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Über dieses Buch:

Wenn in den Schatten der Vergangenheit das Böse lauert … Als der Journalist Harry Fitzglen auf einer Ausstellung der schönen Simone begegnet, fühlt er sich auf unheimliche Weise zu ihr hingezogen. Unbedingt will er erfahren, welche Geheimnisse sich hinter ihrem dunklen, rastlosen Blick verbergen – umso mehr, als ihm Gerüchte über das rätselhafte Verschwinden ihrer Zwillingsschwester zu Ohren kommen. Die Suche nach der Wahrheit führt Harry zu den uralten Ruinen eines walisischen Waisenhauses, wo vor langer Zeit schon ein anderes Zwillingspaar ein grausames Schicksal erlitt. Dabei übersieht Harry die Gefahr, die er mit seinen Nachforschungen heraufbeschworen hat …

»Hypnotisierend!« Bookseller

Über die Autorin:

Sarah Rayne ist das Pseudonym von Bridget Wood, einer erfolgreichen britischen Autorin von Horror- und Fantasyromanen. Unter den Namen Sarah Rayne schreibt sie eiskalte Psychothriller, denen ihre Leidenschaft für alte Gebäude, deren Atmosphäre und Geschichte deutlich anzumerken ist.

Bei dotbooks erschienen außerdem folgende Thriller von Sarah Rayne:

»Todeskammer«

»Rachestunde«

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eBook-Neuausgabe Dezember 2018

Dieses Buch erschien bereits 2007 unter dem Titel »Das Haus der Schatten« bei Goldmann.

Copyright © der englischen Originalausgabe 2004 by Sarah Rayne

Die englische Originalausgabe erschien 2004 unter dem Titel »A Dark Dividing« bei Simon & Schuster UK Ltd., London.

Copyright © der deutschen Erstausgabe 2007 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Copyright © der Neuausgabe 2018 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von Bildmotiven von shutterstock/Francey und STILLFX

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)

ISBN 978-3-96148-425-6

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Sarah Rayne

Blutfrost

Thriller

Aus dem Englischen von Ursula Bischoff

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Kapitel 1

Einen Artikel über die Eröffnung einer neuen Kunstgalerie in Bloomsbury zu schreiben war das Allerletzte. Genau die Art von Auftrag, die Harry Fitzglen am allerwenigsten mochte.

In Gesellschaft einer Schar schnatternder frustrierter Schnepfen, die in Geld schwammen und sich nicht ausgefüllt fühlten, viel zu kalten Wein und Schmirgelpapier-Häppchen zu vertilgen? Nein danke! Harry stellte mit einer gewissen Schärfe fest, dass die Teilnahme an derartigen Veranstaltungen der kunstbeflissenen Schickeria Frauensache sei. Diese bissige Schlussfolgerung befriedigte ihn in einem solchen Maße, dass er sie nochmals mit lauterer Stimme wiederholte, um sich zu vergewissern, dass keiner in der Redaktion sie überhören konnte.

»Sei doch mal ehrlich, in deinem tiefsten Innern bist du nichts weiter als ein unverbesserlicher, altmodischer Romantiker«, bemerkte einer der Redakteure, woraufhin Harry ein Nachschlagewerk nach ihm warf und schnurstracks in das Büro seines Chefredakteurs marschierte, um darauf hinzuweisen, dass er dem Redaktionsstab des Bellman nicht beigetreten sei, um über Protzpartys in Bloomsbury zu berichten.

»Die Eröffnung ist erst nächsten Monat«, antwortete Clifford Markovitch ungerührt, den Einspruch ignorierend. »Am Zweiundzwanzigsten. Von sechs bis acht, wie üblich. Die Galerie heißt ›Thorne's‹ und ist Angelica Thornes neueste Marotte.«

»Oh Gott, auch das noch!« Harry verlangte zu wissen, wie Angelica Thorne an das Kapital herangekommen war, um eine Nobelgalerie in Bloomsbury zu eröffnen.

»Keine Ahnung, aber das ist eine der Fragen, denen du auf den Grund gehen sollst«, meinte Markovitch.

»Wahrscheinlich handelt es sich um Schweigegeld von irgendeinem Ex Lover.«

»Wenn er Parlamentsmitglied aus der ersten Riege ist, gleich ob Regierung oder Opposition, mit Frau und Kindern in den Home Counties, will heißen in sicherer Entfernung, interessiert uns sein Name«, erwiderte Markovitch schlagfertig. »Die Sache ist die, dass sich Angelica ein neues Image als Stilikone und Kunstmäzenin zugelegt hat und die Eröffnung der Galerie allein deshalb ein paar Zeilen wert ist. Ich brauche –«

»Namen«, unterbrach ihn Harry mürrisch. »Die Namen von Prominenten. Je höher der Promi-Faktor, desto höher die Auflage.«

»Du kennst sie ja, unsere goldene Regel.«

»Klar. Ein ehernes Gesetz, in deine Bürotür gemeißelt wie die Willkommen-in-der-Hölle-Inschrift aus Dantes Göttlicher Komödie

»Harry, manchmal frage ich mich, ob du bei uns am richtigen Platz bist«, sagte Markovitch zweifelnd.

»Geht mir genauso. Bringen wir es also hinter uns. Ich nehme an, dass bei der Eröffnung dieser Galerie alles anwesend sein wird, was Rang und Namen hat. Angelica Thorne kennt den halben Debrett, oder besser gesagt, sie dürfte in den Betten so einiger der Blaublütigen aufgewacht sein, die in diesem Adelsregister verzeichnet sind.«

»Ja, aber Finger weg von jeder Anspielung, die als Rufmordkampagne ausgelegt werden könnte«, warf Markovitch rasch ein. »Klatsch ja, aber keine Verleumdung. Und vergiss nicht, einen Blick auf die Exponate zu werfen, wenn du schon mal dort bist. Avantgarde-Bilder zum einen und futuristische Fotografie zum anderen, wie es scheint. Der Fotografie-Bereich gehört übrigens in das Metier der Geschäftspartnerin.«

»Falls sich herausstellen sollte, dass die beiden in Formaldehyd eingelegte verstümmelte Schafe zur Schau stellen, kannst du den Artikel selber schreiben.«

»Bist du Angelica Thorne überhaupt schon mal persönlich begegnet? Nein? Hätte ich mir denken können. Verstümmelte Schafe und Angelica Thorne sind Worte, die niemand im selben Atemzug nennen würde, der Angelica kennt.« Markovitch überlegte kurz, dann beugte er sich plötzlich über den Schreibtisch und fuhr mit völlig veränderter Stimme fort: »Was mich interessiert, Harry, ist Angelicas Geschäftspartnerin. Laut PR-Broschüre handelt es sich dabei um eine Simone Marriott, aber ich habe ein paar Nachforschungen angestellt.« Markovitch stellte für sein Leben gerne Nachforschungen an. »Ihr richtiger Name lautet Simone Anderson.«

Schweigen. Markovitch lehnte sich in seinem Stuhl zurück und musterte Harry. »Ist dir jetzt klar, worum es bei dieser Story in Wirklichkeit geht? Und warum ich dich bereits lange vor dem Eröffnungstermin der Galerie darauf ansetze?«

»Simone Anderson«, wiederholte Harry bedächtig. »Aber das war vor mehr als zwanzig Jahren. Bist du sicher, dass ein Irrtum ausgeschlossen ist und es sich um ein und dieselbe Person handelt?«

Doch bei Markovitch war jeder Irrtum ausgeschlossen. Er hatte ein kompliziertes Karteikartensystem mit erinnerungswürdigen Ereignissen angelegt, die er archivierte, um sie zehn oder zwanzig Jahre später wieder auszugraben. Harry hätte die Miete für den nächsten Monat darauf verwettet, dass sich der gerissene alte Fuchs seit mindestens einem Jahrzehnt diebisch über seine Notizen zu diesem spezifischen Fall freute. Die Kritiker des Bellman erklärten, die Lektüre des Blättchens ließe sich mit dem Verzehr aufgewärmter Essensreste vergleichen, doch das störte Markovitch nicht im Geringsten. Er fand, dass der Bellman die Regeln des guten Geschmacks wahrte, und schenkte den bösen Zungen keine Beachtung, die behaupteten, in puncto Geschmack sei Markovitch mit Blindheit geschlagen.

»Simone Anderson«, wiederholte Harry nachdenklich.

»Kommt dir der Name bekannt vor?«

»Ja«, erwiderte Harry so beiläufig wie möglich. Lass niemals Begeisterung erkennen, wenn es um einen Auftrag geht. Immer schön dem Bild des abgebrühten Fleet-Street-Zeitungsmannes entsprechen. Ein Reporter, der sich durchgebissen hat und mit allen Wassern gewaschen ist.

»Wir bringen vordergründig die Story von der Thorne-Galerie, was sonst«, erklärte Markovitch. »Aber ich möchte, dass du dich hinter den Kulissen noch einmal mit dieser Anderson-Geschichte befasst. Gründlich befasst. Kein zusammengeschusterter, wieder aufgewärmter Bericht.«

Harry warf ein, das sei für den Bellman mal was ganz Neues.

»Kein zusammengeschusterter, wieder aufgewärmter Bericht, der sich auf die ursprünglich ermittelten Fakten stützt«, wiederholte Markovitch mit Nachdruck. »Was wir brauchen, sind brandneue Aspekte des Falls. Da Simone Anderson wieder aus der Versenkung aufgetaucht ist, sollten wir in Erfahrung bringen, wie sie ihre Kindheit und Jugend verbrachte – Schule, College, Universität, falls sie studiert hat. Freunde, Freundinnen, Liebesbeziehungen zu Angehörigen beiderlei Geschlechts, was auch immer. Wie kam sie zur Fotografie? Wie gut beherrscht sie ihr Metier? Wieso hat sie sich mit Angelica Thorne zusammengetan? Geh der Sache auf den Grund! Das schaffst du doch, oder?«

»Möglich.« Niemals Begeisterung oder auch übertriebenen Optimismus erkennen lassen. Sich stets den Anschein geben, als hätte man eine Flasche Chivas Regal gebunkert, wie dieser kaltschnäuzige amerikanische Privatdetektiv. »Falls ich mich bereit erkläre, den Auftrag zu übernehmen, könnte es durchaus sein, dass ich den einen oder anderen neuen Aspekt zutage fördere«, sagte Harry betont leidenschaftslos. »Aber eines sage ich dir gleich. Ich bin kein blutiger Anfänger, dem du bequem nur die Recherchen aufs Auge drücken kannst. Mit solchen Handlangerdiensten habe ich nichts am Hut.«

»Weiß ich doch. In Simones Familie ist einiges nicht mit rechten Dingen zugegangen, Harry. Ich erinnere mich noch an die Gerüchte, und dass drei Viertel der Fleet Street versuchten, Licht ins Dunkel zu bringen. Der Fall liegt zwanzig Jahre zurück, aber er ist mir noch in allen Einzelheiten gegenwärtig. Einige Mitglieder dieser Familie starben oder verschwanden spurlos, Harry, und obwohl die meisten von uns vermuteten, dass an der Sache etwas faul war, kam die Wahrheit nie ans Tageslicht. Es hieß, man habe einen Mord vertuscht, ein abgekartetes Spiel, an dem auch Ärzte beteiligt gewesen sein sollen.«

»Ein abgekartetes Spiel? Zu welchem Zweck?«

»Keine Ahnung. Das wurde nie geklärt.«

»Und du glaubst, mir soll es gelingen, den Fall aufzuklären, nach zwanzig Jahren?«

»Durchaus möglich. Und wenn nicht, wäre auch die Aktualisierung des Lebenslaufs von Simone Anderson – Simone Marriott – eine Story, die sich gut verkauft, weil sie das Interesse auf der menschlichen Schiene bedient.«

Der Bellman hatte sich auf Geschichten spezialisiert, die das Interesse auf der menschlichen Schiene bedienten. Das Blatt war darauf abonniert, die Herz-Schmerz-Saite anklingen zu lassen, und veröffentlichte mit Vorliebe dreiseitige Ergüsse über prominente Paare und Mitglieder des Königshauses, die durch Paparazzi-Fotos in ihrer Bedeutung aufgewertet wurden. Bisweilen prangerte es Ungerechtigkeiten an und rief einen Kreuzzug ins Leben, um der Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen. Oder man verfasste Bittschriften für die Freilassung eines verurteilten Straftäters, der offensichtlich einem Justizirrtum zum Opfer gefallen war.

Harry argwöhnte, dass Markovitch die Ungerechtigkeiten und die zu Unrecht verurteilten Straftäter mehr oder weniger auf gut Glück herauspickte, aber er hatte nie ein Wort darüber verlauten lassen, weil er seinen Job brauchte. Bisher war es ihm gelungen, der Formulierung von Anträgen auf Berufungsverfahren aus dem Wege zu gehen, bloß um den Namen irgendeines alten Galgenvogels reinzuwaschen. Was ein wahrer Segen war.

»Oh, und mach dir Notizen zu all deinen Kontaktpersonen. Ich möchte sie im Computer sowie im Karteikasten haben.« Markovitch traute Computern nicht. »Könnte durchaus sein, dass der Fall in zehn Jahren noch einmal aufgerollt wird. Ich will alle Informationen archivieren.«

»Nicht für mich. In zehn Jahren bin ich nicht mehr mit von der Partie, auch nicht in fünf. Du kannst von Glück sagen, wenn ich nächste Woche noch hier bin. Wenn ich es mir recht überlege, solltest du dir am besten gleich einen Ersatz suchen, dem du die Sache aufs Auge drückst«, sagte Harry übellaunig.

»Ich setze aber dich darauf an.«

»Nein danke, kein Interesse.«

Solche Diskussionen waren gang und gäbe, aber sie mündeten nie in die »Du bist gefeuert«-Phase, weil Markovitch nicht vergessen konnte, dass Harry vor seiner Rosenkrieg-Scheidung, die ihn schlussendlich seinen Job kostete, in den oberen Etagen der Fleet Street tätig gewesen war. Und weil Harry nicht vergessen konnte, dass er dringend Geld brauchte, nachdem Amanda sich das gemeinsame Bankkonto und das Haus unter den Nagel gerissen hatte.

»Wir bringen deinen Namen groß raus, in der Verfasserzeile unter der Überschrift.«

»Nein danke. Ich will nicht, dass mein guter Name mit dem Gewäsch in Zusammenhang gebracht wird, das dein Revolverblatt seinen Lesern serviert. Aber ich werde dir sagen, womit du mich ködern kannst: mit einer Sonderzahlung, wenn in der entsprechenden Woche die Auflage steigt.« Das konnte er sich natürlich abschminken, weil beim Bellman noch nie jemand eine Sonderzahlung erhalten hatte. Also stand Harry auf und schickte sich zum Gehen an. Doch bevor er die Tür erreichte, sagte Markovitch: »Harry?«

»Ja?«

»Was mich am meisten interessiert, ist die Mutter.«

»Aha, dachte ich es mir doch.«

»Möglicherweise ist sie inzwischen tot. Sie verschwand spurlos, wie vom Erdboden verschluckt.«

»Sah sie gut aus?« Harry hatte keinen blassen Schimmer, was ihn zu der Frage bewog.

»Sie besaß das gewisse Etwas, das sie unvergesslich machte.« Einen Moment lang nahm Markovitchs Stimme einen geradezu sehnsuchtsvollen Klang an.

»Sie müsste jetzt Mitte vierzig sein, oder?«

»Vielleicht sogar älter. Melissa Anderson, so lautete ihr Name. Ich wüsste gerne, was aus ihr geworden ist, Harry. Du musst einen Weg finden, Licht in das Dunkel der Vergangenheit zu bringen, unbedingt.«

»Für diese Aufgabe brauchst du keinen Reporter, sondern einen Fährtensucher«, konterte Harry griesgrämig.

»Wohin gehst du?«

»In den Pub, um den magnetischen Norden zu suchen.«

Auszug aus Charlotte Quintons Tagebüchern: 28. Oktober 1899

Während des heutigen Abendessens wünschte ich mir plötzlich, es gäbe einen Weg, die Zukunft zu ergründen, um zu wissen, was uns erwartet, und unangenehme Situationen vermeiden zu können.

Doch zumindest war Edward höchst erfreut über die Bestätigung der Vermutung, dass es wohl Zwillinge sind, die im Januar zur Welt kommen. Er zieht für die Zeit nach der Geburt bereits einen Umzug in ein größeres Haus in Erwägung. Dieses Anwesen sei dunkel und beklemmend – ungeeignet für Kinder (als ob ich das nicht wüsste!). Und überhaupt würden wir zusätzliche Dienstboten brauchen, ob ich das bedacht hätte? Habe ich, kaum zu glauben.

Hat allen erzählt, dass wir Zwillinge erwarten (manchen Leuten sogar mehrmals), und brüstet sich mit der Neuigkeit in ganz London, dieser Prahlhans. Wahrscheinlich bildet er sich ein, Zwillinge gezeugt zu haben sei ein offenkundiger Beweis seiner Manneskraft.

Dr. Austin hat versprochen, mir etwas zu geben, um die Niederkunft zu erleichtern, wahrscheinlich Chloroform, das man heutzutage bei Geburten im Königshaus verwendet. Obwohl Edwards Mutter, die heute zum Abendessen bei uns war, diese neumodische Sitte missbilligt und meint, es sei Gottes Wille, unter Schmerzen zu gebären. Habe mir erlaubt, darauf hinzuweisen, dass die medizinische Wissenschaft inzwischen einhellig schmerzlindernde Mittel bei der Niederkunft befürwortet – besser für Mutter und Kind. Worauf sie mir Mangel an Zartgefühl vorwarf und meinte, dieser sei auf meinen Umgang mit Schriftstellern und Malern in Bloomsbury zurückzuführen.

Vermute, dass Edward der gleichen Überzeugung ist wie seine Mama. Edward ist ein Mensch, der eine Menge Überzeugungen hat – zumeist unliebsame. Wünschte, ich hätte seine Überzeugungen vor der Hochzeit gekannt.

10. November 1899

Wir haben über Namen für die Kinder gesprochen, obwohl Edwards Mutter sagt, damit fordere man die göttliche Vorsehung heraus, und Hochmut käme bekanntlich vor dem Fall.

Nichtsdestotrotz findet Edward, dass George und William vorzüglich passen würden, da es sich bei beiden um ordentliche englische Namen handelt, nicht um diesen fremdländischen Unsinn. Klang genau wie Mrs. Tigg, wenn sie den Speiseplan mit mir bespricht und die anzuliefernden Lebensmittel für unser Hauswesen bestellt. Dann sagt sie: »Ich dachte, Madam, eine ordentliche englische Lammschulter wäre als Sonntagsbraten gerade recht.«

Zur Not würde sich Edward mit George und Alice begnügen, da eine Tochter immer als angenehme Dreingabe gilt, und wenn der Name Alice für die Tochter Ihrer Majestät gut genug ist, dann auch für eine Quinton.

Wollte wissen, was mit Georgina und Alice wäre, worauf er sagte, Unsinn, meine Liebe, du bist dafür geschaffen, Jungen zu gebären. Hasse es, wenn sich Edward so überheblich und gönnerhaft gibt! Wies ihn verstimmt darauf hin, dass meine Hüften genau besehen ziemlich schmal sind und dass ich mir mit allem Nachdruck verbitte, als Zuchtstute betrachtet zu werden. Woraufhin er verärgert vor sich hin murmelte, wo das noch hinführen solle, wenn einer Ehefrau eine derart ungehörige Bemerkung gestattet sei, und seine Mutter habe Recht mit ihrer Behauptung, es mangele mir bisweilen an Zartgefühl. Sagte ihm, ich fände es meinerseits ungehörig und wenig zartfühlend, wenn sich ein Mann bei seiner Mutter über seine Ehefrau ausließe.

Infolgedessen beleidigtes Schweigen während der gesamten Mahlzeit. Hätte es nicht für möglich gehalten, dass jemand schmollen kann, wenn er Steak-und-Kidney-Pie und einen hausgemachten Treacle-Sponge-Pudding vorgesetzt bekommt, aber Edward schaffte es.

Frage: Warum habe ich einen selbstsüchtigen, eigennützigen Prahlhans geheiratet, der beim Essen schmollt?

Kapitel 2

Abgesehen davon, dass der Wein besser und das Essen üppiger war als erwartet, verlief die Eröffnung der Thorne's-Galerie beinahe genauso, wie Harry vorhergesagt hatte. Besucher mit teuer erkaufter Stimme, die fortwährend die Runde machten und gemurmelte Kommentare zu den Bildern abgaben. Frauen, die sich gegenseitig verstohlen musterten und die Garderobe der Konkurrenz nach ihrem Preis einschätzten. Geschickte Beleuchtung und ein Holzboden mit hübscher Maserung.

Keine Spur von verstümmelten Schafen oder gehäuteten Kadavern und keine unziemlichen Werke von Vertretern der Avantgarde oder des Existenzialismus. Einige der Bilder waren sogar recht beachtlich.

Was immer das Haus in seinen früheren Zeiten auch gewesen sein mochte, es wirkte wie geschaffen für seine derzeitige Existenzform. Es handelte sich um ein hohes, schmales Bauwerk, und entweder war Angelica Thornes Geschmack besser als ihr Ruf, oder die Londoner Stadtplaner hatten ein Machtwort gesprochen; das äußere Erscheinungsbild des Gebäudes war kaum angetastet worden. Die Bilder waren im Erdgeschoss, die Fotografien im ersten Stock ausgestellt. Harry machte dem Bildreporter, den er mitgebracht hatte, den einen oder anderen Vorschlag, bevor er ihm alles Weitere überließ.

Es waren einige überaus dekorative Frauen anwesend, unter denen Harry Angelica Thorne auf Anhieb sichtete. Offenbar hatte sie das Bloomsbury-Ambiente mit dem Glaubenseifer einer Bekehrten verinnerlicht. Entweder das, oder jemand hatte ihr unlängst gesagt, dass sie einem Burne-Jones-Gemälde glich, denn ihre Frisur war unverkennbar präraffaelitisch angehaucht – eine ungebändigte kupferrote Kaskade –, und ihr Kleid erinnerte an locker gebundene Halstücher und fließende Nachmittagskleider aus Samt.

Von Simone Marriott oder einer Frau, die seinem Bild von Simone Marriott entsprach, fehlte jede Spur. Harry lehnte sich an einen Türrahmen und notierte mehr oder weniger aufs Geratewohl ein paar halbwegs bekannte Namen, um Markovitch bei Laune zu halten und die Anwesenden wissen zu lassen, dass er ein Vertreter der Presse war, von dem man folglich ein unberechenbares Verhalten erwarten konnte. Danach besorgte er sich ein weiteres Glas Chablis und ging nach oben in den ersten Stock.

Auf dieser Etage tummelten sich merklich weniger Gäste. Vielleicht, weil sie so früh am Abend noch nicht so weit vorgedrungen waren. Oder weil der Wein unten ausgeschenkt wurde und noch in Strömen floss. Oder weil die meisten bereits zu viel intus hatten und die schmale Treppe ohne Handlauf nun eine fatale Herausforderung darstellte. (»Vor den Augen von Angelica Thornes gut betuchten Busenfreunden die Treppe hinunterfallen und mir den Hals brechen? Nein danke«, hatten sich die meisten wahrscheinlich gesagt.)

Doch selbst nach mehreren Gläsern Wein bezwang Harry die Treppe mit links Er bog um die letzte tückische Kurve und betrat den ersten Stock, der die gleichen geschmackvollen Regency-Fenster besaß wie das Erdgeschoss. Durch eines hatte man sogar einen Blick auf das British Museum. Langsam schlenderte er an einer Reihe gerahmter Fotos vorbei.

Hier warteten zwei Überraschungen auf ihn.

Die erste waren die Fotografien selbst. Sie waren wirklich erstklassig und regten zum Nachdenken an, wenn auch auf ziemlich beunruhigende Weise. Bei vielen war bewusst das Mittel der optischen Täuschung eingesetzt worden, mit Motiven, die auf den ersten Blick ganz gewöhnlich und harmlos wirkten, sich bei näherem Hinsehen jedoch als etwas völlig anderes entpuppten. Trugbilder, dachte Harry und blieb vor einer Aufnahme stehen, die einen abgedunkelten Raum mit düsteren Silhouetten zeigte, vielleicht Möbelstücke in Schutzhüllen. Aber darunter konnte sich durchaus auch etwas Bedrohlicheres verbergen. Die Umrisse von Ästen draußen vor einem Fenster glichen den Gitterstäben von Gefängniszellen, und ein abgebrochener, herabhängender Ast wies täuschende Ähnlichkeit mit einem spiralförmig gewundenen Strick auf, wie die Schlinge eines Galgens geknüpft. Harry betrachtete dieses letzte Foto geraume Zeit, während das Getöse der Party nach und nach verhallte.

»Gefällt es Ihnen?«, sagte auf einmal eine Stimme an seiner Seite. »Es ist nicht gerade mein Lieblingsfoto, aber auch nicht schlecht. Oh – nur zu Ihrer Beruhigung, ich habe kein Auge auf Sie geworfen. Ich bin Simone Marriott, und dies hier ist mein Anteil an der Thorne's Gallery. Also erwartet man von mir, dass ich die Honneurs mache und die Gäste in scharfsinnige Gespräche verwickle.«

Simone Marriott war die zweite Überraschung des Abends.

»Sie haben den Eindruck auf mich gemacht, als könnte man mit Ihnen leichter ins Gespräch kommen als mit den anderen«, fügte sie hinzu. »Keine Ahnung, warum.«

Inzwischen hatten sie in einer der schmalen Fensternischen Platz genommen, während die Sonne hinter der Londoner Skyline unterging und der Geruch des alten Hauses sie einhüllte. Die Party im Erdgeschoss schien sich dem Ende zuzuneigen, und Angelica Thornes Stimme forderte den harten Kern der Gäste zu einem späten Abendessen außer Haus auf.

Simone hatte langes, braunes Haar mit schimmernden roten Lichtreflexen, stufig geschnitten, so dass es sanft ihr Gesicht umrahmte. Sie trug einen nichts sagenden dunklen Pullover über einem schlichten engen Rock, dazu schwarze Schnürstiefel, und der einzige Farbtupfer an ihr war ein langer Seidenschal mit Quasten in leuchtendem Jadegrün, den sie um den Hals geschlungen hatte. Auf den ersten Blick konnte Harry nichts Außergewöhnliches an ihr entdecken. Sie war klein, zierlich und beinahe unscheinbar. Doch als sie über die Fotografien zu sprechen begann, revidierte er seine Meinung. Ihre Augen – von der gleichen Farbe wie der Seidenschal – leuchteten vor Begeisterung, brachten ihr ganzes Gesicht zum Strahlen, und wenn sie lächelte, sah man, dass an ihrem Schneidezahn eine winzige Ecke abgesplittert war, was ihr unverhofft das Aussehen einer gamine verlieh. Harry stellte fest, dass er dieses Lächeln mochte.

»Mir gefallen Ihre Arbeiten sehr gut«, sagte er. »Obwohl manche Aufnahmen Unbehagen in mir wecken.«

»Zum Beispiel das vergitterte Fenster und der Baum, der wie ein Galgen mit einer Henkersschlinge aussieht?«

»Genau. Aber ich finde es gut, dass Sie die Schattenseiten des Lebens aufspüren und sich zugleich damit begnügen, nur einen Bruchteil davon anzudeuten. Auf den meisten Fotos sind sie unterschwellig, getarnt. Als Ast eines Baumes, als Möbelstück oder als Schatten.«

Simone sah zufrieden aus. »Es macht mir Spaß, mich auf Motivsuche zu begeben und zu ergründen, ob es hinter der glatten Fassade eine Schattenseite gibt.«

»Haben nicht die meisten Dinge im Leben eine Schattenseite?«

Sie sah ihn an, als frage sie sich, ob er sie provozieren wollte. Doch dann schien sie zu dem Ergebnis zu kommen, dass dem nicht so war. »Stimmt, fast alle. Das ist für mich der wirklich interessante Teil der Arbeit: die Schattenseiten im Bild festzuhalten.«

»Ich würde mir die Aufnahmen gerne noch einmal anschauen. Wie wäre es mit einem Rundgang unter Ihrer fachkundigen Führung?«

»Warum nicht? Warten Sie, ich hole Ihnen zuerst noch einmal Nachschub.«

Sie sprang auf. Sie war nicht sonderlich anmutig, aber durchaus ansehnlich, und Harry fragte sich mit einem Mal, ob sie wohl die Eigenschaft geerbt hatte, die Markovitchs Stimme eine schwärmerische Note verliehen hatte, als der ihre Mutter erwähnte.

Gemeinsam schlenderten sie an der Reihe gerahmter Fotografien entlang. »Ich vergleiche gerne das Gebändigte und das Ungebändigte miteinander«, gestand Simone. »Als ich diese Serie aufnahm –«

»Denkmalschutz versus Verfall?«

»Ja. Ja genau! Bei diesen Aufnahmen habe ich mir die wirklich altersschwachen Bauwerke bis zum Schluss aufgespart. Wie ein Kind, das bei einem Stück gedeckten Obstkuchen zuerst die Kruste isst und sich die saftigen Früchte bis zuletzt aufhebt. Das hier ist Powys Castle. Eine dieser alten Festungen an der Grenze, die sich seit dem vierzehnten Jahrhundert kaum verändert haben. Schön, nicht? Verfallen, aber malerisch. Die Ruinen werden sorgfältig erhalten, um ein Stück Vergangenheit einzufangen und für immer zu bewahren.«

»Und als Ausgleich dazu haben Sie das Foto dort hinten gemacht.«

Er glaubte gesehen zu haben, wie sie einen Moment zögerte, doch dann sagte sie: »Ein Herrenhaus aus dem 17. oder 18. Jahrhundert. Es soll veranschaulichen, dass die Vergangenheit in Vergessenheit gerät. Das Anwesen wurde seit Jahren vernachlässigt, hoffnungslos dem Verfall preisgegeben. Eigentlich ist es eine Anmaßung von mir, das Foto auszustellen. Ich habe es mit meiner allerersten Kamera aufgenommen, als ich zwölf war, und es löst zwiespältige Gefühle in mir aus. Trotzdem fand ich, dass es nicht schlecht ist und in die Serie passt. Als Kontrast.«

»Es ist nicht nur nicht schlecht, sondern wirklich gut. Wo wurde es aufgenommen?« Harry beugte sich vor, um den Titel zu entziffern.

»Das Anwesen heißt Mortmain House. Es befindet sich am Rande von Shropshire, an der westlichen Grenzlinie, ungefähr an der Stelle, wo England in Wales übergeht. Als Kind habe ich dort eine Weile gelebt.«

»Mortmain. Bedeutet das nicht ›tote Hand‹?«

»Ja. Im Mittelalter pflegten die Großgrundbesitzer der Kirche Land zu überlassen, damit ihre Kinder nach dem Tod der Eltern keine Lehenssteuern entrichten mussten. Später forderten die Erben dann das Land zurück.. Ein guter Trick, bis die Obrigkeit dahinterkam, und so wurde ein Gesetz erlassen, das solche Winkelzüge verhinderte: das Gesetz der Totenhand – rede ich zu viel?«

»Nein, es interessiert mich. Sieht aus wie eines dieser klassischen Herrenhäuser aus den Horrorfilmen, deren Anblick Alpträume verursacht«, sagte Harry, den Blick noch immer auf das Anwesen gerichtet, das Simone als Mortmain House bezeichnet hatte.

»Ja, nicht wahr?« Ihre Stimme war eine Spur zu beiläufig. »Ich habe nicht übertrieben, was das Erscheinungsbild angeht. Es sieht wirklich so aus.«

»Angefüllt mit dunklen Schatten? Mit Alpträumen?«

»Alpträume sind subjektiv. Jeder hat seine eigenen persönlichen Erfahrungen, die ihn im Traum verfolgen.«

Harry sah sie an. Ihr Scheitel befand sich etwa auf gleicher Höhe mit seiner Schulter. »›Ich könnte in einer Nussschale eingesperrt sein und mich für einen König von unermesslichem Gebiet halten, wenn nur meine bösen Träume nicht wären.‹«

»Ja. Ja.« Sie lächelte, allem Anschein nach erfreut über das Zitat, das von Verständnis zeugte, und Harry fragte sich, wie sie wohl reagieren würde, wenn er sagte: Wir werden alle insgeheim von einem Alptraum heimgesucht, aber was du nicht weißt, meine Liebe, ist, dass ich versuche, die Zeit zurückzudrehen und einen Weg in die Vergangenheit zu finden.

Natürlich rückte er nicht mit der Sprache heraus. Niemals die eigene Tarnung auffliegen lassen, es sei denn, es ginge um Leben und Tod.

»Ist das eine charakteristische Eigenschaft von Ihnen, das Leben von der Schattenseite zu betrachten?«

Simone hoffte, dass sie in Gegenwart des Journalisten vom Bellman nicht zu lange auf den Schattenseiten des Lebens, Mortmain House und dergleichen herumgeritten war. Aber er hatte sie allem Anschein nach auf Anhieb verstanden – wie das von ihm zitierte Alptraum-Zitat aus Hamlet bewies –, und sein Interesse schien aufrichtig zu sein.

Es versetzte ihr daher einen kleinen Stich, als Angelica zwei Tage später im Zuge einer Diskussion über die Galerie-Eröffnung atemlos berichtete, Harry Fitzglen habe angerufen, um sie zum Abendessen einzuladen.

»Wie nett.« Simone weigerte sich, auf Angelica eifersüchtig zu sein, die ihr diese einmalige berufliche Chance bot. Die Leute erwähnten Angelica selten, ohne hinzuzufügen: »Es handelt sich um die Angelica Thorne, ein echtes It-Girl in den neunziger Jahren. Dutzende von Liebhabern und die wildesten Partys. Sie hat nichts anbrennen lassen, es gibt kaum etwas, was sie nicht ausprobiert hätte«, hieß es. Eine Sache, die sie zurzeit ausprobierte, war die Rolle der Kunstmäzenin, und zu den Künstlern, die sie unter ihre Fittiche nahm, gehörte Simone. Wenn es nach Simone gegangen wäre, hätte Angelica auch schwarze Magie und Kannibalismus ausprobieren können. Sie weigerte sich daher, eifersüchtig zu sein, weil Harry Fitzglen Angelica zum Essen eingeladen hatte. Selbst als Angelica mit dem für sie typischen Lächeln einer zu Streichen aufgelegten Katze hinzufügte, dass sie ins Aubergine in Chelsea gehen würden.

»Wenn er sich das Aubergine leisten kann, muss er ziemlich erfolgreich sein.«

»Ich mag erfolgreiche Männer. Genauer gesagt – oh Gott, ist das die Stromrechnung für das erste Quartal? Das kann doch nicht wahr sein – schau dir den Betrag an! Wir haben nie und nimmer so viel Heizung verbraucht, schließlich sind wir keine Orchideen oder so!«

Sie waren oben im Dachgeschoss, in dem sich das Büro der Bloomsbury-Galerie befand. Simone liebte das schmale Gebäude, kaum breiter als ein Handtuch, das an einem winzigen Platz in London lag, umgeben von kleinen, findigen PR-Firmen, hoffnungsvollen neuen Verlagen und Teilbereichen der Universität oder des Britischen Museums, die ausgelagert worden waren und sich an einem geeigneteren Standort angesiedelt hatten. Das Büro war klein, weil sie es vom Rest des Dachgeschosses abgetrennt hatten, um so viel Ausstellungsraum wie möglich beizubehalten. Doch von hier aus hatte man einen freien Blick über die Dachfirste und konnte eine Ecke des British Museum erspähen. Es war ein wenig verschwommen, da die Fenster des Hauses noch die ursprünglichen waren und sich im Lauf der Zeit verzogen hatten.

Simone liebte den Geruch des Hauses gleichermaßen, der trotz der Renovierungsarbeiten an eine längst vergangene Epoche erinnerte. Gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts war Bloomsbury ein begehrtes Viertel, ein Tummelplatz für die sogenannte intellektuelle und künstlerische Elite Schriftsteller, Maler und Dichter. Manchmal meinte Simone sogar, irgendwo durch eine Ritze spähen und einen Blick auf die Vergangenheit des Hauses erhaschen zu können, auf seine zahlreichen Bewohner in den von Kerzen erhellten Räumen, wie sie sich miteinander unterhielten, Streitgespräche führten und arbeiteten – halt, damals hatte man kein Kerzenlicht, sondern Gaslicht. Nicht ganz so romantisch.

Dennoch musste es faszinierend sein, die Geschichte des Hauses in allen Einzelheiten zurückzuverfolgen. Simone hätte gerne gewusst, was für Menschen darin gelebt hatten, als es noch ein herkömmliches Wohnhaus gewesen war. Es war keine schlechte Idee, gemeinsam mit Angelica eine kleine, aber feine Ausstellung über die Vergangenheit des Hauses zu organisieren. Vielleicht gab es noch Aufnahmen aus früheren Zeiten, die sich retuschieren und verwenden ließen. Ob Harry Fitzglen Zugang zu alten Zeitungsarchiven und Fotoagenturen hatte? Konnte sie Angelica bitten, ihm diesbezüglich auf den Zahn zu fühlen? Angelica war Feuer und Flamme, wenn es um Thorne's ging, aber in Gegenwart eines neuen Verehrers hielt sich ihre Begeisterung für Diskussionen über Marketingstrategien möglicherweise in Grenzen.

Simone musterte Angelica verstohlen. Heute trug sie eine neue, riesige Schildpattbrille. Sie brauchte keine, aber die Brille gehörte zu ihrem neuen Image. Simone fand, dass sie damit wie eine erotisch hochexplosive Oxford-Dozentin wirkte. Niemand außer Angelica schaffte es, sowohl sexy als auch blitzgescheit auszusehen, und mit einem Mal verspürte Simone den Wunsch, ein Porträtfoto von ihr zu machen, um zu sehen, ob es ihr gelingen würde, beide Eigenschaften zugleich im Bild einzufangen. Ob Harry Fitzglen diese beiden Aspekte ihrer Persönlichkeit bemerkte, wenn er mit ihr ausging? Und wenn ja, welchem würde er den Vorzug geben? Dem erotischen natürlich, was sonst. Wie alle Männer.

Oder doch nicht? Er schien weit intelligenter zu sein, als er bei der Eröffnung der Galerie zu erkennen gegeben hatte, und beträchtlich einfühlsamer. Das war ihr sofort aufgefallen. Auch ohne das Shakespeare-Zitat über die schlechten Träume hatte er die Schattenseite von Mortmain entdeckt. Obwohl das vermutlich jedem Menschen mit einem halbwegs normalen Sehvermögen gelungen wäre. Die Frage, ob Simone mit den Schattenseiten des Lebens auf vertrautem Fuß stünde, offenbarte jedoch, dass er einer völlig anderen Kategorie Mann angehörte, denn soweit sie sich erinnern konnte, hatte bisher niemand die Schattenseite in ihr wahrgenommen.

Niemand wusste von dem kleinen Mädchen, das sie auf Schritt und Tritt beobachtete.

Sie war vier Jahre alt gewesen, als sie diesen inneren Schatten erstmals gewahrte, und knapp über fünf, als sie zu begreifen begann, woher er stammte.

Das kleine Mädchen, das ihr wie ein Schatten folgte. Das verborgene, lautlose Kind, das sich in Simones Gedanken eingenistet hatte. Sie kannte seinen Namen nicht, deshalb nannte sie es einfach das kleine Mädchen.

Anfangs hatte sie dessen Gegenwart weder geängstigt noch beunruhigt. Sie hatte nicht einmal gewusst, dass andere Menschen keinen unsichtbaren Gefährten besaßen, mit dem sie jederzeit Kontakt aufnehmen konnten. Außerdem fühlte sie sich wohl in der Gesellschaft des kleinen Mädchens; es gefiel ihr, dass eine Art Windhauch ihre Gedanken erfasste und sie ein Kribbeln verspürte, sobald das Mädchen auftauchte. Und es gefiel ihr, ihm etwas zu erzählen oder seine Geschichten anzuhören, die spannend waren. Simone liebte Geschichten über alles; sie fand es herrlich, wenn man ihr etwas vorlas, obwohl nicht jeder die Geschichten richtig zu lesen verstand.

Mutter las sie immer richtig vor. Simone hörte Mutter mit Begeisterung zu, und sie betrachtete sie gerne beim Vorlesen. Ihre Stimme war weich, und alle hielten sie für still und sanft. In der Schule hieß es immer, wir beneiden dich um deine Mutter, du kannst sie bestimmt leicht um den Finger wickeln. Aber Simones Mutter ließ sich von niemandem um den Finger wickeln. Sie hatte strenge Regeln, was Fernsehen, Hausaufgaben und Schlafenszeit jeden Abend um Punkt acht betraf, aber die anderen meinten, das sei typisch für die meisten Mütter. Und Simone könne sich glücklich schätzen, dass sie keine riesige Verwandtschaft besaß, die langweilig war, aber zu der man nett sein musste, und manchmal blieben Cousins oder Cousinen über Nacht, und dann galt es, ihnen das eigene Bett abzutreten, oder es gab Ärger mit einem Onkel, der zu viel trank, und der Tante, die sich darüber aufregte Eine große Familie zu haben war nicht besonders erstrebenswert.

Aber Simone hätte gerne etwas mehr Familie gehabt, und als das kleine Mädchen sagte: »Ich werde deine Familie sein«, war sie froh.

Das kleine Mädchen hatte nicht die gleichen Pflichten wie Simone. Es schien keine Schule zu besuchen, obwohl es an einem Tisch saß, unterrichtet wurde und eine Menge auswendig lernen musste. Simone erfuhr das alles nicht auf einmal; sie begriff es nach und nach. Es entwickelte sich wie eine Abfolge von Bildern, die sich in ihrem Kopf abspulten. Oder wie an solchen Abenden, an denen sie nicht schlafen konnte und den Fernseher unten laufen hörte, aber nicht genug aufschnappen konnte, um die Sendung zu erkennen. Simone wusste immer, wann das kleine Mädchen auftauchte, weil es sich anfühlte, als würden ihre Gedanken von einem Windhauch erfasst, genau wie die Oberfläche von Wasser, wenn man darauf blies.

Einmal hatte sie versucht, ein Bild von dem kleinen Mädchen anzufertigen. Das war ein wenig unheimlich, weil sie feststellen musste, dass es ihr viel leichter fiel als erwartet. Beim Zeichnen war das Gesicht des Mädchens zunehmend klarer geworden, als würde man einen beschlagenen alten Spiegel so lange polieren, bis man das eigene Abbild darin sah.

Das Gesicht auf dem Papier schien sie geradewegs anzublicken. Es war herzförmig, hätte man vermutlich gesagt, und eigentlich hätte das Mädchen hübsch sein müssen. Doch das war es nicht. Es wirkte hinterhältig, und sein Anblick löste ein unbehagliches Gefühl in Simone aus, ängstigte sie sogar ein wenig. Bisher war sie mit der Zeichnung ganz zufrieden gewesen, doch als sie die heimtückischen Augen betrachtete, zerknüllte sie das Blatt Papier und warf es in den Abfalleimer, als Mutter gerade nicht hinsah. Doch selbst dann hatte sie das Gefühl, dass die Augen sie durch die weggeworfenen Essensreste und Teeblätter hindurch verfolgten.

Auszug aus Charlotte Quintons Tagebuch: 30. November 1899

Edward weist darauf hin, dass die Zwillinge am 1. Januar 1900 geboren werden könnten, wenn die Berechnungen stimmen. Er glaubt, das sei ein gutes Omen. Hat sich sogar dazu verstiegen, einen kleinen Scherz über besagten Abend im März zu machen: nach deinem Geburtstagsessen, meine Liebe. Eine Anrede, mit der er normalerweise Vertrautheit und Nähe zum Ausdruck bringt. Zweifellos werde ich im Augenblick mit besonderer Nachsicht behandelt. Wenn dieser Zustand andauert, muss es sich um eine göttliche Fügung handeln.

Ein neues Jahr, ein neues Jahrhundert und zwei neue Leben, sagt Edward, erfreut, diese Redewendung höchstselbst geprägt zu haben. Und vielleicht noch ein neues Haus, fügt er überschwänglich hinzu, was meinst du dazu? Es gibt ein paar recht nette Einfamilienhäuser draußen in Dulwich.

Entdeckte heute Morgen beim Einkaufsbummel Floys neues Buch bei Hatchard's. Zutiefst erschrocken, weil es gleich dutzendweise in der Auslage des Fensters lag, und besonders bestürzend, weil es mit einer Fotografie von Floy geschmückt war. Floy sah aus, als hätte man ihn nur unter Protest ins Atelier des Fotografen geschleppt, um ihn abzulichten. Höchst beunruhigend, sich unverhofft dem Bildnis des früheren Geliebten gegenüberzusehen, der erbost aus dem Schaufenster von Hatchard's blickt.

Eilte schnurstracks nach Hause und legte mich ins Bett, unter dem Vorwand, mir sei übel und schwindelig. Hatte ein furchtbar schlechtes Gewissen, weil Edward darauf bestand, Dr. Austin zu rufen, dem ich kaum den wahren Grund für Übelkeit und Schwindel offenbaren konnte.

Musste eine schauderhafte Untersuchung über mich ergehen lassen, obwohl ich gestehen muss, dass Dr. Austin nicht nur ein vollendeter Kavalier, sondern auch völlig sachlich und unpersönlich ist. Trotzdem habe ich daraus die Lehre gezogen, dass man nicht schwindeln sollte. Er bohrte mit allerlei Werkzeug an mir herum, maß den Umfang meiner Hüften, stellte einige Fragen und setzte dann eine Unheil verkündende Miene auf. Sagte aber: »Kein Grund zur Besorgnis, Mrs. Quinton.« Und er würde eine Arznei gegen die Übelkeit vorbeischicken.

Edwards Mutter zum Abendessen bei uns (zum dritten Mal in diesem Monat), was bedeutet, wieder eine ihrer Moralpredigten anhören zu müssen. Diese zielte darauf ab, meine häufigen Besuche in der Stadt anzuprangern. In meinem Zustand sei Ruhe wichtig. Sagte ihr, es sei höchste Zeit, dass nach Tausenden von Jahren endlich eine weniger lästige und unausgegorene Fortpflanzungsmethode gefunden würde. Wurde daraufhin einer darwinistischen Denkweise und absonderlicher Lesegewohnheiten bezichtigt – nicht zu vergessen einer nachlässigen Haushaltsführung, da der erste Gang aus »Eiern im Sonnenschein« bestand und die Tomatensoße für zu sauer befunden wurde. Kein Wunder, dass mir übel sei, wenn ich ein solches Gericht auf meinem abendlichen Speiseplan dulde ... Und so weiter und so fort.

Ging schlecht gelaunt zu Bett. Werde Floys Buch nicht kaufen, nie und nimmer ...

Später

Habe jemanden zu Hatchard's geschickt: Ich brauche Floys Buch gemäß dem Grundsatz, dass es besser ist, es zu lesen und gerüstet zu sein, bevor mich jemand mit seinem Wissen zu überrumpeln versucht. Hatte schon immer den Verdacht, dass dieses grässliche Frauenzimmer, diese Wyvern-Smith, Floy nur zu gerne in die eigenen Fänge bekäme, und traue ihr durchaus zu, das Thema ganz beiläufig in einem Tischgespräch zu erwähnen, aus reiner Boshaftigkeit. Edwards Mutter sagt, dass sie ihre Haare bleicht – Clara Wyvern-Smith, nicht Edwards Mutter. Würde mich nicht wundern, obwohl ich mich frage, woher Edwards Mutter das weiß.

6. Dezember 1899

Glaube, dass etwas nicht stimmt. Dr. Austin ist unten, hat sich mit Edward zu einem Gespräch unter vier Augen zurückgezogen. Doch als ich fragte, ob es Grund zur Besorgnis gebe, erwiderte Dr. Austin nur, dass die Zwillinge nach seinem Dafürhalten ein wenig zu ruhig wären angesichts der bevorstehenden Geburt.

Edward ist jedoch wie gewohnt zu seiner Geschäftsleitungssitzung aufgebrochen, mit der Aufforderung, nicht auf ihn zu warten, da es spät werden könne. Soweit es mich betrifft, kann er bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag wegbleiben.

9. Dezember 1899

Floys Buch ist hervorragend. Musste es häppchenweise und heimlich lesen, für den Fall, dass mich jemand dabei ertappt und sich wundert. Obwohl es nicht zu der Lektüre gehört, die man sich auf diese Weise zu Gemüte führen sollte. Es wäre besser, es an einem Stück zu lesen, sich von seinen Worten fesseln zu lassen, so dass man die Welt ringsum vergisst und sich in die Landschaften hineinversenkt, die Floy nach und nach wie ein schimmerndes, juwelenbesetztes Wandgemälde vor dem inneren Auge des Lesers ausbreitet. Das Buch handelt von Verlusten, von dem Verzicht auf Liebe und Leidenschaft und einer Heldin, die zwischen Pflicht und Neigung hin- und hergerissen ist ... Habe mich nicht zu fragen getraut, keine Sekunde lang, ob Floy das Buch nach jener letzten qualvollen Szene geschrieben haben könnte, als ich ihm eröffnete, dass ich bei Edward bleiben müsse, und er mich eine engstirnige, bourgeoise Konformistin nannte, die wohl bissigsten Kraftausdrücke, mit denen Floy jemanden belegen kann.

(Das war natürlich geschwindelt. Habe den Rest der Nacht vor Wut kein Auge zugetan und mich ständig gefragt, ob er das Buch unmittelbar nach unserer Trennung geschrieben hat.)

Doch wann immer es auch geschrieben wurde, Floy verfügt über die Gabe – und wird sie immer besitzen –, seine Leser in eine idyllische, geheime Welt zu entführen, verlockend im gesprenkelten Licht der Nachmittagssonne oder im goldenen Lampenschein, mit Sirenengesängen, die unter alten Flügelfenstern ertönen, mit animalischen Regungen und sinnlichem Geflüster auf Schritt und Tritt. Und er vermittelt seinem Publikum den Eindruck, dass es dort alleine mit ihm ist, an einem ganz und gar verzauberten Ort ...

Lehne es ab, mich für diesen Gefühlsausbruch zu entschuldigen, denn wenn ich mir keine Gefühle wegen einer verlorenen Liebe zugestehen darf, macht das Leben wenig Sinn.

12. Dezember 1899

Wie schön, einen Vorwand zu haben, um die Vorbereitungen für das Weihnachts- und Neujahrsfest Mrs. Tigg und Maisie-Maus zu überlassen. Und den unsäglich öden Abendessen mit Edwards Geschäftskollegen zu entgehen. »Ich bedaure zutiefst, aber dieses Jahr fühle ich mich meinen Pflichten als Gastgeberin nicht gewachsen. Die Geburt steht unmittelbar bevor – ich bin schrecklich mitgenommen – das werden Sie gewiss verstehen.«

»Ein geruhsames Weihnachtsfest«, hatte Edward allen erzählt. »Charlotte fühlt sich nicht besonders.«

Charlotte fühlt sich ganz und gar nicht besonders, vor allem angesichts einer endlosen Abfolge von Dinnerpartys mit acht Gängen und Gesprächen, die sich ausschließlich um Politik, Bankwesen oder das skandalöse Verhalten des Prinzen von Wales drehen. Letztes Jahr an Weihnachten hat einer von Edwards Geschäftsfreunden unter der Tischdecke meinen Schenkel getätschelt.

Lächerlich und müßig, mich zu fragen, wie Floy Weihnachten verbringt. Ob die Leute in Bloomsbury überhaupt Weihnachten feiern? Oder sitzen sie dort mit ernster Miene beisammen und unterhalten sich in ihrer heidnischen Art über Leben, Liebe und Kunst wie damals, als Floy mich in das Atelier eines Malers mitnahm, wo wir italienische Gerichte aßen, Chianti tranken und jemand bat, mich malen zu dürfen, Floy aber Einspruch erhob, weil er meinte, der Mann sei der klägliche Überrest der Präraffaeliten, und ich sei so schön, dass es keinem Maler der Welt gelingen würde, meinem äußeren Erscheinungsbild gerecht zu werden ...

Nichts als Schmeichelei und leere Worte, was sonst, das ist mir inzwischen klar. Verbrachte trotzdem den größten Teil des Abends damit, mich an Floys Haus in Bloomsbury zu erinnern, mit seinem Geruch nach altem Holz und Räucherstäbchen, die er bei der Arbeit entzündet, weil sie seine Fantasie anregen, sagt er. Nachts brannten Dutzende von Kerzen in seinem Schlafzimmer, wo wir uns voller Leidenschaft liebten, mit den Geräuschen Londons, die uns umgaben, und einem verschwommenen Blick auf das British Museum, wenn man aus dem Fenster sah.

Wüsste gerne, ob Floy Weihnachten den Schenkel gleich welcher Frau unter der Tischdecke tätschelt.

Später

Bin zunehmend besorgt über die Bemerkung von Dr. Austin, dass die Zwillinge ein wenig ruhig sind. Sie müssen ja nicht gleich wie das Russische Ballett herumspringen, hätte aber ein besseres Gefühl, wenn sie ein wenig lebhafter wären.

Falls die Berechnungen stimmen, dauert es nur noch wenige Wochen bis zur Niederkunft.

Kapitel 3

Simone war neun, als sie das Wort »Besessenheit« entdeckte, ein Wort, das sie bis dahin noch nie gehört hatte. Sie fragte Mutter danach, vorsichtig und in beiläufigem Ton, und Mutter erwiderte, dass man früher geglaubt habe, ein Mensch könne vom Geist eines anderen Menschen Besitz ergreifen. Aber das sei natürlich ein Ammenmärchen; was sonst, und wo um Himmels willen hatte Simone so etwas aufgeschnappt?

»Ähm, in einem Buch. Es stimmt also nicht? Dass ein Mensch besessen sein kann?«

Mutter erklärte, das sei völlig ausgeschlossen. Das sei nichts weiter als ein Aberglaube aus grauer Vorzeit, und Simone solle sich über derartige Dinge nicht den Kopf zerbrechen.

Mutter war ziemlich klug, aber Simone wusste, dass es zu einfach war, Besessenheit als Aberglauben abzutun. Sie wusste genau, das kleine Mädchen, das sich bisweilen in ihren Gedanken einnistete, strebte danach, Besitz von ihr zu ergreifen. Manchmal tauchte es in beängstigenden Träumen auf, ergriff Simones Hand und versuchte, sie in seine eigene Welt hinüberzuziehen.