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Nr. 3020

 

Die Stunde des Orakels

 

Menschen und Ayees gemeinsam – Terraner reisen über eine rätselhafte Erde

 

Michelle Stern

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

 

Cover

Vorspann

Die Hauptpersonen des Romans

Prolog: Imaayo

1. Ratlose Tage

2. Teaana

3. Eyshu

4. Ferne Geltung

5. Shaniro

6. Entwicklungshüter

7. Diamanten

8. Niederstieg

Epilog

Report

Leserkontaktseite

Glossar

Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

 

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Mehr als 3000 Jahre in der Zukunft: Längst verstehen sich die Menschen als Terraner, die ihre Erde und das Sonnensystem hinter sich gelassen haben. In der Unendlichkeit des Alls treffen sie auf Außerirdische aller Art. Ihre Nachkommen haben Tausende von Welten besiedelt, zahlreiche Raumschiffe fliegen bis zu den entlegensten Sternen.

Perry Rhodan ist der Mensch, der von Anfang an mit den Erdbewohnern ins All vorgestoßen ist. Nun steht er vor seiner vielleicht größten Herausforderung: Die Rückkehr von seiner letzten Mission hat ihn rund 500 Jahre weiter in der Zeit katapultiert. Eine Datensintflut hat fast alle historischen Dokumente entwertet, sodass nur noch die Speicher der RAS TSCHUBAI gesichertes Wissen enthalten.

Was sich seitdem ereignet hat, ist Perry Rhodan bisher nahezu unbekannt, da es zu fast allem mehrere unterschiedliche Aussagen und Quellen gibt. Nun ist er im Solsystem angekommen, in dem die Erde durch einen sehr ähnlichen Planeten ausgetauscht wurde mit einer eigenen Bevölkerung, den fünfäugigen Ayees. Welches Geheimnis umgibt diese Welt? Perry Rhodan erlebt DIE STUNDE DES ORAKELS ...

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Perry Rhodan – Der Terraner will sich dem Orakel stellen.

Todoyhu – Die Shoijona behauptet ihre Stellung.

Paiahudse Spepher – Der Cairaner hat sich einiges anders vorgestellt.

Siad Tan – Die Oxtornerin stellt sich vor ihren Okrill.

Alles ist vertraut und doch anders.

Es ist ein blauer Planet, doch es ist nicht dein Planet. Sein Blau ist nicht das deine.

Du versuchst ihn zu erforschen, zu verstehen, was sich dahinter verbirgt; wie er an diesen Ort gelangen konnte.

Vielleicht hat das Orakel eine Antwort darauf.

Mit jedem Schritt, den du über diese Welt gehst, vermisst du die, die man dir genommen hat. Das Zuhause, wo man dich hätte begrüßen sollen, nach der Heimkehr durch Raum und Zeit.

Was ist damit geschehen? Haben die Cairaner es geraubt? Fiel es einer Katastrophe zum Opfer, die es getilgt hat – vernichtet und verweht; unwiderruflich verloren?

Oder ist es vielleicht genau hier, unter deinen Füßen, verfremdet und entstellt?

Alles ist anders und doch vertraut.

 

 

Prolog

Imaayo

 

Die Morgendämmerung brach an. Buntes Licht ergoss sich über den Himmel, malte jene Muster, die den Hunger weckten. Im Bauch des Imaayo schwollen die Magensäfte an, sorgten dafür, dass er vollends wach wurde. Schlagartig verbesserte sich die Fernsicht. Der Imaayo spannte die Flughäute, flog schneller. Sein Schwarm folgte ihm.

Er war ihr Wächter, derjenige, der sie führte und dessen Innenaugen am besten waren. Wenn ein anderes Tier sich durch die Luft bewegte, nahm er es im Umkreis von vielen Kilometern wahr.

Im Moment richtete er seine Aufmerksamkeit auf die Yenaama aus – durchsichtige Himmelsgleiter, die wie Tücher auf den Winden trieben und es liebten, im ersten Licht zu baden. Ihre Körper waren unter normalen Umständen kaum zu erkennen, doch ihre Muskelstrukturen und Komplexaugen polarisierten das Licht. Das entstehende Muster war ein Fanal für den hungrigen Imaayo. Er brauchte nur wenige Sekunden, um es zu finden. Keine siebenhundert Meter entfernt ballte sich das Frühstück wie Wolken zusammen. Instinktiv änderte der Imaayo seine Richtung, peilte die Beute an.

Der Schwarm zischte hell, über hundert Flughäute spannten sich. Die Imaayo glitten näher zusammen, bildeten Kreise. Ähnlich wie die Pigmente in ihren äußeren Augen richteten sich die Unterschwärme aufeinander aus. Dabei bewegten sich fünf der zehn Kreise entgegengesetzt, ohne ihre Position im Gesamtgebilde zu verändern. Sie rotierten als gegenläufige Räder umeinander, malten Spiralen ins Blau.

Der Wächter spannte die Muskelstränge, zog die Flughaut zurück. An den Rändern der Gleithäute wuchsen messerscharfe Auswüchse, mit denen er die Yenaama aufspießen konnte.

Der Imaayoschwarm kam rasch näher. Vor ihm schwebte eine Gruppe von über tausend Beutetieren. Die Polarisationsmuster wurden stärker, der Geruch nach Algen breitete sich aus. Die Yenaama waren am nahen Meeresufer gewesen, hatten Wasser und geringe Mengen Salz aufgenommen. Sie würden eine hervorragende Mahlzeit abgeben.

Hinter ihm zischte und pfiff es. Unruhe kam im Schwarm auf. Die Yenaama hatten die herannahenden Angreifer bemerkt, falteten sich zusammen und ließen sich nach unten fallen. Nun musste es schnell gehen.

Der Wächter verfolgte ein niederstürzendes, transparentes Tuch, spießte einen Dorn der Gleithäute hinein und zog es zur Unterseite, in der das Rundmaul lag. Die Flughäute stabilisierten ihn, während der Yenaama zuckte und zu entkommen versuchte.

Mit einer geschickten Bewegung des Zweitflügels schlitzte der Wächter den Yenaama auf, führte die Beute zum Maul. Salzige Wohltat entfaltete sich auf den Geschmacksknospen. Das Aroma nach Fleisch setzte Glückshormone frei.

Um ihn gaben die anderen Imaayo ihre Flugstruktur auf. Sie warfen sich auf das Frühstück, versorgten sich mit den notwendigen Proteinen.

Das Zucken des Yenaama erstarb. Er lag schlaff im Rundmaul. Außenmuskeln transportierten ihn mehr und mehr ins Innere, damit er im Magen des Imaayo verdaut werden konnte.

Der Schwarm gab ein helles, zufriedenes Pfeifen von sich. Die meisten Jäger waren erfolgreich gewesen. Besonders für die trächtigen Tiere war es überlebenswichtig, sich ständig zu versorgen. Ein Mangel konnte zu Fehlgeburten führen, die Mutter und Kind umbrachten.

Das Frühstück war hervorragend gewesen. Gesättigt flog der Wächter eine Schleife Richtung Meer. In der Ferne erkannte er die azurblaue Fläche, die hinter der steinigen, von Dornenranken durchsetzten Wüstenlandschaft begann.

Ein schmaler Gürtel Grün lag zwischen Wasser und Sand. Dort erstreckte sich ein Wald, in dem der Wächter die Flughäute auf mächtigen Schlafkakteen, die nur im Winter aktiv waren, entspannen konnte.

So verheißungsvoll das Gebiet wirkte – es barg Gefahren: Zwischen den blaugrünen Pflanzen jagten die Shaniro. Sie waren die wahren Herren dieser Gegend, kontrollierten die Wüste, die Küste und den Wald.

Während der Wächter in die Höhe stieg und sich aus der Ferne ansah, wie sein Schwarm fraß, fühlte er eine Sehnsucht, die sich ähnlich anfühlte wie der Heißhunger auf Protein. Der Ruf war lange nicht erfolgt. Er mochte den Ruf, der ihn zu sich zog. Er war schöner als das Muster am Himmel, wohltuender als salziges Wasser oder eine Pause auf einer Schlafkaktee.

Wer oder was hinter diesem Ruf stand, wusste der Wächter nicht. Er hätte sich nie träumen lassen, dass es Wesen gab, die den Ruf gezielt nutzten, um ihn und seinen Heißhunger zu manipulieren. Für ihn war der Ruf eine Bereicherung, die er vermisste, wenn sie für viele Tag-Nacht-Wechsel ausblieb. Er stieß einen hellen Pfeifton aus. Ein Gefühl von Verlust stieg in ihm auf, ein Zweifel, genährt aus Unsicherheit und instinktiver Hoffnung.

Ob der Ruf verstummt war? Oder würde er bald wieder erklingen, vielleicht noch ehe die Sonne im Zenit stand?

Ein neuer Tag auf Iya begann. Wer wusste, was er bringen mochte?

1.

Ratlose Tage

 

Iya. Ein neues Rätsel für Perry Rhodan. Der Planet kreiste anstelle von Terra um Sol – doch er war nicht Terra, wenngleich die Ähnlichkeiten zwischen ihm und der wahren Wiege der Menschheit verblüfften.

Was steckte dahinter? Wer oder was hatte Iya an die Stelle von Terra gesetzt? Und was genau mochte Iya sein? Eine Welt aus einem parallelen Universum? Etwas, das man aus einer anderen Zeit geholt oder sogar kopiert hatte, damit es sich an einem anderen Ort weiterentwickelte? Das Experiment einer Superintelligenz, oder etwas ganz anderes?

Die Ayee, die vor Rhodan stand, würde ihm diese Fragen nicht beantworten können. Sie war ein Teil dieser Welt, die auf so wundersame Weise ins Solsystem gelangt war. Im Gegensatz zu den Cairanern fehlte ihr der Abstand, der nötig gewesen wäre, und das Wissen, was vor vierhundertdreißig Jahren vor sich gegangen war. Stattdessen glaubte sie, die Teaana wären an allem schuld.

Oder hatte sie womöglich recht? Waren die Teaana verantwortlich, die möglicherweise mit den Terranern identisch waren? Ob sie identisch waren oder nicht, wusste womöglich einzig das Orakel, das von Zeit zu Zeit vom Mond herabstieg und die Ayee beriet.

»Ich fürchte neue Unsterntage.« Diese Überlegung hatte Todoyhu, die Shoijona von Pesha, preisgegeben, und da angeblich die Teaana die Unsterntage auslösten, war sie Rhodan und seinen Begleitern gegenüber misstrauisch. Dennoch hatten diese ihre Tarnung fallen lassen.

Perry Rhodan war es lieber so. Er spielte mit offenen Karten, wollte zeigen, dass die Shoijona ihm vertrauen durfte. Auf lange Sicht ging es darum, Verbündete zu gewinnen, von denen man nie genug haben konnte. Besonders in dieser undurchschaubaren Zeit, in der er bisher auf mehr Fragen als Antworten gestoßen war.

Sonnenstrahlen fielen in den obersten Raum der Pyramide. Sie umflammten Todoyhus Kopf, als trüge sie einen Heiligenschein. Der wie mit Moos oder Fell bewachsene Schädel erhielt dadurch einen intensiven, smaragdgrünen Umriss. Vermutlich war die Position des Sitzes genau auf den Lichteinfall abgestimmt.

Das schmale, bläulich weiße Gesicht der Shoijona lag im Schatten. Die Venen, die sonst deutlich hervortraten, waren nur schwach zu erkennen. Wie bei den meisten Ayees war die Nase flach, während das Kinn prominent hervorstach.

Die Shoijona lehnte sich auf dem schlichten Hocker nach vorne. Die Flughäute auf dem Rücken hoben sich ein Stück und sanken wieder zurück. Das dabei entstehende zirpende Geräusch klang laut in der Stille. »Seid ihr bereit, euch dem Orakel zu stellen?«

Perry Rhodan war nicht bloß bereit, er brannte förmlich darauf, mit dem Orakel der Ayees zu sprechen. Rhodan wollte gerade zustimmen, als die Shoijona den Stab in ihrer linken Hand anhob – eine Geste, die ihn intuitiv schweigen ließ.

Todoyhu richtete sich auf. »Ehe du antwortest, gib mir Zeit, dich und die deinen zu betrachten. Ich will sehen, wer ihr seid.« Ruhe kam in Todoyhus Körper. Der einfache rote Überwurf lag still auf der Brust, als hätte sie zu atmen aufgehört, doch in ihren Augen blitzte die Neugier.

Der erste Blick glitt zu Zemina Paath, blieb an der Thesan hängen. Dabei veränderte sich Todoyhus Gesichtsausdruck. Die äußeren der fünf Augen weiteten sich, wobei die Lider sich hoben. War das bei Ayees so, wenn sie andächtig staunten? Die Thesan musste wie eine fleischgewordene Legende auf sie wirken.

Die hochgewachsene, nahezu dürre Gestalt Zemina Paaths, die milchig weiße Haut, die schwarz schimmernden Haare, die blendend blauen Augen und die handbreite Halskrause mit den zahlreichen Ausbuchtungen und Vertiefungen – alles mochte eine besondere Bedeutung für die Shoijona haben, die sich Rhodan entzog.

Shashay und Dunyuu dagegen, die beiden Ayees, die Rhodan und seine Begleiter das Treffen mit der Shoijona ermöglicht hatten, erweckten den Eindruck, als wüssten sie mehr. Auch sie zeigten sich an der Thesan interessiert, gingen einige Schritte näher heran. Wie Benuma und seine Begleiter sprachen sie kein Wort. Shashay starrte auf die Hand, an der Zemina Paath zwei Finger fehlten.

Die Ayees kannten Statuen der Thesanit. Wussten sie mehr, als sie Rhodan bisher gesagt hatten?

Eine Weile rührte sich niemand im Raum. Die plötzliche Stille kam Rhodan laut vor. Obwohl niemand auch nur einen Finger hob, hatte er den Eindruck, als rückte die ungleiche Gruppe um ihn näher zusammen: Oberleutnant Osmund Solemani, Leutnant Winston Duke, die Kosmopsychologin Siad Tan, der Geologe Rubart Tersteegen und nicht zuletzt Zemina Paath.

Dann kam Leben in Todoyhu. Sie zeigte auf die SCHOTE zwischen Duke und Solemani. »Was genau ist das für ein Ding? Kann man es essen, oder ist es rituell?«

Beim letzten Wort bemerkte Rhodan, dass die Shoijona flüchtig zu einer der drei Stoffpuppen in bunten Ponchos schaute, die an der Wand lehnten und an lebensgroße Ayees erinnerten.

Die SCHOTE öffnete sich, und Sholotow Affatenga stieg auf der Oberseite aus. Breitbeinig stand er auf dem Gerät und präsentierte seinen zweiundzwanzig Zentimeter langen Körper. »Nichts dergleichen. Die SCHOTE ist mein Zuhause!«

»Oh!« Vergnügt hämmerte die Shoijona das Stabende auf den Boden. »Ich bin entzückt, ein derart kleines Wesen kennenzulernen!«

Unter dem dumpfen Laut öffnete Phylax träge ein Auge, schloss es jedoch sofort wieder. Der Okrill, der Siad Tan begleitete, war einer jener seltenen Fälle, in denen ein solches Tier sich mit einem Oxtorner verband. Er hatte wohl entschieden, dass ihn diese ganze Szene nichts anging. Siad Tan tätschelte beruhigend seinen breiten Nacken.

»Die Freude liegt ganz auf meiner Seite«, sagte Affatenga. Er machte eine formvollendete Verbeugung. »Es ist mir eine Ehre, von der Shoijona der Pesha empfangen zu werden. Ich hoffe, dass wir deine Zweifel uns gegenüber ausräumen können.«

»Wir werden sehen«, sagte Todoyhu.

Ebenso andächtig, wie sie Zemina Paaths Züge studiert hatte, zeigte sie nun kindliche Neugier und Freude über Affatengas kleine Gestalt. Ihre Empfindungen waren ihr trotz der Fremdartigkeit deutlich anzumerken. Sie hob Daumen und Zeigefinger, als wollte sie die Größe des Siganesen messen, und gab einen trillernden Laut von sich, der an ein Lachen erinnerte, wobei sie die Flügel aneinander rieb.

»Auch er ist interessant!« Die Shoijona sprang auf, stützte sich auf ihren Wanderstab. Sie ging auf Phylax zu und streckte die rechte Hand nach dem über einen Meter großen, froschähnlichen Tier aus.

Der Okrill, der sich bisher in einer Art schläfrigem Dämmerzustand präsentiert hatte, wachte schlagartig auf. Seine Augen weiteten sich wie die einer Katze, der jemand auf den Schwanz getreten war.

Todoyhu stützte sich auf den Stab, zog ein Bein nach. Offenbar war sie leicht gehbehindert. Die merkwürdige Art, sich zu bewegen, und ihre Zielgerichtetheit schienen den sonst stets gelassenen Phylax zu irritieren. Der Okrill duckte sich, zischte, öffnete das Maul und zeigte seine grellrote Zunge. Die Shoijona trillerte vergnügt. Sie hob den Stab, als wollte sie damit nach Phylax stoßen.

»Nicht!«, rief Siad Tan. Auf ihrem kahlen Schädel glänzte es feucht – ihr brach der Schweiß aus. Ein Okrill war kein Spielzeug, sondern eine von der Natur hochgezüchtete Tötungsmaschine, die an eine extrem lebensfeindliche Umwelt angepasst war.

Auf den ersten Blick erinnerten Okrills entfernt an achtbeinige Frösche. Wie die Oxtorner, mit denen sie sich einen Planeten teilten, hatten ihre Knochen und Muskeln die Härte von Metallplastik. Die Haut konnte kurzzeitig sogar dem Beschuss aus einem Thermohandstrahler widerstehen. Ein einziger, nachlässiger Hieb des Tiers würde der Shoijona mehrere Knochen brechen. Sprang Phylax sie an, würde er sie unter sich begraben und ihrem Leben ein rasches, unverhofftes Ende machen. Allein die Krallen reichten dafür aus. Zusätzlich wartete im Maul des Okrills ein ganzes Arsenal an todbringenden Zähnen, übertrumpft einzig von der Zunge, deren elektrische Schläge Todoyhus Körper zu einem Klumpen verschmorten Fleisches zusammenschmelzen konnten.

Rhodan war mit einem Schritt zwischen dem Okrill und der Shoijona. Ehe der Stab das Tier berührte, hielt er ihn fest. Im Stillen dankte er Atlan und allen, die ihn je trainiert hatten, denn seine Reflexe kamen gerade noch rechtzeitig. Die Wucht des spielerischen Stoßes ging in Rhodans Hand, den Arm und den Körper, doch er gab ihr nicht nach, denn dann wäre sie in den angespannten und ungewohnt hellwachen Phylax gelaufen.

Er schaffte es zu lächeln, obwohl auch ihm der Schweiß ausbrach. Selbst ein Zellaktivator war nur ein dürftiger Schutz, wenn ein Okrill angriff. »Ich verstehe deine Neugier, Shoijona. Doch Phylax ist ein empfindliches Tier. Bitte, halt Abstand von ihm, wenn du ihm nicht schaden möchtest.«

Die Shoijona zog den Stab zurück, wobei sie ein erstaunliches Geschick zeigte. Ob sie mit der Gehhilfe auch kämpfen konnte? »Er sieht lustig aus. Als wollte er spielen. Ich mag ihn.«

Die grellrote Zunge des Okrills war noch immer sichtbar. Er fixierte die Shoijona. Das Einzige, was ihn zurückzuhalten schien, war die Hand Siad Tans auf seinem Nacken.

Affatenga hatte sichtlich zu atmen aufgehört. Zemina Paath stand wie erstarrt, völlig überrascht von Phylax' ungewöhnlichem Gebaren.

Vielleicht war es ein Fehler, die Ayee nicht über die Gefährlichkeit des Okrills aufzuklären, aber da Phylax keineswegs aggressiv oder unberechenbar war, bestand nicht die dringende Notwendigkeit. Und wer konnte schon sagen, ob eine solche Aufklärung nicht zu weit ginge und die Beziehungen zur Shoijona eher verschlechtern als verbessern würde. Er vertraute darauf, dass Siad Tan Phylax im Griff hatte und ihn im Notfall zurückrief.

Der Wächter Benuma kam ihnen zu Hilfe. »Setz dich bitte, Shoijona. Dein Stock macht das Tier wahrscheinlich nervös.«

Todoyhu blinzelte mit vier der fünf Augen. »Oh. Das hatte ich nicht bedacht.« Sie ging zurück zu ihrem Hocker, doch sie setzte sich nicht, sondern stützte sich lediglich auf ihren Stab. »Du hast interessante Begleiter um dich geschart, Tibo. Folgen sie dir, oder fliegt ihr zusammen?«

»Wir fliegen zusammen«, antwortete Rhodan ohne Zögern. Es fiel ihm leicht, sich in der bildlichen Sprache der Shoijona zu bewegen. Dank seiner Erfahrung kannte er viele Wesen, die weit rätselhafter redeten als die Ayees.

Die äußeren Augen der Shoijona weiteten sich kaum merklich. Ob ihr die Antwort gefiel? Rhodan hoffte es. Obwohl die Shoijona eine Art kulturelle Integrationsfigur der Ayees war, gab es keinen Personenkult um sie. Ihre Funktion stand im Vordergrund. Anscheinend begriff sie sich nicht als Herrscherin, auch wenn man ihr Respekt entgegenbrachte, der zu Teilen an Unterwürfigkeit grenzte. Man gab ihr diese Bekundungen von Wertschätzung offenbar freiwillig.

Die Shoijona spannte die Muskeln, die zu den frei liegenden Flughäuten führten. Die Häute spreizten sich, als wollte Todoyhu sich darauf vorbereiten, von einem Sprungturm in den Himmel zu stürzen.

»Und doch bist du anders als sie. – Wirst du dich Eyshu stellen?«

Eyshu.

Das Orakel.

Was – oder wer – verbarg sich dahinter?

Was genau hatte es mit dem Orakel auf sich?

Kurz überlegte Rhodan, die Shoijona direkt darauf anzusprechen, doch ein Instinkt warnte ihn. So wie diese Welt zugleich vertraut war und doch mit ihrer Fremdartigkeit überraschte, war auch das gesellschaftliche Gefüge der Ayees. Es gab Regeln, Tabus, Besonderheiten, die es im Umgang miteinander zu beachten galt. Auf ihn mochte die Shoijona einen kindlichen Eindruck machen, aber wie kindlich und unbedarft würde er auf sie wirken, wenn er die falschen Fragen stellte? Zudem hielt er es nach wie vor für unhöflich, eine Frage unmittelbar mit einer Gegenfrage zu beantworten.

»Ja. Ich bin bereit, mich Eyshu zu stellen. Das Orakel soll sagen, ob wir Teaana sind, die Lebensnichter, die euch die Unsterntage zurückbringen werden.«

»Es ist ein weiter Weg, und er ist gefährlich.«

Unauffällig berührte Rhodan seinen Unterarm, fühlte das vertraute Material des SERUN-SR, das sich äußerlich nicht von normaler Kleidung unterschied. Er war weit besser ausgerüstet, als die Ayees im Raum vermuteten. Mit seinen Mitteln war es sicher deutlich einfacher zum Orakel zu gelangen als mit einem Luftschiff, und er war bestens geschützt. Doch das wollte er nicht früher preisgeben als nötig. »Wohin führt uns der Weg?«

Die Shoijona setzte sich.

Rhodan bemerkte, wie Siad Tan aufatmete. Sie hatte sicher befürchtet, Todoyhu könnte sich erneut dem Okrill nähern und sich damit unwissentlich in Gefahr bringen.

»Das Orakel steigt auf den Kontinent Shiommaa nieder«, sagte Todoyhu.

Shiommaa. So weit Rhodan wusste, entsprach dieser Kontinent Indien und Madagaskar und war rund 3400 Kilometer entfernt. »Es steigt nieder?«

»So ist es. Eyshu steigt vom Mond Vira nieder, in den ratlosen Tagen.«

»Sind dies denn ratlose Tage?«

Todoyhu schloss zwei der fünf Augen. Sie schien nachzudenken. »Ja, ich denke schon. Ich fühle mich ratlos, und das ist bisher nie geschehen. Ich bin diejenige, die den Himmel sieht. Wenn ich ihn nicht sehen kann, brauche ich Rat. Eben dafür ist das Orakel da. Ich will wissen, wie ich mich euch gegenüber verhalten soll – Wesen, die Teaana sein könnten. Möglicherweise werdet ihr neue Unsterntage auslösen. Ich sollte euch gegenüber großes Misstrauen empfinden, doch das ist nicht der Fall. Ebendas ist mir ein Rätsel.«

»Ist es das Vorrecht der Shoijona, den Himmel zu sehen?« Rhodan interpretierte es so, dass die Shoijona wusste, was gut für die Ayees war.

»Es ist eine hilfreiche Gabe. Doch ich bin erst seit vier Jahren offiziell in diesem Amt. Gerade deswegen ist das Orakel eine wertvolle Stütze.«

Affatenga öffnete den Mund, schloss ihn jedoch wieder, ohne etwas zu sagen. Vielleicht hatte er erkannt, dass es besser war, sich nicht einzumischen.

Die Shoijona hatte die Reaktion des Siganesen allerdings sehr wohl bemerkt, wie ihre folgenden Worte bewiesen: »Du darfst ruhig sprechen, kleiner Teaana.«

Der Siganese setzte sich auf seine schwebende SCHOTE. »Mich würde interessieren, wie du zur Shoijona geworden bist.«

»Die oder der Shoijona werden designiert. Gemeinsam vom jeweils aktuellen Shoijona und dem Orakel, manchmal nach der Geburt, manchmal erst später. Ich wurde bereits unmittelbar bei der Geburt designiert, ebenso mein Nachfolger Helona, den ich direkt nach meinem Amtsantritt ausgewählt habe. Er ist gerade vier Jahre alt geworden.«

Eine durchaus interessante Information. Sie zeigte den hohen Stellenwert des Orakels in dieser Gesellschaft. Rhodan war sicher, mit der Lösung des Rätsels um das Orakel an entscheidende Informationen zu kommen. Mit etwas Glück stand das Orakel nicht unter der Kontrolle der Cairaner, war eine unabhängige Instanz. Und selbst wenn es von den Cairanern, den selbst ernannten Wächtern und Gönnern dieser Welt, beeinflusst wurde, war es vielleicht möglich, an relevantes Wissen zu kommen, das andere Ayees nicht hatten.