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Sandtor-, Kaiser- und Dalmann-quai. Panorama-Ansicht des Sandtorhafens vom Dach des Kaispeichers A (1877).

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

eBook-Kovertierung: Datagrafix GmbH, Berlin
Produktion: Nicole Laka

INHALT

Vorwort

»Ansichten aus dem niederzulegenden Stadttheil«

Märchenland der Dinge

Der Kastellan

Im Zollausland

Kaffee-Miedjes

Der elegante Herr Hanssen

Handel mit der Zeit

In bester Gesellshcaft

Ohrfeigen im Börsensaal

Houses in trouble

Kriegsbeschädigte

Die Verderblichkeit der Dinge

Orient-Tabak und Russen-Güter

Rohspeisekammer der Nation

Tod eines Waffenhändlers

Abeles und Bebeles

Mocca faux – Muckefuck

Untergang

Rotkäppchen

Quartier, Quartier

Eine Tasse Tee bei Konsul Ellerbrock

HHLA – ZÖ

Basar von Abbasabad, Brooktorquai

Das kleine grüne Silo der Modernität

Schiffsausrüster

Die Jeanne d’Arc der Speicherstadt

Das Kaffee-Album

Der »Hamburger Jedermann«

Literatur (Auswahl)

Archive/Sammlungen

Credits

Bildnachweis

REGAL DER ZEIT. Noch lässt sich hier und da auf den abgescheuerten Böden Geschichte ablesen – als wäre sie kaum vergangen.

Bei St. Annen 1: Merkur und Neptun am Hauptgebäude der HHLA.

VORWORT

Wir sehen«, schrieb der Amerikaner Frederick Winslow Taylor, der Begründer einer Systematik des Arbeitsmanagements, »wie die Wälder dahinschwinden, die Wasserkräfte vergeudet, der Boden und seine Schätze in das Meer gewaschen werden. Menschliche Handlungen hinterlassen sonderbarerweise keine sichtbaren oder greifbaren Spuren.«

Natürlich war die Hamburger Speicherstadt, diese große Gezeiteninsel zwischen Hafen und Zollkanal, nie als Ort dauerhaften Bewahrens gemeint, ganz im Gegenteil. Für Lagerplätze wie sie ist Dienstleistung alles. Böden verdienen dann Geld, wenn die Winden anspringen und sich die Ware dreht. Auch lange lagernde Partien werden irgendwann einmal abgestoßen, notfalls in die Fleete gekippt, und Firmeninterna verlangen Geheimhaltung. Ablagen im Keller sind schlicht den Hochwassern zum Opfer gefallen.

So ausführlich, wie die Speicherstadt, dieses kolossale Regal der Weltgüter, mittlerweile baugeschichtlich und architektonisch ausgelesen ist, so wenig ist zu finden über das Leben in ihr. Firmen sind erloschen oder haben Besitzer, Ort, Gegenstand gewechselt. Zöllner und Ewerführer, Kutscher und Gelegenheitsarbeiter sind vergessen, Jubiläumsschriften von Handelshäusern verramscht, Archive weggeworfen, Schränke ausgemustert, Berichte, Bilder und Broschüren in den Müll gegangen.

Tanz, wo einst Säcke mit Nelken, Muskat und Pfeffer gestapelt wurden.

Nur wenige Traditionsunternehmen haben über Jahrzehnte Geschichte gestiftet, mit eigenem Namen und Geschäft. Und das merkwürdigerweise an einem Ort der »Hafenmenschen« der Freizone, die aus der täglichen, oft auch nächtlichen Arbeit den Lauf der Weltgeschichte unmittelbar ablesen konnten.

Letztlich waren es die Speicherböden mit letzten Spuren, die die Inspiration gegeben haben zu dieser kleinen Hamburger Suche nach der verlorenen Zeit.

Der Hamburger Kaufmann, Senator und Schriftsteller Ascan Klée Gobert nannte einst den Geruch der Speicher ihre sinnliche Seele. Vollgesogen mit dem Öl und Schmutz der Jahrzehnte und diverser Naturprodukte, unter Lasten und Stößen verbogen und gesplittert, vermitteln die geschundenen Böden den langen, epischen Fluss des Handels, des Behandelns und des Zwischenlagerns von Schätzen der Welt.

Leere Böden, tolle Böden: Proben des »Theaters in der Speicherstadt«.

Die Zeit ist verflossen, der Geruch längst verflogen. Doch noch finden sich Zählstriche und Abriebe an den Wänden, Schnürbandreste, Jutefetzen. In Löchern und Fugen des Bodens ist noch Pfeffer drin, sinnlicher Anreiz für Neugier und Fantasie. Vergleichbar den Brettern alter Probebühnen, erzählen diese Böden von Entwicklung und Vergänglichkeit. Zunächst für das Theater gedacht, ist die »Speicherstadt Story« als Buch die narrative, an Dokumenten, Lektüren und Lebenserinnerungen orientierte Fortsetzung und der Rundgang eines Theatermachers durch ein Jahrhundert mit dem Ziel, die Speicherstadt lesbar zu machen als Ort von Menschen, ihrem Leben, Glück, Unglück und Gelingen.

Quartiere vor dem Untergang. Die Abschnitte Wandrahm, Brook, Kehrwieder (rechts) in einer Grafik von 1883.

Blick vom Sandtorquai: Bewohner des Hofes
Kehrwieder Nr. 65 vor
Georg Koppmanns Kamera (1883).

»ANSICHTEN AUS DEM NIEDERZULEGENDEN STADTTHEIL«

Hamburg hat beschlossen, abzureißen. Nicht irgendeine Wohngegend, sondern Herzland am Hafen soll dem Beitritt zum Deutschen Zollverein zum Opfer fallen.

»Wie mit dem Schwamm auf der Tafel«, formuliert es 1882 während der hitzigen öffentlichen Diskussionen eine kleine Schrift, »werden im Stadtbild ganze Stadtteile ausgewischt, um neuen Projekten Platz zu machen. Der alte Elbstrom selber, um dessen Reich sich doch die ganze Frage dreht, mag vor der Sturmfluth umwälzender Ideen im eigenen Bett sich nicht mehr sicher fühlen.«

Der Autor, der es vorzieht, anonym zu bleiben, entwickelt den Gedanken, das alte Kehrwieder-Wandrahm-Viertel zu erhalten. Stattdessen biete sich das Südufer der Elbe an als idealer und weitaus billigerer Standort für Freihafen und Freilagerstadt.

Griff des Nationalstaats nach dem Freihafen, dem »Hamburger Rheingold«: Karikatur der »Berliner Wespen« (1881).

 

Festschrift zum Zollanschluss: Hammonia und Germania reichen sich die Hand (1888).

»Eine Fläche von 500 Hektaren liegt als Staatsgrund zu unserer freiesten Verfügung. Hier soll unsere künftige Freihafenstadt stehen. Eine Fläche, zweimal so gross, wie sie das alte Hamburg bedeckt, liegt bereit, sie aufzunehmen.«

Der Gedanke wird geprüft und verworfen. Gewohnt börsennah und fußläufig sollen den Hamburger Kaufleuten Lager und Kontore bleiben, auf der richtigen Seite des Flusses, und einer landfesten Verbindung wie einem Tunnel begegnet man skeptisch. Senat und Bürgerschaft entscheiden sich für die Niederlegung ganzer Stadtviertel, ohne Rücksicht auf »die erheblichen socialen Schäden, welche mit der Uebersiedlung von mehreren Tausend Familien aus ihren bisherigen Wohn- und Erwerbsstätten verbunden sind«.

In den herbstlichen, trockenen Tagen des Monats Oktober 1883 zieht der Fotograf Georg Koppmann, 41 Jahre alt, mit großen, schweren Glasplatten los. Die Hamburger Baudeputation hat ihn beauftragt, sämtliche Straßenzüge des alten Quartiers zwischen den Straßen Kehrwieder und Pickhuben zu dokumentieren. Damit wird er zum Chronisten einer untergehenden Stadtlandschaft, schafft das Diorama einer alten Zeit am Vorabend ihres Verschwindens.

Koppmanns Programm sieht vor, lediglich die Architekturen des »niederzulegenden Stadttheils« aufzuzeichnen. Doch gelingt ihm weitaus mehr. Denn es werden nicht nur Häuser abgerissen, sondern Menschen aus ihrer Geschichte geworfen. Reglos, ernst, fast wie erstaunt über die ihnen unvermutet zukommende Aufmerksamkeit, bleiben sie für ihn stehen, schauen geduldig der Kamera entgegen, allmählich begreifend, dass die Tage gezählt sind auf ihrer eigentümlichen Insel.

Brook, von Osten gesehen (1883). Im Vordergrund die Essighandlung Schwarz Nachf. und die Schlosserei Rosenburger.

Sorgfältig wählt Koppmann seine Standpunkte, achtet auf lange Fluchten und Perspektiven. Seine Abzüge auf Albuminpapier erzählen von alltäglichen Lebensmomenten, von Tagwerk, Zufall, Müßiggang. Scharen von Kindern, in ihrem labyrinthischen Revier aus Gassen und Gängen, Twieten, Hinterhäusern und Höfen, lassen quirlig-lautes Leben erahnen.

Es ist eine Hafenwelt. Eng sind die meisten Wohnverhältnisse am Kehrwieder, eher schlicht die Unterkünfte, komfortlos und feucht. Im Lauf der Zeit haben die Eigentümer vornehme Patrizierhäuser, manche im Schmuck barocker Portale, mit engen Höfen hinterbaut. Selbstständige Ewerführer wie Cordt Eckelmann, zu dessen Kunden der Kaffeeröster J.J. Darboven gehört, wohnen hier. Doch auch für die vielen unstetig Beschäftigten und Tagelöhner ist das Leben in dem verwinkelten Quartier erschwinglich.

Nachts, im Schein der trüb-funzeligen Gaslaternen, flackern unscharfe Schatten über Fassaden und Kopfsteinpflaster. Dann bekommen die Constabler, die Polizisten jener Zeit, zu tun. Hafenland ist vor allem Beuteland. Arbeitern, die am Sandtorquai einige Ballen Wolle aus einem Schiff stehlen, rennen sie mit Säbel und Pickelhaube in der Dunkelheit hinterher. Gelebt wird schnell, geklaut wird viel am Quai, ständig landet Verlockendes an. Wenn Schiffe von London anlegen, trifft es vor allem die exklusive Hamburger Bekleidungsfirma Charles Lavy & Co. Dutzende seidene Handschuhe, weiße Taschentücher, Glacéhandschuhe, Parfümerieartikel, Filzhüte und schottische Mützen werden immer wieder aus verschlossenen Kisten entwendet.

Zwischen Sandtorquai und dem nahen Venloer Bahnhof – so genannt nach seinem ersten Bestimmungsort in den Niederlanden – verschwinden zahlreiche Säcke Kaffee, 5000 Nähmaschinennadeln aus Leith, Weinflaschen aus Bordeaux, Kräuterkäse aus Lindau und Perlmuttknöpfe, die eigentlich nach New York sollten. Musikinstrumente sind bei räuberischen Langfingern hochbegehrt: Akkordeons, Concertinas aus Dresden, per Elbkahn gekommen, gehen verloren, ebenso Violinen, Violinbögen, Melodions, Stimmgabeln, Flöten. Kistenweise.

Altstädter Neuer Weg. Situation vor der Kolonialwaren-Handlung H.C. Harms.

Bei St. Annen. Blick zur Petrikirche, im Vordergrund links Heinrich Heckels Destillation mit Hinweis auf den Pariser Bahnhof (später Hannoverscher Bahnhof).

Wiegen vor Ort – Quartiersleute Bruhns & Köster mit Schuppen-Vizen am Sandtorquai.

Eine riesige Destille ist Hamburg, ein Rektifikationsland für ausländischen Rohspiritus aller Art. Weine, Branntweine, Rum, Whisky fluten zollfrei und in Massen herein. In der zollfreien Hansestadt gibt es keinen König, aber königlichen Genüssen kommt man hier recht nah.

Hamburg ist Schlachthaus, Salz- und Salpeterstadt. In den Sommermonaten verarbeitet eine einzige Schlachterei oft 600 bis 700 Stück Schweine täglich. Fertig gesalzene Schweine, meist dänischer Herkunft, werden in Ballen versandt, nach Frankreich, Belgien, ins Rheinland.

Zielstrebig arbeitet Fotograf Koppmann sein Programm ab. Vom Kehrwieder – so der Name der Sackgassen mit lang gestreckten, schmalen Höfen voller Kinder zwischen Binnenhafen und Sandtorquai – führt sein Weg vorbei am »Kleinen Jungfernstieg«, wo sich einst ein zum Spazierengehen benutzter Baumgang mit einer kleinen Laufbrücke hin zur Holländischen Reihe befand.

Straßen wie St. Annen, Pickhuben, Spenshörn, Kleines Fleet, Hinter den Boden durchziehen das Quartier am Wasser, das regelmäßig ein Quartier im Wasser ist. Wenn in der Nacht Weststurm tobt, so beschreibt es der am Holländischen Brook aufgewachsene Paul Hertz, treibt er die Fluten der Elbe so hoch, dass infolge dessen die Keller der niedrig gelegenen Gegenden voll Wasser laufen und von den Bewohnern zeitweilig geräumt werden müssen.

Abgeschnitten von der Außenwelt, sind Schlachter und Bäcker nicht mehr zu erreichen, auch der Milchmann bleibt aus. Dann dümpeln Tonnen herum. Lehrlinge, die unbedingt zu ihren Prinzipalen ins Kontor müssen, arbeiten sich auf Stelzen voran. Bis in die Stadt hört man die Kanonenschüsse, die warnend jedes neue Hochwasser ankündigen.

Keiner, weiß der Hamburger Archivar Albert Borcherdt zu erzählen, hasste das nächtliche Hochwasser-Schießen so wie Ewerführer Baas Näs: rote Haare, rote Nase.

Stadt am Wasser: Holländische Reihe, Kalkhof und Mührenfleet mit Handwinden (1883).

Baas Näs wohnte in der Nachbarschaft der Lärmkanonen, in einem großen Hause, das mit zahlreichen Fenstern versehen war. Schon beim ersten Schuss pflegten durch den starken Luftdruck zahlreiche Scheiben zu zerspringen, da man meist, weil man keine Ahnung von der nahenden Hochflut hatte, es unterließ, die Fensterflügel zu öffnen. Bei dem Klirren der zerbrochenen Scheiben sprang Näs regelmäßig schleunigst aus dem Bett, öffnete ein Fenster und begann in weißem Nachtgewande, von dem sein durch den Zorn noch mehr gerötetes Gesicht sowie sein rotes Haar gewaltig abstachen, eine donnernde Strafpredigt gegen die staatlichen Einrichtungen und »de verdreite Scheeteree« insbesondere zu halten. Immer lauter und heftiger wurde seine Rede, bis sich alle Nachbarn, die es liebten, diesem »Theaterspeel«, wie sie es nannten, mit beizuwohnen, an den Fenstern versammelt hatten und jeden seiner Kraftausdrücke mit lautem Gelächter begleiteten, worauf sich Näs’ Zorn gegen die Zuschauer wendete und er begann, sie mit Worten abzustrafen: »Leckt mi am Mors!«

Hatte er so seiner Erregung Luft gemacht, so zertrümmerte er zum Schluss noch eine Reihe heil gebliebener Scheiben mit eigener Hand, worauf er sich beruhigt und erleichtert wieder ins Bett begab.

Georg Koppmann geht Straße für Straße, Haus für Haus weiter. Die Sonne wirft schwere Schatten. Zu schnell gehen die Tage für den Fotografen mit der schweren Ausrüstung vorbei. Er fotografiert die alte Welt: Fleete und Grachten, Stege und Brücken, Ebbe und Flut, Schuten und Haspeln, Menschen und Blicke.

Karren, Kolonialwaren, Kinder – Ansicht der Straße Brook im Oktober 1883.

Eilfertige Makler in schäbigem Kontorrock sind ständig unterwegs. Auswärtige Geschäftsfreunde, wie Lords aussehend, finden sich im Quartier ein, Shipchandler verhandeln lange Listen von Schiffsproviant.

Im Monat September 1881 registriert die Arbeitnachweisungs-Anstalt 324 Arbeitsuchende, 21 männliche, 303 weibliche.

Reepschläger, Haararbeiterinnen, Putzarbeiterinnen registriert das Gewerbe-Bureau im Dezember 1882 als ansässig im Südteil der Altstadt, weiterhin Blumen- und Federnhändler, Chemikalienhändler, Fettwarenhändler, Feuerungshändler, Fußmattenhändler, Galanteriewarenhändler, Holländische Warenhändler, Honighändler, Hundehändler, Lumpenhändler, Manufacturwaren-Händler, Quartiersleute, Gesinde-Vermieter, Droschkenfuhrleute, Lohndiener, Ewerführer, Schaubudenbesitzer und einen Hippodrom-Inhaber. Ihre Mieten zahlen sie einer überschaubaren Zahl von Grund- und Hausbesitzern. Zu ihnen zählen die Schiffbauer-Brüderschaft, die »Brüderschaft des Leichnams Christi zu St. Catharinen«, die Hanseatische Bau-Gesellschaft und nicht zuletzt die Hamburgische Finanzverwaltung, altertümlich genannt das »Aerarium«, die Schatzkammer.

Im Zuge der Verstaatlichung dieser Liegenschaften für die zu errichtende Speicherstadt werden zwischen Pickhuben, Brook und Kehrwieder entschädigt und ausbezahlt diejenigen, die ein Grundstück ihr Erbe und Eigen nennen. Ob sie nun Eddelbüttel, Griesendieck, Heinsen, J.F. Lütgens, Heilbut & Israel heißen, Oppenheim, Marchesa del Bufalo della Valle. Oder Johann Georg Mönckeberg, späterer Hamburger Bürgermeister, der Namensgeber der Mönckebergstraße. Als Eigentümer der Häuser Kehrwieder Nr. 8, 9, 16, 17, 18, 19, 20, 21, 22 hat er für den Zollanschluss plädiert, aber gegen die Einbeziehung des Kehrwieders in den Freihafenbereich.

Blick über den Niederhafen mit Barkasse HENRY auf den Straßenzug Kehrwieder.

Pünktlich zum Termin eines Hamburger Wohnungswechsels bei Unfähigkeit, Miete zu zahlen, am 1. November, landen Kündigungen zwischen St. Annen und dem Dovenfleet in den Häusern. Die Räumung des Kehrwieders beginnt, ohne dass eine staatliche Vorsorge für den Verbleib der Betroffenen vorliegt.

»So leb’ denn wohl, du altes Haus, der Zollanschluß treibt uns hinaus«, dichten die Betroffenen ein bekanntes Lied um.

448 Grundstücke werden mit »thunlichster Beschleunigung« geräumt, die Wände sämtlicher Gebäude bis zur Straßenhöhe abgetragen. Fahrzeuge nehmen den Mauerschutt auf und transportieren ihn und nach Lagerplätzen auf dem Kleinen Grasbrook.

Das aufgegebene Quartier verkommt zu einem zunehmend rechtsfreien Raum. Ein obdachloser Schlachtergeselle sucht sich in einem zum Abbruch bestimmten Gebäude am Kehrwieder eine Bleibe, hat dabei aber das Unglück, in den Keller hinabzustürzen und sich den rechten Arm zu brechen.

Da von einem Abbruchsplatze am Kehrwieder wiederholt Sachen spurlos verschwinden, beschließt ein Abbruchunternehmer, sich auf die Lauer zu legen, um den Dieb abzufassen. Das Glück ist ihm günstig; denn gleich beim Betreten des Platzes trifft er einen Laternenanzünder, der gerade eine mit gestohlenen Sachen beladene Schottsche Karre fortschaffen will.

Auch Sammler des Vereins für Hamburgs Geschichte schwärmen in der Trümmerlandschaft aus. Kacheln mit bunten Darstellungen und geschnitzte Balkenköpfe werden bloß gelegt und sichergestellt. Haus für Haus verschwindet in diesen Tagen das Bild wunderlicher, verwunschener, würdevoller, verrenkter und verworrener, aufrechter Schiefheiten. Das alte Werk, seine Proportionen und Maßstäbe, seine Dichte, seine Irrgänge spiegeln sich nicht mehr in den von Ewerführern durchstakten Wassern.

Der Abriss und seine Helden – Mitglieder der Bau-Deputation inspizieren die Demontagen.

Unglück erzeugt auch Hass. Ein Drohbrief an Hamburgs Oberingenieur Franz Andreas Meyer, den Projektleiter der baulichen Ausführung des Freihafen-Projekts, erreicht die politische Polizei.

»An den Massenmörder Andreas Meyer! Es ist doch ein Skandal, dass Sie Lump, Schweinickel, Sie Massenmörder, der 10000–12000 Menschen hier geopfert hat, noch am Leben sind. Wenn ein Mörder einen Menschen opfert und es bereut, der wird hier geschlachtet, aber ein Bandit, der 10000de hier opfert, na, Ihre Strafe sollen Sie haben. Es lebe hoch das Dynamit. Glückliche Reise. Mehrere durch Ihnen unglücklich Gewordene.«

Unter denen, die still davonziehen, ist die Familie Schönfelder mit dem kleinen Adolph. Im Kinderwagen wird der Sohn eines Tischlers den weiten Weg bis nach Barmbek geschoben. Für die SPD wird Adolph Schönfelder später Abgeordneter, Senator, Zweiter Bürgermeister und zwischen 1946 und 1960 legendärer Präsident der Hamburgischen Bürgerschaft sein. Der Umzug bleibt ihm bis ins hohe Alter im Gedächtnis.

Bis März 1885 nehmen Altstadt, Neustadt, St. Georg und St. Pauli die Mehrzahl der Vertriebenen auf. Die Bau-Deputation berichtet dem Senat, dass »der größte Theil der früher auf der Kehrwieder-Insel Ansässigen in Altstadt-Südertheil geblieben [ist], indem er die dort leer stehenden Wohnungen bezog, oder andere Bewohner von dort verdrängte. Die entfernter liegenden Stadttheile sind nur soweit aufgesucht worden, als sie Auswahl in billigen Wohnungen darboten. Unter diesen treten wiederum besonders der innere Hammerbrook und unter den Vororten Billwärder-Aufschlag, Barmbek und Eimsbüttel hervor.«

Auf der VI. General-Versammlung der Architekten- u. Ingenieurs-Vereinigung zu Stuttgart stellt Oberingenieur Franz Andreas Meyer das Projekt »Nützlichkeitsbauten der Gegenwart« vor. Die Bauten, führt er aus, sollten so fest werden wie die Verbundenheit Hamburgs mit dem Deutschen Reich.

Dem reichen Beifall, welchen der Vortrag hervorruft, gesellt sich noch allgemeiner Jubel über die deutsch-nationalen Töne ausgerechnet eines Hanseaten hinzu.

Namentlich fesselnd, so der Bericht der »Deutschen Bau-Zeitung«, seien die in großer Zahl ausgestellten wohlgelungenen fotografischen Ansichten Hamburgs gewesen, unter welchen die Ansichten der alten beseitigten Stadtteile durch ihre Eigenart besonders anzogen.

Gelegenheit macht (traurige) Lieder: die emotionale Seite von Stadtentwicklung.

Es sind die Koppmann’schen Fotografien. »Der Freund der Vergangenheit«, schreibt der »Hamburgische Correspondent« viele Jahre später, »mag den Untergang bedauern, aber die Entwicklung des Handels und Verkehrs fordert leider ein Opfer nach dem anderen, ohne daß man wüßte, wie diesem sich unaufhaltsam vollziehendem Prozeß Einhalt zu gebieten wäre.«

Fünf Jahre nach dem Exodus der Schönfelders, im August 1888, kurz vor der feierlichen Eröffnung des Zollanschlussgebietes und seiner Zweckbauten durch Kaiser Wilhelm II., wird die Bau-Deputation 17.495 Personen gezählt haben, die »dislocirt«, umgesiedelt, worden sind.

Bereits im September 1884 geht Koppmann wieder los. Sein Folgeauftrag führt ihn jetzt in den östlichen Abschnitt des Quartiers am Wandrahm, in die dicht stehenden, steilen Reihen der Häuser mit starken Schatten, hohen steinernen Wangen an den Kellereingängen, verschachtelten Fenstern, verschnörkelten Giebeln und geputzten Firmenschildern. Es ist beschlossene Sache, dass das Project VI a – die größtmögliche Ausgestaltung der Freizone – jetzt tatsächlich in vollem Umfang zügig umgesetzt werden soll.

Altertümlich ist dieses Viertel, das noch nicht abgerissen ist, einst vornehm und malerisch, im Winter von der Hamburger Bürger-Aristokratie bewohnt, im Sommer dumpfig kühl, praktisch und zweckorientiert zugleich mit großen Dielen, Kontoren und Speichern ausgestattet.

Schmal und sehr tief sind die Speicher. Im Inneren, wenn die Luken geschlossen sind, ist die Finsternis undurchdringlich. Kleine, verstaubte Fenster lassen nur ganz wenig Helligkeit durch, Tageslicht und Luft hält man lieber draußen. Will jemand eine Ware in den schmalen Gängen besehen, nimmt ihn ein Speicherarbeiter in der Dunkelheit an die Hand.

Organisiert sind diese Arbeiter als »Lüüd vun de Eck«, Leute von der Ecke. Auch wenn sie die meiste Zeit auf der Straße herumzustehen scheinen, handelt es sich um keine versoffenen »Hafen-Löwen«, sondern um fachkundige Herren mit Standesehre und festem Posten, der »Ecke«. Nach Bedarf heuern Hausküper und Quartiersleute sie für Transport und Lagerung an. Handlungsgehilfen, Commis, werben sie an, um im Wandrahm Wein, Indigo oder Möbel abzuliefern. Sollten die »Lüüd« an ihrer Ecke nicht zu finden sein, schaut man in der »Köminsel«, ihrer Kneipe, vorbei. Denn: Der Hafen löscht alles, nur Durst eben nicht.

Beim Auf- und Abwinden der Waren ertönen althergebrachte Rufe: »Winn op«, »Hüüs op!«, »Hiev op!« Mit »Striek wat!« werden Sackgut, Fässer, Kisten hereingezogen. »Waarscho!« und »Ünnerruut!« warnen den Mann in der Schute unten. Wieder mit »Striek wat!« oder »Lat reisen!« geht die Last abwärts. Kurz bevor sie unten ist, wird sie mit »Sinniiig! Sinniiig!« angehalten, bis der Ewerführer sie dorthin gezogen hat, wo er sie stapeln will. Mit »Los, lat scheeten!« wird sie abgesetzt.

Zeitgenössische Illustration zum Auszug der Bewohner des Kehrwieder-Quartiers.

Abriss einer Lebenswelt am Hafen vor dem Schiffsmastenwald einer untergehenden Epoche.

Arbeiten auf einem Speicher eines alten Kaufmannshauses – Illustration von Carl Schildt (1898).

Wenn ein Slickrutscher – Ewerführer – mit seiner Schute vor dem Speicher angekommen ist, ruft er den Quartiersmann an: »Glimmann-sien!« Der antwortet: »Wat seggst du?«

Bekannt ist der Scherz, dass ein Ewerführer hinaufruft: »Zehn Kisten Rhabarber einnehmen!« Antwort: »Dann gehst du tot!«

Nicht nur für sich selbst, auch für die Kaufmannsfirmen haben Ewerführer Spitznamen. »Gebrüder Lumpen« sind sie allemal. »Andree sien Wickelkind« heißen Andrée & Wilkerling. »Billig & Slecht« sind Brock & Schnars. »Köm un Beer« steht für Knöhr & Burchard. »Sellerie un Purree« müssen sich Cellier & Parrau gefallen lassen.

Unter den ansässigen Firmen befinden sich alte angesehene Import- und Export-Häuser von Weltruf, Großgeschäfte und Übersee-Firmen ersten Ranges. Nicht wenigen dieser Kauf- und Handelsherren, die Beziehungen nach Übersee haben groß werden lassen, wird nachgesagt, ihr Vermögen aus kleinsten Anfängen erworben zu haben.

Holländische Glaubensflüchtlinge wie Willem Amsinck, Willem de Boor, Gilles de Greve, Simon von Petkum, Joachim van der Meer, Cornelius de Hertoge, Dominicus van Uffeln, Hans de Lommel, Hans van der Wyle, Jan van der Straaten hatten einst nach und nach mit ihren Familien hier Schutz und Unterkommen gesucht. Seit Mitte des 16. Jahrhunderts wurde ihnen vom Rat der Stadt ein Teil des Wandbereiterbrooks, des Tuchmacher-Quartiers, zur Niederlassung angewiesen, und sie hatten hier Kanalisierung und Aufhöhung des Geländes in Angriff genommen, Straßen und Fleete nach niederländischer Weise angelegt, darunter den an einen Grachtenzug erinnernden Holländischen Brook.

Bis zur Errichtung der Speicherstadt sind der Neue und der Alte Wandrahm des alten Hamburgs vornehmste Geschäftsstraßen, die allerdings ihre beste Zeit hinter sich haben.

Gebaute Doppelgesichter: hinten Speicher, vorne Palais, die Traufseite unter dem Einfluss niederländischer Baukunst oft mit prachtvoller Barockfassade geschmückt. Kunstvolle Sandsteinportale und Sandsteinverzierungen schmücken die Giebel der roten Backsteinfronten.

»Lauter solide Häuser«, hatte der Dichter Heinrich Heine über das Hamburg der »geborenen« Familien und Fernkaufleute geschrieben.

Penetrante Gerüche liegen über den Wasserläufen, Fleete genannt, die wie dem Transport ebenso auch der Kanalisation dienen. Im Erdgeschoss befinden sich Aborte in Anbauten, aus denen eine Holzröhre nach unten ragt. Im Winter fließt nichts ab, im Sommer kann anhaltender Ostwind die Fleete leer laufen lassen.

Viele dieser Familien, aus denen zahlreiche Hamburger Senatoren hervorgehen, haben »Migrationshintergrund«, so die hugenottischen Familien der Chapeaurouge und Godeffroy. Man stellt Bürgermeister und heiratet in andere Senatorenfamilien ein, wie die Gosslers, Sievekings, Burchards, Westphals, Mercks.

Am Neuen und Alten Wandrahm, fast ausschließliches Domizil der Hamburger Kaffee-Branche, reiht sich Lager an Lager. Allen gemeinsam ist dieser eigentümliche Geruch, ein Gemisch unzähliger verschiedener Warengerüche, Tabak, Tee, Südfrüchte, den die Mauern im Laufe der Zeit eingesogen haben.

Der junge Max Landmann verbringt endlose Tage als Handelskommis in einem dieser puritanischen, verwohnten, nicht sonderlich hellen Räume mit Mahagoni-Mobiliar, abends bei Petroleumlicht. Kommis heißt, mehr oder weniger junger Mann für alles zu sein in Firma Kulow & Dybgen, En gros-Import von Südfrüchten und Delikatessen aller Art.

Ansicht der Rückseite eines Kaufmannshauses am Alten Wandrahm mit Speicherböden und Lagerarbeitern.

Georg Koppmanns Aufnahme des Alten Wandrahms mit Mortzenhaus (links).

Schottsche Handkarre, das Allzweck-Transportmittel in den engen Gassen.

Die Wasserseite des Alten Wandrahm im Oktober 1883.

Der Neue Wandrahm – auch hier sind die besten Zeiten vorbei.

Schottsche Karren und eine Handwinde am Holländischen Brook (1897).

Verwiegung von Säcken mit Borax-Düngemitteln vor dem Schuppen durch die Firma Bruhns & Köster.

Die Inhaber haben Familienvermögen in bedeutenden Kaffeeplantagen in Mittelamerika angelegt, aber nicht unter dem Namen »Kulow«, weil der im Spanischen eine üble Bedeutung hat.

Man arbeitet von 9 bis 7 Uhr mit einer zweistündigen Mittagspause, ultimo auch länger. Bei den schlechten Verkehrsverbindungen müssen Fernerwohnende häufig diese zwei Stunden mit dem Rennen nach Hause und zurück verbringen. Dann steht man wieder an großen Pulten, Gaslampen schweben unter der Decke, Briefe sind der Länge nach zu falten und mit Überschrift zu versehen, um kenntlich zu machen, woher der Brief kommt. Zoll- und Transito-Zettel sind auszufüllen, die Kopierpresse ist zu bedienen, Tinte nachzufüllen. Rechnungen, dreimal überprüft, gehen stets mit der Klausel S.E. & O. – salvo errore et omissione, Irrtum und Auslassung vorbehalten – in die Post.

Meist passiert wenig Aufregendes. Wenn allerdings eine der Wilhelm Gosslers’schen Töchter an den Nachbarhäusern entlanggeht, kann es vorkommen, dass es von oben gezielt einzelne Kaffeebohnen regnet.

Das bekannteste und stattlichste Bürgerhaus Hamburgs ist das Mortzenhaus im Alten Wandrahm, ein Palais auf den Grundstücken Nr. 19 bis 23, von der Straßenflucht durch einen breiten Vorplatz abgerückt. Das einstige Doppelstadthaus der Goldschmiede und Waffenhändler Jacob und Hans Moers befindet sich im Besitz der Kaufleute Merck und Berenberg-Gossler. Stattliche Laubbäume kennzeichnen das Anwesen, das über portalartig gefasste Eingänge verfügt. In einer Nische befindet sich eine Frauenfigur in langem Gewand mit einem Kind auf dem Arm und einem Knaben an der Seite. Über der Caritas-Statue befindet sich eine Kartusche mit der Jahreszahl »1622«.

Im Alten Wandrahm Nr. 26 firmiert der »Südsee-König« genannte Merchant Banker Johan César Godeffroy VI., Herr eines weltumspannenden Handelsimperiums. Das hier untergebrachte Museum Godeffroy, die größte private naturkundliche Sammlung der Welt, steht wegen des absehbaren Abrisses der Straße zum Verkauf. Sie geht schließlich nach Leipzig, der Preis ist der hamburgischen Bürgerschaft zu hoch.

Wie ein Vorbote des Abrisses erscheint das Feuer, das im Januar 1885 das Lager von Gust. A. Grossmann & Co. zerstört. Ferner melden Schaden an Herr W. Gossler, die Herren Gebrüder Keitel und H. J. Merck & Co., deren Geschäft sich in den Häusern Nr. 16 und 19 befindet.

Als Entstehungsursache des Brandes wird Selbstentzündung von Baumwolle vermutet.

An den bedeutenden Versicherungssummen partizipieren nach beruhigender Auskunft der Tageszeitung »Hamburgischer Correspondent« nur englische Versicherungsgesellschaften.

Immer wieder geraten Baumwollfrachten in Brand, wie die Ballen, die aus einem New-Orleans-Dampfer am Grasbrook gelöscht und auf Frachtwagen geladen wurden.

Die Selbstentzündlichkeit, »spontaneous combustion«, gewisser Güter in gepresstem, feuchtem Zustande beschäftigt damals besonders die Wissenschaft.

Ganz ernsthaft behandelt man die Frage, ob starke Alkoholtrinker an Selbstentzündung zugrunde gehen können.

Bierlieferung im Alten Wandrahm – auf der rechten Seite der Eingang zum Museum Godeffroy.