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Für Helle: Tusind tak!

ISBN 978-3-492-99046-2

© Piper Verlag GmbH, München 2018

Covergestaltung: semper smile, München

Covermotiv: Juergen Sack / Getty Images und www.galerieef.de /Getty Images; Soloma / shutterstock

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

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Ich möchte Leuchtturm sein

in Nacht und Wind –

für Dorsch und Stint,

für jedes Boot –

und bin doch selbst

ein Schiff in Not.

Wolfgang Borchert,
»Laterne, Nacht und Sterne«

1

Ich bring sie um, denkt er, diesmal wird sie es büßen.

Knut Lehmann steht am Küchenfenster und beobachtet seine Frau Lissy, wie sie durch den Garten geht und ihren schwarzen Rollkoffer hinter sich herzieht. Die Rollen erzeugen dieses vertraute Geräusch auf den Platten zwischen den Ziersträuchern. Sie reist mal wieder ab. Er will das nicht. Verzweifelt knetet er das Geschirrtuch in seinen Händen. Ihr Wagen steht auf der Straße vor dem Carport. Sie hat nur eben den Koffer geholt, der seit gestern Abend fertig gepackt in der Abseite unterm Dach auf sie gewartet hat. Sie hat alles sorgfältig vorbereitet, um heute nach der Arbeit so schnell wie möglich loszukommen. Angeblich ist sie nun auf dem Weg zu einem wichtigen Geschäftstermin am Wochenende. Er glaubt ihr kein Wort.

Seit Lissy mit ihrer Mode Erfolg hat, trifft sie sich ständig irgendwo mit irgendwem. Immer sind es sehr wichtige Leute, neue Geschäftspartner, Kunden. Diesmal soll es um die Vorbereitung einer regionalen Messe für Outdoormode gehen, man trifft sich in einem Hotel in den Hüttener Bergen, oben im Norden, hinter Hamburg. Soll er ihr das etwa glauben? Ihre Laune beim Abschied war viel zu gut, ihr Kuss flüchtig.

Knut Lehmann lehnt sich an die Spüle und dreht das Geschirrtuch zur Schlinge. Er stellt sich vor, wie er ihr das Tuch um den Hals legt und zuzieht, sieht ihre Adern anschwellen, hört, wie sie nach Luft schnappt, röchelt. Genau das hätte sie verdient, es würde ihm Genugtuung bereiten, Befriedigung.

Er lässt das Handtuch fallen und schlägt mit voller Wucht auf den Hackklotz aus naturbelassenem Holz ein, den Lissy bei ihrem Einzug in dieses Haus unbedingt für ihre Küche hatte haben wollen. Mittlerweile isst sie allerdings kein Fleisch mehr und hat das Teil auch noch nie benutzt. In seinen Fingerknöcheln knackt es, als sie auf das Holz treffen. Doch der Schmerz bringt keine Erleichterung.

Die Unruhe treibt ihn ins Wohnzimmer. Vor dem Carport wuchtet Lissy ihren Koffer in den Touran. Sie streift ihre grüne Fleecejacke ab. Ordentlich, wie sie ist, legt sie sie mit einer langsamen, bewusst geführten Bewegung oben auf den Koffer, streicht noch einmal alles glatt. Das helle Fell am Kragen der Jacke leuchtet auf, als ein Strahl der Nachmittagssonne in den Wagen fällt. Diese Jacke steht ihr so gut, sie hat sie selbst entworfen. Natürlich ist sie stolz auf ihre Arbeit. Und er beneidet sie darum.

Dann steigt sie in den Wagen und fährt los. Sie denkt gar nicht daran, sich noch einmal zum Haus umzudrehen, wo er am Fenster steht und ihr nachblickt. Auch das kränkt ihn. Knut bleibt zurück, wie immer, unbeachtet, ungeliebt. Zurück in der Küche macht er sich wieder an den Abwasch. Gleich wird er noch die Wäsche in den Trockner tun und die Kinder vom Hort abholen. Für einen Freitagnachmittag ist es schon ziemlich spät. Die Erzieherin wird ihn tadelnd ansehen. Er wird mit den Kindern Burger essen gehen und sie dann zu seiner Mutter bringen. »Ich bring die Kinder zu Renate«, hat er beim Frühstück gesagt und Lissys Blick gesucht. »Ich brauche auch mal einen Abend für mich.« Aber Lissy hat nur zerstreut genickt. Sie hört ihm kaum noch zu. Es ist ihr egal, wie er sein Wochenende verbringt. Genau das ist das Schlimmste: Sie sagt nichts und ist einfach so gut drauf.

Das »Meeting« ist ein reiner Vorwand. Denn er ist davon überzeugt, dass die »Messe für sportlichen Lifestyle und Outdoorbekleidung« in zwei Monaten auch ohne ihren Einsatz stattfinden wird. Dafür müsste sie nicht hundert Kilometer auf verstopften Autobahnen nach Norden fahren, ans Ende der Welt. Erbittert knallt er den Topf mit den angebrannten Nudelresten in die Spüle. Er weiß doch längst, mit wem sie sich trifft und wo. Die Reservierung für das Zimmer im Landgasthof zum Goldenen Hirschen steckte nämlich ganz ordentlich abgeheftet im Ordner mit den Reisekostenabrechnungen. Es war eine Kleinigkeit gewesen, das herauszufinden. Und es ist auch nicht das erste Mal, dass sie dorthin fährt. Obendrein besitzt sie die Dreistigkeit, ihre Wochenendausflüge von der Steuer abzusetzen.

Er weiß also genau, wo er sie finden kann.

Und diesmal wird er ihr folgen.

2

Etwas stimmt nicht, denkt Olga Island und starrt in die Dunkelheit. Sie sieht nichts, und doch ist da jemand und atmet. Sie lauscht angestrengt. Ihr Herz klopft schmerzend. Jemand steht neben ihrem Bett.

Sie starrt in die Finsternis, bis ihre Augen tränen. An der Wand ist ein dunkler Schatten zu sehen. Eine kräftige Gestalt in einem langen Mantel. Wer ist das? Entsetzt schließt sie die Augen.

Die Dielen knarren.

Sie rührt sich nicht.

Ein Poltern draußen auf dem Flur. Die Matte vor der Haustür rutscht über das Linoleum, der Widerhall von Tritten ist zu hören, jemand rennt die Treppe nach unten.

Olga Island springt auf, greift nach ihrer Jacke, folgt den Schritten so schnell sie kann. Durch das Milchglasfenster im Treppenhaus fällt kaum Licht. Unten schlägt die Hoftür. Sie war nur angelehnt. Es ist hier wie überall: Keiner ist zuständig, niemand kümmert sich. Die Tür stand offen. Auch sie hat sich nicht darum geschert. Jetzt kommt die Quittung.

Plötzlich das Wasser, es kommt aus der Küche, fließt über die Schwelle, in den Flur, zur Tür hinaus, lässt den Fußabtreter aufschwimmen, läuft über den Treppenabsatz, die Stufen hinunter wie ein Fluss. Und sie kann es nicht verhindern.

Sie erreicht den ersten Stock, als die Hoftür krachend zuschlägt. Die Zeit dehnt sich, dann zieht sie sich zusammen. Alles dauert viel zu lange. Und draußen nur schwarzer Nebel. Das Kind, das der Mann unter seinem Mantel an seinen Körper presst, ist stumm wie ein Fisch. Wie hat er es nur gefunden? Er muss es schon bei sich gehabt haben, als er noch neben ihrem Bett stand. Sie hat es nur nicht bemerkt.

Jetzt steht sie im Hof und starrt in die Stille.

Nichts regt sich.

Kein Licht in den Nachbarhäusern.

Sie ist allein.

»Piotr!«, schreit sie aus Leibeskräften. »Piotr, ich weiß, dass du da bist!«

Es ist ihre Schuld. Sie hätte nicht einschlafen dürfen. So was darf einfach nicht passieren.

»Frau Island«, sagte eine männliche Stimme gereizt. »Was ist los? Geht es Ihnen nicht gut?«

Sie fuhr hoch und riss die Augen auf. In ihrem Zimmer war es so still wie in dem Hof, in dem sie eben noch gestanden hatte. Draußen vor dem Fenster leuchtete die Eingangsfassade der altehrwürdigen Bezirkskriminalinspektion Kiel, die ihrem Büro direkt gegenüberlag, im gleißenden Licht der Mittagssonne. Die Helligkeit schmerzte in den Augen. Sie blinzelte.

Henning Kruse, ihr Kollege, mit dem sie sich das Büro teilte, stand vor ihrem Schreibtisch und beäugte sie wie ein Insektenforscher einen seltenen Falter.

»Haben Sie nach dem Essen ein wenig gechillt?«, fragte er misstrauisch. »Auf Ihrer Stirn ist ja ein perfekter Abdruck Ihrer Computertastatur zu sehen.«

»Was?«, fragte sie benommen und wischte sich eilig einen Speichelfaden von den Lippen. Sie wollte überhaupt nicht aufwachen, sie wollte den Traum zu Ende bringen. Das Kind auf dem Hof war dem Mann ausgeliefert. Sie musste …

»Also geschnarcht haben Sie nicht direkt, aber wenn Sie mich fragen, hörte es sich irgendwie nach Albtraum an«, sagte Kruse, ohne eine Miene zu verziehen.

»Kann mich nicht erinnern«, log sie schulterzuckend, beugte sich hinunter und wühlte in ihrer Schreibtischschublade nach Taschentüchern. Diskret wischte sie sich den Schlaf aus den Augen.

Die Wassergeister lassen mich nicht los, dachte sie, immer wieder dieser Traum mit dem Wasser.

In ihrem Rücken rollte Kollege Kruse seinen Bürostuhl heran und setzte sich in der ihm eigenen steifen Art mit geradem Rücken an seinen Schreibtisch, der direkt vor der Wand stand. Auf diese Weise begegneten sich ihre Blicke nicht, wenn sie an ihrem PC saß. Stattdessen konnte sie sich das gerahmte Foto des Leuchtturms »La Vieille« ansehen, ein ausgeschnittenes Kalenderblatt, das sie über ihrem Arbeitsplatz angebracht hatte. Unzählige Male hatte sie sich schon dorthin gewünscht. Es war ein tolles Foto von diesem ganz besonderen Leuchtturm an der stürmischen bretonischen Küste. Sie stellte sich vor, wie sie dort an einem sonnigen Sommertag auf der Balustrade des Leuchtturmes stand und Wind und Wellen genoss. Leider war sie noch nie in der Bretagne gewesen, aber sie träumte davon. Über dem Schreibtisch ihres Kollegen hing der Leuchtturm von Westerheversand.

Mit umständlichen Bewegungen begann Kruse, seine Mappen und Papiere zu ordnen, die er eigentlich schon vor der Mittagspause fein säuberlich aufeinandergelegt hatte. Olga wurde das niederschmetternde Gefühl nicht los, dass sie schon viel zu viele Stunden ihres Lebens mit Henning Kruse in diesem Zimmer gehockt hatte. Und sie wollte sich daran einfach nicht gewöhnen, dass es immer so weitergehen sollte. Aber das war die Realität: Sie arbeiteten nebeneinander her, der Zufall hatte sie in einen Raum gesperrt, und Ort und Zeit ihrer Arbeit war alles, was sie miteinander verband. Mit einer leicht depressiven Niedergeschlagenheit dachte sie daran, dass sie seit Jahren Woche für Woche mehr Stunden mit Henning Kruse verbrachte als mit irgendeinem anderen Menschen, ihre Tochter Smilla ausgenommen. Was für eine verschwendete Lebenszeit.

Alles nur eine Zwischenlösung, so lautete ihr tägliches Mantra. Aber diese »Zwischenlösung« dauerte nun schon sieben Jahre an. So lange arbeitete sie inzwischen im Führungsstab der Bezirkskriminaldirektion Kiel. Eigentlich, das musste sie sich immer wieder klarmachen, war es eine gut dotierte Verwaltungsstelle, ein schlichter, übersichtlicher Nine-to-five-Job, damit aber zugleich genau das, was sie niemals hatte haben wollen. Trotzdem hatte sie das Angebot damals angenommen. Das lag zum einen an Smilla, die in jenem Herbst ein knappes Jahr alt gewesen war, als Olga Island ihre Arbeit als Mordermittlerin nach fast zwanzig Jahren im Dienst aufgegeben hatte.

Es waren nicht nur die Arbeitszeiten im Schichtdienst gewesen, die mit den Betreuungspflichten einer alleinerziehenden Mutter nur schwer in Einklang zu bringen gewesen waren. Der eigentliche Auslöser für einen Wechsel in den Innendienst war ein anderer gewesen. Bei einer schwierigen Mordermittlung hatte ein psychopathischer Täter ihre Tochter entführt und sie bei einer wilden Verfolgungsjagd in einem Heißluftballon hoch über Ostholstein mit dem Tod bedroht. Olga hatte sich damals geschworen, etwas in ihrem Leben zu ändern. Eine Mischung aus Hass, Wut, Resignation, Angst und Verzweiflung hatte sie umgetrieben und wochenlang nicht losgelassen. Sie hatte den Glauben verloren, mit ihrer Arbeit bei der Mordkommission irgendetwas Gutes bewirken zu können. Es war wie in einem Treibsand gewesen, ein strudelnder Abgrund hatte sich aufgetan, in dem sie zu versinken drohte. Man hatte sie krankgeschrieben und zu einer Rehamaßnahme in eine Kurklinik nach Süddeutschland geschickt, zusammen mit Smilla. Dort hatte man Olga Island zusammen mit anderen Kriminalbeamten und Lehrern im Burn-out einigermaßen wieder aufgepäppelt. Gegen Ende der Reha hatte sie sich die Frage stellen müssen, wie es beruflich weitergehen sollte. Schweren Herzens hatte sie schließlich den Antrag auf Versetzung gestellt.

Das Dienstzimmer, das sie mit Kruse teilte, war eigentlich recht geräumig, manche Kollegen sagten Tanzsaal dazu, aber trotz der Größe war es schwierig, sich im täglichen Tun aus dem Weg zu gehen. Am Anfang hatte Kruse sich redlich um eine gute Stimmung zwischen ihnen bemüht. Aber es gab kaum etwas, an dem sie wirklich zusammenarbeiten mussten, jeder hatte seine abgegrenzten, sehr beschränkten Aufgaben zu erledigen. Und Olga hatte einfach nie einen persönlichen Draht zu ihm gefunden. So waren die Jahre dahingegangen.

Smilla ging nun schon in die zweite Klasse. Sie war ein fröhliches, aufgeschlossenes und selbstständiges Mädchen, das seine Mutter nicht mehr ständig brauchte. Für Smilla hatte sich das alles gelohnt. Nur für sich selbst hatte Olga das Gefühl, mit ihren bald fünfzig Lebensjahren an einem Tiefpunkt festzustecken. In der letzten Zeit ertappte sie sich immer wieder bei dem Gedanken, alles hinzuschmeißen, nach Berlin zurückzugehen und noch einmal ganz von vorn anzufangen. Leider mangelte es ihr an Energie für diesen Schritt, und sie befürchtete, dass ihre Gedanken zu diesem Thema nur ein Traumgespinst bleiben würden.

»Wie kann man denn so müde aus der Wäsche gucken, wenn man eine ganze Woche Urlaub vor sich hat?«, fragte Henning Kruse übertrieben ironisch und freute sich, als hätte er einen tollen Witz gemacht. Er hatte seine ordnende Tätigkeit beendet und wollte offenbar erst einmal quasseln, bevor er sich etwas Neues vornahm.

Olga zuckte die Schultern.

»Eisenmangel vielleicht.«

Kruse war vor einem halben Jahr Vater eines seiner Meinung nach einzigartig prächtigen Sohnes geworden. Und wenn sie seinen Erzählungen Glauben schenken durfte, war er immer derjenige, der in den Nächten aufstand und das Kind versorgte. Trotzdem hatte er tagsüber im Büro noch genug Tatkraft übrig, um Olga mit ewig langen dienstlichen Telefonaten und aufgezwungenen privaten Gesprächen zu quälen.

Jetzt ignorierte er ihre medizinischen Ausflüchte und fragte stattdessen:

»Wo soll es hingehen?«

»Hüttener Berge.«

»Oh«, sagte Kruse. »Kenn ich gut. Die Wildnis hinter Eckernförde. Verlaufen Sie sich bloß nicht. Manch einer hat da nie wieder rausgefunden.«

»Jetzt krieg ich aber Angst«, sagte Olga Island und musste nun doch lächeln.

»Und ganz ohne Tochter?«

Sie nickte.

»Etwa ganz allein?«

Sein Blick war neugierig.

»Mit einer Freundin«, antwortete sie und merkte, dass sie wütend wurde. Was ging es ihn an, mit wem sie verreiste?

»Das könnte ich mir überhaupt nicht mehr vorstellen, ohne meine Frau und Lennox irgendwohin zu fahren«, bemerkte Kruse mitleidig. »Er gehört so sehr zu unserem Leben dazu. Heute Morgen hat er sich zum ersten Mal auf die Seite gedreht. Das ist doch wirklich sehr früh, besonders für einen Jungen, finden Sie nicht?«

»Hochbegabt«, murmelte Olga und wandte sich rasch ihrem Bildschirm zu.

»Ja«, tönte es vom anderen Schreibtisch herüber, »meinen Sie nicht auch?«

Es war jetzt dreizehn Uhr fünfzehn. Punkt vierzehn Uhr würde sie an diesem Freitag das Büro verlassen. Keine Minute später. Dann würde sie es noch locker schaffen, ihre Freundin Lotte am Bahnhof abzuholen, die mit dem Zug aus Berlin anreiste. Bis dahin waren noch etliche Tabellen zu überprüfen für das Handout, das Stefan Bolle, der Chef der Kripo, für seine Sitzung am Mittwoch benötigte. Die jährliche Kriminalstatistik, welche die Bezirkskriminalpolizei jedes Jahr im Oktober herausgab, war eine sehr ernste Sache, die von Presse und Bevölkerung immer mit Spannung erwartet und meist scharf kommentiert wurde. So mancher Kommentator pickte sich dann immer nur die Delikte heraus, die laut Statistik angestiegen waren, und wies mit spitzer Feder auf die angeblich gleichzeitig rückläufigen Aufklärungszahlen hin. Dann waren alle – Öffentlichkeit und Politik – mit der Arbeit der Polizei unzufrieden und stellten entsprechende Forderungen. An diesem Freitagmittag bearbeitete Island eine Übersicht der Dunkelfallziffer bei Delikten gegen Leib und Leben. Bei diesen Kapitalverbrechen war im jüngst erfassten Jahr ein Rückgang von über fünfundzwanzig Prozent zu verzeichnen. Die Aufklärungsquote lag wie so oft bei Mord und Totschlag bei hundert Prozent. Die Mordermittler hatten also gute Arbeit geleistet. Aber wessen Verdienst sollte nun der Rückgang bei den Opfern sein? Das kriminelle Treiben hatte glücklicherweise selten Todesfolgen nach sich gezogen. Waren die Menschen insgesamt also besser geworden? Der Kripochef würde einen Erfolg verkünden können. Aber war es wirklich einer?

Henning Kruse plapperte noch eine Weile über die bemerkenswerten Eigenschaften seines Kindes, doch als Olga nicht mehr antwortete, tippte auch er stumm ein paar Minuten auf seiner Tastatur herum. Bis er einen Anruf von seiner Frau erhielt, aufsprang und sich, für ihn recht ungewöhnlich, zum Telefonieren auf den Flur verdrückte. Vielleicht kam Frau Kruse mit ihrem hochbegabten Lennox heute mal nicht ganz so gut zurecht wie sonst.

Um fünf Minuten nach zwei saß Olga Island in ihrem Mazda und bog von der Wilhelminenstraße in den Knooper Weg ein. Bis hinter dem Exerzierplatz staute sich der Verkehr auf der engen, durch Baustellen blockierten Straße, danach ging es in ebenso geringem Tempo auf der Ringstraße weiter. Vergeblich hoffte sie auf einen Parkplatz vor dem Bahnhofseingang. Ratlos fluchend kurvte sie um die Baustelle für den neuen ZOB und das Hotel Atlantik herum. Und auch der kleine Parkplatz am Sophienblatt mit dem Blick auf die Bahngleise war völlig zugestellt.

Lotte Möhring stand am Taxistand vor dem Bahnhofseingang, hielt Ausschau und wischte zwischendurch auf ihrem Handy herum. Als sie Olga entdeckte, winkte sie ihr stürmisch zu. Olga rangierte zwischen den Taxen hindurch und machte beschwichtigende Gesten in Richtung der Fahrer, die ihr böse Blicke zuwarfen. Nur einer schien sie als ehemalige Polizistin zu erkennen und zog den Kopf tief in sein Sitzpolster.

»Wie schön, meine Liebe«, sagte Lotte, als sie nach dem Einladen ihres Gepäcks in den Wagen stieg und Olga auf die Wange küsste, »endlich sehen wir uns wieder! Super, dass das mal klappt mit unserem Urlaub!«

»Ich freu mich auch«, entgegnete Olga und wunderte sich über sich selbst, wie reserviert das klang.

Dann aber lachten sie beide und umarmten sich.

Sie fuhren die Kaistraße entlang in Richtung Norden. Wie viele auswärtige Besucher ließ sich auch Lotte von den vielen großen Schiffen im Kieler Hafen beeindrucken. Die Sonne war herausgekommen, und der fast wolkenlose Himmel verbesserte ihre Laune noch zusätzlich.

»Endlich, die See!«, rief sie und ließ das Fenster herunter, bis ihre Haare im Fahrtwind flatterten.

Am Zebrastreifen vor der Seebadeanstalt Düsternbrook musste Olga bremsen, um eine Gruppe Kindergartenkinder über die Straße zu lassen.

»By the way. Wie geht es Smilla?«

»Gut. Sie hat gerade Herbstferien.«

»Wo hast du sie geparkt?«

»Sie ist ganz gern mal bei ihrem Vater.«

»Kommen sie gut miteinander klar?«

»Meistens.«

»Kümmert er sich denn?«

»Manchmal.«

»Also nicht so?«

Olga schnaubte.

»Er arbeitet viel. Da kann er dann nicht. Und ungeplanter Schichtdienst im Falle eines Einsatzes ist immer ein Grund, kurzfristig abzusagen.«

»Und was machst du dann?«

»Smilla wird ja auch größer, sie kann schon mal für ein oder zwei Stunden allein bleiben. Und sonst ist sie auch gern bei Thea.«

Thea Island, Olgas Tante, hatte mit Beginn ihres Ruhestandes ihr Haus in Laboe verkauft und war in eine fidele Alten-WG nach Berlin gezogen. Innerhalb kürzester Zeit hatte sie sich eingelebt und schon bald felsenfest behauptet, Berlinerin zu sein. Mit ihrem neuen Lebensgefährten Rudolf war sie viel auf Reisen gewesen. Vor einem Jahr hatte Thea eine kleine Wohnung in Eckernförde erworben. Seitdem kam es immer öfter vor, dass die beiden Turteltauben der Hektik der Großstadt für ein paar Tage oder Wochen entflohen. »Schließlich möchte ich ja auch was von Smilla haben«, pflegte Thea zu sagen, wenn Olga sie damit aufzog, dass sie entgegen aller Berlin-Euphorie doch immer wieder an die Ostsee zurückkehrte.

»Als ob das nicht sehr praktisch für dich wäre, wenn ich in eurer Nähe bin«, antwortete Thea dann immer mit gespielter Entrüstung. Und sie hatte ja recht. Es war wirklich nicht schlecht, dass Olga ihre Tochter nach Eckernförde bringen konnte. Strand und Meerwasserwellenbad direkt vor der Haustür – besser ging es kaum für die kleine Wasserratte.

»Thea ist ja auch nicht mehr die Jüngste, oder?«, meinte Lotte.

»Dreiundsiebzig, aber topfit.«

»Kommst du denn gut mit Jan zurecht?«, wollte Lotte wissen.

»Geht so.«

»Jan und du, das war doch mal die große Liebe.«

Olga verzog das Gesicht.

Lotte lachte und zeigte ihre bildhübschen weißen Zähne. »Na, Olga, jetzt mach nicht so ’ne Schnute. Ich frag später noch mal nach, bei einem Glas Roten. Wir haben Urlaub.« Sie fingerte am Radio herum und drehte die Musik lauter.

»Ich wünsch dir noch ’n richtig geiles Leben!«, brauste es ihnen um die Ohren. Und Lotte sang aus voller Brust mit.

3

In aufgekratzter Stimmung rollten sie über die Levensauer Hochbrücke, fuhren über die B76 bis nach Gettorf und weiter in Richtung Rendsburg. Als sie durch den kleinen Ort Holtsee kamen, klagte Lotte, dass sie hungrig sei. Vergeblich hielten sie Ausschau nach einer Bäckerei, fanden aber stattdessen einen Käseladen, der zur ortsansässigen Meierei gehörte. In dem Geschäft wurden neben ganzen Käselaiben und diversen Milchprodukten auch kleine Speisen und Getränke angeboten. Lotte aß drei belegte Käsebrote samt Garnierung, während Olga einen Becher Kaffee trank.

Dabei erzählte Lotte von Berlin. Seit drei Jahren lebte sie dort nun schon mit Klaus-Dirk zusammen, der sich aber leider offensichtlich immer mehr als Langweiler entpuppte. Lotte arbeitete als Buchhändlerin in einer kleinen Buchhandlung in einem Einkaufszentrum in Prenzlauer Berg. Wenn schon Klaus-Dirk keinen Anlass für Anekdoten lieferte, so war immerhin ihre Arbeit ein unerschöpflicher Quell von unterhaltsamen Geschichten. Kunden und Kollegen, alle bekamen in Lottes Erzählungen ihr Fett weg.

»So bekloppt kannste gar nicht denken, was für Bücher manche Latte-macchiato-Mütter haben wollen. Physikalische Experimente für Dreijährige? Schön und gut, aber haben Sie das auch zweisprachig auf Englisch und Japanisch? Du kriegst die Motten.«

Sie lachten und redeten, während die weiß gekleideten Damen hinter der Käsetheke weiter Schnittchen machten und dekorierten.

Hinter Holtsee verlief die Chaussee zunächst parallel zum Nord-Ostsee-Kanal. Aufbauten von Schiffen waren zu sehen, die geisterhaft über Hecken und Baumwipfeln dahinschwebten. Schon bald aber schickte sie das Navigationsgerät über schmale, gewundene Straßen, die vom Kanal wegführten, weiter in Richtung Norden.

»Das Teil spinnt mal wieder«, sagte Olga, als sie durch Holzbunge fuhren, ein ihr bislang völlig unbekanntes Dorf. »Das geht hier doch niemals zu einem Hotel.«

Der von zwei Strohdachhäusern gesäumte Weg war so schmal, dass nur ein einzelnes Auto passieren konnte.

»Nu vertrau mal der Technik«, entgegnete Lotte. »Und das Schild eben war auch eindeutig.«

»Pampa, echt.«

»Genau deshalb sind wir doch hier, weil es so schön ruhig ist.«

Lotte klang immer noch schwer begeistert.

Olga hingegen war sich inzwischen nicht mehr so sicher, ob es wirklich die beste Idee gewesen war, sich Lottes Vorschlag anzuschließen.

»Ein Hotel direkt am See, Wellnessangebote, Halbpension, gleich hinter Rendsburg, also ganz bei dir in der Nähe«, hatte Lotte am Telefon geschwärmt. Etwas absurd war es schon, dass ausgerechnet sie beide nun so einen Urlaub geplant hatten, wo sie sich doch früher die Nächte in angesagten Hauptstadtbars um die Ohren geschlagen hatten. Trinken, tanzen und morgens auf irgendeinem Dach hoch über Berlin frühstücken – so hatten ihre Wochenenden einmal ausgesehen. Zugegeben, das war schon eine Weile her. Trotzdem empfand Olga Ausschlafen und Nichtstun nicht unbedingt als erstrebenswerte Freizeitgestaltung. Hatte sie sich das Leben jemals so vorgestellt?

»Schnarch«, sagte sie laut.

Lotte sah sie von der Seite an und drohte gespielt böse mit dem Finger.

»Das nächste Mal, meine Liebe, fahre ich wieder mit meinem Schatzi«, sagte sie streng.

»Und ich erst«, sagte Olga und musste laut lachen. »Wenn ich nur wüsste, wo der herkommen soll.«

»Kommt Zeit, kommt Liebe.«

»Kommt Traktor«, entfuhr es Olga. Gerade noch rechtzeitig konnte sie einem riesigen Gefährt ausweichen, das ihnen in einer engen Kurve entgegengerast war.

In solcherlei Unterhaltungen und Sticheleien vertieft, erreichten sie das Hotel gegen sechzehn Uhr. Es lag direkt am Moorsee, einem weitläufigen Gewässer, dessen flache Ufer mit Schilf und Erlenbruchwald bestanden waren. In der Eingangshalle des gepflegten Anwesens brannte ein Kaminfeuer und verbreitete eine behagliche Atmosphäre. Durch große Scheiben sah man über eine weitläufige, gemähte Rasenfläche zum Seeufer hinunter. An der Rezeption überreichte eine freundliche junge Angestellte die Zimmerschlüssel und wünschte einen angenehmen Aufenthalt. Lotte und Olga brachten ihr Gepäck auf die Zimmer, und Olga trat auf ihren Balkon, der zum See hin gelegen war. Von hier aus überblickte sie die ganze Gartenanlage und entdeckte hinter Büschen versteckt eine kleine Saunahütte unten am Wasser. Blesshühner schwammen aufgeregt schnatternd umher.

Lotte klopfte an ihre Tür. Olga spürte, wie müde sie war.

»Komm rein.«

»Wie ist dein Zimmer?«

»Sehr nett, aber ich fürchte, ich muss erst mal eine Runde schlafen. Ich fühl mich furchtbar abgekämpft.«

»Mach das«, sagte Lotte, »ich check schon mal die allgemeine Lage und probier vielleicht die Sauna aus.«

Sie zwinkerte vielsagend und verschwand. Während Olga sich auf dem Bett ausstreckte, dachte sie darüber nach, ob Lotte möglicherweise hoffte, ausgerechnet in diesem Landhotel einen neuen Mann kennenzulernen. Darüber war sie bald eingeschlafen.

Am Abend um kurz nach halb acht trafen sie sich im Restaurant, wo ein gedeckter Tisch auf sie wartete. Die Speisekarte war kurz, hielt aber ein paar ungewöhnliche Gerichte bereit. Olga bestellte Ravioli mit Ziegenkäse in Weißwein-Espuma, Lotte wählte Maispoularde in Tomatensud mit Paprika-Reis. Dazu tranken sie Rotwein. Später teilten sie sich eine Portion Nugatsoufflé, weil sie eigentlich beide schon satt waren. Nach dem Essen setzten sie sich in zwei Ledersessel am Kamin. Ein Kellner servierte auf Wunsch Getränke, und die Freundinnen bestellten sich Whisky.

»Uns jeht’s jut, wa?«, berlinerte Lotte.

»Wir sollten nicht klagen«, stimmte Olga zu.

Schon bald begannen sie, in vergangenen Zeiten zu schwelgen. Während sie an ihren Gläsern nippten, ging es um gemeinsame Erlebnisse, alte Bekannte, verpasste Chancen, lustige Geschichten und alles, was ihnen sonst so in den Sinn kam.

»Ich finde schon, dass du etwas erschöpfter wirkst als früher«, sagte Lotte beim zweiten Glas Whisky mit leichter Besorgnis in der Stimme.

»Ja, ich sollte meine Kräfte etwas besser einteilen, aber vielleicht brauche ich auch einfach nur einen neuen Job«, gestand Olga ihrer Freundin. »Ich weiß bloß nicht, wann der richtige Zeitpunkt ist, mit der Suche zu beginnen. Und was für eine Arbeit das sein sollte.«

»Du sitzt auf deiner Stelle doch warm und trocken, oder?«

»Das ist es ja. Es ist langweilig und füllt mich nicht aus.«

»Du warst eben eine herausragende Kommissarin«, meinte Lotte nachdenklich.

Gelächter schallte zu ihnen herüber. An einem der kleinen Tische vorne in der Eingangshalle saßen vier Personen, offenbar zwei befreundete Paare, die Wein tranken und ein Brettspiel spielten. Sie sprachen Dänisch und waren in ausgelassener Stimmung. Anscheinend waren sie den Tag über draußen unterwegs gewesen, denn ihre Hosen waren lehmbesprenkelt und die Gesichter frisch und gerötet.

»Ich mache diesen Job, damit Smilla in geordneten Verhältnissen aufwächst. Meine Arbeitszeiten sind verlässlich, und ich verdiene genug. Aber wenn ich Jan sehe, werde ich wütend.«

»Was macht er inzwischen?«

»Karriere bei der Mordkommission natürlich. Unser alter Chef, Thoralf Bruns, ist schon seit ein paar Monaten krankgeschrieben wegen eines chronischen Rückenleidens. Nächstes Jahr wäre er sowieso in den Ruhestand gegangen. Bestimmt wird Jan sein Nachfolger.«

»Du meinst, er wird Hauptkommissar?«

»Das ist er jetzt schon. Erster Hauptkommissar würde er dann.«

»Typisch!«, meinte Lotte.

»Ja, aber ich habe freiwillig aufgehört«, entgegnete Olga.

»Und das bereust du jetzt?«

»Teilweise schon.«

»Hat Jan eigentlich eine neue Flamme?«

Olga zog die Augenbrauen zusammen. »Es gab da mal eine Saskia. Sie hat nach dem Studium ein Praktikum bei der Kripo gemacht. Sie war schlau, schön und jung. Aber die beiden sind nicht mehr zusammen. Smilla konnte sie überhaupt nicht leiden. Und er hat Saskia dann bald den Laufpass gegeben.«

»Nichts Ernstes also.«

»Was heißt bei Jan schon ernst?«

»Hör mal, Olga, warst nicht du es, die ihn verlassen hat?«

»Wir waren ja nie richtig zusammen gewesen«, erwiderte Olga und starrte ins Feuer, wo ein Holzscheit knackend Funken schleuderte.

»Warum eigentlich nicht?«

Ja, warum? Das war eine lange Geschichte. Zu kompliziert, um sie für Lotte mal eben auf die Schnelle zusammenzufassen. Es war nicht allein Jan Dutzens Schuld gewesen, dass ihre Romanze nicht funktioniert hatte. Ihr hatte einfach das Vertrauen gefehlt, dass eine Kleinfamilie mit Jan und Smilla geklappt hätte. Olga glaubte nicht an die große Liebe, ja nicht einmal richtig an eine kleine. Sie selbst war auch bei ihrer alleinerziehenden Mutter aufgewachsen. Ihren Vater hatte sie nie kennengelernt. Und nach dem Verschwinden ihrer Mutter hatte sie die auch nie nach ihrem Vater fragen können. So war es nun einmal, sie hatte gelernt, das zu akzeptieren. Und Smilla ging es offensichtlich gut. Es gab nichts zu ändern und nichts zu bereuen.

»Hättest du ihn gern zurück?«

»Quatsch«, sagte Olga, verschluckte sich an ihrem Whisky und musste husten. »Wie kommst du denn darauf?«

»Verstehe«, sagte Lotte und trank ihr Glas leer.

Um kurz nach zehn verabschiedete sich Olga von Lotte, die noch etwas in der Halle sitzen bleiben wollte, um in den dort ausliegenden Zeitungen und Magazinen zu lesen. Olga ging ins Bett, schaltete den Fernseher ein und zappte sich einmal durch alle Fernsehprogramme. Bei einem französischen Krimi blieb sie hängen, war aber bald weggedöst.

4

Es wurde schon dunkel, als Knut Lehmann von der Autobahn abfuhr und der Landstraße zum Hotel folgte. Die Fenster der Gebäude leuchteten heimelig, als er den Parkplatz erreichte. Er parkte in der Nähe des Eingangs, nahm in der Lobby den Schlüssel in Empfang und fuhr mit dem Fahrstuhl hinauf in sein Zimmer. In seiner Reisetasche befand sich nichts außer einem steril verpackten Ganzkörperanzug mit Kapuze, mehreren Paaren Einweghandschuhe und einer Heckler & Koch, die er sich vor einiger Zeit schon im Darknet besorgt hatte.

Die junge Frau an der Rezeption würde sich später kaum an ihn erinnern, denn er besaß keine besonderen Eigenschaften. Das hatte seine Frau Lissy ihm immer vorgeworfen, seit ihr Interesse an ihm verblasst war. Du bist ein Langweiler, hatte sie gesagt, an dir ist ja gar nichts Besonderes. Sie war nicht die Einzige, die ihm so was an den Kopf warf. Auch sein ehemaliger Chef hatte sich darin gefallen, ihm zu vermitteln, dass er noch sehr viel kreativere Mitarbeiter beschäftigte als ihn. Bald nach der Geburt seines zweiten Kindes hatte man ihm ohne Bedauern gekündigt. Als arbeitsloser Hausmann war Knut Lehmann abhängig vom guten Willen und den wechselnden Launen seiner Frau. Es war klar, dass das nicht funktionieren konnte. Er hatte das ändern wollen, aber was er auch versucht hatte, es hatte nicht geklappt.

Nun stand er im schmalen Hotelbadezimmer und fixierte sein Gesicht im Spiegel. Er sah einen Mann mittleren Alters von mittlerer Statur mit kurzem mittelblonden Haar. Der Durchschnittstyp, der tagaus, tagein Jeans, Sweatshirt und Lederjacke trug und von Natur aus das Talent besaß, in einer Gruppe von Menschen nicht weiter aufzufallen. Seine Lebenserfahrung sagte ihm, dass das auch jetzt wieder so sein würde. Aber genau das würde er ausnutzen. Er hatte beim Einchecken auf der Anmeldung einen falschen Namen und eine falsche Adresse angegeben. Dann hatte er bar bezahlt. Zwei Nächte würden reichen, um zu erledigen, was er sich vorgenommen hatte.

In dieser Gegend kannte er sich aus. Früher, als Lissy ihn noch geliebt hatte und bevor die Kinder gekommen waren, hatten sie sich manchmal für ein paar Tage hierher zurückgezogen, ins Hotel am See. Sie hatten die Ruhe genossen, die Unaufgeregtheit von Land und Leuten und in erster Linie sich selbst. Die Erinnerung daran, früher einmal süß und kostbar, weckte in ihm jetzt nur noch Bitterkeit. Immerhin war Lissy mit ihrem Geliebten nicht hier abgestiegen, sondern im Gasthof zum Goldenen Hirschen ein paar Orte weiter, wo er früher auf den Wanderungen mit Lissy gern zum Essen eingekehrt war.

Vom Bad ging er hinüber ins schmale Zimmer und legte sich aufs Bett. Er war hellwach. Noch einmal ging er in Gedanken seinen Plan durch. Erst gegen Morgen fiel er in einen unruhigen Schlaf.

Als Olga Island am nächsten Morgen erwachte, schien die Sonne. Sie trat auf den Balkon und beobachtete die Hausgänse, die jetzt auf der Wiese grasten. Hell leuchtete das Gefieder, während das Wasser des Sees dunkel schimmerte. Olga wusch sich, zog sich an und ging hinüber in den Frühstücksraum, wo sie vergeblich nach Lotte Ausschau hielt, bis sie sie draußen auf der Terrasse entdeckte. Olga bediente sich am Frühstücksbuffet und trug den mit Brötchen, Käse und Marmeladennäpfchen gefüllten Teller hinaus. Lotte hatte zwei Wolldecken organisiert, von denen sie Olga eine anbot. In so eine Decke eingekuschelt ließ es sich gut in der noch kühlen morgendlichen Herbstluft aushalten.

»Nett, der Blick auf den See«, stellte Olga fest und goss sich aus der bereitgestellten Thermoskanne eine Tasse Kaffee ein.

»Herrlich, oder?«, fragte Lotte. »Genauso hab ich mir das vorgestellt.«

»So ist das in Schleswig-Holstein.«

»Hört sich an, als hättest du Berlin jetzt ganz und gar hinter dir gelassen.«

»Nein, eigentlich nicht. Ich denke sogar oft daran, zurückzukehren. Aber wohl erst, wenn ich in Rente bin. Dann suche ich mir dort gleich ein Betreutes Wohnen«, witzelte Olga.

»Ein Loft in Mitte. Mit Fahrstuhl«, sagte Lotte begeistert. »Da mach ich mit!«

»Leider fehlt mir noch ein bisschen Kohle«, bemerkte Olga und trank ihren Kaffee aus.

»Kommt Zeit, kommt Kohle«, meinte Lotte.

»Wer weiß.«

Olga gähnte.

»Immer noch nicht ausgeschlafen?« Lotte wischte sich mit einer Serviette über den Mund. »Wollten wir heute nicht wandern gehen?«

Olga streckte sich rekelnd.

»Später gern. Wir lassen es gemütlich angehen, oder?«

»Klar, Mensch, wir haben doch Urlaub!«

Sie setzten sich wieder in die Lobby an den Kamin und lasen die bereitliegenden Zeitungen. Danach besichtigten sie die kleine Hotelbibliothek und sahen die Buchregale durch. Lotte nahm sich einen Liebesroman mit aufs Zimmer, während Olga sich für ein Sachbuch über Whisky und Zigarren entschied. Doch als sie auf dem Bett liegend darin blätterte, schlief sie schon bald ein.

Um zwei Uhr trafen sie sich bewaffnet mit Rucksäcken und Wasserflaschen in der Eingangshalle. Sie erkundigten sich nach Ausflugstipps und Wanderwegen. Der drahtige Angestellte an der Rezeption war sehr auskunftsfreudig.

»Wenn Sie mögen, besuchen Sie doch auch den Herbstmarkt in der Outdoor Lodge auf dem Aschberg«, sagte er freundlich. Er selbst sah so aus, als würde er viel Sport an der frischen Luft treiben. Sicher kannte er sich in der Gegend perfekt aus, weil er alle Wanderwege schon ausprobiert hatte. »Das ist ein reizvolles Wanderziel, und auf dem Markt gibt es viele tolle Sachen, die man hier in der Gegend produziert hat.«

»Selbst gestrickte Socken und Wollmützen?«, fragte Lotte spöttisch.

»Die auch, aber vor allem noch weiteres Kunsthandwerk und besondere kulinarische Spezialitäten.«

»Trockenfisch?«, entgegnete Olga.

Der Mann zeigte eine Zahnlücke, die ihn etwas verwegen aussehen ließ.

»Den werden Sie wohl nicht finden, aber köstliche Käsesorten, Biofleisch und Wurstwaren, handgemachte Marmeladen, Waldhonig und so weiter.«

»Hört sich gut an«, meinte Lotte.

»Der Markt läuft noch bis zum nächsten Wochenende.«

»Vielen Dank für den Tipp.« Lotte fingerte sich einen Bonbon aus einer Schale, die auf dem Tresen stand. »Das machen wir vielleicht mal die Tage. Heute ist uns mehr nach Naturerlebnis.«

»Natürlich, sehr gern.«

Der Hotelangestellte beschrieb ihnen noch ein paar Wandermöglichkeiten. Olga linste nach seinem Namensschildchen, auf dem »Sven Jahn« stand.

Wie von ihm vorgeschlagen, nahmen sie erst einmal den Wagen, ließen den See rechts liegen und fuhren zwischen Wiesen und abgeernteten Maisfeldern hindurch auf eine Hügelkette zu. Sie überquerten die viel befahrene L 265, die von Owschlag im Westen nach Eckernförde im Osten führte, und parkten auf einem ausgeschilderten Wanderparkplatz, auf dem schon zwei andere Wagen standen. Am Eingang zum Wald befand sich unter einem Ahornbaum, dessen Blätter gelb leuchteten, eine Holztafel mit einer ausführlichen Wanderkarte. Auf der Karte gab es Rundwege mit verschiedenen Symbolen, und sie entschieden sich für den Eichhörnchenweg. Die Wanderung sollte über einen Rundweg bis nach Brekendorf und dann zum Parkplatz zurückführen. Für die gesamte Strecke waren drei Stunden veranschlagt.

»Das reicht für den Anfang«, meinte Lotte. »Falls wir uns verlaufen sollten: Ich habe mein Handy dabei.«

»Empfang ist in dieser Gegend aber immer noch Glückssache«, entgegnete Olga.

5

Sie kamen den Feldweg von Hütten herauf. Er hörte sie reden, noch bevor er sie sah. Zunächst sprach nur eine Frau, unablässig und für seine Ohren recht schrill. Es dauerte eine Ewigkeit, bis die dunklere Männerstimme sie endlich unterbrach.

Die beiden erreichten den Unterstand, hinter dem er hockte, und für die Dauer einiger weniger Atemzüge waren sie ihm so nah, dass er nur eine Hand hätte ausstrecken müssen, um sie zu berühren. Stattdessen aber duckte er sich tiefer hinter den kleinen, baufälligen Verschlag, in dem bald das Winterfutter für das Wild eingelagert würde. Eicheln, Kastanien, Raufutter für die Tiere, die jetzt noch sonnentrunken und wohlgenährt auf Wiesen, Feldern und Lichtungen ästen. Noch war das Lager leer. In dem Unterstand war es dunkel, und es roch nach schimmeligem Heu. Er lugte durch einen Spalt zwischen den Holzbrettern. Die beiden Wanderer waren so in ihr Gespräch vertieft, dass sie ihn nicht bemerkten.

Doch Marvin hatte sie längst erkannt. Es war das Paar aus dem Zimmer Nummer 12, einem der schönsten im Goldenen Hirschen. Und sie waren auf dem Weg in den Wald.

Die Frau hatte ihre grüne Jacke mit dem hellen Fellkragen ausgezogen und um die Hüften gebunden. Das graue T-Shirt spannte und ließ die kleinen Speckpolster an ihrem Bauch hervortreten. Sie hatte dunkle Schweißflecken unter den Achseln und zwischen den Schulterblättern, hielt ihre Arme angewinkelt und zog beim Gehen die Ellenbogen vor und zurück, als würde sie laufen. Der Mann war einen Kopf größer als sie und offenbar ein paar Jahre jünger. Zu einer engen blauen Hose trug er ein schwarzes Sportshirt mit weißen Streifen an den Schultern. Er sah sportlich aus, muskulös, hager. Sicher bewegte er sich viel im Freien. Im Gepäcknetz seines kleinen Rucksackes steckten eine gestreifte Trainingsjacke und eine blaue, durchsichtige Trinkflasche. Bei jeder Bewegung, die der Mann tat, schwappte die Flüssigkeit darin hin und her.

Die Frau redete und redete.

Gestern am späten Nachmittag waren sie angekommen – sie in einem weißen VW Touran, er in einem silbergrauen Audi Avant. Der Mann war zuerst auf den Parkplatz gefahren und im Wagen sitzen geblieben, bis auch die Frau angekommen und ausgestiegen war. Sie hatten sich lange umarmt. Jeder von ihnen hatte einen kleinen Rollkoffer dabeigehabt, und an der Rezeption hatten sie gemeinsam den Schlüssel für das Zimmer entgegengenommen. Es hatte einen großen Balkon und bot einen weiten Blick über das Tal bis hinüber zum Waldrand. Aber so besonders war es eigentlich nicht, dass man sich bis zum Abend darin aufhalten musste. Trotzdem waren die beiden Reisenden erst zum Abendessen wieder in der Gaststube aufgetaucht.

Da hatte Marvin schon lange seinen Rundgang auf dem Parkplatz gemacht und sich wie immer die Wagen der neuen Gäste genau angesehen. Und bald hatte er herausgefunden, was los war. Am Rückspiegel des Audis baumelten ein paar winzige goldene Fußballschuhe, und eine leere Tüte Zootierkekse lag auf dem Beifahrersitz. Beim VW Touran waren die eingebauten Kindersitze auf der Rückbank noch ausgeklappt, Taschentücher und verknickte Strohhalme steckten in der Seitentür. Das Interessanteste an dem Wagen war jedoch der linke Scheinwerfer gewesen, denn er hatte einen deutlichen Riss gehabt, und an seinem äußeren Rand zum Kotflügel hin war ein Tropfen rote, klebrige Flüssigkeit heruntergelaufen. Mit klopfendem Herzen war Marvin den Weg vom Parkplatz bis zur Hauptstraße abgegangen, und tatsächlich hatte er gar nicht lange suchen müssen. Die Ricke hatte kurz vor der Einfahrt zur Hauptstraße im Graben gelegen. Ihre Vorderbeine waren gebrochen, schaumiges Sekret klebte ihr an Maul und Nase. Er hatte das tote Tier hochgezogen und sein Gesicht behutsam an sein Fell gedrückt. Weich und warm war es noch gewesen, hatte nach frischer Erde gerochen, nach Eisen, Drüsensekret, Trüffel.

Zum Abendessen in der Gaststube hatte die Frau ein Kleid mit Blumenmuster und eine feine schwarze Jacke getragen. Der Mann war in Jeans und frischem Hemd erschienen. Er hatte inzwischen geduscht und die noch feuchten Haare streng nach hinten gekämmt. Sie hatten eine Fischplatte für zwei bestellt und von Hecht über Zander bis zum Dorsch alles verzehrt. Nur den geräucherten Schleiaal hatten sie zurückgehen lassen. Zusammen hatten sie eine Flasche Weißwein getrunken, sie aber ein paar Gläser mehr als er. Sie hatten sich leise unterhalten und gelacht und sich dabei in die Augen geblickt. Das alles war in einer Lautstärke geschehen, dass niemand in der Gaststube etwas von ihrem Gespräch hätte verstehen können, es sei denn, er hätte wie Marvin direkt unter ihrem Tisch gehockt.

Hier, auf dem Weg in den Wald, fühlten sich die beiden offenbar gänzlich ungestört. Obwohl sie in raschem Tempo gingen, redeten sie laut und vernehmlich. Und er, Marvin, war ihnen nah und hörte genau, was sie sagten.

In der vergangenen Nacht hatte es geregnet, und obwohl am Vormittag die Sonne herausgekommen war, so stand doch an einigen Stellen noch Wasser in Pfützen auf dem Weg. Marvin vernahm, wie die Sohlen ihrer Wanderschuhe im weichen, schweren Boden schmatzten. Ein Stück entfernt öffnete sich die dichte Hecke am Wegrand, und er konnte die Wanderer noch einmal sehen. Als die Frau ausrutschte, griff der Mann nach ihrer Hand und fing sie auf. Er zog sie zu sich heran und küsste sie auf den Mund. Hand in Hand gingen sie weiter auf den Wald zu. Marvin verstand: Es waren zwei glückliche Menschen, die sich liebten. Und obwohl diese Erkenntnis nicht neu war für ihn, hockte er doch wie versteinert da und biss sich auf die Lippen. Zitternd schlang er die Arme um den Oberkörper und wiegte sich vor und zurück.

Erst viel später lehnte er sich erschöpft gegen das raue Holz des Schuppens. Jetzt waren sie außer Hörweite. Bestimmt hielten sie sich immer noch an den Händen. Es ging ihnen gut. Und gerade deshalb hätten sie doch daran denken müssen, dass der Wald kein Hort des Friedens und der Liebe war. Denn da war etwas, was seine stille Ordnung gestört hatte. Und jetzt war es da draußen und lauerte.