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Der Autor

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Henning Börm (* 1974) studierte bis 2002 Geschichte und Deutsch an der Universität Kiel, wo er 2006 in Alter Geschichte promoviert wurde. Nach Tätigkeiten an den Universitäten Münster und Kiel lehrt er seit 2008 an der Universität Konstanz. 2017 erfolgte die Habilitation, an die sich Gastprofessuren in Berlin und Tübingen anschlossen. Seit 2018 ist er einer der Leiter eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Forschernetzwerks zu inneren Kriegen im Altertum. Seine Arbeiten befassen sich vor allem mit dem hellenistischen Griechenland, mit Kulturkontakten zwischen den antiken Iran und der Mittelmeerwelt, mit antiker Geschichtsschreibung sowie mit dem römischen Kaisertum in Prinzipat und Spätantike.

Henning Börm

Westrom

Von Honorius bis Justinian

2., erweiterte und aktualisierte Auflage

Verlag W. Kohlhammer

Meiner Familie

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Umschlagbild: Mosaikdarstellung Kaiser Justinians, Bischof Maximians und weiterer Personen in der Kapelle San Vitale in Ravenna. Bildrecht: Picture-Alliance.

 

2., erweiterte und aktualisierte Auflage 2018

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

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ISBN 978-3-17-033216-4

E-Book-Formate:

pdf:        ISBN 978-3-17-033217-1

epub:     ISBN 978-3-17-033218-8

mobi:     ISBN 978-3-17-033219-5

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Inhalt

 

 

  1. 1 Einleitung
  2. 2 Die Quellen
  3. 3 Voraussetzungen: Der römische Westen bis 395
  4. 3.1 Diokletian und die Tetrarchie
  5. 3.2 Die Konstantinische Dynastie
  6. 3.3 Die Valentinianische Dynastie
  7. 3.4 Theodosius I.
  8. 3.5 Das Römische Reich am Ende des 4. Jahrhunderts
  9. 4 Stilicho, der Kaiserhof und die Reichseinheit
  10. 4.1 Stilicho und Konstantinopel
  11. 4.2 Stilicho als Regent
  12. 4.3 Stilichos Sturz
  13. 4.4 Alarich und die Plünderung Roms 410
  14. 5 Konsolidierung und Machtkämpfe
  15. 5.1 Bürgerkrieg
  16. 5.2 Flavius Constantius als Herr des Westens
  17. 5.3 Machtvakuum
  18. 5.4 Bonifatius und die Vandalen
  19. 6 Im Schatten des Heermeisters
  20. 6.1 Abfallbewegungen und Reaktionen
  21. 6.2 Geiserich
  22. 6.3 Attila und die Hunnen
  23. 6.4 Der Mord an Aëtius und das Ende der Dynastie
  24. 7 Die Agonie des Kaisertums
  25. 7.1 Petronius Maximus
  26. 7.2 Avitus
  27. 7.3 Majorian und Ricimer
  28. 7.4 Anthemius
  29. 7.5 Die letzten Kaiser
  30. 7.6 Völkerwanderung oder Bürgerkrieg?
  31. 8 Erben des Imperiums: 476 bis 568
  32. 8.1 Odoaker und der Kaiser
  33. 8.2 Nordafrika, Spanien und Gallien
  34. 8.3 Theoderich und der Kaiser
  35. 8.4 Justinian und das Ende Westroms
  36. 9 Das Kaisertum und der Hof
  37. 9.1 Der Kaiser
  38. 9.2 Der Hof
  39. 10 Die Verwaltung des Reiches
  40. 10.1 Die Verwaltungsstruktur
  41. 10.2 Charakteristika und Probleme
  42. 11 Die weströmische Armee
  43. 11.1 Aufgaben, Aufbau und Versorgung
  44. 11.2 Die »Barbarisierung« der spätrömischen Armee
  45. 11.3 Ethnogenese
  46. 12 Zwischen Krise, Kontinuität und Wandel: Die Wirtschaft
  47. 12.1 Die Stadt in der Spätantike
  48. 12.2 Die Landwirtschaft
  49. 12.3 Gewerbe und Handel
  50. 13 Religiöse Entwicklungen
  51. 13.1 Christen und Nichtchristen
  52. 13.2 Konflikte und Identitäten
  53. 13.3 Die Entwicklung des Papsttums
  54. 14 Ausblick
  55. 14.1 West und Ost
  56. 14.2 Das weströmische Kaisertum nach 568
  57. 15 Zeittafel
  58. 16 Glossar
  59. 17 Ausgewählte Literatur
  60. 18 Abbildungsverzeichnis
  61. 19 Personen- und Sachregister
  62. 19.1 Personenindex
  63. 19.2 Sachindex

1          Einleitung

 

 

 

Dieses Buch hat die Geschichte des römischen Westens zwischen dem 3. und 6. Jahrhundert nach Christus zum Gegenstand, jene Phase also, in der die Welt des europäischen Mittelalters ihre Anfänge erlebte und die Zeit des antiken Imperium Romanum an ihr Ende gelangte. Wenngleich beide Aspekte untrennbar miteinander verknüpft sind, wird es auf den folgenden Seiten eher um Letzteres gehen.

Selbstverständlich kann dabei nur eine Skizze geboten werden, und da ein solches Vorhaben eine bewusste Schwerpunktsetzung unumgänglich macht, soll vor allem die politische Geschichte im Mittelpunkt der Darstellung stehen. Der kulturgeschichtliche Ansatz, der insbesondere dank der Arbeiten Peter BROWNS lange Zeit die Forschung zur Spätantike (284 bis 641) bestimmt hat und auch weiterhin nachhaltig prägt,1 wird dagegen ebenso wie auch die Sozialgeschichte notwendig in den Hintergrund rücken müssen. Der knappe systematische Abriss, den die letzten Kapitel bieten, ist dabei vornehmlich dazu gedacht, jene Strukturen deutlicher hervorzuheben, ohne die die politische Geschichte des römischen Westens schwer verständlich bliebe. Unvermeidlich wird nicht jeder Leser mit der dem begrenzten Raum geschuldeten Auswahl einverstanden sein.

Die Forschungsliteratur hat vor allem seit den 1980er Jahren einen unmöglich zu überblickenden Umfang angenommen. Historiker, Philologen und Archäologen auf der ganzen Welt beschäftigen sich intensiv mit der Spätantike. Gerade in den letzten Jahren ist die Diskussion darüber, ob das Weströmische Reich »gefallen« oder »transformiert« worden sei, neu entbrannt, und auch über die Gewichtung innen- und außenpolitischer Faktoren herrscht keineswegs Einigkeit.2 Es bleibt hier daher nur die Möglichkeit, auf solche modernen Arbeiten zu verweisen, die entweder besonders anregend gewirkt haben oder einen guten Ausgangspunkt für weitere, vertiefende Studien bilden.

Doch damit nicht genug der Hindernisse. Denn was ist eigentlich gemeint, wenn hier von »Westrom« oder vom »Weströmischen Reich« die Rede ist? Sowohl die zeitliche als auch die räumliche Eingrenzung des Gegenstandes fällt schwerer, als es zunächst den Anschein haben mag. Das ist vor allem dem Umstand geschuldet, dass die antiken Quellen in aller Regel bis zuletzt von einem einzigen Imperium Romanum ausgehen, das zwar selbstverständlich über einen Osten und einen Westen (pars Occidentis) verfügte, aber eben doch im Zweifelsfall ein ungeteiltes Ganzes darstellte. Auch wenn Identitäten, wie sich zeigen wird, mitunter schillernd und schwer bestimmbar waren, wäre es doch, soweit man sieht, keinem Zeitgenossen der Ereignisse eingefallen, sich selbst als »Weströmer« zu bezeichnen. Allenfalls sprach man den Bewohnern des Ostens mitunter ihr Römertum ab und bezeichnete sie als »Griechen«, etwas, das diesen selbst kaum in den Sinn gekommen wäre.3

Die Zeugnisse, die einer Bezeichnung wie »Weströmisches Reich« am nächsten kommen, sind selten und spät; am prominentesten ist in diesem Zusammenhang wohl der Chronist Marcellinus Comes, der um 520 in einem wirkmächtigen Satz seines Werkes vom »Ende« des Hesperium Romanae gentis imperium, also des »westlichen Reiches des römischen Volkes«, im Jahr 476 spricht.4

Die geographische Eingrenzung wird dadurch noch weiter erschwert, dass die Gefahr besteht, die Bedeutung sichtbarer, oft militärisch überwachter Grenzen (limites) zu überschätzen. Bekanntlich waren viele Römer der Ansicht, ihnen sei ein imperium sine fine verliehen worden;5 und auch wenn man zwischen diesem Anspruch und der Realität in aller Regel sehr wohl zu unterscheiden wusste, bleibt es dennoch richtig, dass die Grenzen römischen Einflusses und kaiserlicher Macht oft viel schwerer bestimmbar waren, als man angesichts historischer Atlanten oder der Ruinen spätantiker Grenzkastelle meinen könnte. Dies gilt auch für die Zuschreibung ethnischer Identitäten, wenngleich im Folgenden die entsprechenden Bezeichnungen, die sich in den Quellen finden, bis zu einem gewissen Grad übernommen werden sollen. Wie problematisch Begriffe wie »Römer«, »Barbar«, »Gote« oder »Vandale« sind, hat die Forschung der letzten Jahrzehnte klar herausgestellt.6

Als Grundlage für die folgenden Ausführungen sei der geographische Rahmen dennoch wie folgt bestimmt: Westrom umfasste Britannien bis zum Hadrianswall, Gallien einschließlich der beiden »germanischen« Provinzen, Hispanien mit den Balearen, die Provinzen an der Oberen Donau, also insbesondere Raetia, Noricum und Pannonia, sowie das westliche Nordafrika und natürlich Italien mit Korsika, Sardinien und Sizilien. Das Illyricum war zwischen Ost und West, zumindest anfänglich, umstritten. Man könnte allerdings auch einen anderen Ansatz wählen, der die Fluktuation und Flüchtigkeit der Verhältnisse vor allem im 5. Jahrhundert stärker betont: Zu Westrom gehörten demnach jene Gebiete, die der tatsächlichen, wirksamen Kontrolle des in Italien residierenden Hofes unterstanden.

Kaum weniger problematisch ist die Bestimmung des zeitlichen Rahmens. Traditionell wählt man zwei Daten als Epochengrenzen, nämlich zum einen das Jahr 395, als nach dem Tod des Kaisers Theodosius I. sein junger Sohn Honorius die Herrschaft über den römischen Westen übernahm, und zum anderen das Jahr 476, als der Heerführer Odoaker den Romulus Augustulus absetzte. Dieser gilt gemeinhin als der letzte weströmische Kaiser, denn Odoaker verzichtete demonstrativ darauf, für ihn einen Nachfolger zu bestimmen. Vielmehr schickte er den kaiserlichen Ornat nach Konstantinopel, unterstellte sich dem dortigen Augustus und scheint zudem erklärt zu haben, der Westen benötige keinen eigenen Kaiser mehr.7 Dessen Position sollte damit also abgeschafft werden.8

Beide Daten, sowohl 395 als auch 476, sind als mögliche Epochengrenzen durchaus diskussionswürdig, und gegen beide kann man auch gewichtige Einwände vorbringen. Wenn im Folgenden die Zeit zwischen Honorius und Justinian, der 554 einen Schlussstrich unter der weströmischen Geschichte zog, in den Mittelpunkt gestellt wird, obwohl der Darstellung ein Überblick über die Vorgeschichte des Jahres 395 vorangestellt werden soll, so ist dies letztlich vor allem dem roten Faden geschuldet, der sich durch die Darstellung ziehen soll.

Dieses Leitthema, das den Stoff ordnen und eine Interpretation der oft chaotisch anmutenden Ereignisse ermöglichen soll, ist das letztlich vergebliche Ringen der weströmischen Reichszentrale um Handlungsspielräume und um die Kontrolle des Imperiums. Es ist eine Geschichte davon, wie dem Zentrum im Zuge von endlosen internen Machtkämpfen und Bürgerkriegen9 die Herrschaft über die Peripherie entglitt, und wie schließlich andere Mächte an seine Stelle traten. Auch die Geschichte der »barbarischen« gentes bzw. Verbände wird in diesen Kontext eingeordnet werden. Denn dass äußerer Druck auf das Reich eine erhebliche, wenngleich erstaunlich schwer bestimmbare und wohl oft überschätzte Rolle spielte, soll nicht bestritten werden. Leider wird es sich nicht vermeiden lassen, dabei recht viele handelnde Personen einzuführen, denn die Zahl derer, die prominent an den Ereignissen beteiligt waren, ist groß.

Jeder Historiker erzählt seine Geschichte bis zu einem gewissen Grad notwendig stets vom Ende her und konstruiert Kausalitäten. Was folgt, ist dennoch keine Dekadenzerzählung, keine Geschichte vom unausweichlichen Niedergang des Römischen Reiches. Vielmehr sollten zwei Fragen im Hintergrund stets mitgedacht werden: Welche Mechanismen und Strukturen lassen sich als die Entwicklung mitprägende Faktoren benennen, die ihrerseits überhaupt erst die Voraussetzung dafür bildeten, dass zufällige Ereignisse weitreichende Folgen haben konnten? Und ab welchem Zeitpunkt war der Machtverlust der kaiserlichen Zentrale des Westens wirklich irreversibel geworden?

Die Annahme, dass dieser langwierige Prozess im 4. Jahrhundert einsetzte – wobei entscheidende Voraussetzungen bereits zuvor geschaffen worden waren – und erst um die Mitte des 6. Jahrhunderts endgültig unumkehrbar geworden war, bestimmt den Rahmen der folgenden Darstellung.

1     Verwiesen sei hier nur auf die grundlegende Arbeit Brown 2003 sowie zuletzt Brown 2012.

2     Vgl. Rutenburg/Eckstein 2007; Ando 2009.

3     Die Bewohner auch des griechischen Ostens nannten sich selbst stets »Römer« (Ῥωμαῖοι). Als »Hellenen« (Ἕλληνες) bezeichnete man in der Spätantike die Anhänger der alten, nichtchristlichen Religion. »Byzantiner« und im Grunde auch »Rhomäer« sind moderne Begriffe.

4     Marc. Com. ad ann. 476.

5     Verg. Aen. 1,278 f.

6     Vgl. Geary 2002; von Rummel 2013; Moorhead 2013: 14–27. Vgl. zum antiken Barbarenbegriff Brather 2004: 117–138; Gillett 2009.

7     Malch. Frg. 14 (Blockley).

8     Vgl. Börm 2008a: 48–52.

9     Es ist der Forschung bislang nicht gelungen, sich auf eine Definition von »Bürgerkrieg« zu verständigen; vgl. Kalyvas 2007.

2          Die Quellen

 

 

 

Überblickt man die Quellenlage zur weströmischen Geschichte, so macht sich rasch Ernüchterung breit.10 Gerade für das 5. Jahrhundert, in dem sich entscheidende Entwicklungen im Imperium vollzogen haben müssen, ist die literarische Überlieferung mehr als lückenhaft. Dieser Umstand erschwert insbesondere die Rekonstruktion der politischen Geschichte erheblich. Zwar verfassten damals Autoren wie Sulpicius Alexander oder Renatus Profuturus Frigeridus lateinische Geschichtswerke in der Tradition der Klassiker dieses Genres, doch während das bedeutende, gegen 400 verfasste Werk des Ammianus Marcellinus aufgrund glücklicher Zufälle immerhin zur Hälfte erhalten geblieben ist, sind die Werke der westlichen Historiographen des 5. Jahrhunderts fast spurlos verloren gegangen. Spätere Generationen interessierten sich offenbar nicht mehr für sie. Allerdings scheinen sie Gregor von Tours noch vorgelegen zu haben, der im späten 6. Jahrhundert seine Historien verfasste, die teils höchst wertvolle Informationen liefern, und der aus diesen Werken zitiert.11

Erhalten geblieben sind immerhin die Historiae adversum paganos, die »Geschichten wider die Heiden« des Orosius, die von der Intention bestimmt sind, die naheliegende Vermutung, seit der Abkehr von den alten Kulten sei es mit dem Römischen Reich abwärts gegangen, zu entkräften: Zum einen sei Rom bereits vor der Hinwendung zum Christentum vielfach von Katastrophen heimgesucht worden, zum anderen seien die unerfreulichen Ereignisse, die das Imperium nach der Konstantinischen Wende 312 ereilt hätten, in Wahrheit halb so schlimm gewesen. Ungeachtet dieser durchsichtigen Wirkabsicht, die bei der Übernahme seiner Angaben zur steten Vorsicht mahnt, enthält das Werk des Orosius wichtige Informationen.12 Nur reicht es leider lediglich bis zum Jahr 417.

Vor allem zwei Quellengruppen sind es, die diese Lücke – in unvollkommener Weise – schließen helfen. Zunächst sind dies lateinische Chroniken, die zumeist von Klerikern verfasst wurden.13 Diese bemühten sich im Unterschied zu den Geschichtsschreibern in der Regel nicht um eine kunstvolle Gestaltung des Stoffes oder um eine Erkundung der Hintergründe und kausalen Zusammenhänge, sondern listeten Einzelereignisse mit der zugehörigen Jahreszahl auf. Diese Datierung ist allerdings häufig ungenau oder unzuverlässig. Erst in jüngerer Zeit hat die Forschung stärker betont, dass die Autoren ihr Material oft dennoch durchaus bewusst auswählten und anordneten. Unter den zeitgenössischen Chronisten des römischen Westens ragen im 5. Jahrhundert vor allem Prosper Tiro, ein Mitarbeiter des Bischofs von Rom, und Hydatius von Aquae Flaviae (Chaves), selbst Bischof einer entlegenen civitas im Nordwesten der Iberischen Halbinsel, hervor. Ihre Angaben und Wertungen weichen teils erheblich voneinander ab.14 Hinzu kommen zwei anonyme gallische Chroniken sowie der bereits erwähnte oströmische Hofbeamte Marcellinus Comes, der um 520 ein Werk verfasste, das Ereignisse ab 379 aufzählte und später bis 548 fortgesetzt wurde.

Überhaupt ist es die Überlieferung aus dem Osten des Imperium Romanum, die für die Rekonstruktion der weströmischen Geschichte eine oftmals zentrale Rolle spielt. An erster Stelle sind hier die Werke der griechischen Profanhistoriker zu nennen. Sie stellen die zweite wichtige Quellengruppe zur politischen Geschichte Westroms dar. Die Verfasser dieser Werke waren oftmals ehemalige kaiserliche Amtsträger, die sich nach dem Ende ihrer Laufbahn von der Abfassung zeitgeschichtlicher Darstellungen in der Tradition der großen Vorbilder – namentlich Thukydides und Polybios – offensichtlich einen Zugewinn an Sozialprestige versprachen. Ihre Texte waren der formalen Nachahmung der Klassiker so sehr verpflichtet, dass sie oft sogar jede Anspielung auf das Christentum vermieden, ohne dass ihre Verfasser deshalb notwendig Nichtchristen gewesen sein müssen. Die Werke von Geschichtsschreibern wie Eunapius, Olympiodor, Priscus, Malchus, Eustathius und Candidus erreichen vielfach ein hohes Niveau;15 leider sind sie nur in Fragmenten, also Zusammenfassungen und Zitaten bei späteren Autoren, erhalten.16 Nicht immer ist ersichtlich, ob diese den Inhalt ihrer Vorlagen richtig verstanden und korrekt wiedergegeben haben. All diesen Geschichtsschreibern scheint aber eine gewisse kritische Distanz zum Kaisertum (oder zumindest eine entsprechende Pose) gemein gewesen zu sein. Zu bedenken ist zudem, dass sie, auch wenn sie oft dem römischen Imperium gedient hatten, den lateinischen Westen letztlich mit griechischen Augen betrachteten.

Die beiden für Westrom wichtigsten unter diesen Autoren sind zweifellos Olympiodor von Theben und Priscus von Panion. Ersterer verfasste sein Werk irgendwann zwischen 425, dem Jahr, mit dem sein Bericht geendet zu haben scheint, und 450, dem Jahr, in dem der Ostkaiser Theodosius II. starb. Olympiodor stammte aus Ägypten und scheint in kaiserlichen Diensten als Gesandter tätig gewesen zu sein. Obwohl sich unter den Fragmenten seiner Historien auch Berichte über Reisen nach Thrakien und Afrika finden, beschäftigten sich die meisten erhaltenen Abschnitte mit dem Westen des Imperiums. Olympiodor beherrschte offenkundig Latein und scheint zumindest Italien auch selbst bereist zu haben.17

Der wohl begabteste griechische Geschichtsschreiber des 5. Jahrhunderts war Priscus, der um 475 ein umfangreiches Werk verfasste, das sich nach Ausweis der Fragmente vornehmlich mit den Kontakten zwischen den »Hunnen« und den beiden Hälften des Imperium Romanum beschäftigt zu haben scheint. Fortgesetzt wurde das Werk mutmaßlich von Malchus von Philadelphia, der insbesondere über die Beziehungen zwischen dem Ostkaiser und den Goten berichtet. Zusätzliche Nachrichten zur Geschichte Westroms lassen sich daneben auch den drei griechischen Kirchenhistorikern Sozomenos, Sokrates und Theodoret entnehmen, deren Werke vollständig überliefert sind.18

Die Reihe der klassizistischen griechischen Profanhistoriker setzte sich auch im 6. Jahrhundert fort. Anders als im Fall seiner Vorgänger blieb dabei die zu Beginn des Jahrhunderts verfasste »Neue Geschichte« des Zosimus zum großen Teil erhalten; sie schildert die Ereignisse bis 410 aus dezidiert nichtchristlicher Perspektive und enthält neben wichtigen Informationen auch zahlreiche Irrtümer und Verzerrungen.19 Zur Gänze erhalten ist sodann das Werk des wohl bedeutendsten griechischen Geschichtsschreibers der Spätantike, Prokop von Caesarea.20 Seine um 550 entstandenen Historien schildern in acht Büchern die Kriege Kaiser Justinians in Ost und West und enthalten auch einige – oft anekdotisch gehaltene – Nachrichten über die Geschichte des 5. Jahrhunderts. Etwa um dieselbe Zeit verfasste Jordanes in Konstantinopel seine lateinische »Gotengeschichte«, die Getica; wohl etwas früher entstand in Italien der als Anonymus Valesianus II bekannte kurze Text über die Zeit Odoakers und Theoderichs. Fortgesetzt wurden Prokops Historien von Agathias (um 580); an diesen schloss um 600 wiederum wahrscheinlich Menander Protektor an. Zu einem unklaren Zeitpunkt im 6. oder frühen 7. Jahrhundert entstand zudem das Werk des Johannes von Antiochia,21 und als letzter antiker Geschichtsschreiber gilt schließlich gemeinhin Theophylakt, der um 630 ein Werk über die Herrschaft des Kaisers Mauricius (582–602) verfasste.

Neben die lückenhafte und vielfach unzuverlässige historiographische Überlieferung treten literarische Zeugnisse mit explizit christlicher Wirkabsicht. Zu nennen sind hier Autoren wie der römische Bischof Leo »der Große«, Augustinus von Hippo oder Hieronymus. Wichtig sind zudem auch lateinische Heiligenviten, die nicht selten relevante historische Informationen enthalten. Ergänzt werden diese Quellen durch ebenfalls dezidiert christlich geprägte Werke ganz unterschiedlichen Charakters aus der Feder von Männern wie Paulinus von Pella, Salvian von Marseille, Victor von Vita oder Orientius.22 Etwas aus dieser Reihe fällt der gallorömische Senator Sidonius Apollinaris, der höchste Ämter im weströmischen Staat bekleidete, bevor er sein Leben als Bischof von Clermont-Ferrand beschloss. Insbesondere seine in stilbewusstem Latein verfassten Briefe, aber auch seine carmina bieten Informationen von teils unschätzbarem Wert.23 Zwei Generationen älter war Paulinus von Nola, der ebenfalls ein Bischof mit senatorischem Hintergrund war.24

Eine wichtige Quelle für die spätantike Herrscherideologie ist überdies die Panegyrik. Hier sind vor allem Claudian, der am Hof des Honorius wirkte, Ennodius, der den Ostgoten Theoderich pries, sowie Priscian, Prokop von Gaza und Coripp zu nennen, deren Lobreden allerdings oströmischen Kaisern gelten. All diesen Texten ist gemein, dass sie kein historisches Narrativ bieten, sondern überwiegend ergänzende Informationen, die allerdings vielfach Rückschlüsse auf die Zeitumstände erlauben.

Eine bedeutende Quellengruppe zur spätrömischen Geschichte sind zudem die kaiserlichen Gesetze; eine Auswahl von ihnen hat sich in Novellensammlungen sowie insbesondere im Codex Theodosianus von 438 und im Codex Iustinianus von 534 erhalten. Neben dem Umstand, dass nur ein Teil der kaiserlichen Erlasse überliefert ist, erschwert auch die Neigung der Kompilatoren, die Gesetzestexte ohne den ursprünglichen Kontext aufzunehmen, die historische Auswertung. Unklar ist zum Beispiel oft, von wem die entsprechenden Initiativen (suggestiones) ausgingen.25 Erwähnung verdienen an dieser Stelle schließlich auch noch die Notitia Dignitatum, eine Art »Staatshandbuch«, das für den Westen zuletzt um 420 aktualisiert wurde, sowie die Variae Cassiodors, der den ostgotischen reges in Italien diente.26

Inschriften gehören zu den wichtigsten Quellen der Alten Geschichte. Doch ausgerechnet im späten 4. Jahrhundert nehmen Zahl und Qualität der weltliche Dinge betreffenden lateinischen Inschriften schlagartig ab; aus letztlich unklaren Gründen, denn im Osten wurde die antike epigraphische Tradition bis in justinianische Zeit fortgeführt. Grundsätzlich gilt dabei, dass die erhaltenen Inschriften stets nur einen zufälligen Ausschnitt darstellen. Obwohl ihre Bedeutung für die weströmische Geschichte des 5. und 6. Jahrhunderts vergleichsweise gering ist, gibt es nicht zuletzt aus Italien und Africa einige durchaus wichtige epigraphische Quellen.27

Auch der numismatische Befund ist für das 5. und 6. Jahrhundert weniger aussagekräftig als für die vorangegangene Zeit. Die Qualität der römischen Münzen verringerte sich alles in allem stark, ihr Bildprogramm nahm jetzt anders als zuvor kaum noch Bezug auf konkrete Ereignisse. Dennoch lassen sich ihnen einige interessante Informationen entnehmen, gerade was die Reichweite der Zentralgewalt betrifft: Wer das Bild eines Kaisers auf seine Münzen, vor allem auf die Goldmünzen (solidi), setzte, der ordnete sich zumindest äußerlich seiner Autorität unter. Überdies sind Hortfunde interessant, da sie oftmals ungefähr datierbare Hinweise auf unruhige Zeiten zulassen, in denen Menschen es für geraten hielten, ihr Vermögen zu verstecken. Und mitunter lassen Schatzfunde, etwa als Grabbeigaben, sogar Rückschlüsse auf politische Beziehungen zu – wenn sich etwa im Grab eines Militärführers in Gallien auffallend viele frischgeprägte oströmische Goldmünzen finden, kann das ein Hinweis auf Subsidienzahlungen durch den Kaiser sein, und mithin auf ein entsprechendes Abkommen (foedus).

Die Schatzfunde schließlich bilden eine gute Überleitung zur letzten wichtigen Quellengruppe: Nicht zuletzt aufgrund der zahlreichen Probleme, die mit der schriftlichen Überlieferung zu Westrom verbunden sind, ist in den letzten Jahren die Bedeutung der Archäologie für die Erforschung der Spätantike außerordentlich stark gestiegen.28 Gerade für die Wirtschaftsgeschichte, aber auch für viele andere Bereiche hat sie wichtige Erkenntnisgewinne ermöglicht und das Bild, das die schriftlichen Quellen vermitteln, in wesentlichen Punkten ergänzt, korrigiert oder zumindest in Frage gestellt.29 Dabei ist allerdings stets zu bedenken, dass nicht nur Texte, sondern auch materielle Hinterlassenschaften nicht etwa für sich selbst sprechen, sondern zwingend der Interpretation bedürfen. Gerade in Hinblick auf das, was man traditionell als die »Völkerwanderung« oder die »barbarischen Invasionen« bezeichnet,30 herrscht vielfach durchaus Uneinigkeit darüber, welcher Zugang methodisch zulässig ist.31 Insgesamt gilt, dass es bislang nur unvollkommen gelungen ist, das Bild, das die literarischen Quellen vermitteln, mit dem archäologischen Befund in Einklang zu bringen. Es ist aber zu hoffen, dass die Forschung der nächsten Jahre hier wesentliche Fortschritte erzielen wird.32

10  Gute allgemeine Überblicke zu den Quellen zur Spätantike bieten Demandt 2007: 1–43 und Mitchell 2015: 15–50. Vgl. zur Geschichtsschreibung auch Whitby 2011.

11  Vgl. Becher 2011: 14–21.

12  Vgl. zu Orosius Rohrbacher 2002: 135–149 (mit weiterer Literatur); Cobet 2009; van Nuffelen 2012 (grundlegend).

13  Vgl. Burgess/Kulikowski 2013.

14  Vgl. Muhlberger 1990; Börm 2014.

15  Einen informativen, aber eigenwilligen Überblick zu diesen Geschichtsschreibern bietet Treadgold 2007: 79–107. Vgl. daneben Rohrbacher 2002: 64–92.

16  Nicht in allen Punkten unumstritten, aber nach wie vor grundlegend ist die Sammlung, Edition und englische Übersetzung dieser Autoren durch Roger Blockley: The Fragmentary Classicising Historians of the Later Roman Empire, Leeds 1981/83.

17  Vgl. Matthews 1970.

18  Vgl. Leppin 2003b.

19  Vgl. Paschoud 2006 (grundlegend).

20  Vgl. Cameron 1985. Eine lesenswerte, aber teils sehr problematische Analyse bietet Kaldellis 2004.

21  Eine Entstehung im 6. Jahrhundert gilt heute als wahrscheinlicher; vgl. Mariev 2006. Abgeschlossen ist die Diskussion jedoch nicht.

22  Vgl. Fuhrmann 1998: 282–291.

23  Vgl. zu Sidonius Harries 1994.

24  Vgl. Frend 1969.

25  Einen guten Überblick über die (umfangreiche) neuere Forschung zum Codex Theodosianus verschafft Aubert 2009; erhellend ist auch Matthews 2000. Zum Codex Iustinianus vgl. Leppin 2006.

26  Vgl. Brennan 1998; Kakridi 2005.

27  Vgl. Trout 2009.

28  Vgl. speziell für den römischen Westen Cleary 2013.

29  Vgl. Swift 2000; Christie 2011.

30  Vgl. Kulikowski 2013.

31  Sehr gegensätzliche Positionen vertreten Brather 2000 und Bierbrauer 2004.

32  Vgl. Brather 2004; Brandt 2009; Wickham 2009: 232–251.

3          Voraussetzungen: Der römische Westen bis 395

 

 

 

In der Mitte des zweiten nachchristlichen Jahrhunderts hatte das Imperium Romanum im Westen unter Kaiser Antoninus Pius (138–161) seine größte territoriale Ausdehnung erreicht. Ungeachtet mancher struktureller Schwächen waren die Provinzen in Gallien, Hispanien und Britannien, weitgehend ungestört durch kriegerische Ereignisse, damals so wohlhabend wie nie zuvor. Latein hatte sich hier, anders als im griechisch geprägten Osten des Reiches, längst als die unbestrittene lingua franca durchgesetzt, auch wenn andere, zumal keltische, Sprachen vielerorts fortbestanden. Kaiser Caracalla verlieh 212 der großen Mehrheit der freien Reichsbevölkerung das römische Bürgerrecht. Zahlreiche Elemente mediterraner Lebensweise hatten weite Verbreitung gefunden. Man trank Wein, setzte Inschriften, errichtete Basiliken, Foren, Bäder, Aquädukte und Theater.33

Bereits unter Marcus Aurelius (161–180) wurden allerdings innen- und außenpolitische Probleme sichtbar, die sich in der Zeit der severischen Kaiser (193–235) spürbar verschärften.34 An den Reichsgrenzen an Rhein und Donau baute sich angesichts sich neu formierender »germanischer Großstämme« erheblicher Druck auf, dem Rom zunächst nur eingeschränkt gewachsen war, während es zugleich seit 226 im Orient in Gestalt der persischen Sasaniden mit einem neuen, gefährlichen Gegner konfrontiert war.35 Dabei scheinen die außenpolitischen Probleme zumindest teilweise eine Folge der gewachsenen innenpolitischen Instabilität gewesen zu sein: Seit Septimius Severus (193–211), der die Macht in einem blutigen Bürgerkrieg erlangt und sich dabei offensichtlicher als seine Vorgänger von seinen Legionen abhängig gemacht hatte, war das Ansehen des Kaisertums erkennbar beschädigt. Die Fassade des um die Zeitenwende von Augustus begründeten Prinzipats36 zeigte deutliche Risse, während Selbstbewusstsein und Einfluss der Armee zunahmen. Ansehen und Macht der senatorischen Elite, deren Angehörige auch nach der Etablierung des Kaisertums wichtige Funktionen in Verwaltung und Militär übernommen hatten, schwanden; die Bedeutung der römischen Ritter (equites) nahm derweil zu. Zugleich erhöhten die Severer, um insbesondere den steigenden Sold des Heeres aufbringen zu können, den Steuerdruck, was gerade den städtischen Gemeinwesen (civitates) des Imperiums zusätzliche Belastungen auferlegte.37

Um die Mitte des 3. Jahrhunderts waren die Probleme des Imperiums so unübersehbar geworden, dass Teile der Forschung von einer allgemeinen »Reichskrise« sprechen, die fast alle Regionen und Lebensbereiche betroffen habe. Zwar ist in diesem Punkt in den letzten 25 Jahren manches relativiert worden, und die Zeit der so genannten Soldatenkaiser von 235 bis 284 wird heute in der Regel differenzierter betrachtet als in der älteren Forschung.38 Insbesondere wird nun oft betont, dass nicht alle Reichsteile gleichermaßen von ökonomischen Problemen und militärischen Katastrophen betroffen waren.39

Was allerdings angesichts einer enormen Zahl an Usurpationsversuchen und anschließenden Bürgerkriegen kaum zu leugnen ist, ist zumindest die Legitimitätskrise, in die das römische Kaisertum im 3. Jahrhundert geraten war. Überdies verloren die Römer, die unter Maximinus

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Karte 1: Das Römische Reich 293–395.

Thrax (235–238) noch bis ins heutige Norddeutschland vorgestoßen waren, vor allem in den Jahren nach 250 an wichtigen Fronten zeitweilig die militärische Initiative und zogen hieraus nach einer Weile die entsprechenden Konsequenzen: Durch die Räumung Dakiens und der meisten rechtsrheinischen Gebiete (agri Decumates) wurden die Fronten verkürzt.

3.1       Diokletian und die Tetrarchie

Nachdem bereits die Kaiser Gallienus, Aurelian und Probus seit etwa 260 eine Reihe von Maßnahmen eingeleitet hatten, die der Effizienzsteigerung von Armee und Verwaltung dienen sollten, war es dann Diokletian (284–305), der die Ansätze seiner Vorgänger aufgriff und systematisierte.40 Es gelang ihm, das römische Kaisertum durch umfassende Reformen auf eine neue Grundlage zu stellen; nicht ohne Grund lässt man mit ihm daher traditionell die Epoche der Spätantike beginnen. Die faktische Trennung von zivilem und militärischem Apparat, die sich in den Jahren zuvor herausgebildet hatte, wurde nun weitgehend vollendet (image Kap. 10.1), die Entrückung und Sakralisierung der Herrscher, die nun als Iovii und Herculii eine besondere Nahbeziehung zu den Göttern beanspruchten, vorangetrieben. Kern der neuen Ordnung aber war die schrittweise Einführung eines institutionalisierten Mehrkaisertums.

Die Erkenntnis, dass ein einziger Kaiser bzw. Augustus unter den damaligen Kommunikationsbedingungen angesichts der Vielzahl an Problemen nicht mehr genügte, war bereits älter. Schon Kaiser Valerian hatte daher 253 seinem Sohn Gallienus die Herrschaft über den Westen übertragen, um sich selbst der Verteidigung des Ostens widmen zu können. Das Bedürfnis des römischen Westens nach einem eigenen Augustus war so groß, dass sich wohl im Jahr 260, nachdem Valerian in persische Gefangenschaft geraten war, unter dem Usurpator Postumus und seinen Nachfolgern ein eigenes Imperium Galliarum bildete.41 Es umfasste, abgesehen von Nordafrika und Italien, im Wesentlichen all jene Gebiete, die später Westrom ausmachen sollten, besaß sogar eigene Konsuln und bestand bis 274, als es Kaiser Aurelian wieder der Zentralgewalt unterwarf.

Aber erst mit Diokletian, der 285 seinen Kampfgenossen Maximianus zunächst zum Caesar (Unterkaiser) und dann zum formal gleichgestellten Augustus erhob, wurde das Mehrkaisertum für fast zwei Jahrhunderte zur Regel. Der für den Westen zuständige Kaiser residierte nun meist in der Nähe der Grenzen, manchmal in York oder in Mailand, oft auch in Trier – wie bereits die Kaiser des Imperium Galliarum. 293 vollendete Diokletian das System der Tetrarchie (»Viererherrschaft«), indem er den beiden Augusti die Caesares Constantius und Galerius mit jeweils eigenen Zuständigkeitsbereichen an die Seite stellte.42 Er selbst genoss als dienstältester Kaiser (senior Augustus) weiterhin unbestritten die größte Autorität im Gesamtreich.

Dieses institutionalisierte Mehrkaisertum erfüllte zunächst seinen Zweck. In teils harten Kämpfen sicherten die Mitglieder des Kollegiums die Grenzen und unterdrückten Rebellionen, darunter im Westen insbesondere die Usurpation des Carausius in Britannien sowie in Gallien und Hispanien die Bewegung der so genannten Bagauden,43 ein bis heute rätselhaftes Phänomen, das im 5. Jahrhundert nochmals auftreten sollte. Doch nach einigen Jahren gelang es den vier Kaisern, aller zentrifugalen Tendenzen vorerst Herr zu werden und das Restaurationswerk 298 überdies durch einen vorteilhaften Friedensschluss mit den Persern zu krönen. Wohl recht bald wurde zudem deutlich, dass die Caesares beizeiten in die Position der Augusti nachrücken sollten. Das war bemerkenswert. Denn der iunior Augustus Maximianus hatte einen Sohn, Maxentius. Der Caesar Constantius besaß sogar mehrere Söhne, darunter Konstantin, der allerdings wahrscheinlich einer illegitimen Verbindung entstammte. Für Maxentius und Konstantin aber war zunächst kein Platz im Kaiserkollegium vorgesehen. Das war ungewöhnlich.

Die römischen Kaiser bzw. principes hatten in Hinblick auf die Regelung ihrer Nachfolge von Anfang an eigentlich immer das dynastische Prinzip favorisiert. Doch da das Kaisertum seine Ursprünge als irreguläres Ausnahmeamt – formal war Rom stets eines res publica – niemals ganz verleugnen konnte, kam es nie zur Entstehung einer unbestrittenen Sukzessionsregelung (image Kap. 9.1). Der Anspruch der Soldaten, einen Kaiser ihrer Wahl ausrufen zu dürfen, war im Laufe der Jahrzehnte eher größer als kleiner geworden, obwohl es zugleich gerade im militärischen Milieu von jeher einen Hang zu dynastischer Loyalität gab: Wenn der nächste männliche Verwandte des princeps kein formales Anrecht auf die Nachfolge beanspruchen konnte, war der Herrscherwechsel eine gute Gelegenheit, Privilegien und Loyalitäten neu zu verhandeln.44 Zudem behielt ein Augustus, der noch keinen Nachfolger designiert hatte, die alleinige Macht und musste nicht fürchten, als ein Mann von gestern, als lame duck (»lahme Ente«), vorzeitig an den Rand gedrängt zu werden. Die meisten Herrscher versuchten zwar trotzdem, eine eigene Dynastie zu gründen, doch nach dem Ende der Severer gelang dies jahrzehntelang nicht mehr.

Wie die meisten Soldatenkaiser vor ihm hatte Diokletian seine Herrschaft mit einer Usurpation gegen einen dynastisch legitimierten Kaiser begonnen. Dass die Vorstellung, Verwandtschaft spiele keine zentrale Rolle, in seinem Umfeld daher bereits vor der Erweiterung der Herrschaft zur Tetrarchie verbreitet wurde, zeigt der unter dem Namen Mamertinus überlieferte Panegyricus, der 289 in Trier auf Maximianus gehalten wurde.45

»Nun seid ihr beide die Großzügigsten, beide die Tapfersten; und durch genau diese Ähnlichkeit zwischen euch beiden seid ihr immer einträchtiger und, was zuverlässiger ist als jede Blutsverwandtschaft (consanguinitas), durch eure Tugenden wie Brüder.«

Zwar lag es in der Natur der Sache, dass ein System, das den Anspruch erhob, es seien herausragende Taten und Tugenden, die zur Herrschaft berechtigten, nicht frei von Rivalität blieb. Aber die Überlegenheit der beiden Augusti stand fest; und die auctoritas des senior Augustus Diokletian wurde von den übrigen drei Kaisern offenbar nie wirklich in Frage gestellt.46

Das Mehrkaisertum erleichterte die Kontrolle des Heeres und erhöhte die Effizienz der Verwaltung. Die zeitweilig drohende Desintegration des Imperiums war abgewendet worden. Vor allem aber verringerte Diokletians Arrangement die Wahrscheinlichkeit von Usurpationen und Bürgerkriegen, die das Imperium Romanum in den Jahren zuvor so massiv erschüttert hatten. So hatte es ein Prätendent jetzt gleich mit dem ganzen Kaiserkollegium zu tun. Und wichtiger noch: Wenn in überschaubaren Intervallen freie Plätze in der Tetrarchie zur Verfügung standen, konnte das neue System prinzipiell jedem eine Perspektive bieten, gewaltlos an die Macht zu kommen. Die Rolle als Imperator Caesar Augustus sollte offenbar in die reguläre militärische Laufbahn integriert werden.

Diokletians Absicht, die Bedeutung der consanguinitas als Faktor für die Nachfolge im Kaisertum zurückzudrängen, wird oft als der entscheidende Fehler gesehen, der sein System bald nach seinem Rücktritt in den Kollaps geführt habe. Doch da dem Augustus, der ansonsten einen klaren Blick für die Realitäten bewies, bewusst gewesen sein muss, wie groß die entsprechenden Anhänglichkeiten gerade bei den Soldaten waren, darf man annehmen, dass er hierfür gute Gründe hatte: Die zumindest teilweise Abkehr vom dynastischen Denken war seine Antwort auf die Bürgerkriege des 3. Jahrhunderts. Denn ehrgeizige Feldherren konnten nun darauf hoffen, beizeiten friedlich in die Tetrarchie aufgenommen zu werden, ohne gegen eine herrschende Familie kämpfen zu müssen.47

Falls Vakanzen nicht auf natürlichem Wege, durch das Ableben der Kaiser, entstanden, mussten daher in gewissen Abständen Augusti abtreten, um zu gewährleisten, dass das System seine Hauptaufgabe, die Vermeidung von blutigen Machtkämpfen, erfüllen konnte. Genau dies geschah im Mai 305, als Diokletian und Maximianus zurücktraten;48 und genau aus diesem Grund konnte man anschließend unmöglich einfach die leiblichen Kaisersöhne Konstantin und Maxentius in das Kollegium aufrücken lassen und damit verdienten Männern den Aufstieg verwehren. Die weitgehende Hintanstellung der Blutsverwandten war ein notwendiger Teil des Systems. Neben die neuen Augusti Galerius und Constantius I. traten darum als Caesares Maximinus Daia (immerhin ein Neffe des Galerius) und Valerius Severus.49

3.2       Die Konstantinische Dynastie

Die Tetrarchie Diokletians scheiterte vor allem an dem Umstand, dass Constantius I. bereits im Sommer 306 starb, bevor sich sein Sohn Konstantin I. (306–337) eine reguläre Aufnahme in das Herrscherkollegium durch eigene Leistungen hätte verdienen können. Konstantin wurde in York von den Legionen seines Vaters zum Kaiser ausgerufen und etablierte seine Herrschaft zunächst im Westen. Während gelegentlich bezweifelt wird, dass er ein Usurpator war,50 steht fest, dass sich neue Machtkämpfe und jahrelange Bürgerkriege anschlossen, an deren Ende er ab 324 als alleiniger Augustus das Gesamtreich beherrschte. Er führte die administrativen Reformen Diokletians fort, reorganisierte die Armee und stabilisierte die römischen Grenzen.51

Vor allem aber entschied er sich für eine gezielte Förderung des Christentums52 und, kaum weniger wichtig, für eine ausdrückliche Betonung des dynastischen Prinzips: Da sein eigener Anspruch auf die Herrschaft zunächst vorwiegend auf seiner Abstammung von einem Kaiser beruht hatte, war es nur folgerichtig, dass nun im offenen Widerspruch zur diokletianischen Ordnung die Bindung der Macht an eine einzige Familie ausdrücklich propagiert wurde.53 Wenngleich es auch im weiteren Verlauf der Spätantike nie gelingen sollte, eine unumstößliche Thronfolgeregelung zu etablieren, so stand spätestens seit Konstantin dennoch fest, dass zumindest die leiblichen Söhne eines Augustus kaum auf unblutige Weise von der Macht ausgeschlossen werden konnten.54

Als der Kaiser im Mai 337 starb, hatte er noch weitere wesentliche Weichen gestellt. Die oft unruhigen Grenzen in Britannien, Nordafrika und am Rhein waren durch Machtdemonstrationen erneut gesichert worden, aber zugleich hatte er durch die Gründung der neuen Residenzstadt Konstantinopel (mit einem zweiten Senat, der später dem römischen formal gleichgestellt wurde) wesentliche Voraussetzungen dafür geschaffen, dass sich im Osten des Imperiums mittelfristig ein zweites Machtzentrum etablieren konnte. Nach seinem Tod blieb die Nachfolgefrage monatelang ungeklärt. Konstantin selbst hatte augenscheinlich eine Rückkehr zum tetrarchischen Mehrkaisertum vorgeschwebt, wobei seine beiden ältesten Söhne Constantius II. und Konstantin II. wohl die Rolle der Augusti hätten übernehmen sollen, unterstützt vom jüngeren Bruder Constans und ihrem Cousin Dalmatius als Caesares.55 Doch dazu kam es nicht. Wer die Hintermänner des Massakers waren, bei dem die meisten männlichen Verwandten des toten Kaisers ums Leben kamen, ist umstritten.56 Sicher ist nur, dass danach die Brüder Constans, Constantius II. und Konstantin II. das Reich als Augusti untereinander aufteilten.

Die beiden westlichen Drittel fielen dabei Constans und Konstantin II. zu, doch letzterer fand bereits 340 den Tod, als er vergeblich versuchte, Constans gewaltsam seine Oberhoheit aufzuzwingen.57 Fortan stand das Imperium Romanum unter der Samtherrschaft der beiden verbliebenen Brüder. Constantius II. herrschte im Osten, Constans im Westen, wobei sein Herrschaftsbereich größer war als der seines Mitkaisers. Ein Mehrkaisertum konnte aber nur unter der Voraussetzung funktionieren, dass die Hierarchie feststand, und auch ein Kollegium aus dynastisch legitimierten Herrschern barg stets Konfliktpotential, denn die Primogenitur (Erstgeborenenrecht) gab in Rangfragen keineswegs den Ausschlag. Dies hatte bereits 211 der tödliche Konflikt zwischen Geta und Caracalla, den Söhnen des Septimius Severus, gezeigt.58 Das Verhältnis zwischen den verbliebenen Brüdern war denn auch diesmal keineswegs spannungsfrei; neben die grundsätzliche Rivalität um das letzte Wort im Gesamtreich traten religiöse Konflikte, da die beiden Herrscher unterschiedlichen christlichen Lehren zuneigten.59 Obwohl er recht erfolgreiche Feldzüge am Rhein und in Britannien durchgeführt zu haben scheint, wurde Constans allerdings 350 ermordet, nachdem der nicht mit der Dynastie verwandte Offizier Magnentius in Autun von den Truppen zum Kaiser ausgerufen worden war. Damit war eingetreten, was das diokletianische System einst hatte verhindern sollen: Ein ehrgeiziger Militär griff gewaltsam nach dem Purpur, da ihm aufgrund der Bindung des Kaisertums an eine Familie kein friedlicher Weg an die Macht offenstand.

Constantius II., der letzte überlebende Sohn Konstantins I., weigerte sich, den Usurpator anzuerkennen. Der damit unausweichlich gewordene Bürgerkrieg war besonders für den Westen des Römischen Reiches folgenreich, denn in der ungemein blutigen Schlacht bei Mursa fand im September 351 die Elite des weströmischen Heeres den Tod. Der byzantinische Geschichtsschreiber Zonaras berichtet unter Rückgriff auf ältere Quellen, zwei Drittel der Armee des Magnentius seien gefallen.60 Vielleicht hat man versucht, die dadurch gerissenen Lücken durch einen verstärkten Rückgriff auf Soldaten, die außerhalb des Imperiums geboren worden waren, rasch zu füllen. Zwei Jahre später wurde der Usurpator aber erneut geschlagen und nahm sich das Leben.

Constantius II. war nun der alleinige Augustus. Doch da die östlichen Provinzen wieder von den Persern bedroht wurden, hatte er bereits 351 seinen Verwandten Gallus, wie er ein Enkel Constantius’ I., zum Caesar erhoben und mit der Aufsicht über den Orient betraut, bevor er in den Kampf gegen Magnentius gezogen war. Fränkische und alamannische Gruppen hatten den römischen Bürgerkrieg derweil ausgenutzt, um die entblößten Grenzen zu durchbrechen und plündernd in Gallien einzufallen, und Constantius II. vermochte es trotz erheblicher Anstrengungen nicht, die Lage nachhaltig zu stabilisieren.61 Dies gelang erst Julian (355–363), dem Bruder des Gallus, der nach dessen Absetzung und Hinrichtung 355 als Caesar in den Westen entsandt wurde, um dort als Vertreter des Herrscherhauses Präsenz zu zeigen.62 Denn andernfalls drohten neue Usurpationen, und es war nicht damit zu rechnen, dass diese immer so rasch zusammenbrechen würden wie jene des Silvanus, der kurz zuvor in Köln von seinen eigenen Männern erschlagen worden war.63 357 errang Julian nahe Straßburg einen Sieg über eine Koalition alamannischer Fürsten und kämpfte in den Folgejahren erfolgreich auch jenseits des Rheins.64

Diese Konsolidierung des Westens wurde aber wieder in Frage gestellt, als sich Julian im Jahr 360 von seinen Truppen gegen den Willen des Constantius II. in Paris zum Augustus ausrufen ließ und 361 mit einem Heer nach Osten aufbrach, um den Konflikt militärisch auszutragen. Der plötzliche Tod des Constantius verhinderte diesen erneuten Bürgerkrieg, doch Julian richtete seine Aufmerksamkeit fortan auf den Osten des Reiches und starb 363 während eines ebenso aufwändigen wie desaströsen Perserfeldzugs.65 Mit dem Tod seines kurzlebigen Nachfolgers Jovian im Februar 364 endete die nur gut zweijährige Phase einer Alleinherrschaft über das Gesamtreich, denn der neue Kaiser Valentinian I. (364–375) erhob bereits Wochen später seinen jüngeren Bruder Valens (364–378) zum zweiten Augustus. Er übertrug ihm die Herrschaft über den Orient und übernahm selbst den Westen, einschließlich des größten Teils des Balkanraumes. Fortan sollte es bis 423 niemals weniger als zwei Augusti im Gesamtreich geben.

3.3       Die Valentinianische Dynastie

Valentinian I. residierte zumeist in Trier und führte eine Reihe von Militäroperationen durch, die trotz mancher Rückschläge eine erneute Stabilisierung der Grenzen bewirkten. Flankiert wurden sie durch ein umfassendes Festungsbauprogramm am Rhein, das für lange Zeit ein Fundament weströmischer Grenzsicherung werden sollte. Daneben bemühte sich Valentinian nach Ausweis der erhaltenen Gesetze um eine Förderung und Stärkung der civitates. Obwohl die beiden Kaiser Brüder waren, kam es anders als zur Zeit der Söhne Konstantins offenbar nicht zu nennenswerten Spannungen, da Valens den Purpur allein seinem älteren Bruder als seinem auctor imperii verdankte. Gerade weil daher die Rangfrage nicht zur Diskussion stand, war es Valentinian möglich, seinen Bruder faktisch als gleichberechtigten Partner zu behandeln.66

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