Helga Döring

Scherbentanz

Biographie

Danke Bernd!
Ohne Deine Hilfe wäre
meine Lebensgeschichte
nie zu einem Buch geworden.
Meine Erinnerungen
wären als lose Blätter
in irgendeiner Schublade vergilbt.

Ich habe
die Scherben zertanzt
- Helga Döring -

Erinnerungen eines Berliner Kriegskindes
und was das Leben später noch für sie bereithielt.
So manche Turbulenzen durchzogen ihr Dasein.
Sie ließ sich nicht unterkriegen.
Heute mit 83 Jahren blickt sie auf ein
bewegtes Leben zurück.

Inhaltsverzeichnis

Teil I

So begann es

Wird Petrus mich einlassen?

Geburt – Geburtstage

Frühe Kindheit

Irgendwie ein Fehlstart

Eine kleine verkorkste Familie

Und so begann es

Ich

Mutti

Die Oma und ihre Enkel

Mütterliche Glanzleistungen

Sie sieht was sie will

Das Strafgericht

Die Giftspritze

Nachruf Eltern

Mutti – Nachruf

Nachruf: Papa / Stumpfes Gold

Papas Heldentod

Das Trugbild

Laubenpieper

Glückliche Kindheit

Laube nach dem Krieg

Schulzeit

Krankenhäuser

Krankheit mit Spaßfaktor

Krankheit mit Blaulichtcharakter

Gesundheit-Krankheit-Heilung

Kinderlandverschickung

Krieg

Hoyerswerda

Die Nachricht von Papas Tod

Mutti und ich

Mutti und ich – Gedicht

Der Krieg ist aus - der Kampf geht weiter

Kriegsende – Die Hölle zerglüht

Entbehrung und neue Hoffnung

Streifzüge

Das Abenteuer

Der Übergriff

Der eiskalte Winter.

Die Luftbrücke

Der Einbruch

Die Konfirmation

Die ungeliebte Tochter

Trümmerkinder

Ruinen-Abenteuer

Berliner Nachkriegskinder

Manchmal kam ich aus dem Takt

Vom Traum zum Albtraum

Kann denn Liebe Sünde sein?

Und der Erzeuger?

Die 50er Jahre

Schock und immer wieder Schock

Mein Kampf

Teil II

Mein Berlin

Kreuzberg

Kreuzberg in Berlin

Die Kneipen

Proletarier

Die Würstchenbuden

Die Boulette

Der Müllschlucker

Ein paar Worte auch zum Berliner Sportpalast

Mein Sechstagerennen

Die Zentralschaffe

Mauerbau

Die Geburtstagsfeier findet nicht statt

Kennedy.

Mauerbau – Fakten

Trübe Gedanken

Schicksalswende

Der Unfall

Rückblende

Schuldgefühle

Hauswirtin

Männer

Es hat nicht sollen sein

Lebensabschnitts-Gefährten

Der Antrag – Einer fiel mit der Tür ins Haus

Die Erlösung

Die Single Frau

Single-Erfahrungen

Die Single-Frau und die Männer

Liebeswirren in der Nachkriegszeit

Freundinnen

Lebensmangel

Nachtenschwärze

Psychiatrie

Ichhabe Angst

ICH BIN NICHT MEHR ALLEIN!

Lebens-Stau

Ein kleiner Schein am Horizont

Morgengrauen

Reha

Sommerende

Ich

Der Abschied

Nachwehen

Gesprengte Ketten

Wann Erlösung?

Nachwort

Allein – Verlassen – Einsam

Du lebst allein – beneidenswert

Einsamkeit bis zur Depression

Damals und heute

Gedanken zu Depressionen

Absichtserklärung

Ab ins Heim

Altenheime

Rückblende

Rückblick und Wertschätzung

Fazit

Nachwort

Teil I

So begann es

Wird Petrus mich einlassen?

So oder so war mein Leben. Mal ging es gut – mal ging´s daneben.

Nun stehe ich vor der Himmelspforte. Wird Petrus mich reinlassen?

„Schau mir in die Augen, Kleines“, sagt er. Und dann dringt sein Röntgenblick in die tiefsten Tiefen meiner Seele.

Bedächtig krault er seinen Bart.

„Bist du im Reinen mit dir?“, fragt er mich. Als ich mit der Antwort zögere, sagt er:

„Schildere mir dein Leben aus deiner Sicht“.

Und ich antworte: „Das wird eine lange Geschichte“. – Worauf er mir zu verstehen gibt:

„Ein langes Leben mit einer kurzen Geschichte, das wäre ein ungelebtes Leben.

Geh zurück und schreibe alles auf. Bring dich in Frieden.“

Er nickt mir liebevoll zu, streicht mir väterlich durchs Haar und schickt mich zurück in meine kleine Welt.

So gleite ich nun in längst vergangene Phasen, Episoden, Dramen meines Daseins.

Verborgenes, Verdrängtes dringt noch einmal in mein Bewußtsein – drängt an die Oberfläche.

Hier ist es – mein Leben …

Geburt – Geburtstage

Meine Zeit ist gekommen

Ich muß jetzt hier raus

die warme Geborgenheit verlassen

um den Kampf

meines Daseins

zu beginnen

Ich will nicht

Ich bin unerwünscht

Ich zögere – ich zaudere

Da draußen üben sie Druck

auf mich aus

immer heftiger

Ein letztes Zögern …

Jetzt

Die viel zu helle Welt

Die viel zu kalte Welt

empfängt mich

Mein erster Schrei

Da bin ich

Ein Mädchen

Ja – nur ein Mädchen

Das war mein Start ins Leben. Genau genommen mein 1. Geburtstag.

Viele Geburtstage folgten. Meine Kinderfeiern fielen recht unspektakulär aus. Die Verwandtschaft rückte mit kleinen Geschenken an, und das war´s dann für mich. Es war stets eher ein Fest für die Erwachsenen. Sie hatten endlich wieder einen Grund zum Feiern.

Ja, ich bin in eine feierfreudige Familie hineingeboren – wobei der Alkohol stets eine nicht unwichtige Rolle spielte.

Die heutigen Kindergeburtstage gleichen oft schon eher einem Affenzirkus. Sie wären zur Zeit meiner Kindheit undenkbar gewesen – allerhöchstens eine Utopie. Heute ist alles grenzenlos. Eine bessere Welt ist es deswegen aber nicht. Schon die Kleinsten sind maßlos in ihren Wünschen und Erwartungen. Es wird ihnen ja vorgelebt.

Mich erschreckt das. Aber ich bin eben altmodisch.

Als ich 21 wurde – zu der Zeit wurde man mit 21 volljährig –, da war ein großes Aufatmen in mir. Jetzt endlich würde diese ewige Bevormundung aufhören.

Ich war ja schon 4 Jahre lang Mutter; nun endlich würde ich selbst über mein Leben und das meines Sohnes entscheiden können. Es war ein triumphaler Tag. Ich fühlte mich großartig.

Mit 30 hatte ich eine mittelschwere Krise. Ich fand, nun werde ich alt – was natürlich schlicht und ergreifend blöd war. Aber Fakt war trotzdem, eine Jugendliche war ich nun nicht mehr.

Sehr gerne erinnere ich mich an meinen 50. Geburtstag.

In der Firma feierte ich von Dienstantritt bis zum Feierabend. Sämtliche Vorgesetzte kamen mit wundervollen Blumensträußen und guten Wünschen. Es war herrlich. Ich geriet in einen regelrechten Glücksrausch.

Daheim feierte ich dann am Wochenende wie eine Weltmeisterin. Ich hatte 50 Gäste eingeladen und 47 kamen. Den ganzen Tag war es ein Kommen und Gehen und Hochleben. Ich hatte kalte Platten gerichtet – reichlich – jeder konnte nach Herzenslust zulangen.

Es war ein Goldblättchen-Tag.

Von da an fand ich das Älterwerden und die Geburtstage nicht mehr so toll, obwohl ich meine glücklichsten Jahre als Frau in den folgenden Jahren durchlebte. Aber gerade deshalb wollte ich nicht älter oder gar alt werden.

Schließlich wurde es immer ruhiger um mich – zu ruhig – und anstrengend.

Mein Gott, damals die 47 Gäste, heute bekomme ich keine 10 mehr zusammen.

Und jetzt weiß ich zu diesem

Thema nichts mehr zu sagen …

Frühe Kindheit

Irgendwie ein Fehlstart

Blicke ich auf mein Leben zurück, seh´ ich viel Unbill und wenig Glück.

„Sie“ schafften es nicht, mir meine Kindheit zu vermiesen.

Ich war ein quietschfideles, putzmunteres kleines Mädchen. Die Welt war voller Wunder, die ich alle erkunden wollte. Ich lachte gerne. Ich tollte gerne rum. Jeder Tag barg ein Abenteuer. Weder Muttis Intrigen noch Papas Strafen konnten mich erschüttern.

Allein war ich nur daheim – und das im wahrsten Sinne des Wortes. Denn die Eltern waren ausschließlich mit sich und ihren Querelen beschäftigt. Doch keine 5 Minuten aus dem Haus, hatte ich schon eine Schar Gleichaltriger um mich. Ich zog sie an wie die Motten das Licht.

Ich war ein aufgewecktes Kind – ein Wirbelwind.

Und trotz häuslicher Schikanen wurde ich ein lebensfroher Teenager, damals nannte man das Backfisch. Nichts und niemand konnte meine Lebenslust bremsen. Und ich bewahrte mir mein gesundes Selbstbewußstsein.

Mein Lebensmotto schien aus dem Satz zu bestehen:

„Welt, hier bin ich, zeig mir deine Wunder“.

Ja, das Leben war schön. Ich ließ es mir von niemandem vermiesen.

Das änderte sich abrupt, als ich mich verliebte. Das Schicksal nahm seinen Lauf. Vor mir lag – ohne Vorwarnung – ein steiniger Weg; und er barg viele Hindernisse.

Doch davon später mehr.

Mutti und ich, wir konnten zusammen nicht kommen. Von Anfang an waren wir ein problembeladenes Gespann. Zwischen uns befand sich ein breiter, tiefer Graben.

Die Ehe meiner Eltern lief, wie man so sagt, etwas schräg. Papa lebte sich aus, und Mutti lebte ihren Frust aus. Auf der Strecke blieb ihr kleines Mädchen – ich.

Warum die Beiden geheiratet haben weiß der Himmel. Eine „Mußehe“ war es nicht; denn ich kam erst zwei Jahre nach ihrer Eheschließung auf die Welt. Ich denke, beide hatten sie den brennenden Wunsch, ihrem bedrückenden Elternhaus zu entkommen. Doch das ist leider keine genügende Grundlage für eine gelingende, harmonische Partnerschaft. Mutti liebte ihren Mann offensichtlich hingebungsvoll. Doch Papa, der hätte eine Frau gebraucht, die ihm zeigt, wo es langgeht; die ihm nicht ständig die Ohren volljammert – eine Frau, die ihm Halt gibt. Denn haltlos war er ja selber.

Unser Familienleben gestaltete sich in schönster Regelmäßigkeit folgendermaßen:

Papa ging morgens zur Arbeit. Zurück blieben die nörgelnde, mißmutige, oft weinende Mutter und ich.

Ihr Weinen machte mir Angst. Was tat der Mutti denn weh? Hatte sie vielleicht Bauchschmerzen? „Mutti“, zaghaft fasse ich nach ihrer Hand. Ich will sie streicheln – will sie trösten. Aber sie stößt mich fort. „Was weißt du denn schon, geh spielen. Laß mich in Ruhe.“ Mit hängendem Kopf schleiche ich mich davon – ins andere Zimmer – versuche mich unsichtbar zu machen – bin ganz verstört.

So sehr mich ihre Tränen ängstigten, so sehr verunsicherten mich ihre Launen. Was hatte ich denn nun schon wieder falsch gemacht, daß sie so zornig über mich herfiel – was denn nur? Ich wollte doch nicht ungezogen sein. Ich litt unter den Wechselbädern ihrer Stimmungen. Irgendwie war ich ihr überall im Wege. Nichts konnte ich recht machen.

Ich durfte anfangs nicht auf den Hof gehen zum Spielen mit den anderen Kindern. Ich durfte niemanden in die Wohnung bringen. Und die Mutti durfte ich nicht stören. Ich sehnte mich so sehr nach ihrer Liebe und Zuwendung. Hat sie mich jemals in die Arme genommen? Ich erinnere mich nicht. Sah sie denn meine Verzweiflung nicht? Fühlte sie denn meine Ängste nicht? Nein – sie sah mich überhaupt nicht. Lebhaft im Gedächtnis sind mir ihre Schimpftiraden, die Rumschubserei und diverse Ohrfeigen.

Meine Wandlung setzte schleichend ein. Oder soll ich besser sagen, die ständigen Züchtigungsversuche meiner Eltern hinterließen kaum merklich erst, doch dann unübersehbar ihre Spuren. Aus dem unbeschwerten Wirbelwind wurde ein bockiges, aufsässiges kleines Mädchen.

Eine aggressive Mutter, ein strafender Vater, können nicht erwarten, eine sanfte Tochter zu haben – höchstens eine verstörte. Aber dazu war ich wohl zu stark – damals schon!

Muttis Kommunikation mit mir erschöpfte sich weitgehend in dem Drohsatz: „Warte nur, bis der Papa nach Hause kommt …“

Und nun kommt der Papa ins Spiel.

Mein Papa, den ich so sehr geliebt habe. Warum eigentlich? Nun, es gab Momente und Tage, da gab er mir Nähe und Wärme – da war ich sein kleiner Mausepeter. Meine verhungerte Seele saugte diese Zärtlichkeiten gierig auf. Hier aber ist von dem anderen Vater die Rede, vom Papa, dem Rächer der „geplagten“ Mutter – vom Papa, dem Weichling, der unsere Harmonie verriet, um seine Ruhe zu haben.

Hier ein endloses Wiederholungsbeispiel:

Der Abend.

Papa betritt die Wohnung – etwas müde sieht er aus. Ich laufe ihm entgegen. Er fängt mich auf – wirbelt mich durch die Luft. Ich jauchze vor Vergnügen.

Da – der Angriff aus dem Hinterhalt. Mutti! Die Lethargie des Tages ist von ihr abgefallen. Im Flur – weiter ist der Vater nämlich noch nicht gekommen – steht eine sehr lebendige 156 cm kleine „Wutkugel“. Mit zornigen Mißtönen schleudert sie ihre Anklagen – meine Tagesverfehlungen betreffend – dem Gatten entgegen.

„Die Göre hat wieder …“ Oh, mein Gott – Papa „und ich“ erfahren nun, was die ungeratene Tochter im Laufe des Tages alles angestellt hat. Unzählige Verfehlungen werden aufgezählt.

Mutti verlangt Strafe – mit Nachdruck. Also versohlt der Papa mir halbherzig den Hintern. Die Schläge tun nicht weh – aber sein Verrat desto mehr.

Nichts hat er hinterfragt – wahrscheinlich auch nicht so recht geglaubt. Er will seine Ruhe haben. So einfach ist das. Muttis Gesichtszüge haben sich schlagartig geglättet. Der Abend der Eltern ist gerettet. Mein Papa, mein geliebter Papa – er hat mich wieder einmal im Stich gelassen. Ich schleiche mich schluchzend davon.

Diese ewigen Strafen und Vorwürfe sorgten schließlich dafür, daß ich mehr und mehr zum Trotzkopf wurde. Längst glaubte ich ein schlechtes Kind zu sein – ein Kind, das es nicht verdient, gemocht zu werden, geschweige denn geliebt. Wer hat schon solch einen Nichtsnutz lieb! Ich widersetzte mich jetzt nach dem Motto: Du machst ja sowieso alles falsch; warum also bemüht sein.

Anfangs waren es unbewußte Proteste – nach und nach gezielte. Und das in einem Alter, wo kleine Mädchen eigentlich unschuldig mit ihren Püppchen spielen.

Unmerklich, aber unaufhaltsam entwickelte ich mich zu einem gespaltenen Wesen.

Daheim wurde ich trotzig, unsicher, bedrückt. Draußen und vor allem unter Gleichaltrigen (ich durfte inzwischen schon auf die Straße zum Spielen) war ich übersprühend lustig und voller Lebensfreude.

Als Papa im Krieg fiel, wurde aus der unzufriedenen, unglücklichen Mutter eine überforderte Frau mit einer aufsässigen Tochter am Hals. Ja, wir konnten zusammen nicht finden; der Graben war viel zu breit.

Der Samen, eine verunsicherte Erwachsene zu werden, war also in der Zeit der frühen Kindheit ausgesät. Und er ging auf. Für mich galt stets: Liebe mußt du dir verdienen; und Glück ist etwas für die anderen. So wurstelte ich mich durch die Jahre und bekam „natürlich“ auch den Ehemann, den ich „verdient“ hatte. Das Wort „Geborgenheit“ war zeitlebens ein Fremdwort für mich.

Jetzt, ein halbes Jahrhundert später, habe ich einen Weg gefunden, mich aus meinem „Gefängnis“ zu befreien. Das Aufschreiben meiner Lebensgeschichte und damit verbunden das nochmalige Durchleiden diverser Schreckens-Szenarien öffneten mir die Tür zu erlösenden Erkenntnissen.

Viele kleine Puzzleteile neu zusammengefügt ergeben jetzt ein verändertes Bild – zeigen mir eine neue, heilsame Sichtweise – zeigen mir den Menschen, der ich war, bevor ich „verbogen“ wurde.

Es wird heller um mich – und leichter in mir.

Die Luft riecht nach Hoffnung und Zuversicht.

Ich habe wieder Lust auf Leben.

Ich wünsche mir noch ein paar gute Jahre – erfüllte Jahre in der Welt, in der ich durchatmen kann – in der Welt, in der

ICH BIN

Eine kleine verkorkste Familie

Und so begann es.

Fest steht, daß Mutti sich den falschen Gatten ausgewählt hat. Sie wollte einen Mann – ganz für sich alleine – mit Haut und Haaren.

Papa aber liebte die Abwechslung. Wußte sie das nicht? Oder glaubte sie, ihn ändern zu können? Wie auch immer, die Ehe funktionierte nicht wirklich. Dann kam ich – und ich war zu allem Unglück nur ein Mädchen. Und so nahm das Familienschicksal seinen Lauf.

Ich

Was wird aus einem Kind, dem von Geburt an eingetrichtert wird, es tauge nichts; und es sei es nicht wert, geliebt zu werden?

Es wird schließlich ein unselbständiger Erwachsener – ein Mensch, der sich wertlos und wehrlos fühlt.

Ich spreche hier von mir.

Du kommst nicht als schwieriger Mensch auf die Welt – du wirst schwierig gemacht. Du wirst quasi verbogen. Wenn du dann letztendlich den Vorstellungen deiner „Peiniger“ entsprichst, dann hörst du sie sagen: „Ich hab´ es ja schon immer gewußt. Sie ist …, sie hat …, sie hat nicht …“ usw.

Dank meiner Mama habe ich mich eine sehr lange Strecke in meinem Leben als unwert empfunden. Ich ließ Kränkungen und Nichtachtung zu – immer und immer wieder – in dem Bewußtsein: ‚Du bist es nicht wert’!

Und so fühlst du dich schließlich den ganz und gar unspektakulären Aufgaben des täglichen Lebens immer öfter einmal kaum gewachsen. Das Anstrengendste an der Sache ist, deine Unsicherheit vor Gott und der Welt zu kaschieren. Darin wurde ich eine Meisterin.

Ich sollte ein Junge werden. Die männlichen Wunschgene hatten sich scheinbar in meiner Seele gespeichert. Ich war ein wildes Kind. Ich tobte gerne mit den Jungens, veranstaltete Wettkämpfe mit ihnen und kletterte auf Bäumen herum. Dabei riß ich mir so manchen Dreiangel in meine Rüschenkleider. Heiliger Bimbam, das gab jedesmal ein Gezeter.

Denn da ich nun einmal ein Mädel war, erwarteten sie von mir ein dementsprechend gebührliches Verhalten. Angepaßt sollte ich sein und ein folgsames, biegsames Sonnenscheinchen.

Mutti

Mutti war eine Meisterin darin, mir kränkende Verachtung entgegenzubringen.

Kaum, daß ich Kenntnis hatte, woher die Kinder kommen, ließ sie mich wissen, daß sie mich nur dem Papa zuliebe geboren hat. Diese unseelige Tatsache schleuderte sie mir – ich möchte sagen – haßerfüllt entgegen. Na wunderbar, bewußt gezeugt und gleichzeitig unerwünscht. Was für ein Schlamassel. Und es von der Mutter brutal ins Gesicht geschleudert zu bekommen, das ist fast schon pervers. Als Sahnehäubchen obendrauf servierte sie mir die Botschaft, daß der Papa sich natürlich einen Jungen gewünscht hatte – einen Peter. Ja, ja, ich hatte schon einen Namen, bevor ich auf der Welt war. Ich war also von Anfang an ein Flop. Sinnigerweise nannte mich der Papa dann an seinen „Goldblättchen-Tagen“ seinen kleinen Mausepeter. Das war als Zärtlichkeit zu verstehen – ha, ha.

Brutal und mit Nachdruck warf Mutti mir während einer ihrer Wutausbrüche entgegen, daß ich keine Geschwister habe, weil ihr ein solches Miststück langt.

Eine interessante Sichtweise zu dem Thema Junge oder Mädchen fand ich in dem Buch „Die Stimme des Zwielichts – von Ulli Olvedi.“ Ich zitiere: Sie wollte den Vater, als sie Dich zur Mutter wählte. Das steht in den alten Schriften. Nach dem Tod, im Zwischenzustand, wird man ein Bardo-Wesen. Will dieses Wesen unbedingt wieder geboren werden, fühlt es sich von seinen zukünftigen Eltern angezogen, wenn sie miteinander schlafen. Es wird ein Mädchen, wenn es den zukünftigen Vater begehrt und eifersüchtig auf die Mutter ist. Wenn es die zukünftige Mutter begehrt, wird es ein Junge.

Bardo-Wesen

Die nicht-körperliche „Person“ nach dem Tod im „Zwischenzustand“ (Bardo) zwischen Tod und Widergeburt.

Die Diskrepanzen zwischen Mutti und mir hielten an, bis ich (endlich!) verheiratet war. Da machte sie eine Kehrtwende um 180°. Aus der Zetermutter wurde nun fast eine Klammermutter. Mit ihrem Sinneswandel hatte ich meine Probleme. Meine jahrelang verschmähten Gefühle waren schon zu lange eingefroren. Ich konnte das Friedensangebot akzeptieren. Ich schaffte es, ihr ohne Groll zu begegnen. Wärme aber hatte ich keine mehr. Die Wunde war zu tief.

Die Oma und ihre Enkel

Ihren beiden Enkeln war sie von Anfang an eine liebevolle, fürsorgliche und stets verständnisvolle Oma. Die Oma verwöhnte die Kinder. Die Kinder vergötterten ihre Oma. Ich gehörte nicht in dieses Team. Ihr schien völlig zu entgehen, daß es ohne meine „Sexsünde“ die beiden gar nicht gäbe. Und so ist es wohl auch überflüssig zu erwähnen, daß meine Söhne absolut nicht begriffen, warum ich ein so strapaziertes Verhältnis zu meiner Mutter hatte. Sie kannten nur ihre warmherzige Oma. Meine herbe, unterkühlte Mutter kannten sie nicht. Ich sage es mal frei nach Goethe: „Zwei Seelen wohnten ach in ihrer Brust.“

An Muttis Sterbebett hatte ich völlig unvorbereitet das Bedürfnis, Frieden mit ihr zu schließen. Das war für mich sehr überraschend. Wahrscheinlich dauerte mich das Häufchen Elend, das da vor mir lag.

Mütterliche Glanzleistungen

Sie sieht was sie will

Ich war 10 Jahre alt. Es war während einer Zeit, von Muttis Wutphasen, als ich eine Fazialisparese bekam. Das wirkte sich rein optisch folgendermaßen aus: Meine rechte Gesichtshälfte war steif, die Mundwinkel hingen schlaff herab, und die Augen blieben auch während des Schlafens offen.

Eines Morgens wurde ich durch zwei heftige Ohrfeigen aus dem Schlaf gerissen. Noch völlig orientierungslos hörte ich Mutti mit hochrotem Kopf brüllen: „Antworte mir gefälligst, wenn ich dich etwas frage.“ Hallo!! Ich hatte fest geschlafen. Der „lieben“ Mutter waren die Auswirkungen meiner Krankheit seit Wochen entgangen.

Das Strafgericht

Oh ja, die liebe Mutti.

Ich erinnere mich an die Geschichte mit dem Teppichklopfer.

Er wurde früher sehr gerne auch zweckentfremdet zum „Ausklopfen“ ungezogener Gören verwendet. Die heutige Jugend weiß wahrscheinlich gar nicht, wovon ich rede.

Hier nun meine schlagkräftige Begegnung damit.

Ich hatte all meine Aufgaben im Haushalt und für die Schule erledigt. Notgedrungen bekam ich Ausgang bis 22:00 Uhr. Ich war zu der Zeit 15 Jahre alt. Bevor die Tür hinter mir zufiel, hörte ich noch: „Wehe, du bist nicht pünktlich.“

Meine Clique wartete vor der Haustür auf mich. Und dort blieben wir auch – wegen meines Zeitlimits.

Wir quatschten über Gott und die Welt. Wie immer nahmen wir uns sehr wichtig. Wir vergaßen Zeit und Raum.

Es war 22:05 Uhr, als Mutti, einer Furie gleich, mit hocherhobenem Teppichklopfer auf mich zustürmte. Ihr Gesicht war wutverzerrt. Sie war die „Rachegöttin“ in Person. Immer und immer wieder sauste der Klopfer auf mich nieder. Alle waren wie gelähmt. Niemand lachte über mich. Meine Freunde verfolgten das Geschehen mit Entsetzen. Mit dieser Aktion hat sich Mutti bei den Jugendlichen unwiderruflich ins Abseits katapultiert. Einige Erwachsene, die vorbeikamen, schüttelten mit dem Kopf. Eingegriffen hat niemand. Völlig benommen und beschämt ließ ich das Donnerwetter über mich ergehen. Sehr zufrieden wirkend schubste Mutti mich schließlich durch die Haustür. Die Vorstellung war beendet.

Die Giftspritze

In meiner Freundes-Clique hatte es sich so eingebürgert, daß wir uns zur Begrüßung auf die Wange küßten – was wir so küssen nannten. Ein Schmatzer – eine Umarmung.

Eines Tages wurde Mutti „Zeugin“ solch eines Rituals. Sofort klingelten ihre Alarmglocken.

Am Abend – ich wollte gerade das Nachthemd überstreifen – stürzte die Mutter regelrecht auf mich zu – riß mir das Hemd aus den Händen – und piekte mit spitzem Zeigefinger in meine Brust. Ihre Augen sprühten zornige Blitze. Und dann quoll das Gift aus ihrem Mund mit den Worten: „Noch nicht mal erwachsen und schon schlaff und abgegrabscht.“

Oh, Mann, Mutti.

Wieder einmal war ihre schmutzige Fantasie mit ihr durchgegangen. Wieder einmal mehr hat ihr Mißtrauen Porzellan zerdeppert und aus einem harmlosen Schmatzer ein sittenwidriges Verhalten erdichtet. Ihre Worte waren Gift pur, das sich in meinem Kopf festsetzte.

Oft stand ich verzweifelt vor dem Spiegel. Ich begriff nicht, daß mein Busen zu groß war, um stramm und prall meine Figur zu zieren. Durch mein Denken wälzte sich ständig das Wort „schlaff“. Seit jenem Abend hatte ich Hemmungen wegen meines Körpers.