bei uns.«

»Was haben Sie denn gebetet? Ich meine, was haben Sie gesagt?«

»Ach, nichts Besonderes. Ich habe Allah nur gebeten, meine Fürsprache für Herrn von Mallinckcrodt anzunehmen, ihm seine Sünden zu vergeben und ihn ins Paradies eintreten zu lassen.«

Ingeborg Bergner dreht ihren Kopf zur Seite und hält sich eine Hand vor das Gesicht. Aydin hört sie leise schluchzen.

»Geht es Ihnen gut?«, fragt er.

Frau Bergner nickt und räuspert sich.

»Ich mach dann mal weiter, wenn das okay für Sie ist.«

»Ja, ja, nur zu, junger Mann! Sie sollen sich ja sputen, hat die Schappensiel Ihnen doch aufgetragen. Nun machen Sie mal voran, auch ich finde den Anblick von so viel Blut unerträglich. Ich mag da gar nicht hingucken.«

Ingeborg Bergner geht die Treppe hinunter. Erst jetzt bemerkt Aydin, dass sie in einem Tennis Outfit steckt und einen Schläger mit sich führt.

»Wollen Sie zum Tennis?«

»Sieht man mir das etwa an?« Die Bergner winkt mit ihrem Tennisschläger.

Insgeheim bewundert Aydin die alte Dame, die mit ihren 87 Jahren noch regelmäßig Tennis spielt. Auf ihn wirkt die kleine, drahtige Frau lässig, aber wachsam. Und trainiert. Man sieht ihr das Alter zwar an, aber es scheint noch keinen Besitz von ihr ergriffen zu haben.

»Wie oft spielen Sie Tennis, Frau Bergner?«

»Zwei Mal pro Woche. Aber nur Doppel. Da kann ich meinen Partner rennen lassen.« Bei dem Wort Partner versagt ihre Stimme. Sie setzt sich in einen Sessel, der in unmittelbarer Nähe zur Treppe steht, und sucht in ihrer Trainingsjacke nach einem Taschentuch.

»Bitte entschuldigen Sie, Frau Bergner. Ich bin da wohl in einen fetten Napf getreten.«

»Was haben Sie?« Dann lacht die Seniorin auf. »In einen Fettnapf sind Sie getreten, lieber Kayamann!«

»Oder so!«

»Ja, sagen Sie mal, wussten Sie denn nicht …?«

»Was wusste ich nicht?«

Die Bergner schnäuzt ihre Nase. »… dass Adalbert und ich liiert waren?«

»Sie meinen, Sie beide waren ein Paar?«

»Ja.«

»Bei Tennis?«

»Nein. Was? Ach Herr Kaya, Sie bringen mich ganz durcheinander. Adalbert und ich waren ein Paar, nicht nur beim Tennis.«

»Wo denn noch? Bei Bingo spielen?«

»Jetzt stellen Sie sich mal nicht so blöde an!«

Aydin Kaya war ebenfalls die Treppe hinunter gekommen und hatte im gegenüberliegenden Sessel Platz genommen. Er legt seine Plastikhandschuhe neben sich auf den Boden und greift zur Brusttasche seines Overalls. Als er bemerkt, wonach er sucht, zieht er seine Hand schnell wieder zurück.

»Hier drin dürfen Sie nicht rauchen, lieber Kayamann, das wissen Sie doch.«

»Tschuldigung!«

»Und außerdem schadet das Rauchen Ihrer Gesundheit. Sehen Sie mich an: Früher, als ich noch jung und attraktiv war, habe ich natürlich auch viel geraucht. Das war damals so, Rauchen war gesellschaftlich akzeptiert. Heute ärgere ich mich über die Falten in meinem Gesicht, die so tief sind wie die Schluchten des Grand Canyon.«

»Ach, Frau Bergner …«

»Doch, doch, die kommen auch vom Rauchen, glauben Sie mir!« Zur Untermauerung hebt sie den Zeigefinger.

»Wieso auch, von was denn noch?«

»Von meinen zahlreichen Ehen.«

Aydin lacht, die Bergner fährt fort: »Jede Ehe hat mir Wohlstand und tiefe Falten eingebracht. Das war wohl der Preis dafür.«

»Und wie lange rauchen Sie nicht mehr?«

»Fast vierzig Jahre«, sagt sie nicht ohne Stolz.

»Oh, dann müssen Sie früher aber viel geraucht haben!«

Stille.

»Wieder Fressnapf, was?«

»Fettnapf. Der größte bislang, würde ich sagen!«

»Hm«, entschuldigt sich Aydin. »Ich weiß Rat, Frau Bergner!«

»Soll ich zum Islam konvertieren?«

»Nein, nur Sahne konsumieren! Viel Sahne essen!«

»Damit ich fett werde?« Sie haut den Satz in einer hohen Tonlage heraus, ihre Stimme wirkt brüchig.

»Aber die Falten gehen dann weg!«