3Christoph Menke

Autonomie und Befreiung

Studien zu Hegel

Suhrkamp

7James Conant und Andrea Kern 

Analytischer Deutscher Idealismus
Vorwort zur Buchreihe

Die Philosophie des Deutschen Idealismus – und damit meinen wir die Philosophie von Kant bis Hegel – scheint vielen durch die analytische Philosophie überholt. Nicht selten wird sie als Gegenprojekt zu dieser Tradition der Philosophie verstanden. Mit der Buchreihe »Analytischer Deutscher Idealismus« wollen wir sichtbar machen, daß die Philosophie des Deutschen Idealismus keinen Gegensatz zur analytischen Philosophie darstellt, sondern umgekehrt ihr Maßstab und Fluchtpunkt ist.

Die Reihe antwortet auf eine intellektuelle und gesellschaftliche Herausforderung, die durch die Renaissance des Naturalismus in den Wissenschaften erneut ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt ist. Sie liegt in der für uns grundlegenden Frage, wie wir es verstehen können, daß wir geistbegabte Tiere sind, die einerseits das, was sie tun, aus Freiheit tun, deren Leben aber andererseits durch Gesetzmäßigkeiten bestimmt ist, die sie nicht selbst hervorgebracht haben. Es ist offenkundig, daß man diese Frage nicht beantworten kann, indem man ihre eine Seite – die Freiheit des Menschen – leugnet. Eine Naturalisierung des Geistes, die leugnet, daß all das, was das menschliche Leben ausmacht – Denken, Sprechen, Handeln, soziale Institutionen, religiöser Glaube, politische Ordnungen, Kunstwerke etc. –, Gegenstände sind, die, um mit Kant zu sprechen, dem Reich der Freiheit angehören, löst das Problem nicht, sondern kapituliert vor ihm. Doch auch wenn jeder sieht, daß diese Leugnung, die der Szientismus unablässig predigt, nicht das Resultat einer Erkenntnis sein kann, sondern vielmehr Ausdruck einer intellektuellen Hilflosigkeit ist, führt uns diese Reaktion ebenso vor Augen, daß die Frage nach der Einheit von Geist und Natur eine echte Frage ist, bei deren Beantwortung unser Selbstverständnis als geistige Wesen auf dem Spiel steht.

Die beschriebene Situation ist indes nicht neu. Blicken wir ins 18. Jahrhundert zurück, erkennen wir eine ähnliche intellektuelle Lage. Auch damals war es der Fortschritt der modernen Naturwissenschaften, der unser Selbstverständnis als geistbegabte Tiere 8herausgefordert hat. Der Deutsche Idealismus antwortet auf diese Herausforderung, indem er die Philosophie explizit durch die Frage nach der Einheit von Geist und Natur definiert. Im Angesicht der modernen Naturwissenschaft ringt die Philosophie von Kant bis Hegel darum, die zwei Seiten des Menschen zusammenzubringen: daß er ein Tier ist und doch ein geistiges Wesen, daß er Natur ist und doch Gesetzen unterliegt, die von anderer Art sind als die Gesetze der Natur: Gesetzen der Freiheit. Die Philosophie des Deutschen Idealismus ist von dem Bewußtsein durchdrungen, daß das Begreifen dieses Verhältnisses – des Verhältnisses von Geist und Natur, wie Hegel es zu Anfang seiner Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften formuliert – die bestimmende Aufgabe der Philosophie ist. Wenn wir daher mit der Buchreihe »Analytischer Deutscher Idealismus« die Philosophie des Deutschen Idealismus stärken wollen, dann weil wir meinen, daß der Deutsche Idealismus für die intellektuelle Herausforderung, der wir uns gegenübersehen, die maßgebliche Orientierung ist. Der Deutsche Idealismus liegt nicht hinter uns, sondern vor uns. Damit meinen wir, daß die Art und Weise, wie der Deutsche Idealismus seine grundlegenden Begriffe und Ideen, allen voran die Begriffe der Freiheit, der Vernunft und der Selbstbestimmung, entwickelt und artikuliert, dem gegenwärtigen philosophischen Bewußtsein vielfach unbekannt und verstellt ist. Das liegt teilweise daran, wie die Philosophie in Westdeutschland nach 1945 mit diesem philosophischen Erbe umgegangen ist. Sie hat ihre durch den Nationalsozialismus verursachte Verstümmelung viel zu wenig als solche erfaßt und zu heilen gesucht. Damit hat sie sich in eine Lage gebracht, in der sie aus sich heraus nicht mehr die Mittel schöpfen konnte, um die Begriffe und Ideen, in denen sie zu Recht ihre Bedeutung sah, so zu artikulieren, daß sie als Maßstab der systematischen Arbeit erscheinen konnten. Für einen großen Teil der Jüngeren wurde dieser Maßstab statt dessen die analytische Philosophie angloamerikanischer Prägung.

So wichtig diese Erneuerung der Philosophie war, so entstand dadurch doch der falsche Eindruck, die analytische Philosophie und die Philosophie des Deutschen Idealismus seien Gegensätze, nämlich Orientierungen und Vorgehensweisen, die nicht nur nichts miteinander zu tun haben, sondern einander ausschließen. Die Bücher dieser Reihe möchten darum auch sichtbar machen, daß der Deutsche Idealismus von Kant bis Hegel nicht nur kein 9Gegensatz zur analytischen Philosophie ist, sondern eine Form, und zwar eine maßgebliche Form, der analytischen Philosophie. Der Deutsche Idealismus, als analytische Philosophie, ist eine Reflexion auf elementare Formen des Denkens und damit auf die Quelle unserer grundlegenden Begriffe, die diese Begriffe zugleich als notwendig ausweist. Philosophie ist, so sagt es Hegel, der Versuch, das Denken aus sich selbst zu begreifen. Sie ist ein Begreifen des Denkens, das von keinen »Voraussetzungen und Versicherungen« abhängt, wie er sagt, eine radikal voraussetzungslose Untersuchung der Voraussetzungen des Denkens. Darin liegt der gemeinsame Zug der Philosophie des Deutschen Idealismus: daß die Begriffe, die sie durcharbeitet, von nirgendwo her – von keiner Wissenschaft und keinem Common Sense – übernommen werden, sondern diese Begriffe nur so weit verwendet werden, wie sie als notwendig für das Denken erkannt werden. Diese Einsicht, daß die Philosophie ihre Begriffe nur aus dem Denken selbst nehmen kann, macht den radikalen Anspruch des Deutschen Idealismus aus. Und so ist die Idee der analytischen Philosophie, die Idee der Philosophie als logischer Analyse der grundlegenden Formen des Denkens und der Aussage, nirgends so streng durchgeführt worden wie im Deutschen Idealismus.

Unter dem Label »Analytischer Deutscher Idealismus« versammelt die Buchreihe Texte und Bücher, die auf exemplarische Weise Philosophie als analytische Aufklärung verstehen, im Geist und mit den Begriffen des Deutschen Idealismus. Die analytische Philosophie kommt erst da zu sich selbst, wo sie sich nicht von der idealistischen Philosophie abwendet, sondern auf diese ausgerichtet ist: in ihren Grundbegriffen und in der Radikalität ihrer Methode. Das mag manchen als provokante These anmuten, doch es gibt viele Beispiele, die ihr entsprechen. Gottlob Freges Begriffsschrift, die vielen als Gründungsdokument der analytischen Philosophie gilt, ist kein Gegenprojekt zum Deutschen Idealismus, sondern eine Weiterführung der kritischen Philosophie Kants. Und wenn wir uns zwei andere große Werke der analytischen Philosophie vergegenwärtigen, Wilfrid Sellars’ Empiricism and the Philosophy of Mind (dt.: Der Empirismus und die Philosophie des Geistes) und Peter Strawsons The Bounds of Sense (dt.: Die Grenzen des Sinns), sehen wir, daß sich die herausragenden Repräsentanten der analytischen Philosophie niemals vom Deutschen Idealismus abgewendet, 10sondern stets dessen Nähe gesucht haben. Das offizielle Selbstverständnis der analytischen Philosophie, in dem sie sich dem Empirismus verschreibt und sich damit dem Deutschen Idealismus entgegensetzt, ist ein Selbstmißverständnis. Der Empirismus, der sich für aufgeklärt hält, weil er die empirischen Wissenschaften zum Maß der Erkenntnis erklärt, ist in Wahrheit der Widersacher der analytischen Philosophie, nämlich der radikalen, der grundlegenden Analyse der Formen unseres Denkens und Verstehens. Soweit der Empirismus die analytische Philosophie dominiert, verdeckt er deren eigentliche Orientierung, die dieselbe ist wie die des Deutschen Idealismus.

Christoph Menkes Autonomie und Befreiung ist der fünfte Band dieser Buchreihe, die 2015 durch Wiedererinnerter Idealismus von Robert B. Brandom eröffnet wurde. Beide Bände eint dabei auf interessante Weise, wie sie die Philosophie Hegels zur Geltung bringen. Beide sehen den besonderen Beitrag, den die Philosophie Hegels für unser heutiges Verständnis bereitstellt, darin, wie Hegel die Frage nach der Freiheit und der darin gründenden Normativität des menschlichen Daseins stellt: Er stellt sie als eine Frage nach etwas – einem Vermögen, einem Status –, dem es wesentlich ist, daß es geworden ist, und für dessen Verständnis die Art seines Werdens daher zentral ist.

Christoph Menke ist Professor für Philosophie an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. In dem vorliegenden Band zeigt er, was wir nach Hegel unter Freiheit zu verstehen haben, wenn wir Freiheit, wie Hegel dies tut, von ihrem Werden her verstehen. Freiheit erweist sich in dieser Betrachtung als ein gesellschaftlich gebildetes Vermögen der zweiten Natur des Menschen, das aus einem dialektischen Prozeß der Befreiung hervorgeht. Indem Menke mit Hegel die Freiheitsproblematik aus der Perspektive ihres Werdens in den Blick nimmt, schärft er unser Bewußtsein für die Spannungen, die zum Verständnis der menschlichen Freiheit gehören und die er als unaufhebbar deutet.

Die Buchreihe wird von einem internationalen Forschungszentrum getragen, dem Forschungskolleg Analytic German Idealism (FAGI), das 2012 an der Universität Leipzig gegründet wurde und dessen Arbeit durch ein international besetztes Gremium unterstützt wird (siehe http://www.sozphil.uni-leipzig.de/cm/fagi/). Ziel des FAGI ist es auch, die Stimme des Analytischen Deutschen 11Idealismus in die außerakademische Öffentlichkeit hineinzutragen und ihr Gewicht in den Debatten über unser Selbstverständnis zu stärken.

13Autonomie und Befreiung

15Vorwort

In den Kapiteln dieses Bandes möchte ich ausloten, wie weit man mit Hegel kommen kann, um eine grundlegende philosophische Frage zu beantworten. Diese Frage lautet, wie das Werden der Freiheit zu verstehen ist. Darin meint das Werden der Freiheit nicht ihre Vorgeschichte, die sie hinter sich lassen kann, um ihr eigenes Reich – das »Reich der Freiheit« – zu errichten. Das Werden der Freiheit, auf das sich die Frage richtet, bildet ihr Sein. Die Freiheit besteht nur in ihrem Werden. Das Werden der Freiheit ist das Sichhervorbringen der Freiheit: die Befreiung als Selbstbefreiung. Die Frage richtet sich also auf das Verständnis der Freiheit als Befreiung.

Die Frage nach der Befreiung an Hegels Philosophie zu stellen bedeutet nicht, daß dies die Grundfrage ist, die diese Philosophie im ganzen antreibt und begreifbar macht. Ich will in diesem Buch jedoch zeigen, daß die Häufigkeit, mit der Hegel in seiner Philosophie des Geistes von der Befreiung spricht, für sein Verständnis dessen, was der Geist, seine Tätigkeit und seine Freiheit sind, signifikant ist. Dabei geht es nicht darum, bei Hegel eine Antwort auf die Frage nach der Befreiung zu finden. Es geht um die richtige Formulierung des Problems der Befreiung; es geht darum, von Hegel zu lernen, wie die Frage nach der Befreiung auf die richtige Weise gestellt werden muß.

Dem nähere ich mich in zwei Schritten. Der erste Teil des Buches exponiert die Dialektik der Befreiung. Sie hat ihren Grund darin, daß der Selbstbefreiung des Geistes durch die Weise, in der sie sich allein vollziehen kann, von vornherein die Bildung neuer Unfreiheit eingeschrieben ist. Die Befreiung ist durch eine interne, unauflösliche Gegenwendigkeit bestimmt; sie schlägt durch sich selbst in Herrschaft um. Das Feld, in dem sich diese Gegenwendigkeit entfaltet, nennt Hegel »Gesellschaft«. Die Gesellschaft ist zugleich das Medium der Befreiung und das der Unfreiheit. Denn die Gesellschaft bildet eine zweite Natur, in der der Geist sich nur so verwirklichen kann, daß er sich dabei verliert. Der Geist selbst macht seine Wirklichkeit »zu etwas Geistverlassenem« (Hegel).

Der zweite Teil erkundet unter dem Titel Kritik und Affirmation, welche Lehre aus der Erfahrung ihrer Dialektik für den Begriff 16der Befreiung zu ziehen ist. Diese Lehre ist eine doppelte. Einerseits muß die Befreiung eine Haltung der Kritik sein: die Kritik der Gesellschaft als zweiter Natur (die aber, weil die zweite Natur in der Befreiung gründet, nur eine Selbstkritik der Befreiung sein kann). Zugleich jedoch muß die Befreiung eine Haltung der Affirmation sein. Sie muß den Selbstverlust des Geistes in der zweiten Natur zu bejahen lernen: nicht als das Andere gegenüber der Freiheit, sondern als das Andere gegenüber der Freiheit in der Freiheit, durch die die Befreiung allein gelingen kann. Darin führt die Befreiung, die sich nur durch die Gesellschaft vollziehen kann, über die Gesellschaft hinaus. In der Bejahung der zweiten Natur befreit sich der Geist »absolut« oder »unendlich« (Hegel).

Die Abhandlungen rücken in beiden Teilen den Begriff der zweiten Natur ins Zentrum. Damit verfolgen sie Hegels Denken der Befreiung bis zu dem Punkt, an dem jeweils ein materialistisches Motiv hervortritt: eine materialistische Theorie der Gesellschaft, die die Gesellschaft als Einheit von Freiheit und Herrschaft analysiert (Teil I), und eine materialistische Theorie des Gelingens, die das Gelingen als Bejahung der Auswendigkeit des Geistes versteht (Teil II).

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Bis auf einen sind die hier versammelten Texte während meiner Zeit am Frankfurter Exzellenzcluster »Die Herausbildung normativer Ordnungen« entstanden. Darin haben sich intensive Forschungs- und Diskussionszusammenhänge entwickelt, für deren Ermöglichung ich den Sprechern, Mitgliedern und Mitarbeitern des Clusters danke. Mein herzlicher Dank gilt vor allem den langjährigen Teilnehmern des Forschungsprojekts »Gesetz und Freiheit«: Thomas Khurana, Dirk Quadflieg, Francesca Raimondi, Juliane Rebentisch, Dirk Setton und Tatjana Sheplyakova. Danken möchte ich überdies den Sprechern des Forschungskollegs »Analytic German Idealism«, James Conant und Andrea Kern, für die Aufnahme des Bandes in dessen Reihe; der Leiterin des Wissenschaftslektorats des Suhrkamp Verlags, Eva Gilmer, für ihren umsichtigen Rat und die genaue Bearbeitung des Textes; sowie Simon Gurisch, Marcus Döller und André Möller für ihre Hilfe bei der Endredaktion des Textes.

Frankfurt am Main, im Mai 2018

17I.
Dialektik der Befreiung