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Luo Guang-bin und Yang Yi-yän

ROTER FELS

Roman

VERLAG NEUER WEG STUTTGART

Chinesischer Originaltitel:

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Übersetzt von Otto Mann

3. Auflage 1977

Verlag Neuer Weg GmbH, Stuttgart

Zuerst erschienen im

Verlag für fremdsprachige Literatur, Peking, 1965

Gesamtherstellung:

Repro + Druck GmbH, Haan

Printed in Germany

ISBN 3-88021-081-0

HAUPTPERSONEN

Yü Hsin-djiang, Arbeiter des Montagebetriebs des Yangtse-Rüstungswerks

Tscbeng Gang, Montagebetriebsleiter des Yangtse-Rüstungswerks

Tsbeng Yao, seine Schwester, Studentin der Tschungking-Universität

Hua We, Student der Tschungking-Universität

Die ,alte Frau‘, seine Mutter, Kommandeur der Partisanentruppen in den Huaying-Bergen

Liu Si-yang, Parteigenosse, mit Studentenbewegungen in Tschungking beschäftigt

Li Djing-yüan, Vizesekretär des Parteikomitees der Stadt Tschungking

Hsü Yün-feng, Mitglied des Parteikomitees der Stadt Tschungking

Djiang Hsüä-tjin‘, Sekretärin des Bezirkskomitees Schatsi, Stadt Tschungking

Der ,alte Bruder‘, politischer Häftling im KZ ,Höhle‘

Ding Tsebang-fa, politischer Häftling im KZ ,Höhle‘

Lung Guang-bua, politischer Häftling im KZ ,Höhle‘

Tji Hsiao-bsüan, politischer Häftling im KZ ,Weißes Haus‘

Yüan, politischer Häftling im KZ ,Weißes Haus‘

Hua Dsi-liang, politischer Häftling im KZ ,Weißes Haus‘

Fu Dscbi-gao. Hauptbuchhalter in der Bank von Szetschuan

Scbö Peng-fe, Chef der 2. Abteilung des Verwaltungsbüros Südwest

We Dji-bo, Spitzel der 2. Abteilung des Verwaltungsbüros Südwest

Yän Dsui, Chef des Geheimdienstes der Kuomintang-Armeeagentur in Südwestchina

Sehen Yang-dscbai, Vizechef des Geheimdienstes der KuomintangArmeeagentur in Südwestchina

Mao Jen-feng, Chef des Geheimdienstes der Kuomintang

Li Dji-gang, Spitzel des Geheimdienstes der Kuomintang-Armeeagentur in Südwestchina

Dscheng Ke-tschang, Spitzel des Geheimdienstes der Kuomintang-Armeeagentur in Südwestchina

I

DAS Denkmal zu Ehren des Sieges über Japan war in dichte Nebelschwaden gehüllt. Über der Stadt auf dem Berg, da, wo sich der Yangtse und der Djaling vereinigen, hing eine schwere Wolkendecke. Trübe brach der erste Tag des neuen Jahres an.

Trotz des ungemütlichen Wetters waren die Straßen heute voller Menschen.

„Zeitungen! Zeitungen! Das Zentralblatt! Der Frieden! ...“ Ein barfüßiger Zeitungsjunge rannte durch den Nebel und rief lauthals: „Lesen Sie! Was wird aus China im Jahre 1948 ... Amerikanische Atommanöver ... Ausbruch des dritten Weltkrieges steht bevor …“

Dann plötzlich eine neue Schlagzeile: „Polizeibefehl! Strengstes Verbot, Feuerwerkskörper abzubrennen!“

Bei dem Wort „Feuerwerkskörper“ blickte sich ein junger Bursche, der eilig durch den dahinflutenden Menschenstrom lief, unwillkürlich um. Von dem Zeitungsjungen war aber nichts mehr zu sehen, nur von weitem war noch schwach seine Stimme zu hören: „Die neusten Lokalnachrichten! Angestellter in Not geraten ... Ganze Familie vergiftet ... Langer Abschiedsbrief ...“

Der kräftige Bursche, der sich mit so eiligen Schritten seinen Weg bahnte, hieß Yü Hsin-djiang. Heute hatte er die Arbeitskleidung mit einem sauberen blauen Baumwollanzug vertauscht. Die Augen unter den kohlschwarzen Brauen erfaßten mit raschem Blick alles, was um ihn herum vorging. Obwohl er eben erst die Zwanzig überschritten hatte, war sein Gesicht von außergewöhnlich ernstem Ausdruck, klüger und wissender als bei vielen Gleichaltrigen.

Als er die Schlagzeilen vernommen hatte, runzelte er die Brauen und beschleunigte seinen Schritt. Der Wärme wegen hatte er die Jackenärmel aufgekrempelt, so daß seine kräftigen Arme und schwieligen Hände frei waren.

Er mußte eine Reihe von Omnibussen vorbeilassen, denen eine schwarze Rauchwolke folgte. Das aufdringliche Knattern der alten Dieselmotore, Straßenhändler, die laut schreiend amerikanischen Ramsch anpriesen, das Geschrei der Rikschaläufer und der dumpfe Lärm, den die dichtgedrängte Menge verursachte — das alles verwandelte die Straßen an diesem Tag in einen brodelnden Hexenkessel.

Yü Hsin-djiang war in Eile, aber das bunte Gewimmel in den Straßen lenkte ihn immer wieder ab. Hochhäuser zu beiden Seiten der Fahrbahn, Läden, Banken, Restaurants, Tanzgaststätten. Stellenvermittlungsbüros und Geschäfte, in denen der Auktionshandel florierte, waren mit Lampions und bunten Bändern geschmückt, auf denen Festtagsgrüße prangten: „Ein glückliches Neues Jahr!“ „Glück und Segen im neuen Jahr!“

Irgendein einfallsreicher Geschäftsinhaber hatte sich etwas ganz Besonderes ausgedacht. Vom Dach eines Hochhauses hingen statt der roten und grünen Seidenbänder lange bunte Papierstreifen herab, die aus nagelneuen Zehntausend-Yüan-Scheinen zusammengesetzt waren. An einigen Stellen waren statt der Zehntausender sogar die eben erschienenen Hunderttausender zu sehen, vielleicht schon Vorboten der Millionenscheine. Ob sie nachgerechnet und herausbekommen hatten, daß Banknoten billiger waren als bunte Seide? Leider waren die Hunderttausender weder größer noch schöner im Druck als ihre kleinen Brüder, sondern stachen im Gegenteil wegen ihrer verschwommenen Färbung noch weniger ins Auge als jene. Beim geringsten Luftzug flatterte und raschelte das Kuomintanggeld in der Luft.

An diesem Schauspiel stieß sich offenbar niemand, und es war jedenfalls von der Obrigkeit nicht verboten worden, wie etwa das Abbrennen von Feuerwerkskörpern.

Yü Hsin-djiang schüttelte den Kopf über die schreienden Reklameplakate mit der Aufschrift: „Halb geschenkt!“ und „Zum Einkaufspreis!“ Jeder wußte, daß kürzlich erst hinter fast allen Preisschildern in den Schaufenstern eine weitere Null erschienen war. Die Plakate verdeckten nur das verzweifelte Ringen um die Existenz, waren die Maske des Bankrotts.

Langgezogene Hupsignale erschreckten die Passanten und jagten eine Schar von Kindern auseinander, die sich herumtrieben und Zigarettenstummel sammelten. Aus dem Lautsprecher oben auf dem Denkmal sang eine schmalzige Frauenstimme einen Schlager.

Yü wurde auf ein weißlackiertes Polizeiauto aufmerksam, das, mit mehreren stromlinienförmigen Personenwagen im Gefolge, mitten auf der Straße dahinraste. Die Autos trugen das Sternenbanner und, deutlich lesbar, die Zeichen: „Amerikanischer Nachrichtendienst“. Das schwerbewaffnete Polizeiauto bahnte ihnen den Weg zum Hotel ,Viktoria‘, wo die Stadtverwaltung einen Neujahrsempfang für die Alliierten gab.

Mit gerunzelten Brauen betrachtete Yü Hsin-djiang die Wagen, die an ihm vorbeisausten. Durch die Fenster glaubte er jene Amerikaner wiederzuerkennen, die stets das Rüstungswerk besuchten. Auf das hochaufragende Heck des letzten Wagens hatte jemand die Losung geklebt „Amis, ’raus aus China!“

Yü warf einen verächtlichen Blick auf die Wagenkolonne, überquerte die Straße und setzte seinen Weg fort.

Sicher, keinen „Schatten“ hinter sich zu haben, bog er um einige Straßenecken und gelangte schließlich auf den Weg zu den Wohngebäuden der Bank von Szetschuan. Das Wohnviertel lag am Stadtrand, und die von Bäumen gesäumte Straße war trotz des Neujahrsfestes fast leer.

Er klingelte. Kurz darauf öffnete sich das lackschwarze Tor. Der Hausherr war im mittleren Alter, trug einen dunkelblauen Anzug in europäischem Schnitt und hatte einen Mantel übergeworfen. Als er Yü Hsin-djiang sah, nickte er unmerklich und ließ ihn eintreten. Bevor er die Tür verschloß, warf er gewohnheitsgemäß einen Blick auf die Straße, offensichtlich auf ein Leben unter ungewöhnlichen Umständen eingestellt.

Der winzige Salon, in den der Gast geführt wurde, war sorgfältig ausgestattet und verriet größte Ordnung. Von einem runden Tischchen her dufteten die zum Neujahr üblichen Pflaumenblüten. Bunte Glückwunschkarten und gefüllte Bonbonnieren schufen Feiertagsstimmung. Zu den Rollbildern an der Wand war ein neues hinzugekommen, das ein Pferd von Hsü Be-hung zeigte. In einer Kohlenpfanne glühte Holzkohle und erfüllte den Raum mit behaglicher Wärme.

Yü Hsin-djiang atmete hier nicht so frei wie in den Elendshütten der Arbeiter, ließ sich aber auch nicht sonderlich von dieser Umgebung beeindrucken. Der Kampf war eben schwierig, und unter den Bedingungen des weißen Terrors ging es nun einmal nicht anders. Wenn es notwendig war, sich selbst und die Organisation zu sichern, mußte sich der Hausherr notgedrungen mit diesem Lebensstil tarnen.

Yü Hsin-djiang setzte sich auf das fast neue Sofa.

„Genosse Hsü schickt mich.“

„Ich habe gestern das Feuer auf dem anderen Ufer gesehen, konnte mir schon denken …“ Der Hausherr hieß Fu Dschigao. Er hängte seinen Mantel auf und war, während er sprach, eifrig mit der Zubereitung von Tee beschäftigt. Er reichte Yü die Teeschale hinüber und blickte ihm besorgt in die Augen. „Du hast wohl die ganze Nacht kaum geschlafen? Wie ist es überhaupt zu dem Brand gekommen?“

Fu Dschi-gao war Mitglied des Bezirkskomitees und für die Wirtschaftsarbeit der Partei verantwortlich. Eingehend erkundigte er sich nach der Lage im Werk.

Das war es auch, was Yü Hsin-djiang schwer zu schaffen machte. Vor seinen Augen tauchte wieder der helllodernde Feuerschein auf, der gierig die elenden Unterkünfte wegfraß und den Himmel rot färbte. Er antwortete nicht sofort, sondern trank in großen Zügen.

Fu schien auf alles vorbereitet zu sein und erklärte, ohne zu zögern:

„Keine Angst! Wir werden schon einen Weg finden, den Arbeitern zu helfen. Was meint Genosse Hsü, wieviel wird nötig sein?“

Er schwieg einen Augenblick und fragte dann: „Hast du die Zeitung gelesen? Angeblich soll das Feuer durch Fahrlässigkeit der Arbeiter entstanden sein.“ Er griff nach einem Exemplar des Zentralblattes und wies auf eine kleine Überschrift: „Ich schätze, da steckt etwas dahinter, was meinst du?“

Yü Hsin-djiang war die Erregung von den Augen abzulesen. Er sprang plötzlich auf und rief:

„Fahrlässigkeit! Agenten haben das Feuer gelegt, ich hab es selbst gesehen.“

Er erinnerte sich, wie er zu der Brandstelle gelaufen war und auf eine Menge Menschen stieß, unter ihnen der Gruppensekretär des Geschützwerkes, Meister Hsiao und viele andere Genossen. Da wurden die gefesselten Brandstifter vorbeigeführt. Die Arbeiter hatten bereits erfahren, daß es sich um Agenten aus dem Hauptwerk handelte. Noch jetzt sah Yü Hsin-djiang die beiden vor sich.

„Sie haben sofort nach der Festnahme gestanden, daß sie das Feuer auf Befehl der 2. Abteilung des Verwaltungsbüros Südwest gelegt hätten.“

Fu stutzte. „Das sind doch die von der Armeeagentur.“

Yü war erregt und achtete nicht auf die Bemerkung Fu Dschi-gaos. Mit scharfer Stimme konstatierte er:

„Die werden wir schon kriegen. Wir werden vollen Schadenersatz fordern!“

Lange vor dem Brand hatte es in allen Zweigbetrieben verdächtige Anzeichen gegeben. Es begann damit, daß Militärpolizei auf dem Betriebsgelände erschien und die Arbeiter zu Überstunden zwang. Dann wurde im Zuge der Betriebserweiterung das Wohngelände zum Werksgebiet erklärt, und die Arbeiter mußten ihre Hütten abreißen und umziehen. Das gestrige Feuer war der Höhepunkt der Kampagne und würde den Kampf entscheidend verschärfen. Heute würden sich die Arbeiter aller Zweigbetriebe im Geschützwerk treffen. Sie hatten beschlossen, auch wenn die Leute von der Werkleitung kneifen sollten, das Material, das zur Betriebserweiterung vorgesehen war, auf den Brandplatz zu schaffen und sich neue Unterkünfte zu bauen. Vorher würden sie keine Ruhe geben.

Yü Hsin-djiang schlug auf das Tischchen, daß es Blüten von den Zweigen regnete.

Die Erregung übertrug sich auch auf Fu Dschi-gao. Obwohl er durch seine Arbeit kaum Gelegenheit hatte, an Massenbewegungen teilzunehmen, war er sich über die politische Lage doch klar. „Natürlich! Achtzig Prozent der Munition für Tschiang Kai-schek kommen aus Tschungking. Wenn die Ami-Munition aus ist, muß er hier die Schraube anziehen.“

„Die Tschungkinger Arbeiter machen sich jedenfalls für Tschiang Kai-schek und seinen Bürgerkrieg nicht die Hände dreckig.“

Yü Hsin-djiang wußte genau, wie wichtig ihr Kampf gegen die Betriebserweiterung und das Abreißen der Unterkünfte war.

„Genosse Hsü sagt, wir werden die Brandstifter öffentlich anprangern und nach allen Seiten zur Unterstützung aufrufen. Außerdem werden wir in allen Betrieben der Stadt Sammlungen für die Brandgeschädigten durchführen, bevor Schadenersatz geleistet wird.“

„Bis dahin kann ich ...“ Fu unterbrach Yü Hsin-djiang. Ja, er würde versuchen müssen, einige hundert Arbeiter zu versorgen, denn die materielle Unterstützung der Partei gehörte zu seinen Aufgaben.

Yü Hsin-djiang nickte zustimmend und nannte die erforderliche Summe. „Genosse Hsü sagt, daß du das Geld aus dem Spendenbetrag zurückerhältst.“

„Geht schon in Ordnung, morgen kannst du das Geld bekommen.“

Obwohl so kurz nach dem Jahreswechsel nicht all zu viel Bargeld vorhanden war, erwähnte Fu nicht die Schwierigkeiten, sondern schlug sogar vor: „Falls es nicht ausreicht, kann ich auch noch versuchen, mehr zu besorgen.“

Er sah, daß der Arbeiter einen erschöpften Eindruck machte, und redete ihm zu:

„Ruh dich etwas aus und iss erst, bevor du gehst.“

Er sah auf die Uhr und fügte hinzu:

„Meine Frau ist einkaufen gegangen, sie muß jeden Augenblick zurückkommen. Wir kochen jetzt selbst. Unsere Haushaltshilfe ist zu den Feiertagen aufs Land zu ihren Verwandten.“

Yü Hsin-djiang interessierte sich nicht weiter dafür. Er redete nicht gern, und außer der Arbeit bewegte ihn kaum etwas, selbst das Essen konnte er darüber vergessen. Seine Mutter klagte ständig, er sollte besser auf sich achten, und auch Hsü hatte ihn kritisiert, aber er kam nun einmal nicht von dieser Gewohnheit los. Und jetzt dachte er noch weniger an Essen oder Schlafen.

„Noch etwas“, erinnerte er sich. Er blickte Fu Dschi-gao an. „Genosse Hsü denkt daran, in unserem Bezirk einen geheimen Treff einzurichten.“

Die Idee war durch die Entwicklung der Arbeiterbewegung in dieser Gegend entstanden, und Hsü hatte die Absicht, den Stützpunkt von der anderen Arbeit im Bezirksmaßstab zu isolieren. Bisher hatte er noch nicht entschieden, wem er diese Aufgabe übertragen sollte. Yü erinnerte sich daran, wie ihm Genosse Hsü seine Gedanken dargelegt hatte, und er sagte zu Fu Dschi-gao.

„Die Einrichtung des Treffs muß getrennt von der Massenarbeit geschehen, deshalb dachte Genosse Hsü an dich und läßt fragen, ob du einverstanden bist.“

„Natürlich, Djiang Djiä verläßt uns bald, und da mache ich einen Teil der Studentenarbeit mit.“ Fu lächelte. Er nahm den Auftrag ohne Einwände an.

„Die Gegend ist Kulturzentrum; eine Buchhandlung wäre das beste. Finanziell ließe sich das auch einrichten, fehlen nur noch die Verkäufer.“

„Daran hat Genosse Hsü schon gedacht.“

„Und wer kommt in Frage?“

„Tschen Sung-lin“, erläuterte Yü. „Ein Arbeiter. Güter Freund von mir.“

„Ausgezeichnet! Und wann kommt er?“

„Du weißt, was im Betrieb los ist. Es geht erst in einigen Tagen.“

Fu lächelte verständnisvoll, als er vernahm, daß auch der Genosse Hsü an eine Buchhandlung gedacht hatte. Yü erzählte weiter, Hsü hätte vorgeschlagen, den Laden klein und unauffällig zu halten und keine fortschrittlichen Bücher zu verkaufen.

„Weiß Bescheid, ich habe schon vor einigen Jahren einen Treffpunkt eingerichtet.“ Fu winkte ab und kam auf ein anderes Thema zu sprechen.

„Hast du den letzten Vorwärts gelesen, Yü?“ dabei zog er eine Rolle roten Schreibmaschinenpapiers aus der Tasche. Kurz bevor Yü Hsin-djiang gekommen war, hatte er sorgfältig die Geheimzeitung der illegalen Partei studiert.

„Hier: Die gegenwärtige Lage und unsere Aufgaben, ein begeisternder Artikel des Vorsitzenden Mao. Die chinesische Revolution ist am Wendepunkt angelangt, der Sieg steht bevor!“ Er legte einen Zettel mit Notizen beiseite. „Ich überlege schon zwei Tage, wie man noch mehr tun kann. Man tut immer noch zu wenig für die Partei. Weißt du, wenn ich mir so die Zukunft vorstelle ...“

Es klingelte.

„Das ist sicher meine Frau“, erklärte Fu. „Weißt du eigentlich, daß du ihr gefällst? Ein Arbeiter, der Gedichte schreibt! Sie hat dein Poem in der Hsinhua gelesen, und sie war begeistert.“ Fu hielt Yü Hsin-djiang zurück, der plötzlich aufbrechen wollte: „Sie will dich unbedingt sehen, und bei dem kalten Wetter kannst du auch nicht mit leerem Magen wieder losgehen. Iss erst etwas.“ Er gab Yü Hsin-djiang den Zettel mit seinen Notizen und erklärte, daß er hier seine Gedanken zu dem neuen Dokument der Partei niedergeschrieben hätte. Er wollte den Text im illegalen Parteiorgan veröffentlichen und bat nun Yü, ihn zu lesen.

Erst als es abermals klingelte, warf sich Fu den Mantel über und ging öffnen.

Die neueröffnete Buchhandlung in der Schaping-Straße war klein und unscheinbar. Sie verkaufte alle Arten von Büchern und Zeitschriften und befaßte sich nebenbei mit dem Aufkauf und Versand der verschiedensten alten Lehrbücher, da die Kundschaft zum größten Teil aus Schülern und Studenten der Umgebung bestand.

Der Verkäufer hatte ein rundes Gesicht, war untersetzt und mochte achtzehn oder neunzehn Jahre zählen. Tschen Sunglin hatte sich, seit er hier arbeitete, nicht mehr im Montagebetrieb gezeigt, und keiner wußte dort, daß er jetzt Bücher verkaufte. Anfangs fühlte er sich einsam, da er von klein auf an der revolutionären Bewegung im Betrieb teilgenommen hatte. Brennend interessierte ihn, was sich zur Zeit im Geschützwerk abspielte, aber er sah keine Möglichkeit, etwas zu erfahren, konnte er doch nicht beliebig Erkundigungen einziehen. Außerdem war dieser Treffpunkt nur für den Notfall vorgesehen, und Genosse Hsü war noch nicht ein einziges Mal hier gewesen. So kam es, daß Tschen sich mitunter zu weit abseits, gerade zu überflüssig vorkam.

Die Buchhandlung wurde von Fu Dschi-gao geleitet, der nach wie vor als Hauptbuchhalter in der Bank arbeitete. Er kam oft in den Laden, um Tschen Sung-lin, der auf diesem Gebiet ein Neuling war, zu helfet. Fu hatte schon früher ein Geschäft geführt. Was er sagte, hatte Hand und Fuß, und Tschen brachte ihm Vertrauen und Achtung entgegen.

Da Tschen hier keine Bekannten hatte, ging er montags — an diesem Tag hatte der Laden geschlossen — in die Tschungking-Universität. Fu Dschi-gao übergab ihm dann stets einige in Schanghai oder Hongkong erschienene Publikationen mit dem Auftrag, sie einem Studenten namens Hua We zu übergeben.

Heute war wieder Montag. Tschen zog sich um, rollte zwei Hongkonger Zeitungen zusammen und wickelte sie ein. Er verschloß die Tür und brach auf.

Als er die Schaping-Straße verließ und den Weg zur Universität einschlug, sah er, daß an dem Jugendklub an der Ecke gegenüber dem Krankenhaus eine Menge bunter Plakate hingen. Über der Tür kreuzten sich zwei Kuomintangfahnen. Ein roter Anschlag verkündete, daß irgendein. Professor sprechen würde zu dem Thema: „Studium und Staat“, anschließend lief ein Film. Tschen warf nur einen Blick darauf und ging weiter.

Die Mauer auf dem Weg zur Universität — gewöhnlich mit Anzeigen vollgeklebt, die Kleidungsstücke und Bücher der Studenten zum Verkauf anboten — hing heute ebenfalls voller Anschläge.

Erstaunt Jas Tschen, daß in ihnen zu Spenden für die Arbeiter des Gcschützwerkes aufgerufen wurde. Ein besonders auffälliges Plakat forderte auf: „Eure Hand für die Solidarität mit unseren Brüdern!“ Außerdem wurden in einem Bericht der Brand und dessen Hintergründe in aller Deutlichkeit entlarvt. Über dieses Plakat waren reaktionäre Losungen geschmiert: „Nieder mit den roten Medizinmännern!“ „Verleumdung!“ Daneben hing ein anderes Plakat: „Für Redefreiheit! Gegen Bürgerkrieg!“ Und so ging es weiter.

Das war etwas anderes als das großartige Gerede von „Studium und Staat“. Tschen sah sich noch andere Wandzeitungen an. Manche waren zerfetzt und mit dickem Pinsel übermalt: „Majestätsbeleidigung!“, „Kommunistenpropaganda!“ usw.

Am eindrucksvollsten wirkte auf Tschen ein Exemplar des Komet, an dem der Leim noch nicht trocken war. Leider waren nur noch der Kopf und die Hälfte des Leitartikels zu erkennen, letzterer mit dem Thema: „Gegen die Machenschaften zur Erweiterung des Bürgerkrieges!“

Von Hua We hatte Tschen gehört, daß in der Tschungking-Universität wie an anderen Universitäten eine Bewegung zur Unterstützung der brandgeschädigten Arbeiter im Gange war. Daß es aber schon so heiß herging, hatte er nicht vermutet.

Eine auffällige Ankündigung lautete:

Die Studentenselbstverwaltung der Tschungking-Universität bittet einen Arbeitervertreter des Geschützwerkes, über den Brand zu sprechen.

Ort: Studentengesellschaft

Zeit: Montag neun Uhr

Daneben lud ein ebengeklebter Anschlag zum Besuch einer anderen Veranstaltung ein:

Der „Jugendverband der Drei Volksgrundsatze“ der TschungkingUniversität bittet. Professor Hou Fang, zum Thema „Studium und Staat“ zu sprechen.

Ort: Schaping-Jugendklub

Zeit: Montag 8.50 Uhr

(Anschließend Hollywood-Film in Color: „Wassernixed“)

Danach gab es allerlei Kleinkram. Unter anderem drohte die Küchenkommission des juristischen Instituts mit Einstellung der Speisung, wenn bis zum festgesetzten Termin nicht bezahlt würde.

Von ferne tönte jetzt Lärm herüber, und Tschen stieß schließlich auf eine Gruppe Studenten, die sich unter den Bäumen vor dem „Sekretariat für geistige Erziehung“ versammelt hatte. Er beschleunigte unwillkürlich seinen Schritt und mischte sich unter die erregten Studenten, von denen viele noch nicht wußten, was eigentlich los war. Inzwischen hatte sich bereits eine dichte Menschenmauer um das Sekretariat gebildet. Auch Hua We tauchte da auf, Tschen verlor ihn aber sofort wieder aus den Augen.

Von ganz vorn tönte gerade eine helle Stimme: „ ... deshalb fragen wir, ist überhaupt die Sicherheit der Studenten gewährleistet oder nicht?“

Die Mädchenstimme kam ihm bekannt vor, aber wie er sich auch auf die Zehen reckte, er konnte nicht erkennen, wer dort sprach.

„Aufhören mit dem Lärm! Es ist verboten, sich zusammenzurotten!“ mahnte jetzt eine Stimme, die ruhig und fest klingen sollte. „Wer ist euer Vertreter? Alle anderen schweigen!“

„Ich bin Fakultätsvertreter!“ war wieder die Mädchenstimme von vorhin zu vernehmen.

„Welcher Fakultät? Äh ... deine Studiennummer? Name?“

Das Mädchen ließ sich durchaus nicht von den scharfen Fragen des Sekretariatsleiters beeindrucken, sondern antwortete klar und deutlich: „Philosophische Fakultät. Erstes Jahr. Ich heiße Tscheng Yao.“

Tscheng Yao? Tschen erschrak. Wat das nicht die Schwester des Werkleiters aus dem Montagebetrieb? Er hatte sie früher häufig getroffen und wußte auch, daß sie hier studierte, konnte sich aber nur an ein kleines Mädchen erinnern, klug und aufgeweckt zwar, aber nie hatte er sie so sprechen hören.

„Sie ist Abgeordneter unserer Fakultät, laßt sie reden, alle anderen Ruhe!“

Von irgendwo her kam provokatorisches Zischen.

„Wer zischt? Los, laß deine Fratze sehen!“

„Studenten! Es geht darum …“ Es wurde allmählich stiller, und Tscheng Yao fuhr fort, klar und fest: „Wir hatten gestern Versammlung der Studentenvertreter und haben über die Unterstützung der brandgeschädigten Arbeiter diskutiert, als ein Spion, der Student Wc Dji-bo …“

„Mit Dreck auf ehrliche Leute werfen! Wo sind Beweise?“ rief einer aus der Menge.

„Entweder Armeeagentur oder Geheimpolizei, den kennt doch jeder!“ kam es scharf zurück.

„Ruhe!“ erklang wieder die kühle Zurechtweisung des Sekretariatsleiters. „Nur der Vertreter spricht. In einer seriösen Lehranstalt geht es nicht an, ohne hinreichende Beweise zu sprechen.“

„Natürlich habe ich Beweise!“ Tscheng Yao wurde nun heftiger. „Wc Dji-bo hat versucht, die Versammlung zu sprengen. Nachdem das mißlungen war, wurde er heute früh bei der Zusammenstellung einer schwarzen Liste ertappt. Seht her: Hier ist die schwarze Liste! Außerdem wurde ein Geheimbefehl des Polizeikommissariats bei ihm gefunden!“

Die Studenten waren aufs äußerste erregt, und erneute Zurufe forderten:

„Keine. Narrenfreiheit für Agenten! Wo ist Wc Dji-bo? Her mit ihm!“ Der das rief, war ein langaufgeschossener Student in blauem Kittel, er stand in unmittelbarer Nähe Tschens.

„Wc Dji-bo befindet sich im Sekretariat. Wir fordern von der Universitätsleitung strengste Bestrafung! Studenten, ich verlese jetzt den Geheimbefehl und die schwarze Liste mit den Namen ...“

„Fotografiert ihn, damit ihn alle kennen lernen!“

„Jawohl!“

„Wir fordern öffentliches Verhör!“

„Einverstanden! Die Jurafakultät soll das Verhör vorbereiten!“

„Kommilitonen! Erregt euch nicht! Ruhe! Wir als höchste Lehranstalt im Südwesten Chinas können weder jemanden gesetzwidrig festnehmen noch verurteilen“, meldete sich abermals mit kalter, aber bebender Stimme der Sekretariatsleiter.

„Frage an den Sekretariatsleiter: Ist die Aufstellung einer schwarzen Liste gesetzwidrig oder nicht?“ rief wieder der Lange. Tschen blickte in sein vor Erregung gerötetes Gesicht.

„Wir dulden keine Spionage an unserer Universität. Wir fordern von der Leitung Garantien für die Sicherheit der Dozenten und Studenten!“

„Sehr richtig!“

„Einverstanden!“

In diesem Augenblick sprang eine Gestalt aus dem Hinterfenster des Gebäudes und rannte davon. Aber das wurde bemerkt, und sofort erschollen Rufe:

„We Dji-bo rückt aus!“

„Sie lassen den Spitzel laufen.“

„Der Sekretariatsleiter entkommt uns nicht, halten wir uns an ihn!“

„Haltet ihn! Ihm nach!“ rief der Lange und rannte als erster los. Er war schnell, und bald war er dem Verfolgten dicht auf den Fersen. Auch Tschen machte sich mit den anderen an die Verfolgung.

Der Spion hastete um eine Ecke und verschwand im Wald. Der Lange wollte auch eben in den Wald einbiegen, als er plötzlich schwankte, sich an den Kopf griff und zusammenbrach.

Da rief man auch schon:

„Diese Gangster haben ihn verwundet!“

„Helft ihm!“

Zwischen den Bäumen hasteten mehrere Gestalten davon, und nach kurzer Zeit heulte ein Jeep heran, umkurvte das Universitätsgelände und brachte die Geflüchteten in Sicherheit.

Der Jeep war schon vorher dagewesen, aber keiner hatte ihn weiter beachtet.

„Der Chefredakteur des Komet ist verwundet“, erklärte irgend jemand. Tschen erinnerte sich an die Wandzeitung, von der nur noch ein Stück übriggeblieben war.

Man brachte den Vorletzten zurück. Ein Stein hatte ihm den Kopf aufgeschlagen, Blut rann über sein Gesicht.

„Li Dji-gang! Li Dji-gang!“ rief man immer wieder und stützte ihn. Auch Hua We war unter der Gruppe, bemerkte Tschen jedoch nicht.

Wieder versammelten sich viele Studenten vor dem Sekretariat und verlangten Rede und Antwort.

Tschen hatte genug gesehen. Er bog um einen mit Kiefern bestandenen Hügel und schlug den Weg zum Wohnheim Hua Wes ein.

Li Dji-gang nannten sie ihn also. Tschen fühlte sich stark zu ihm hingezogen.

II

WIE gewöhnlich war der Buchladen auch heute um die Abendzeit voller Menschen, meist Studenten.

Inmitten der Kunden hatte Tschen Sung-lin alle Hände voll zu tun, holte Bücher aus drei Regalen, kassierte und gab heraus, so daß ihm wenig Zeit blieb, genau zuzuhören, worüber die Studenten redeten. Nur bruchstückweise konnte er erhaschen, worum es ging. Ein Student mit dem Abzeichen des Pädagogischen Instituts Szetschuan. und ein anderer, der aussah wie ein Oberschüler, zogen seine Aufmerksamkeit auf sich. Beide unterhielten sich eifrig, vor einem Bücherregal stehend.

„Die Tschungking-Uni will streiken? Warum?“ fragte der Oberschüler.

„Wegen der Spitzel und ...“

Tschen wurde von einem Kunden, der zwei Bücher in der Hand hielt, zum Kassieren gerufen.

Aus solchen Gcsprächsfetzen in den letzten Stunden konnte er sich ungefähr ein Bild machen. Der Auflauf vor dem Sekretariat für geistige Erziehung hatte die Studenten in Bewegung gebracht. Sie wollten streiken und würden in ihrem Kampf auch mit der Unterstützung anderer Schulen des Gebiets rechnen können. Tschen malte sich die Ratlosigkeit und das Durcheinander im Lager des Gegners aus.

Mittlerweile war es völlig dunkel geworden. Der Kundenandrang hatte stark nachgelassen. Fu Dschi-gao betrat das Geschäft und begann, wie ein gewöhnlicher Kunde in den Büchern zu blättern.

Fu war aus einem bestimmten Grund gekommen. Er beobachtete unauffällig einen jüngeren Kunden mit langem Haar und blassem Gesicht, der vor einem Regal stand und in die Lektüre eines dicken Buches vertieft war. Offenbar stand er schon lange so. Unter der Lampe schienen seine eingefallenen Wangen grau und düster. Ob Tschen ihn gemeint hatte? Kurz vor Ladenschluß las er noch immer. Fu bemerkte, daß Tschen es vermied, den Lesenden zu stören. Er selbst hatte Tschen geraten, sich vor allem gegen die lesehungrigen Kunden rücksichtsvoll zu verhalten. Und diesem Jugendlichen, der schwermütig und bedrückt schien, mußte man sich noch geduldiger nähern.

Seit kurzem kam er häufig in die Buchhandlung, mitunter vormittags, aber auch nachmittags oder abends. Sofort begab er sich dann immer an ein Regal, um sich schweigend in ein Buch zu vertiefen. Meistens war es ein literaturkritisches Werk oder eine Romanübersetzung. Es kam vor, daß er vor Begeisterung halblaut zu lesen begann, was ihm dann ungeduldige Blicke der anderen Leser eintrug. Er kaufte selten Bücher oder höchstens zu verbilligtem Preis. Seine Kleidung war ärmlich, und er machte einen zurückhaltenden Eindruck, schien also kaum Student zu sein. Vielleicht ein kleiner Angestellter? Aber wie konnte er als Angestellter zu jeder Tageszeit Stunden in der Buchhandlung verbringen?

Fu hatte schon ein paarmal fragen wollen, aber ein solcher Übereifer konnte hier nur Schaden anrichten.

Beim Ordnen der Bücher schob sich Tschen unauffällig in die Nähe des Lesenden und schien ein Gespräch mit ihm anknüpfen zu wollen.

Fu war mit Tschen sehr zufrieden. Trotz seiner Jugend war er sehr geschickt und flink in der Arbeit. Sicher würde er nach einer gewissen Zeit einen guten Gehilfen abgeben.

Der junge Mann am Regal schien sich jetzt nicht ganz wohlzufühlen, schämte sich wahrscheinlich, immer nur zu lesen und nichts zu kaufen. Als Tschen in seine Nähe kam, reichte er hastig das Buch herüber und versicherte schüchtern: „Ich habe es nicht beschädigt.“

Tschen lachte: „Liest du Gorki gern?“

„Sehr gern.“ Der andere lächelte traurig. „Leider, ich kann es nicht kaufen.“

„Darf ich deinen Namen erfahren?“

„Ich heiße Dscheng.“ El drückte das Buch an die Brust und sah Tschen an, als ob er sich zu verteidigen hätte. „Ich wohne in der Tschungking-Universität.“

Tschen spürte die Zurückhaltung, deshalb sagte er nur kurz: „Lies ruhig weiter“, und ließ ihn allein:

Bald waren nur noch drei Kunden im Laden.

Fu Dschi-gao kam jetzt herüber und grüßte freundschaftlich. In letzter Zeit war er sehr interessiert daran, mit einfachen Menschen in Berührung zu kommen.

„Setz dich hierher, hier ist es heller.“

Der Losende schien wieder aufgeschreckt. Er sammelte sich und stellte nun Gorkis Roman Die Mutter endgültig ins Regal zurück. Schuldbewußt sah er Fu Dschi-gao an. „Verzeihung, ich habe Ihren Feierabend …“

„Das macht nichts, lies ruhig weiter.“

„Es ist schon spät, Verzeihung …“ verabschiedete er sich und verschwand in der schwarzen Nacht. Fu sah seiner dürren Gestalt nach und machte sich seine Gedanken. Er hatte Mitleid.

Nachdem die Ladentür verschlossen war, begab sich Fu in den ersten Stock, wo sich Tschen einen kleinen Raum zum Schlafen eingerichtet hatte.

Er setzte sich an den kleinen Schreibtisch und blätterte in Tschens Aufzeichnungen, die dieser während des Selbststudiums gemacht hatte. Tschen war tatsächlich fleißig. Obwohl er nicht sehr belesen war, zeigten seine Exzerpte aus der Populärwissenschaftlichen Philosophie grüßte Sorgfalt.

Fu klappte das Heft zu, steckte sich eine Zigarette an und verfiel in tiefes Nachsinnen. Er rauchte eigentlich kaum, hatte sich aber seit einiger Zeit daran gewöhnt, sich hin und wieder eine Zigarette anzustecken, wenn die Arbeit gut voranging, und er in froher Stimmung war.

Die Buchhandlung bestand nun schon eine ganze Zeit, und seit langem wollte er sich mit Tschen einmal ausführlicher unterhalten. Der Sieg im ganzen Lande rückte immer näher, und er wollte möglichst bald alles so einrichten, wie er es sich seit langem in der Vorstellung ausgemalt hatte. Ja, er hatte Vorstellungen und Ideale. Früher schien das alles in weiter Ferne zu liegen, jetzt aber war das anders. Man konnte sich konkrete Gedanken machen, und es würde Voraussetzungen und Gelegenheiten geben, sie allmählich in die Tat umzusetzen. Einiges hatte er auch schon früher geleistet, vor allem zu Beginn des antijapanischen Widerstandskrieges, als er gerade in die Partei eingetreten war. An vielen Studentenaktionen hatte er damals teilgenommen und in der Regel öffentlich und an hervorragender Stelle gearbeitet.

Nach den Ereignissen in Süd-Anhui war das anders geworden. Die Lage hatte sich verschlechtert, er mußte untertauchen. Später hatte er sich an der Bank etwas emporgearbeitet und auch Finanzangelegenheiten der Partei erledigt. Deshalb gab es für ihn kaum noch Gelegenheit, an Massenaktionen teilzunehmen. An die neue Arbeitsmethode unter den Bedingungen des weißen Terrors konnte er sich zunächst nur schlecht gewöhnen. In dieser gefährlichsten Zeit durfte er nur in loser Verbindung zur Partei bleiben. Es bedrückte ihn, nur alle paar Monate einmal mit einem übergeordneten Leitungsmitglied in Kontakt treten zu können.

Später gewöhnte er sich an die neue Arbeitsform und bekam Übung darin, sich durch die verschiedensten Beziehungen zu den Oberschichten und die Lebensform eines Bankangestellten zu decken. Er war mit einigen Regeln der illegalen Arbeit vertraut und lebte unbehelligt im Wohnheim der Bank, ohne jemals entdeckt zu werden. Der Partei hatte er niemals auch nur die geringsten Schwierigkeiten bereitet, im Gegenteil, was ihm aufgetragen wurde, hatte er nach bestem Können erledigt.

Seit kurzem jedoch war er mit seinem ereignislosen Leben nicht mehr zufrieden. Als illegaler Arbeiter sehnte er sich nach Bewegung und Kampf, wenn auch diese Sehnsucht nicht mit dem sprühenden Enthusiasmus seiner Jugendjahre zu vergleichen war. Dieses Interesse an aktiver Tätigkeit war nach der Lektüre des letzten bedeutenden Dokuments der Partei noch gewachsen. Die Revolution war am Wendepunkt angelangt, der Sieg des jahrelangen Kampfes stand vor der Tür. Deshalb seine ungestüme Begeisterung, in der er die Partei schon einige Male um mehr Arbeit ersucht hatte.

Obwohl die Sekretärin des Bezirkskomitees, Djiang Djiä, schon einen anderen Genossen mit der Arbeit in der Studentenbewegung betraut hatte, war ihm doch die Einrichtung dieses Treffs übertragen worden, ein geheimer Auftrag Hsüs, von dem die Genossen im Bezirkskomitee nichts wußten. Möglicherweise dachte Hsü Yün-feng darüber nicht ganz so wie er, der das jedenfalls für einen Vertrauensbeweis der Partei hielt. Deshalb nahm er sich vor, alle Parteiaufträge, ob nun auf dem Gebiete der Finanzen oder hier im Treffpunkt, bestens auszuführen. Er suchte nach Gelegenheiten, mehr zu tun, und dachte zum Beispiel an die Erweiterung der Buchhandlung. Man könnte so auf kulturellem Gebiet besser Fuß fassen. Bis auf einen guten Gehilfen fehlte ihm eigentlich nichts, und Tschen war auf dem besten Wege, ihm diese Sorge abzunehmen.

Die Treppe knarrte und unterbrach seinen Gedankengang. Tschen hatte den Laden aufgeräumt und kam herauf. Fu Dschigao blickte seinen Gehilfen an.

„Macht die Arbeit Spaß?“ fragte er mit Wärme.

Tschen lachte gezwungen. „Von morgens bis abends nicht wissen, wohin mit seinen Kräften! Da arbeite ich schon lieber mit dem Hammer.“

„Hast du immer noch Sehnsucht nach dem Betrieb?“

„Wie sieht es jetzt im Geschützwerk aus?“ Tschen gab sich keine Mühe zu verbergen, was ihm am Herzen lag. „Vielleicht kann ich doch einmal hin und mich umsehen?“

„Es soll immer noch nicht vorangehen ...“ Fu hatte Yü Hsin-djiang schon lange nicht getroffen und wußte auch nichts Genaues. „Trotzdem. Es kommen von allen Betrieben Unterstützungen, und das hilft schon viel.“

Tschens Augen leuchteten, aber mehr konnte er beim besten Willen nicht erfahren, deshalb ließ er sich nur seufzend auf das Bett nieder.

„Macht denn die Arbeit keinen Spaß?“ fragte Fu.

„Doch, doch!“ Tschen wußte nicht, wie er es sagen sollte. „Was die Partei von mir verlangt, tue ich gern, bloß …“ Mit seiner Faust schlug er auf das Bett und drückte so am besten aus, was er dachte.

Fu konnte ihn verstehen. So jung wie Tschen, und dann aus der ihm vertrauten Umgebung herausgerissen und mit dieser besonderen Aufgabe betraut — kein Wunder, daß er sich nicht so schnell daran gewöhnen konnte. Er selbst hatte sich auch bedrückt gefühlt, damals, als er sich für lange Zeit von der Massenarbeit hatte zurückziehen müssen. Deshalb drang Fu jetzt nicht weiter in ihn und rauchte schweigend.

„Wann erweitern wir die Buchhandlung?“ fragte Tschen plötzlich. Fu Dschi-gäo hatte ihm erklärt, daß das Geschäft langsam ausgebaut und vergrößert werden müßte. So würde die Buchhandlung nicht nur als illegaler Treff dienen, sondern auch nach außen wirksamer werden können.

„Darüber will ich gerade mit dir sprechen. Wenn wir das Geschäft ausbauen, so geschieht das vor allem für die Partei. Wir haben einen Stützpunkt und können gleichzeitig unter der Hand fortschrittliche Bücher vertreiben …“

Das erschien Tschen schon interessanter.

„Zumal ja“, fuhr Fu fort, „unsere Kundschaft vor allem aus Studenten besteht, und die suchen die Wahrheit und Anleitung zum Handeln. Menschen brauchen sie, die sie auf den richtigen Weg führen, Tschen. Das ist unsere ehrenvolle Aufgabe. Besonders wichtig ist es, die Tradition der Hsinhua und der fortschrittlichen Buchhandlungen weiterzuführen.“ Hier mußte Fu auch einige Dinge erzählen, über die Tschen nicht so gut Bescheid wußte. Daß sich der bewaffnete Kampf auf dem Dorf stark entwickelte, und daß ein Teil der Kader aus den Städten abgezogen und zur Unterstützung der Bauernbewegung auf die Dörfer geschickt wurde.

„Und warum haben wir das Geschäft noch nicht erweitert?“ kam Tschen wieder auf seine Frage zurück.

„Das geht erst dann, wenn alles richtig überlegt ist.“ Fu sprach langsam, hatte aber schon den Plan im Kopf. „Wir bereiten uns jedenfalls auf die Erweiterung vor.“

Er stockte sich eine neue Zigarette an, überlegte einen Augenblick und fuhr fort:

„Mich beschäftigt noch ein Gedanke. Für den Zusammenschluß der fortschrittlichen Jugend wäre nach der Vergrößerung der Buchhandlung die Herausgabe einer Literaturzeitschrift vielleicht von noch größerer Bedeutung.“

Daran hatte Tschen Sung-lin noch nicht gedacht, und er fragte sofort:

„Ist die Leitung damit einverstanden?“

Fu stellte ihm die Gegenfrage:

„Hat die Partei schon einmal etwas abgelehnt, was den Massen Nutzen brachte? Wenn man als illegaler Arbeiter nur dasitzt und wartet, daß einem die Partei die Arbeit einteilt, schafft man nicht viel.“

Irgendwie war Tschen gepackt von diesem Elan. Unwillkürlich verglich er seinen neuen Vorgesetzten mit Yü Hsin-djiang. Mit Yü war er von klein auf befreundet, sie hatten schon als Kinder in der Montage gearbeitet. Yü war der Ältere von beiden, hatte eher am revolutionären Kampf teilgenommen, war ernst und gewissenhaft. Bevor er hierherkam, hatte ihn Yü ernsthaft ermahnt, jede Verbindung mit früheren Freunden und Genossen abzubrechen.

Wie anders waren dagegen Charakter und Arbeitsweise von Fu Dschi-gao, der ihn anspornte, mutig zu arbeiten, und sich immer besorgt und nachsichtig zeigte. Manchmal auch fühlte Tschen einen gewissen Abstand zu Fu, sei es nun, daß er noch nicht lange genug mit ihm zusammenarbeitete oder daß er eine gewisse Zurückhaltung dem Intellektuellen gegenüber an den Tai; legte. Später dachte er nicht mehr darüber nach, denn man konnte nicht beliebig an einem übergeordneten Leitungsmitglied herumkritisieren, und jeder hatte schließlich seinen eigenen Arbeitsstil. Während er sich diese Gedanken machte, war ihm beinahe entfallen, worüber Fu gesprochen hatte.

Ihm fiel ein, daß sein Gast wohl noch nicht gegessen hatte, und als dieser eine Pause machte, fragte er:

„Ich hätte beinahe nicht daran gedacht, hast du schon gegessen?“

Fu lachte versöhnlich. „Ich habe mit deiner Vergeßlichheit gerechnet. Deshalb bin ich heute erst nach dem Abendessen gekommen.“ Dann schlug er vor: „Es ist kühl heute, wie wär’s, wenn wir uns mit einem Gläschen Wein erwärmten?“

Tschen sprang rasch hinunter und holte das Getränk. Beide begannen, sich ungezwungen zu unterhalten, über die Arbeit, das Lernen, das Leben überhaupt.

Geduldig und mit Anteilnahme, wie ein großer Bruder, hörte sich Fu Dschi-gao an, was ihm Tschen von seinen Idealen erzählte. Als dabei das Gespräch wieder auf ihre Arbeit kam, fragte Fu nach Li Dji-gang.

Tschen hatte Fu damals berichtet, was sich in der Tschungking-Universität abgespielt hatte. Der Komet war fortschrittlich und, wie einige andere Studentenzcitungen auch, etwas zu radikal.

„Was hat Hua We für Beziehungen zu ihm?“ wollte Fu wissen.

„Sie wohnen erst seit diesem Jahr zusammen und haben wohl nicht viel miteinander zu tun. Hua We sagt, daß Li schon früher sehr aktiv war, daß er bei der Verhaftungswelle im vorigen Jahr auf der schwarzen Liste stand und beinahe festgenommen worden wäre.“

Fu überlegte einen Augenblick, dann riet er:

„Laß Hua We möglichst wenig über deinen Umgang mit Li Dji-gang wissen.“

Tschen nickte. Er erriet, daß Hua We wahrscheinlich nicht unter Fus Leitung arbeitete.

Er glaubte, Fu würde hier übernachten und war überrascht, als dieser erklärte, er hätte noch etwas vor, und müsse den letzten Bus in zehn Minuten erreichen.

Beim Abschied ermunterte Fu Tschen: „Bis zum nächsten Mal dann. Ich bin sehr zufrieden mit dir. Du tust, was man dir sagt, bist fleißig und kommst gut vorwärts ...“ Er brach ab, denn all zu viel Lob schien einem jungen Genossen nicht zuträglich.

Unten blieb Fu vor einem Regal stehen, etwas Wichtiges schien ihm noch eingefallen zu sein. „Der da immer lesen kommt, ist wirklich ein merkwürdiger junger Mann. Du mußt unbedingt versuchen, an ihn heranzukommen.“

Einige Tage darauf ging Tschen wieder in die TschungkingUniversität. Er trat in den Raum mit den zehn bis zwanzig Doppelbetten, in dem Hua We wohnte. Sofort erblickte er den Jungen, der immer zum Lesen kam. Er lag auf Li Dji-gangs Bett und war in ein Buch vertieft.

Tschen fiel ein, daß er Li Dji-gang hier zum ersten Mal getroffen hatte. Li hatte auf dem Bett gelegen, um ihn herum saßen andere, die mit nassen Handtüchern sein Blut stillten.

Eigenartig, daß es jetzt so leer war hier. Als’ er Hua We begrüßt hatte, fragte er nach dem Studenten auf dem Bett.

Hua We war kaum älter als Tschen. Er erklärte.:

„Li Dji-gang sagt, daß es ein Cousin von ihm sei. Er hat seine Arbeit verloren und wohnt vorübergehend hier.“

Tschen lachte leise. „Ein Verwandter! Kein Wunder, daß er so oft zu uns in den Laden kommt.“

„Warum erkundigst du dich nach ihm?“ wunderte sich Hua We.

„Nur so, er ist Stammkunde bei uns.“ Mehr sagte Tschen nicht. Er erinnerte sich an das, was ihm Fu aufgetragen hatte.

Li Dji-gang kam zurück und brachte zwei Brötchen mit, die er dem Jungen auf dem Bett gab.

Tschen sah das gedankenvoll mit an. „Mit den paar Brötchen den ganzen Tag auskommen, das ist ein Leben!“

Ein Student betrat den Raum und flüsterte Hua We etwas zu, der daraufhin den Raum verließ, nachdem er versichert hatte: „Ich bin gleich zurück, du kannst mittags in der Mensa essen.“

Alleingeblieben setzte sich Tschen aufs Bett, goß sich ein Glas Wasser ein und blätterte in Zeitungen. Er hörte, wie der junge Mann auf dem Bett nach Trinkwasser fragte, und da Li Dji-gang offenbar nicht daran gedacht hatte, brachte ihm Tschen etwas zu trinken.

Li Dji-gang nahm ihm das Glas ab und fragte erfreut: „Bist du schon lange hier?“ Er stellte vor: „Das ist Tschen Sung-lin, mein neuer Freund. Das ist mein Cousin, Dscheng Ke-tschang, er war früher bei der Post und sucht jetzt Arbeit.“

Dscheng Ke-tscheng hob den Kopf und streckte langsam die Hand aus, er schien sich noch immer etwas zu schämen. „Wir haben uns schon gesehen ... in der Buchhandlung.“ Er lachte gezwungen. „Ich lese oft umsonst ...“

„Ach, ihr kennt euch schon?“ wunderte sich Li Dji-gang.

„Noch nicht lang“, wehrte Dscheng verlegen ab. „Er wollte mit mir sprechen, aber ich dachte ... was will er immer von mir?“

Tschen lachte. „Und jetzt sind wir Freunde, wer hätte das gedacht!“

Mit einem Händedruck besiegelten sie ihre Freundschaft, und Li freute sich mit ihnen.

„Ihr habt es wirklich etwas eng hier.“ Tschen betrachtete den kleinen Schlafplatz. „Könnt ihr denn so schlafen?“

„Geht vorläufig nicht anders“, bedauerte Li Dji-gang. „Wir müssen eben etwas zusammenrücken.“

„Nachts schläft er“, erklärte Dscheng. „Ich hab ja sowieso nichts zu tun und lese dann. Wenn er tagsüber in die Vorlesungen geht, schlafe ich.“

„In Schichten!“ Alle drei lachten.

„Ich gehe noch Wasser holen“, erbot sich Dscheng.

Tschen wies auf Hua Wes Bett schräg gegenüber. „Da ist noch eine gute halbe Flasche.“

Aber Dscheng stand trotzdem auf und ging langsam hinaus.

Tschen geriet mit Li Dji-gang ins Plaudern. Er erwähnte, daß er die letzten Nummern des Kometen gelesen hatte und daß die Zeitung nicht schlecht sei.

„Es ist nicht leicht, Niveau zu halten“, antwortete Li Dji-gang. „Wenn wir Geld hätten, könnten wir mehrere Zeitschriften bestellen und auch theoretische Abhandlungen kaufen.“

Tschen fragte:

„Hast du mal etwas aus Schanghai oder Hongkong gelesen?“

„In letzter Zeit nicht“, antwortete Li. „Früher habe ich die Schanghaier Literatur gelesen, war nicht schlecht. Vor kurzem hat mir auch jemand ein Singspiel gebracht: Das weißhaarige Mädchen, sehr ergreifend geschrieben.“

„Ich habe es auch gelesen. Übrigens, möchtest du etwas aus Hongkong oder Schanghai lesen?“

„Ist ja nichts aufzutreiben“, klagte Li und wurde etwas rot dabei.

„Doch!“ sagte Tschen leise und zog ein Exemplar der Epoche aus der Tasche. „Sei aber vorsichtig damit, darf keiner wissen!“

„Klar!“ versicherte Li erfreut und bedankte sich mit einem Händedruck.

Tschen tastete auch nach einem Vorwärts, ließ ihn aber in der Tasche. Fu hatte ihm zwar aufgetragen, Li die Zeitung zum Lesen zu geben, aber es mußte ja nicht alles auf einmal sein.

Li Dji-garig rollte die Epoche zusammen und steckte sie in die Innentasche seiner Jacke. Dabei fiel Tschens Blick auf einen Streifen roten Schreibmaschinenpapiers. Das war ja der Vorwärts!. Li hob den Kopf und merkte, daß Tschen auf seine Tasche blickte. Er verdeckte sie sofort, dann sagte er zögernd: „Vielen Dank, Tschen, daß du dich so um mich kümmerst. Aber es ist gefährlich, so etwas mitzubringen. Sei lieber vorsichtig ...“ Er unterbrach sich für einen Augenblick. „Auch die Zeitungen aus Hongkong und Schanghai solltest du mir nicht immer mitbringen.“

Das machte ihn Tschen nur noch sympathischer.

„Gehen wir essen, Tschen!“ rief Hua We von der Tür her und nickte Li Dji-gang zu.

Auf dem Weg zur Mensa fragte Hua We vorwurfsvoll: „Warum bist du so leichtsinnig, Tschen?“

Tschen wollte gerade etwas erwidern, als sie ein Mädchen in blauem Kleid mit einem kurzen Mantel sahen. Das Haar trug sie kurzgeschnitten, und wenn sie lachte, erschienen Grübchen auf ihrem runden Gesicht.

Sobald sie Tschen Sung-lin sah, lief sie auf ihn zu und rief lachend:

„Kommst zu uns dich amüsieren, und kennst mich gar nicht mehr! Letztens, vor dem Sekretariat, hast du mir auch nicht geholfen.“

Tschen wunderte sich: „Woher weißt du ...?“

Tscheng Yao blinzelte Hua We zu, der nun auch lachen mußte.

Sie reichte ihm eine Rolle Banknoten. „Die Spenden für die Arbeiter. Habe ich eben bekommen.“

„Grüß den Betriebsleiter von mir“, bat Tschen, der nachdenklich auf das Geld blickte.

„Natürlich, und auch deinen Freund Yü, ihr seid ja wie zwei Kletten“, lachte Tscheng Yao und streckte Hua We ihre weiße Hand hin. „Meine Sachen? Her damit!“

Hua We vergewisserte sich, daß niemand in der Nähe war. Dann reichte er ihr rasch ein Bündel roten Schreibmaschinenpapiers, das sie in ihre Büchertasche verstaute.

Mit einem „Auf Wiedersehen!“ lief sie davon.

III

DIE kleine Fähre schlingerte noch immer in der Mitte des Stromes und kam nicht ans Ufer.

Der Kai war voller Leute, die auf die andere Seite wollten. Tscheng Yao stand in der Reihe hinter einer alten Dame und reckte sich ungeduldig auf die Zehenspitzen. Die Reihe endete erst vorn am Steg. Dort standen, wild gestikulierend, zwei Männer mit Sonnenbrillen, Zigaretten im Mundwinkel. Was machten die Strolche dort? Sie waren doch früher nie dagewesen. Wahrscheinlich Spitzel.

Sie hatte richtig vermutet. Als die Fähre endlich anlegte, durchsuchten die beiden die Passagiere, die vom Schiff kamen.

Tscheng Yao umklammerte unwillkürlich ihre Büchertasche, als ob sie um irgendetwas Angst haben mußte. Vor ihr trippelte die alte; Dame mit geschnürten Füßen unsicher über die wippenden Planken. Tscheng Yao eilte ihr zu Hilfe und stützte sic.