Fußnoten

Wortspiel: lavatory = Klosett, Toilette (Anm. d. Übers.)

L.O. = Lay on, d.h. schlag zu! (Anm. d. Übers.)

Meiner Frau Jean gewidmet

O Körper, schwingend zur Musik, o heller Augen Glanz,

O wie noch unterscheiden wir den Tänzer von dem Tanz?

W.B. Yeats

Cogito ergo sum. Ich schließe die Augen und versetze mich in die Zeit vor siebzehn Jahren. Schwester Marie-Thérèse malt den Satz an die Tafel. Ihr Arm ist bis zum Ellenbogen entblößt: Den Ärmel ihrer Tracht hat sie wegen des Kreidestaubs hochgekrempelt. »Ich denke, also bin ich«, sagt sie. Das Lateinische ist ein beliebiger Text, der übersetzt werden soll, aber die englischen Worte machen mich stutzig, meine Hand schnellt in die Höhe (was sonst nicht meine Art ist), und als Schwester Marie-Thérèse zu mir hersieht, frage ich, ob es nicht richtiger sei, »Memento ergo sum« zu sagen.

»Memento?« fragt sie mit ihrem etwas frostigen Lächeln.

»Ja, Schwester. Ich erinnere mich, also bin ich.«

Sie schickt forschend ihr Lächeln aus, aber in der Klasse hat kein anderes Mädchen dazu etwas zu sagen. Das Lächeln bedeutete etwa: »Ein dummes Mädchen hat Descartes mißverstanden« oder »Sieh einer an, da haben wir doch einmal die Aufmerksamkeit der Mary Dunne erweckt«.

»Und warum würdest du es lieber so sagen?« fragt sie.

»Weil –« ich bin fünfzehn – »weil wir das sind, woran wir uns erinnern.«

»Interessant«, sagt Schwester Marie-Thérèse, aber hat sie das wirklich gedacht? Hat sie sich eine Stunde später noch an unser Gespräch erinnert? Ich habe mich siebzehn Jahre lang daran erinnert und es nicht vergessen. Wenn wir sind, woran wir uns erinnern, ist dann das Mädchen, das ich war, gestorben, weil ich es vergessen habe? So wie ich jetzt vielleicht zu sterben beginne, weil irgendein zukünftiges Ich mich nicht im Gedächtnis behalten wird?

Warum ist mir das gerade jetzt eingefallen? Es ging doch ganz gut, bis ich plötzlich an den Tod denken mußte, und jetzt hämmert mein Herz wieder laut, halt, halt, ich muß mich daran erinnern, wie tröstlich es war, die Augen zu schließen und in die Vergangenheit zurückzuwandern, wo sie schon auf mich warteten, Schwester Marie-Thérèse und die Klasse. Wenn ich mich so weit und so deutlich zurückerinnern kann, dann sei still, Herz, beruhige dich, du hast nichts zu befürchten.

Ich rede meinem Herzen zu, wie ich einem einfältigen Menschen zureden würde. Ich sage ihm, daß es ein völlig normales Herz ist: Der Grund seiner Aufregung ist Besorgnis. Ich sage ihm, kein Wunder, daß es sich so aufregt nach einem Tag wie diesem und vor allem wegen dieser Geschichte mit Hat heute abend. Aber das hat nichts mit mir zu tun, ganz gleich, was die Leute sagen, es hat nichts mit mir zu tun, es ist längst vorbei und erledigt, ich liebe jetzt Terence, ich bin endlich glücklich verheiratet, das einzige, was uns fehlt, sind Kinder, aber das kommt noch, der Doktor sagt, wir sind beide gesund, also wird das auch noch klappen. Ja, wenn ich heute abend schwanger wäre, würde mein Herz nicht so wild klopfen, denn der wirkliche Grund meiner Aufregung ist physischer Natur, ich bekomme jetzt jeden Augenblick meine Tage, deshalb war ich den ganzen Tag durcheinander, deshalb diese Angst, daß ich etwas vergessen könnte. Es begann heute morgen, als die Empfangsdame beim Friseur meinen Namen vergessen hatte, damit fing alles an, und ich wette, daß ich keineswegs mein Gedächtnis verloren habe, sondern alles, was heute geschehen ist, genau beschreiben könnte, wenn ich mir Mühe gäbe, alles, was ich gedacht, gesagt und getan habe. Aber was würde das schon beweisen? Wenn man sagt, man erinnert sich an alles, was einem im Leben widerfahren ist, dann macht man sich etwas vor. Denn wenn ich jetzt versuchte, einem anderen die Geschichte meines Lebens zu erzählen, käme sie dann nicht genauso bruchstückhaft und vergilbt hervor wie die alten Fotoalben, Notizbücher und Briefe, die jeder in irgendeiner Schublade aufbewahrt? Was weiß ich schon von meinem Leben – wäre es mehr als ein verregneter Filmstreifen voller Schnitte, mehr als ein subjektives Porträt meiner Eltern, mehr als eine Aufzählung der Orte, an denen ich mich aufhielt, der Menschen, die ich kennenlernte, und würde das alles eine Vorstellung etwa davon geben, wie ich über Sex oder Kinder denke, was ich von etwas so Trivialem wie der Reinigung des Ofengrills halte oder von etwas so Schrecklichem wie dieser Sache mit Hat?

Nein. Ich darf nicht an Hat denken. Ich sollte mich lieber mit etwas Konstruktivem befassen, mir zum Beispiel überlegen, warum ich heute morgen meinen Namen nicht wußte. Damit sollte ich anfangen, denn der Tag begann in Wirklichkeit um halb zwölf heute morgen im Golden-Door-Frisiersalon, als ich für Waschen und Legen bezahlte. Ich weiß noch, ich warf einen Blick zurück in den Raum, und mir fiel auf, daß man seit dem letzten Mal die Farben der Einrichtung geändert hatte. Ich sah sechs Frauen in scharlachroten Umhängen, die Köpfe unter den frischlackierten rosa Trockenhauben, die mich an Bischofsmützen erinnerten; die Frauen wurden zu Kardinälen, die beim Hochamt in ihren Bänken saßen, und dabei mußte ich an die verzerrten Kardinalsporträts von Francis Bacon denken; ich fragte mich, ob ich diese Gemälde zum erstenmal im Museum of Modern Art oder später mit Terence zusammen bei der großen Bacon-Ausstellung im Guggenheim-Museum gesehen hatte. Jedenfalls war ich ganz woanders, als die Frau an der Kasse mich nach meinem nächsten Termin fragte. Ich sagte, Donnerstag in einer Woche, wie üblich. Die Frau räusperte sich und sagte dann lächelnd: »Ist das nicht schrecklich? Ich weiß nicht, was heute morgen mit mir los ist – jetzt habe ich Ihren Namen vergessen.«

Ich erinnere mich, daß mich die Wut packte. Ich dachte, Herrgott, Sie haben mich doch oft genug gesehen, ich bin Stammkundin hier, warum müssen Sie ausgerechnet meinen Namen vergessen, wenn Sie die Namen aller anderen Kundinnen behalten? Ich habe oft gehört, wie Sie Damen, die von der Straße hereinkommen, mit Ihrem »Guten Tag, Mrs. Dies« und »Guten Tag, Mrs. Das« empfangen. Ich weiß, das war dumm von mir, aber kurz vor meinen Tagen bin ich nun mal so, und da stand sie vor mir, das Buch aufgeschlagen, Kugelschreiber in der Hand, und wartete darauf, meinen Namen eintragen zu können, meinen Namen – o Gott, ich hatte ihn auch vergessen.

Panik. Ich stehe da und lächle idiotisch diese idiotisch lächelnde Frau an, und in meinem Kopf geht es hin und her, wieheißichbloß, wieheißichbloß, wieheißichbloß? Und als mein Hirn immer leerer wurde, stellte sich plötzlich, um das Vakuum aufzufüllen, ein blödsinniger englischer Music-Hall-Vers ein, den ich vor Jahren einmal gehört hatte und seitdem nicht mehr los wurde, und so begann mitten in meinem verzweifelten Wieheißichbloß dieser verrückte Schlager in meinem Kopf loszuträllern:

Ich bin Big Gerties Tochter,

Der dicken Gertie Kind, jawoll.

Big Gerties Tochter,

Ja, ihre kleine Tochter,

Bin so, wie ich sein soll.

Und so stand ich, und in meinem leeren Kopf ging es im Kreis herum, Big Gerties Tochter, Big Gerties Tochter, wie wär’s, wenn ich sagte, ich sei Big Gerties Tochter, und dieser Gedanke lockerte die Panikstimmung, so daß ich mich auf einmal sagen hörte: »Mrs. Phelan.«

»Natürlich«, erwiderte sie. »Mrs. Phelan.« Und schrieb den Namen in ihr Terminbuch. Als ich die Handtasche öffnete, um das Wechselgeld in meine kleine Geldbörse zu stecken, blickten mich aus der Tasche heraus Kreditkarten an. Die oberste war eine von der Firma Bloomingdale, und sie war ausgestellt auf den Namen Mrs. Terence Lavery, 201 East 78th Street, NYC.

Depression. Ich heiße nicht Phelan. Phelan hieß ich, als ich mit Jimmy verheiratet war, und mir wurde bewußt, daß Henry, der mich immer frisiert, die Achseln zucken würde, wenn er nächste Woche im Terminbuch »Phelan« las, und mich einem jüngeren Kollegen abtreten würde, weil er mich für eine unbekannte neue Kundin hielt. Aber während ich noch darüber nachdachte, sagte ich mir, was kann ich machen, ich kann mir irgendeinen Witz über meinen »Verflossenen« einfallen lassen; doch kann ich Frauen nicht ausstehen, die spöttische Bemerkungen dieser Art machen, und so sagte ich nichts, klappte die Handtasche zu und trat aus dem Frisiersalon hinaus auf die Madison Avenue, wo mir ein schrecklicher Wind entgegenwehte. Ich hatte vergessen, eine dieser kleinen Plastikhauben mitzunehmen, also waren acht Dollar fünfzig, mit Trinkgeld zehn, beim Teufel, wenn ich nicht sofort ein Taxi fand. Ich versuchte die Frisur mit der Handtasche zu schützen, eilte zur Kreuzung und wartete auf Grün, damit ich die Straße überqueren und mir drüben ein Taxi suchen konnte. Ein Mann näherte sich und blieb neben mir stehen. Ich hatte die Tasche vor dem Kopf, so daß ich ihn nicht richtig sehen konnte, aber ich wußte geradezu instinktiv, daß er der Typ des korrekten Bürgers war, so um die Dreißig oder Vierzig, kein Betrunkener, keiner, vor dem man sich in acht nehmen müßte. Dann wurde es grün. Ich wollte auf den Fahrdamm treten, aber der Mann legte mir die Hand auf den Arm und hielt mich an. Ich drehte mich zu ihm um und sah sein gerötetes Gesicht, die glänzenden Augen, das atemlose, erregte Lächeln.

»Ich möchte dich vögeln, Baby.«

Er lächelte, während er das sagte, er zeigte seine Zungenspitze, und ich wußte, daß er mit Wollust die Empörung auf meinem Gesicht genoß. Er ließ meinen Arm los, überquerte ganz schnell die Straße und verschwand auf der anderen Seite in der Menschenmenge, als hätte es ihn nie gegeben, während ich dastand wie die Katze im Zeichentrickfilm, nachdem ihr die pfiffige Maus eine tickende Bombe überreicht hat. Die Bombe explodiert, und wenn sich der Rauch verzogen hat, starrt die dumme Katze auf die Überreste der Bombe in ihrer Pfote. Pause. Dann zerfällt die Katze (ganz leise) in tausend Stücke.

Nun, im Augenblick vor meinem »Zerfall«, stand ich am Rand des Bürgersteigs und ließ vor meinem geistigen Auge eine Racheszene ablaufen. Wenn ich ihm nun nachliefe! Wenn ich ihn packte und ihm eins mit meiner Handtasche über den Kopf hieb! Es würde einen Auflauf geben, ein Polizist würde erscheinen, ich stünde in der Mitte, und wildfremde Menschen hörten mir zu, während ich dem Polizisten zu erklären versuchte, daß dieser gut gekleidete, so solide aussehende Mann gesagt hatte, er möchte mich vögeln, und während ich das dem Polizisten erzählte, tauschte der Mann mit den Umstehenden beredte Blicke und sagte vielleicht: »Manche haben eine lebhafte Phantasie, vor allem Frauen.« Der Polizist würde sich das alles überlegen und dann sagen: »Hat dieser Herr Sie unsittlich berührt oder so?« Und an dieser Stelle meines kleinen Rachefilms zerfalle ich wie die Zeichentrickkatze. Gegen männliche Solidarität kommt man nicht an.

Die ganze Zeit starrte ich benommen auf das grüne Licht der Ampel, ich wußte, daß ich hätte hinübergehen sollen. Aber ich ging erst, als die Ampel wieder rot wurde, und rannte mitten in den Verkehrsstrom hinein und winkte einem Taxi, das frei zu sein schien. Der Fahrer sah mich und hielt ein Stück weiter an (womit er wahrscheinlich gegen irgendeine Verkehrsbestimmung verstieß); ich rannte zu dem Wagen und war wie alle New Yorker überzeugt, daß ein anderer mich bei dem Rennen um eine Nasenlänge schlagen würde. Aber ich schaffte es, stieg ein und schloß die Tür, klappte meine Handtasche auf und schaute im Spiegel meine Frisur an, die natürlich nicht mehr so aussah wie noch vor einer Viertelstunde, aber es hätte schlimmer sein können. Ich nannte dem Fahrer meine Adresse, und da erinnerte ich mich eines Artikels, den ich einmal gelesen hatte, eines Artikels über den Kommandanten des KZs Auschwitz, Höß; in dem Artikel wurde der polnische Staatsanwalt zitiert, der die Ansicht vertrat, daß die Hauptschuld der Wachmannschaft nicht im Sadismus, sondern in der Gleichgültigkeit zu erblicken sei. Die meisten Angehörigen der Wachmannschaften waren, so sagte der Staatsanwalt, keine Sadisten; nur konnten sie sich die Gefangenen (die bis auf Haut und Knochen abgemagerten Juden und Zigeuner) nicht als normale Männer und Frauen, wie sie selbst vorstellen. Als ich im Taxi darüber nachdachte, kam ich zu dem Ergebnis, daß das eigentliche Verbrechen des Mannes, dem ich gerade begegnet war, darin bestand, daß er eine Frau nicht als menschliches Wesen wie sich selbst betrachtete, sondern als ein Objekt, in das er eindringen und das er verletzen wollte. Ich weiß, das ist nicht »scharfsinnig« (wie Schwester Marie-Thérèse zu sagen pflegte), aber so kam es mir im Augenblick vor, und der perverse Mann auf der Straße brachte mich auf Jimmy, der mich zu lieben glaubte, aber immer »Du bist schön, ich will dich haben« sagte, als wäre ich ein neues Auto, das er seinen Freunden gern vorgeführt hätte. Und während das Taxi sich durch den Verkehr zwängte, kam ich zu dem Schluß, daß Jimmy mich nicht liebte, daß er einfach ein Gesicht und einen Körper haben wollte, die zufällig mir gehörten. Natürlich, ich weiß, auch das ist nicht »scharfsinnig«, aber das fiel mir eben im Taxi ein. Ich war in einer depressiven Phase. Und in meiner depressiven Phase sind alle Dinge schwarz und weiß.

Und trotzdem. Es gibt keine logische Erklärung, weshalb meine Depression wich, als das Taxi vor unserem Apartmenthaus hielt und Harold, der Pförtner, in flaschengrüner Livree, weißem Hemdkragen und sauberen weißen Handschuhen auf den Bürgersteig hinaustrat und mit seinem höflichen und fröhlichen »Guten Morgen, Mrs. Lavery« die Wagentür aufriß. Ich entlohnte den Fahrer, und Harold schritt voraus, um mir die gläserne Eingangstür aufzuhalten. Er sagte, er habe ein Päckchen für mich, und ging in seinen kleinen Raum, um es zu holen. Ich wartete in der freundlichen Halle, in der in einer Nische die Reproduktion eines T’ang-Pferdes diskret angestrahlt wird und in einer anderen ein marmorner Wandtisch mit einer weißen Vase voller flammenfarbener Gladiolen steht; wieder einmal war ich von der Gepflegtheit des Hauses so beeindruckt, daß ich mir sagte, die Mädchen, mit denen zusammen ich die Schule besucht hatte, müßten mich um diese Umgebung beneiden. Ich mußte an meine Schulzeit denken, weil ich durch die Glastür der Eingangshalle einen dicken kleinen Jungen sah, der draußen auf dem Bürgersteig stand und einen Pudel und einen Spürhund an der Leine führte und mir dabei zuzuwinken schien. Ich lächelte ihm zu (wer war das nur?), und da zerrte er auch schon an seinen beiden Hundeleinen und kam zur Tür herein. Er trat auf mich zu.

»Hallo, Mrs. Bell.«

»Hallo.« (Wer war das nur?)

»Wie geht’s Bell? Ich meine Pete.«

Ich sagte (wieheißterbloß, wieheißterbloß), danke, Pete gehe es sehr gut.

Wanausek. Ich erinnerte mich, daß ich mit der Aussprache des Namens stets Mühe gehabt hatte. Es überraschte mich immer, wie flüssig der Name über Petes kindliche Lippen glitt. New Yorker Jungen, die eine Privatschule besuchen, haben die Angewohnheit, sich gegenseitig beim Nachnamen zu nennen. Pete und Wanausek waren Klassenkameraden, als Hat und ich in der East 13th Street wohnten.

»Geht er noch immer auf die Lawrence?« wollte Wanausek wissen.

Ich sagte, ich glaubte schon (obwohl ich nicht weiß, wo er sich aufhält), und sowie ich »glaubte« sagte, sah ich, daß Wanausek mich mit einem veränderten Ausdruck anschaute, wie das Kinder bisweilen tun, wenn ihre kindlichen Körper plötzlich von der Persönlichkeit eines Erwachsenen besessen zu sein scheinen, mit dem sie in engem Kontakt stehen. In Wanauseks Fall mußte der unbekannte Doppelgänger ein Schullehrer sein, denn jetzt zog er, die Gesten eines Zuchtmeisters in mittlerem Alter nachahmend, die unglücklichen Hunde zu sich heran und fragte mich mit durchdringendem Blick und kritischer Kläffstimme: »Was ist? Ist Bell, ich meine Pete, nicht mehr bei Ihnen?«

Ich sage nein. Ich sagte: »Petes Vater und ich haben uns scheiden lassen.«

»Oh.« Er sah einen Augenblick lang vor sich auf den Boden, ein strenger kleiner Schulmeister, der sich die Entschuldigung eines Schülers durch den Kopf gehen läßt. Dann: »Sie sind nicht Bells richtige Mutter, nicht wahr?«

»Nein.«

»Oh.« Er nickte. Entschuldigung akzeptiert. »Na ja«, sagte er, »bestellen Sie ihm einen Gruß von mir, wenn Sie ihn mal sehen.«

»Das will ich gern tun.«

»Ich heiße Wanausek. Dick Wanausek.«

»Ja, ich weiß.«

Er glaubte mir nicht. Warum sollte er auch, mit so einem Namen. »Wanausek«, wiederholte er und zerrte die geplagten Hunde an sich. »Auf, Hugo, auf, Rochester. Gehen wir.« Und er ging mit den Hunden gerade in dem Augenblick hinaus, als Harold mit einem Päckchen zurückkam – es war das Lily-Daché-Badeöl, das ich bei Bloomingdale bestellt hatte. Ich bedankte mich bei Harold und fuhr mit dem Aufzug hinauf. Ich hatte Pete immer nur einen Monat im Sommer und eine Woche an Ostern bei mir gehabt und ihn deshalb nie richtig kennengelernt. Abgesehen von den zwei Monaten, als seine Mutter krank war und sie (die Großeltern) ihn zu Hat schickten. Pete sah Hat nicht ähnlich. Ich nehme an, er schlägt seiner Mutter nach.

Ich erinnere mich, die Post aus unserem Briefkasten in der Eingangshalle herausgeholt und sie während der Fahrt im Aufzug überflogen zu haben. Es schien nichts Wichtiges dabei zu sein: Reklame, ein Brief für Terence, ein Abonnementformular von Life, eine Telefonrechnung, die ich gleich in die Handtasche steckte, um sie zu bezahlen; und als ich die Wohnungstür aufschloß, sah ich, daß Ella Mae, unsere Putzfrau, inzwischen gekommen war, weil die große Papiertüte, in der sie ihre Straßenkleider aufbewahrt, wie üblich auf dem Stuhl in der Diele lag. Ich habe viele Einbauschränke, aber sie ist nicht zu bewegen, ein Fach davon zu benutzen. Ich rief nach ihr und fragte, ob jemand angerufen habe, wobei ich an Janice Sloane dachte, aber Ella Mae rief zurück: »Nein, Madam.« Ich legte die Post in die mexikanische Schale auf der Kapitänstruhe in der Diele, und dabei rutschte ein Brief hinter der Abonnementsaufforderung von Life heraus, ein vertrauter weißer Umschlag mit einem blauen Luftpostkleber und einer kanadischen Briefmarke. Ich konnte mir nicht erklären, wieso ich ihn nicht früher entdeckt hatte – es war die Handschrift meiner Mutter. Ich nahm den Brief und ging ins Wohnzimmer, um ihn zu lesen. Noch jetzt überrumpelt er mich, jener Satz, unter den vielen jahraus, jahrein wiederkehrenden Sätzen wie: Madge Gordon ist herübergekommen, und wir haben eine Partie Karten gespielt, die ganze Woche kalt und Schnee, die Hinterveranda ist zugeweht. Mama, ich sehe dich, wie du in dem kleinen Hinterzimmer sitzt, weil es dort wärmer ist, der Ofen steht dort, du hast Arthritis in den Händen, kannst nur mit Mühe die Feder halten, aber all die Jahre hindurch wurden die Briefe geschrieben, Briefe an mich und an Jimmy in Toronto, Briefe an mich allein in Montreal, dann in die East 13th Street, als ich mit Hat verheiratet war. Briefe. Es war die ganze Woche kalt, und wir hatten etwas Regen, der Rasen ist überschwemmt. Madge ist zu Besuch herübergekommen, Dicks Ältester hat die Masern, die Arthritis macht mir zu schaffen. Vor langer Zeit warst du einmal die ganze Welt, warst du alles, worauf es ankam. Ich erinnere mich, daß ich meine Puppe mit deiner Stimme ausschalt, ich weiß noch, wie ich neben dir in der Küche stand, um dir abzugucken, wie man Maiskuchen backt. Und später, als ich von dir fort war, sogar nach der Scheidung von Jimmy, dann von Hat, nein, erst als Terence kam, hörten die Besuche auf. Aber du schriebst noch immer: Madge Gordon ist herübergekommen, und wir haben eine Partie Karten gespielt, es war die ganze Woche warm, Gott sei Dank, daß Sommer ist, bin für jeden warmen Tag dankbar, Dicks Zweiter hat die Windpocken, das Schlimmste ist aber vorbei, und zum Schluß immer: muß jetzt aufhören, viele liebe Grüße von Mama.

Viele liebe Grüße. Auch ich schrieb »viele liebe Grüße«, aber auch ich brachte taktvolle Entschuldigungen vor, zuviel zu tun, kann diesen Sommer leider nicht kommen, hoffentlich an Weihnachten, spätestens im Frühling. Und du, die du einst meine ganze Welt warst – was wurde aus dir? Ein Brief aus Neuschottland. Ein Brief jeden Monat, geschrieben in jener Klosterhandschrift, die dir die Nonnen vom Heiligen Herzen vor fünfzig Jahren beibrachten, jener Handschrift, die die ganze Woche kalt und Schnee und Dicks Ältester schreibt, einer Handschrift, die Sätze bildet, welche ich halb überfliege, halb lese, bis es heute morgen in dieser selben Handschrift unter diesen vielen Sätzen hieß, der Doktor sagt, ich muß diese Woche ins Krankenhaus und es mir herausnehmen lassen, es ist irgendein Knoten – und, o Mama, liebe, liebe, gute, alte Mama, Gott verschone dich jetzt, dieser Gott, auf den du vertraust, dieser Gott, den ich nicht mehr kenne.

Als ich aufstand, war mir schwindlig. Ich hob den Hörer ab, wählte, und dein Telefon läutete und läutete dort am Ende des Briefes, acht Meilen vor der Stadt, die öde Fernstraße und dann den ausgefahrenen Weg entlang bis zu deinem Haus, dessen Schindeln alle schief sitzen, dessen Wände gestrichen werden müßten, läutete dort in der Küche (ich sehe den Wandapparat neben den Merkzetteln zum Einkaufen unter dem Kalender von der Holzhandlung Wilson), läutete und läutete und läutete, und wo warst du? Krank im Bett, auf dem Boden zusammengebrochen? Ich dachte sofort an Dick, aber (ich habe ihm so lange nicht geschrieben, habe so lange nicht mit ihm gesprochen) ich mußte mir seine Nummer von der Fernauskunft sagen lassen, und Dicks Frau, Meg, meldete sich, und als ich ihr sagte, daß ich dich angerufen hätte und mir Sorgen machte, sagte sie, du seist wohl zur Zwölf-Uhr-Messe gegangen.

»Zur Messe?«

Ihre Stimme, sehr kühl: »Ja, zur Messe. Heute ist ein strenger Fastentag.« Andeutend, daß ich das hätte wissen müssen. Und sie hatte recht. Ein strenger Fastentag. O Mama, dort oben in Butchersville, wo es strenge Fastentage gibt, wo dir – komme Regen, Hagel, Schnee oder ein Knoten unter der Haut – die Kirche befiehlt, aufzustehen, dich anzukleiden, deinen alten grünen Chevrolet auf die öde kanadische Fernstraße hinauszumanövrieren und acht Meilen weit zur Kirche der Unbefleckten Empfängnis zu fahren.

Ich sagte zu Meg: »Aber was ist mit der Operation? Ich habe gerade einen Brief bekommen, in dem sie von einem Knoten schreibt, den sie sich herausnehmen lassen muß.«

»Ich gebe dir mal Dick.« Ich hörte sie rufen: »Dick? Dick?« Und dann zu mir, so unpersönlich wie das Fräulein vom Amt: »Einen Augenblick, bitte.«

Während ich auf meinen Bruder wartete, kam wieder das Schwindelgefühl: wie es sich gewöhnlich einstellt, wenn ich mich bücke und dann plötzlich aufrichte. Einen Augenblick lang kann ich nichts sehen. Seine Stimme sprach in meine Blindheit hinein: »Hallo? Hallo, Mutt?« Das Schwindelgefühl löste sich, und ich spürte, wie sich meine Stimmung ein wenig besserte. Mutt war mein Spitzname aus unserer Kinderzeit. Dick ist der einzige, der sich noch daran erinnert. In gewisser Hinsicht sagt das alles. Er kennt mich als Mutt, die sich das Haar abzuschneiden versuchte, als sie acht Jahre alt war. Ich kenne ihn als Bat, meinen großen Bruder, der mich auf den Schultern eine Felsklippe an der Bay von Fundy hinauftrug. Und oben am Klippenrand wartete schon mein Vater, und mein Bruder bezog auf der Stelle eine Tracht Prügel. Ich war Mutt, und er war Bat, und auf dem letzten Foto (auf dem, das Mama mir letzte Weihnachten schickte) hat er graue Haare.

Ich erzählte ihm von Mamas Brief und fragte, wie das mit dem Knoten sei.

»Ach so, das«, sagte er. »Ja, sie muß ihn entfernen lassen. Nur ein kleiner Eingriff, sie ist in ein paar Tagen wieder draußen.«

»Ja, ja«, sagte ich, »– aber was ist, wenn es eine bösartige Geschwulst ist, macht ihr euch keine Sorgen?«

»Ich mache mir keine Sorgen«, erwiderte er. »Es ist einfach besser, diese Dinger rauszunehmen. Hat keinen Sinn, da ein Risiko einzugehen.«

»Aber Bat, ich weiß nicht einmal, wo es – wo er ist, dieser Knoten. Sie hat nichts davon geschrieben.«

»Im Mastdarm. Es ist ein Mastdarmpolyp.«

»Ach du liebe Güte«, sagte ich und lachte. Er lachte auch, denn über Mamas Schamhaftigkeit haben wir uns immer lustig gemacht. Obwohl mein Bruder der einzige Arzt im Gebiet von Butchersville ist, hat sich Mama noch nie von ihm untersuchen lassen. Sie hat es noch nie »gemocht«, und so fährt sie jedesmal die 40 Meilen bis zum alten Dr. McLarnon in Wolfville. Doch nach dem Lachen fragte ich: »Aber sag mal, im Ernst – ist es bestimmt ganz harmlos?«

»Na ja, die Möglichkeit, daß es sich um eine bösartige Geschwulst handelt, besteht natürlich immer.«

»Und was dann?«

»Dann können wir nur hoffen, daß man sie vollständig entfernen kann.«

»Aber angenommen, man bekommt sie nicht ganz heraus und sie ist bösartig und wächst nach?«

»Dann muß Mama noch einmal operiert werden.«

»Aber sie ist schon über sechzig, Bat.«

»Ich weiß. Hoffen wir, daß es harmlos ist.«

»Ich sollte sie vielleicht doch anrufen«, sagte ich, aber er sagte, nein, das sollte ich nicht, da werde sie sich nur Gedanken machen. Er hat recht. Ich hatte nicht daran gedacht, daß für Menschen aus Mamas Generation, die in kleinen Orten wie Butchersville wohnen, ein Ferngespräch automatisch eine schlimme Nachricht bedeutet. Es wäre ein Fehler gewesen. »Na schön«, sagte ich. »Sag mir Bescheid, Bat, ja? So bald wie möglich.«

»Ja, ich schreibe dir, sowie ich Genaueres weiß.«

»Nein, ruf mich an. R-Gespräch, wenn du willst.« Das war Unsinn – als ob ich gesagt hätte, er sei geizig. Was er nicht ist.

Eine Pause. Dann: »Ich rufe dich an. Ich glaube, ich kann es mir leisten. Wie ist deine Nummer?«

Ich gab sie ihm an. Ich wollte einen Witz machen, mich über meine eigene Bemerkung wegen des R-Gesprächs lustig machen, aber er ließ mir nicht die Zeit dazu. »Gut«, sagte er. »Ich lasse von mir hören.« Er legte auf. Ich erinnere mich, daß er nichts von Terence sagte. Aber ich hatte schließlich auch nicht »Einen schönen Gruß an Meg« gesagt oder so etwas. Er kennt Terence doch gar nicht. Ach, denk jetzt nicht mehr dran. Es hat keinen Sinn, eine große Sache aus etwas zu machen, was jemand zu sagen vergessen hat.

Mama. Ich erinnere mich, daß ich »Polyp« im Lexikon nachschlagen wollte und dann an meinen Vater denken mußte.

Mein Vater starb während des Krieges. Er starb im Bett. Er starb an einer Gehirnblutung im alten Park Plaza Hotel in New York. Er diente damals in der kanadischen Armee und war auf Urlaub. Ralph Davis erzählte Dick, daß Daddy mitten im Geschlechtsverkehr gestorben war. Eine Frau sei bei ihm im Bett gewesen und die kanadische Botschaft in Washington habe Mühe gehabt, eine gerichtliche Untersuchung der Todesursache zu verhindern. Im Sattel gestorben. Ich sehe Dick noch vor mir, wie er es mir sagte, wie er dabei verlegen und wie ein Schuljunge lachte. Ich war zehn, als mein Vater starb, fünfzehn, als Dick es mir erzählte. Ich weiß nicht, ob er ahnt, wie sehr diese häßliche Episode mein Leben beeinflußt hat – wie ich, bis ich achtzehn, zwanzig war, jedesmal innerlich erstarrte, wenn ein Junge sich mir zu nähern versuchte, weil ich Angst hatte, ich könnte so werden wie mein Vater. Und manchmal, wenn ich mit jemandem zusammen bin, wie zum Beispiel mit Janice, dann sehe ich, wie der Betreffende mich anblickt, und weiß, er denkt, ich ginge mit jedem ins Bett, und ich habe dann das törichte Verlangen, demjenigen zu sagen, daß ich nicht so bin – daß ich nur in meinen Träumen so bin, jenen Träumen, in denen ich mit nackten Männern in Hotelzimmern zusammenliege, und ich weiß, daß diese Träume mit der Geschichte von meinem Vater zu tun haben, die Dick mir erzählte, und mit meiner Angst, daß ich irgendwie so sein könnte wie mein Vater.

Bin ich so wie er? Ich weiß es nicht. Ich war auf der Schule, als er starb. Ich erinnere mich an die Beerdigung – die Lafette, die schottischen Dudelsackbläser, die eine Trauermelodie spielten, Daddys Soldatenmütze oben auf der Fahne, die den Sarg bedeckte. Es regnete. Oder regnete es nicht? Ich war dabei, aber erinnere ich mich wirklich daran, hat man mir nicht nur immer wieder davon erzählt, von der Lafette, den Dudelsackbläsern, der Flagge, der Mütze auf dem Sarg? Erwachsene erzählen uns Dinge, die geschahen, als wir klein waren. »Du warst in Halifax, wir haben dich von der Schule abgeholt, erinnerst du dich nicht mehr an die Beerdigung? Nein, wahrscheinlich erinnerst du dich nicht mehr, du warst noch zu klein.« Aber Kinder sind beleidigt, wenn man sie für zu klein hält, sie wollen erwachsen sein, und so lauschen sie aufmerksam, wenn die Erwachsenen etwas erzählen, woran sie, die Kinder, sich nach Meinung der Älteren erinnern müßten; sie merken es sich und gelangen mit der Zeit zur Überzeugung, daß sie sich tatsächlich daran erinnern. Aber das ist eine Täuschung.

Ich erinnere mich nicht an die Beerdigung meines Vaters. Ich erinnere mich nicht einmal mehr genau an meinen Vater. Er ist für mich eine gerahmte Fotografie im Schlafzimmer meiner Mutter in Butchersville. Er trägt eine Offiziersmütze. Er hat einen großen Schnurrbart. Seine Augen blicken lustig. Er sieht jung aus. Ich hasse Schnurrbärte. Ich hasse Hintertreppenehebrecher, die zu ihrer Frau nach Hause kommen, als wäre nichts geschehen. Ich hasse Offizierstypen. Ich hasse Männer, die Uniformen mögen. Ich hasse Charmeure. Er soll einer gewesen sein. Ein Charmeur. Daniel Malone Dunne. Dan Dunne. Malone hieß, wie Großmama Dunne sagte, ein irischer Bischof, der Tausende von irischen Auswanderern nach Australien gebracht haben soll, um sie vorm Hungertod zu bewahren. Mein Urgroßvater habe mit dieser Auswanderergruppe nach Australien gehen wollen und habe seinem gerade zur Welt gekommenen Jungen den Namen des Bischofs gegeben. In letzter Minute überlegte es sich Urgroßvater Dunne anders, brachte selbst das Geld für die Überfahrt auf und fuhr nach Quebec. Wenn er nach Australien gegangen wäre, hätte es mich nicht gegeben. Daran muß ich manchmal denken.

Wenn ich meinen Vater gar nicht richtig gekannt habe, wenn ich mich kaum an ihn erinnern kann, so ist es eigentlich lächerlich, daß ich mir die Umstände, wie er starb, so nahegehen lasse. Vater unser, der du bist in der Hölle, verflucht sei dein Name. Wenn ich nicht mehr an diesen Gott glaube, den ich verspotte, ist es dann Blasphemie, wenn ich mich über das Vaterunser lustig mache? Und warum (ich bin ja nicht gläubig) – warum ist es mir hier im Dunkeln ein Trost, dieses Gebet falsch zu sagen, so wie es mir als Kind ein Trost war, es richtig zu sagen? Gebete sind Zaubersprüche, sie klopfen an Holz, ich weiß, und doch habe ich heute, als ich nach diesem Telefongespräch mit Dick ins Wohnzimmer zurückging und im Lexikon »Polyp« nachschlug, zu beten versucht. Polyp: tumorartige Wucherung der Schleimhäute. »Tumor« ist ein Wort, das einem in die Glieder fährt, und ich begann auf der Stelle, wie ich das schon so oft getan hatte, eine flehentliche Bitte zum Allmächtigen hinaufzuschicken. Und wie mir das jedesmal passiert, kam ich damit nicht zu Ende und hielt inne und schämte mich über meine Vorstellung von einem Gott, der auf die von der Panik diktierten, gotthassenden Gebete von jemandem wie mir etwas geben sollte. Und so konnte ich nicht einmal für dich, Mama, beten und dachte an dich, die du beten kannst und dort in einem Bett des Lord Tweedsmuir Memorial Hospital in Wolfville liegst und dein Gebet sprichst, ehe sie mit dem Pentothalnatrium kommen, um dich für die Operation einzuschläfern. Ich nahm mir vor, nach Wolfville zu fliegen, um bei dir zu sein, und als ich dieses Gelübde tat, begann ich zu zittern (ich weiß nicht, warum), und aus dem Zittern wurde eine Art Schüttelfrost, als Ella Mae hinter mir ins Zimmer kam, den Staubsauger anschloß, einschaltete und dieses Geräusch, das schon normalerweise schlimm genug ist, mich ins Schlafzimmer hinüberjagte, wo ich die Tür zuschlug und im stillen über Ella Mae schimpfte, dieses faule Weibsstück, das fünfzehn Dollar kriegt für einen Tag Saubermachen, den sie praktisch auf vier Stunden abkürzt, indem sie morgens spät kommt und nachmittags früh geht, und wenn sie keine Negerin und ich nicht so krankhaft liberal wäre, würde ich ihr das auch ins Gesicht sagen.

Aber noch während ich auf Ella Mae wütend war, wußte ich, daß es nichts mit ihr zu tun hatte, es war meine verwünschte prämenstruelle Verkrampfung, die mich zu dieser Wut aufstachelte, die dieses Zittern auslöste, das zum Schüttelfrost wird, ohne daß ich etwas dagegen unternehmen könnte, geradeso, als ob mein Herz eine Maschine wäre, die sich plötzlich in mir aus ihrer Verankerung löst und meinen Körper in Stücke reißen möchte. Die Tage, die einmal im Monat über mich kommen wie ein Fluch, mir abwechselnd Mord- und Selbstmordgedanken eingeben, machen, daß ich weinen möchte, mir krank oder töricht oder verstört vorkomme und dasitze wie geschlagen und das Gefühl habe, eine Art anderes Ich beginne in mir Amok zu laufen. So wie heute morgen, als ich in meinem Schlafzimmer saß und auf die Putzfrau wütend war und dann in eine völlig unsinnige Panikstimmung verfiel, als draußen in der Diele die Haussprechanlage läutete. Ella Mae schaltete den Staubsauger aus und ging zum Apparat, während ich hinter meiner Tür saß wie ein zum Tode Verurteilter, der auf das Hinrichtungskommando wartet. So lächerlich das klingt – es ist keine Übertreibung. Und doch wußte ich, weiß ich (hör mir zu, Mary Dunne, wer immer und wo immer du auch bist), daß ich keinen Grund zu einer solchen Angst hatte, ich habe kein Verbrechen begangen, ich bin, an allen gewöhnlichen Maßstäben gemessen, eine glückliche Frau, diese Ängste sind völlig unbegründet, und es war einfach sinnlos, daß ich so zitterte hinter meiner Schlafzimmertür, und einem, der tatsächlich in einer Todeszelle ist, muß meine Furcht wahrhaftig töricht vorkommen. Und doch übertreibe ich nicht, wenn ich sage, daß ich in diesen Augenblicken auf Ella Maes Rückkehr von der Sprechanlage wartete wie auf mein Todesurteil.

»Jemand für Sie, sagt der Portier.«

Ich weiß nicht mehr, mit welchem Argument ich mich dazu brachte, aufzustehen, die Tür zu öffnen, in die Diele zu gehen und den Hörer der Sprechanlage ans Ohr zu halten. »Hallo?« sagte ich, wie vor dem Verdammungsurteil zitternd, als zu meiner Beruhigung die Stimme des Portiers heraufschwebte, verzerrt wie eine Botschaft aus einem Raumschiff. »Ein Mister Peepers will Sie sprechen.« Ich rief zurück. »Peepers? Was möchte er?«

Wieder die elektronisch hallende Stimme des Portiers: »Wegen der Wohnung.«

Ach, mein Gott, das hatte ich ganz vergessen – Terence hatte wegen der Untervermietung unserer Wohnung im nächsten Sommer eine Anzeige in die Times gesetzt, und daraufhin rief gestern jemand an. Ein Mr. Peters. Ich hatte mir den Namen auf dem Block neben dem Telefon im Schlafzimmer notiert. Er solle ihn heraufschicken, sagte ich dem Portier und lief dann zu einem kurzen Blick in den Spiegel ins Schlafzimmer zurück. Ich sah erträglich aus, und Ella Mae machte gerade die Wohnung sauber. Die Türklingel läutete und läutete. Wenn Ella Mae einmal öffnen sollte, tat sie es bestimmt nicht.

Mr. Peters. Vom ersten Augenblick an hatte ich das Gefühl, ihn irgendwo schon gesehen zu haben. »Mrs. Lavery?« fragte er. Und dann: »Meine Karte.« Er reichte sie mir. Ich blickte darauf: keine Adresse, nur der Name, Karl Dieter Peters. Ich legte sie in die kleine silberne Schale auf der Kapitänstruhe im Flur und wurde mir dabei bewußt, daß es die erste richtige Visitenkarte war, die ich an diesen ihr gebührenden Platz tat. Und gleichzeitig grinste das Ich, das noch vor fünf Minuten in düsterster Stimmung gewesen war, über die Art und Weise, wie Mr. Peters seinen alten perlgrauen Hut zog und über die Schwelle trat, klein und lebhaft, mit rosigen Nikolausbacken, mit Spitzbärtchen, in einreihigem Mantel (gut im Schnitt, aber so alt, daß er um den schwarzen Samtkragen herum schon graugrün war); einen Rohrstock mit Silberknauf und gelbe Wildlederhandschuhe in der Hand, und mit einem sehr förmlichen, gezierten Gebaren, als vollführte er die ersten Schritte einer Gavotte, war er ein richtiger lieber alter Herr, man hätte ihn sofort bei sich aufnehmen und behalten mögen.

Das war also mein erster Eindruck, ich ließ mich gleich von ihm einnehmen, als er fragte, ob er seinen Mantel ablegen dürfe, sehr liebenswürdig, vielen Dank, sagte er, zog den Mantel aus und legte den Hut und die Handschuhe darauf, und da stand er in einem marineblauen zweireihigen Blazer und einem weißen Hemd mit einer Krawatte aus Seidenrips, die wie seine übrige Kleidung fast zu abgetragen, aber immer noch sauber und ordentlich war. Und er selbst war, wie seine Kleider, sehr, sehr alt, aber das fiel mir nicht gleich auf, denn er behielt seinen Stock zwar in der Hand, aber eher mit der Gestik eines Dandys als mit der eines Tattergreises, und erst als er gegen die Kapitänstruhe stieß und mit seiner alten Hand vorfühlte und mit den Fingern die Kante des Hindernisses zu ertasten versuchte, als spielten sie auf einem Klavier die Tonleiter, merkte ich, wie schlecht er sah.

Aber er mußte doch ganz gut sehen, denn im Wohnzimmer blickte er sich um und sagte: »Hm, was für ein hübscher Schrank.« Und der Schrank ist, wenn er auch nicht gleich hervorsticht, tatsächlich das schönste Einrichtungsstück in diesem Zimmer, der Schrank und der Orientteppich, den er ebenfalls bemerkte und mit einer beifälligen Äußerung bedachte. Dann fragte er, ob er auch die anderen Räume sehen dürfe, worauf wir vielleicht einmal über die Vermietung sprechen könnten, ja? Ich sagte, wunderbar, und los ging’s auf einen Rundgang durch die Wohnung, und in jedem Zimmer entdeckte er immer die interessantesten Dinge, etwa meine Miniaturensammlung und die schönen alten Kupfertöpfe, die ich für ganz wenig Geld am South Shore erstanden habe. Die ganze Zeit über war ich innerlich vollkommen ruhig, und ich sagte mir, wie nett er doch ist, als mich plötzlich in der Küche ein Gedanke beunruhigte: Warum wollte ein so alter Mann ein Apartment in der Stadt für nur drei Monate mieten, und warum interessierte er sich für ein Apartment mit zwei Schlafzimmern und zwei Badezimmern, das doch offensichtlich viel zu groß für ihn war? Und als sich keine Antwort auf diese Frage einstellen wollte, geriet ich wieder in die gefährliche Nähe einer Panikstimmung. Um dem vorzubeugen, wandte ich mich zu ihm um und machte ihn darauf aufmerksam, daß der Küchenherd einen eingebauten Thermostat habe. »Aber das interessiert sicher mehr Ihre Frau, nicht wahr?« Und ich sah ihn dabei fragend an. Aber er ging nicht darauf ein, sondern nickte nur und verließ die Küche.

Hast du gesehen, sagte mein verrücktes Ich, er weicht aus, er will nicht antworten. Nun hör auf, mahnte das vernünftige Ich. Das ist doch Unsinn. Natürlich hat er eine Frau, sie konnte nur nicht mitkommen. Und wahrscheinlich brauchen sie das zweite Schlafzimmer, weil ihre Enkel sie in den Ferien besuchen.

Aber es nützte nichts. Als wir ins Wohnzimmer zurückgingen und uns setzten, mußte ich die Hände unter die Beine schieben, so sehr zitterten sie. Mir war aufgefallen, daß er mit britischem Akzent sprach – zumindest kam es mir so vor –, und die Unterhaltung entwickelte sich etwa folgendermaßen:

»Hm, ich hoffe, ich bin nicht ungelegen gekommen und halte Sie nicht zu sehr auf?«

»Nein, nein, keineswegs.«

»Ich dachte, am Nachmittag sei es, hm, günstiger, gewissermaßen, aber Sie, hm, sagten ja, lieber heute morgen, erinnern Sie sich?«

»Ja, das sagte ich. Ja, mir paßt es heute morgen sehr gut. Und – gefällt Ihnen die Wohnung?«

»Reizend, ja. Sie haben schöne Sachen.«

»Das ist es eben«, sagte ich. »Ich meine, deshalb haben wir uns Sorgen gemacht; wir werden den ganzen Sommer in Europa verbringen, und mein Mann ist der Ansicht, wenn wir einen passenden Mieter finden könnten, wäre das besser, als die Wohnung leerstehen zu lassen.«

»Hm, ja, ja.«

»Die Miete wäre dreihundert Dollar, was weniger ist, als wir selber zahlen. Und dazu möbliert, natürlich.«

Wie geht das zu, daß ich mir immer unehrlich vorkomme, wenn ich mit einer geschäftlichen Transaktion zu tun habe? Jedes Wort, das ich sage, ist wahr, die Wohnungsmiete beträgt dreihundertfünfzig, unmöbliert, aber einfach, weil ich das Angebot machte und er der Interessent war, kam ich mir wie ein Betrüger vor, und ich dachte, Terence, der Teufel soll ihn holen, es war seine Idee, das Apartment zu vermieten, warum erledigt er das dann nicht selbst?

Auf einmal stieß der alte Mann ein so lautes »Hm« aus, daß ich glaubte, er würde ersticken, aber nein, er räusperte sich nur und vervollständigte diesen Vorgang, indem er ein großes weißes Taschentuch zückte, es um Daumen und Zeigefinger legte, die Nase packte und dann zu einem gründlichen altmodischen Trompeten, Niesen und Ausräumen aller Nasengänge ansetzte, um danach das weiße Taschentuch säuberlich zusammenzufalten, wobei er mit geröteten Bäckchen und tränenden Augen zu lächeln anfing. »Entschuldigen Sie«, sagte er. »Hm. Nun, Mrs. Lavery, dieser Preis ist – ist sehr kulant für dieses Viertel hier. Ich weiß das. Drüben an der West Side, da kommen doch diese vielen Morde vor, und da stechen farbige Burschen die Leute im Fahrstuhl nieder – nun, Mrs. Lavery, hm, ich weiß zufällig, daß man in manchen dieser Häuser dort mehr Miete fordert, als Sie hier verlangen.«

Ich weiß noch, daß ich dachte, er scheint ja über Mietpreise gut informiert zu sein, er ist überhaupt gut im Bilde, denn er begann auf einmal sehr praktische Fragen zu stellen – Gießen der Blumen, Abtauen des Kühlschranks – und sprach sehr vernünftig über alles und benahm sich ganz so wie jemand, der die Wohnung nehmen will, und als er mir zu verstehen gab, daß mein Mietangebot recht günstig sei, vergaß ich völlig meine Sorgen und fragte mich nicht mehr, wozu er die Wohnung haben wollte. Es war eine merkwürdige Situation – er ließ mich irgendwie fühlen, daß ich ihm einen Gefallen tat, und das erweckte in mir natürlich das Verlangen, ihm noch weiter gefällig zu sein, und deshalb hörte mein Zittern auf, und obwohl es schon nach zwölf war und ich mich um eins mit Janice Sloane zum Lunch treffen wollte, erinnere ich mich, daß ich aufstand, zur Anrichte ging, wo wir die Getränke aufbewahren, und ihn fragte, ob ich ihm eine kleine Erfrischung anbieten dürfte.

»Halte ich Sie auch bestimmt nicht auf, Mrs. Lavery?«

»Nein, nein, machen Sie sich keine Sorgen.«

»Ja, dann – einen trockenen Sherry vielleicht?« Sprach’s und erhob sich, auf seinen Stock gestützt, und kam zur Anrichte herüber. Er betrachtete den Sherry, den ich gerade einschenkte. »Hm«, sagte er. »Wisdom and Warter. Sherryweine und Spirituosen. Sehr gut, sehr gut.« Und ich mußte lachen und sagte: »Sie wissen aber auch wirklich alles, Mr. Peters«, denn von Wisdom & Warer zu wissen – na ja, immerhin. Und er lachte auch. »Nein, nein, das würde ich nicht sagen, Mrs. Lavery. Und Sherry-Lehmann, ja, das ist eine gute Weinhandlung.«

Und da hatte ich einen Augenblick lang das Gefühl, daß ich ihn kenne. Ich erinnere mich, als ich ihm das Sherryglas reichen wollte, hielt ich plötzlich inne, als sollte ich fotografiert werden, denn das war der Augenblick, als ich ihn erkannte und gleich wieder nicht mehr wußte, wer er war, und nur noch wütend auf mich selbst sein konnte, weil ich in diesem flüchtigen Ringen mit meinem Gedächtnis unterlegen war. Ich reichte ihm den Sherry und starrte ihn an, als er einen kleinen Schluck davon trank, ein alter Mann in der eisernen Maske der Anonymität. Und dann dachte ich, hör mal, wenn er mein Mieter werden soll, habe ich das Recht zu wissen, wer er ist, und so fragte ich ihn, ob er New Yorker sei, und er sagte, nein, er wohne in Montauk Point draußen auf Long Island und er habe gehört, daß er in der Feriensaison seine Wohnung für sehr viel Geld vermieten könne, und so sei er auf den Gedanken gekommen, durch Vermieten diesen Sommer etwas Geld zu verdienen und so lange in die Stadt zu ziehen.

Ich kenne Montauk. Im Jahr meiner »Theaterkarriere« habe ich im Sommer im Repertoireensemble des John Drew Theatre in East Hampton mitgespielt. Es ist durchaus möglich, dachte ich, daß so ein alter Mann fast ein Jahr davon leben kann, wenn er dort ein hübsches Haus hat und es für die Dauer der Saison vermietet. Nur daß er sich in unserer Wohnung einmieten wollte, paßte nicht ins Bild. Dazu war sie viel zu teuer.

Und mit diesem Gedanken kehrte meine Unruhe zurück. »Aber wird es nicht zu groß sein – ich meine, dieses Apartment hier?«

Er lächelte, wie Schwerhörige lächeln, und drehte den Stiel seines Sherryglases.

»Dann wollen Sie – ich meine, dann haben Sie also wirklich die Absicht, unsere Wohnung zu nehmen?«

»Hm.« Er stellte das Glas sehr behutsam auf den Couchtisch. »Ja, um ehrlich zu sein – ich habe noch ein anderes Apartment auf meiner Liste, das ich mir gern ansehen möchte, ehe ich mich entscheide. Hm. Ist Ihnen das recht?«

»Natürlich.«