Drei Dichter ihres Lebens

Stefan Zweig

Drei Dichter ihres Lebens

Casanova. Stendhal. Tolstoi

FISCHER E-Books

Mit den Autorenporträts aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur.

Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITIK.

Inhalt

Impressum

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Covergestaltung: Ingrid Lutterbeck

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© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2012

 

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ISBN 978-3-10-400187-6

Fußnoten

Ich liebe keine Anmerkungen und noch weniger Polemik. Aber Rechtlichkeit zwingt mich, hier anzumerken, daß für eine erschöpfende Bewertung der prosaischen Kunstleistung Casanovas noch heute [1928] die entscheidende Grundlage fehlt, nämlich der Originaltext seiner Memoiren. Was wir kennen, ist leider nur eine willkürliche und durchaus eigenmächtige Verballhornung, die der Verlag F. A. Brockhaus, der Besitzer des Originalmanuskripts, durch einen französischen Sprachlehrer vor hundert Jahren anfertigen ließ. Nichts wäre nun natürlicher, als wenigstens der Wissenschaft endlich Einblick in den tatsächlichen Text Casanovas zu gewähren, und selbstverständlich haben sich Gelehrte aller Länder, Mitglieder der Akademieen in dringlichster Weise um diese Erlaubnis bemüht. Aber gegen die Brockhaus kämpfen selbst die Götter vergebens: das Manuskript blieb dank der Eigenmächtigkeit und Eigenwilligkeit der Besitzer unsichtbar im Eisenschrank der Firma versperrt, und so erleben wir den sonderbaren Fall, daß zufolge der Willkür eines Einzelnen eines der interessantesten Werke der Weltliteratur nur in grober Entstellung gelesen und gewertet werden kann. Selbst eine Angabe stichhaltiger Gründe für seine kunstfeindliche Hartnäckigkeit ist das Haus Brockhaus der Öffentlichkeit bis heute schuldig geblieben. St. Z.

[Kythera, eine der Göttin Aphrodite heilige Insel; Sinnbild der Liebe.]

[Céladon, der verliebte Schäfer im Roman ›L’Astrée‹ von Honoré d’Urfé (15671625).]

[Abgeleitet von der literarischen Gestalt des Mohren Rodomonte in den Werken von Matteo Maria Boiardo (um 14401494) und Ludovico Ariosto (14711533).]

[Karbonari, Köhler, nannten sich zu Anfang des 19. Jahrhunderts die Mitglieder einer geheimen politischen Gesellschaft in Italien, die sich die Befreiung von der französischen Herrschaft zum Ziel gesetzt hatte.]

[Eigentlich spanisches Nationalgericht aus gekochtem Fleisch, Kichererbsen und geräucherter Wurst.]

[In Samuel Richardsons Roman ›Clarissa‹ (1748) mißbraucht Robert Lovelace die betäubte Protagonistin.]

Stefan Zweig, ›Drei Meister. Balzac, Dickens, Dostojewskí‹, Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1998 ( = Fischer Taschenbuch Bd. 12 278).

Stefan Zweig, ›Der Kampf mit dem Dämon. Hölderlin, Kleist, Nietzsche‹, Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch Verlag ( = Fischer Taschenbuch Bd. 12 186).

Maxim Gorki
dankbarst und verehrungsvoll

Einleitung

[Das eigentliche Studium der Menschheit ist der Mensch.]

Pope

Innerhalb der darstellenden Reihe ›Die Baumeister der Welt‹, mit der ich versuche, den schöpferischen Geistwillen in seinen entscheidenden Typen und diese Typen wiederum durch Gestalten zu veranschaulichen, bedeutet dieser dritte Band gleichzeitig Gegenspiel und Ergänzung der vorangegangenen. ›Der Kampf mit dem Dämon‹ zeigte Hölderlin, Kleist und Nietzsche als dreifach abgewandelte Wesensform der von dämonischer Macht getriebenen tragödischen Natur, die ebenso über sich selbst wie über die reale Welt hinaus dem Unendlichen entgegenwirkt. Die ›Drei Meister‹ veranschaulichten Balzac, Dickens und Dostojewski als Typen der epischen Weltgestalter, die im Kosmos ihres Romans eine zweite Wirklichkeit neben die schon vorhandene setzen. Der Weg der ›Drei Dichter ihres Lebens‹ führt nun nicht wie bei jenen ins Unendliche hinaus und nicht wie bei diesen in die reale Welt, sondern einzig in sich selbst zurück. Nicht den Makrokosmos abzubilden, die Fülle des Daseins, sondern den Mikrokosmos des eigenen Ich zur Welt zu entfalten, empfinden sie unbewußt als entscheidende Aufgabe ihrer Kunst: keine Wirklichkeit ist ihnen wichtiger als jene der eigenen Existenz. Indes also der weltschöpferische Dichter, der extroverte, wie ihn die Psychologie nennt, der

Casanova, Stendhal, Tolstoi, diese drei Namen, ich weiß es, sie passen im ersten Zuklang mehr überraschend als überzeugend zusammen, und man wird sich zunächst das Wertniveau nicht erdenken können, auf dem sich ein lockerer, amoralischer Filou und zweifelhafter Künstler wie Casanova mit einem heroischen Ethiker, einem so vollkommenen Gestalter wie Tolstoi begegnet. Tatsächlich meint auch diesmal Beisammensein in einem Buche nicht Nebeneinandersein auf derselben geistigen Ebene; im Gegenteil, diese drei Namen symbolisieren drei Stufen, ein Übereinander also, eine immer erhöhte Wesensform gleicher Gattung, sie repräsentieren, ich wiederhole es, nicht drei gleichwertige Formen, sondern drei aufsteigende Stufen ebenderselben schöpferischen Funktion: der Selbstdarstellung. Casanova repräsentiert selbstverständlich nur die erste, die niederste, die primitive Stufe, nämlich die naive Selbstdarstellung, wo ein Mensch noch Leben mit äußerem sinnlichen und faktischen Erleben gleichsetzt und unbefangen Ablauf und Ereignisse dieses seines Daseins berichtet, ohne sie zu werten, ohne sich selbst zu durchforschen. Mit Stendhal erreicht die

Dieser Typus des selbstdarstellenden Künstlers weiß jede Kunstform mit seinem Ich zu erfüllen, aber nur in einer erfüllt er sich ganz: in der Autobiographie, im umfassenden Epos des eigenen Ich. Jeder unter ihnen strebt ihr unbewußt zu, wenige vermögen sie zu erreichen, erweist sich doch von allen Kunstformen die Selbstbiographie als die seltenst gelungene, weil verantwortungsvollste aller Kunstgattungen. Selten wird sie versucht (kaum ein Dutzend geistwesentlicher Werke zählt die unermeßliche Weltliteratur), selten auch versucht sich an ihr

 

Unbefangen betrachtet, müßte Selbstdarstellung als die spontanste und leichteste Aufgabe eines jeden Künstlers erscheinen. Denn wessen Leben kennt der Gestalter besser als sein eigenes? Jedwedes Geschehnis dieser Existenz ist ihm gewärtig, das Geheimste bewußt, das Verborgenste von innen offenbar – so brauchte er, um »die« Wahrheit seines Daseins und Gewesenseins zu berichten, keine andere Anstrengung, als das Gedächtnis aufzublättern und die Lebensfakten abzuschreiben – ein Akt also, kaum mühevoller, als im Theater den Vorhang über schon gestaltetem Schauspiel aufzuziehen, die abschließende vierte Wand zwischen sich und der Welt zu entfernen. Und noch mehr! Sowenig Photographie malerisches Talent erfordert, weil ein phantasieloses, bloß mechanisches Einfangen einer schon geordneten Wirklichkeit, scheint die Kunst der Selbstdarstellung eigentlich gar keinen Künstler zu bedingen, nur einen rechtschaffenen Registrator; prinzipiell vermag ja auch jeder Beliebige sein eigener Selbstbiograph zu werden und seine Fährnisse und Schicksale literarisch zu gestalten.

Aber die Geschichte belehrt uns, daß niemals einem gewöhnlichen Selbstdarsteller mehr gelungen ist, als bloße Zeugnisleistung über Tatsachen, die ihm der pure Zufall verstattete, mitzuerleben; das innere Seelenbild aus sich selbst zu erschaffen, fordert dagegen immer den geübten, schauensmächtigen Künstler, und selbst unter ihnen

Was aber drängt dennoch von Geschlecht zu Geschlecht immer wieder neue Versucher zu dieser

Erst später, tausend und abermals Hunderte von Jahren später in einer bewußteren und wissenderen Menschheit gliedert ein zweiter Wille dem noch nackten und dumpfen Selbstbezeugungstriebe sich zu, das individuale Verlangen, sich als ein Ich zu erkennen, sich zu deuten um des

Selbstschau aber, noch ist sie ein bloß vorbereitender, ein noch unbedenklicher Schritt: jede Wahrhaftigkeit hat es noch leicht, wahr zu bleiben, solange sie sich selber gehört. Erst mit ihrer Übermittlung beginnt die eigentliche Not und Qual des Künstlers, erst dann ist Heroismus der Aufrichtigkeit von jedem Selbstdarsteller gefordert. Denn gleich urtümlich, wie jener kommunikative Zwang uns drängt, das Einmalige unserer Person brüderlich allen mitzuteilen, waltet im Menschen ein Gegentrieb, der ebenso elementare Wille zur Selbstbewahrung, zur Selbstverschweigung: er spricht zu uns durch die Scham. Genau wie die Frau körperlich zur Hingabe durch Willen des Blutes strebt und durch Gegenwillen des wachen Gefühls sich selbst bewahren will, so ringt im Geistigen jener Beichtwille, uns der Welt anzuvertrauen, mit der

Für diesen unvermeidlichen Kampf gegen die

Tatsächlich, absolute Wahrhaftigkeit von einem Menschen in seiner Selbstdarstellung (und überhaupt) zu verlangen, wäre so unsinnig wie eine absolute Gerechtigkeit, Freiheit und Vollendetheit innerhalb des irdischen Weltraums. Der leidenschaftlichste Vorsatz, der

Kann derart keiner »die« Wahrheit, die absolute seines eigenen Daseins aussagen, und muß jeder Selbstbekenner zwanghaft bis zu einem gewissen Grade Dichter seines Lebens werden, so wird doch gerade die Anstrengung, wahr zu bleiben, das Höchstmaß ethischer Ehrlichkeit in

Das mag Trost bieten all jenen, die einen Niedergang der Kunst innerhalb einer technischen und wachgewordenen Welt unablässig verkündet hören. Die Kunst endet nie, sie wendet sich nur. Zweifellos mußte die mythische Bildnerkraft der Menschheit nachlassen: immer ist ja Phantasie am mächtigsten im Kindwesen, immer erfindet jedes Volk sich nur in seiner Lebensfrühe Mythos und Symbol. Aber für die schwindende Traumkraft tritt die klare und dokumentarische des Wissens ausgleichend hervor; man sieht diese schöpferische Versachlichung in

Casanova

[Er sagt mir, daß er ein freier Mann, ein Weltbürger sei.]

Und noch toller: Für so unendlichen Gewinst wagt Casanova gar keinen Einsatz, er hat schlankweg die Unsterblichkeit um ihren Preis geprellt. Nie erahnt dieser Spielmensch die unsagbare Verantwortung des wirklichen Künstlers, jene finster ungesellige Fron tagtief unter der sinnlich warmen Welt im Bergwerk der Arbeit. Er weiß nichts von der angstvollen Lust alles Planens und der ihr tragisch gebundenen, einem ewigen Durst ähnlichen Gier des Vollendens, von der wortlos herrischen, immer unbefriedigten Forderung der Formen nach irdischer Gegenständlichkeit und jener der Ideen nach abgelöster sphärischer Schwebe. Er weiß nichts von Nächten, die durchwacht, von Tagen, die hingebracht werden müssen im dumpfen, sklavischen Feilwerk der Worte, bis endlich der Sinn rein und regenbogenhaft die Linse der Sprache durchstrahlt, nichts von der vielfältigen und doch unsichtbaren, von der unbelohnten, oft erst nach Menschenaltern erkenntlichen Werkarbeit des Dichters, nichts auch von seinem heroischen Verzicht auf Wärme und Weite des Daseins. Er, Casanova, hat, weiß Gott, das Leben sich immer nur leicht gemacht, kein Gran seiner Freude, kein

Er erzählt sich sein Leben – dies seine ganze literarische Leistung – aber freilich, welch ein Leben! Fünf Romane, zwanzig Komödien, ein Schock Novellen und Episoden, eine traubige, überreife Fülle charmantester Situationen und Anekdoten, eingekeltert in eine einzige, strömende und überströmende Existenz: hier erscheint eben ein Leben, selbst schon füllig und rund, als vollendetes Kunstwerk ohne ordnende Beihilfe des Künstlers und Erfinders. Und so löst sich auf überzeugendste Weise jenes erst verwirrende Geheimnis seines Ruhmes – denn nicht, wie er sein Leben beschreibt und berichtet, zeigt Casanova als Genie, sondern wie er es gelebt. Das Dasein selbst ist dieses Weltkünstlers Werkstatt, Material und Form zugleich, und einzig diesem seinem wirklichen und ureigentlichen Kunstwerke hat er sich hingegeben mit der gleichen

Den lockern Genießern aber, ihren Gegenspielern, ihnen mangelt fast immer die Macht, das vielfältig Erlebte auszuformen. Sie verlieren sich an den Augenblick, und damit geht dieser Augenblick allen andern verloren, indes der Künstler auch das geringste Erleben zu verewigen weiß. So klaffen die Enden auseinander, statt sich fruchtbar zu ergänzen: den einen fehlt der Wein, den andern der Becher. Unlösbare Paradoxie: die Tatmenschen und Genießer hätten mehr Erlebnis zu melden als alle Dichter, aber sie vermögen es nicht – die Schöpferischen wiederum müssen dichten, weil sie selten genug Geschehnis erlebten, um es zu berichten. Nur selten haben Dichter eine Biographie und selten wiederum die Menschen der wahrhaften Biographieen die Fähigkeit, sie zu schreiben.

Da ereignet sich nun jener herrliche und beinahe einzige Glücksfall Casanova: endlich erzählt einmal ein passionierter Genußmensch, der typische Augenblicksvielfraß und dazu noch vom Schicksal begnadet mit phantastischen Abenteuern, vom Geist mit dämonischem Gedächtnis, vom Charakter mit absoluter Hemmungslosigkeit, sein ungeheures Leben, erzählt es ohne moralische Beschönigung, ohne poetisierende Versüßlichung, ohne philosophische Verbrämung, sondern ganz sachlich, ganz wie es war, leidenschaftlich, gefährlich, verlumpt, rücksichtslos, amüsant, gemein, unanständig, frech, ludrig, immer aber spannungsvoll und unvermutet – und erzählt überdies nicht aus literarischem Ehrgeiz oder dogmatischer Prahlerei oder bußfertiger Reue oder

»Wissen Sie, Sie sind ein sehr schöner Mann.«

Friedrich der Große, 1764 im Park von Sanssouci, plötzlich innehaltend und ihn betrachtend, zu Casanova

Theater in einer kleinen Residenzstadt: die Sängerin hat eben mit kühner Koloratur ihre Arie geendet, wie knatternder Hagel ist Beifall niedergeprasselt, jetzt aber, während der mählich einsetzenden Rezitative lockert sich allgemein die Aufmerksamkeit. Die Stutzer machen Besuche in den Logen, die Damen lorgnettieren, essen mit silbernen Löffeln die sublimen Gelati und den orangefarbenen Sorbet: beinahe unnötig, daß auf der Bühne indes Harlekin seine Lazzi [seine komischen Gebärden] mit einer pirouettierenden Colombine wirbelt. Da, mit einemmal wenden sich alle Blicke neugierig einem Fremden zu, der kühn und lässig zugleich mit der rechten Desinvoltura [Désinvolture, ungezwungene Haltung] eines vornehmen Mannes verspätet das Parkett betritt, jedem unbekannt. Reichtum umrauscht die herkulische Gestalt, ein aschfarben geschorenes Samtkleid schlägt sich faltig auf über zierlich durchstickter Brokatweste, und kostbare Spitzen, goldene Litzen zeichnen von den Halsspangen des Brüsseler Jabots hinab bis zu den seidenen Strümpfen die dunkleren Linien des Prunkgewandes mit. Die Hand trägt wie achtlos einen weißfedrigen Paradehut, ein dünner, süßer Duft von Rosenöl oder neumodischer Pomade weht dem vornehmen Fremden nach, der jetzt an die

Aber ehe die Hunderte im Saale die Charade dieses Fremden, das Rätsel seiner Herkunft, zu lösen vermögen, haben die Frauen in den Logen schon ein anderes bemerkt, mit Bestürzung fast: wie schön dieser fremde Mann ist, wie schön und wie sehr Mann. Mächtig von Wuchs, breit gequadert die Schultern, griffig die durchmuskelten fleischigen Hände, keine weichliche Linie in dem angespannten, stählern-männischen Leib, steht er da, den Nacken ein wenig gesenkt, wie ein Stier vor dem Ansturm. Von der Seite gesehen, dünkt dies Antlitz eine römische Münze, so messerscharf und metallen ist jede einzelne Linie von dem Kupfer dieses dunklen Hauptes abgeschrägt. Mit schönem Schwung wirft eine Stirne, um die jeder Dichter diesen Fremden beneiden dürfte, sich aus kastanienfarbenem zärtlich gelocktem Haar – ein frecher, kühner Haken springt die Nase vor, starkknochig das Kinn und unter dem Kinn wieder ein