Helden (German)

Bernard Shaw

"Arms and the Man", der Titel der Komödie, sind die ersten Worte der englischen Übersetzung der Äneis. Im Deutschen wäre die Übertragung von "Arma virumque cano": "Waffentaten besingt mein Gesang und den Mann…" zu langatmig geworden, weshalb ich das der Entthronung unechter Helden geltende Werk "Helden" nannte.

Anmerkung des Übersetzers.

PERSONEN

Paul Petkoff, bulgarischer Major.
Katharina, seine Frau.
Raina, ihre Tochter.
Sergius Saranoff, bulgarischer Major.
Bluntschli, Hauptmann in der serbischen Armes.
Louka, Stubenmädchen.
Nicola, ein Diener.
Ein russischer Offizier.
Ein bulgarischer Offizier.

Ort der Handlung: Eine kleine Stadt in Bulgarien in der Nähe des
Dragomanpasses.

Zeit: Das Jahr 1885.

ERSTER AKT

[Nacht. Das Schlafzimmer eines jungen Mädchens in Bulgarien, in einer kleinen Stadt nahe dem Dragomanpaß. Ende November 1885. Durch ein großes offenes Fenster mit kleinem Balkon schimmert sternhell die schneebedeckte Spitze eines Balkanberges wundervoll weiß und schön herein. Das Gebirge scheint ganz nahe, obwohl es in Wirklichkeit meilenweit entfernt ist. Die innere Einrichtung des Zimmers hat keinerlei Ähnlichkeit mit der im östlichen Europa üblichen. Sie ist halb reich bulgarisch, halb billig wienerisch. Über dem Kopfende des Bettes, das gegen eine schmale Wand gelehnt ist, die die Ecke des Zimmers in der Richtung der Diagonale abschneidet, steht ein blau und goldbemalter hölzerner Schrein mit einem Christusbilde aus Elfenbein. Darüber schwebt in einer von drei Ketten gehaltenen durchbrochenen Metallkugel eine Lampe. Die Hauptsitzgelegenheit, eine türkische Ottomane, befindet sich an der entgegengesetzten Seite des Zimmers, dem Fenster gegenüber. Die Bettvorbänge und die Bettdecke, die Fenstervorhänge, der kleine Teppich und alle Stoffe des Zimmers sind prächtig und orientalisch. Die Tapeten an den Wänden sind abendländisch und armselig. Der Waschtisch an der Wand in der Nähe des Fensters und der Ottomane besteht aus einem emaillierten eisernen Becken und einem Eimer darunter, beides in einem bemalten Eisenständer. Ein einziges Handtuch hängt über dem Handtuchhalter an der Seite. Daneben steht ein Wiener Stuhl aus gebogenem Holz mit Rohrsitz. Der Ankleidetisch, zwischen dem Bett und dem Fenster ist aus gewöhnlichem Tannenholz, mit einer bunt farbigen Decke belegt, darauf ein kostbarer Toilettespiegel. Die Tür ist in der Nähe des Bettes, zwischen Tür und Bett steht noch eine Kommode. Diese Kommode ist auch mit einem bunten bulgarischen Tuch überdeckt, und auf ihr befindet sich ein Stoß ungebundener Romane, eine Bonbonniere mit Pralinen und eine Miniaturstaffelei mit der großen Photographie eines äußerst hübschen Offiziers, dessen stolze Haltung und magnetischer Blick sogar aus dem Bilde erkennbar ist.—Das Zimmer wird von einer auf der Kommode brennenden Kerze und von einer andern, die sich auf dem Toilettentisch befindet, erhellt. Neben letzterer liegt eine Zündholzschachtel. Das Fenster hat Längsflügel, die weit offen stehen; ein paar hölzerne Läden, die sich nach außen öffnen, sind gleichfalls weit auf. Auf dem Balkon eine junge Dame, in den Anblick der Schneeberge versunken. Sie ist sich der romantischen Schönheit der Nacht, wie auch der Tatsache, daß ihre eigene Jugend und Schönheit ein Teil davon ist, sehr wohl bewußt. [Sie ist in einen langen Pelzmantel gehüllt, der, gering geschätzt, dreimal so viel wert ist als die ganze Einrichtung des Zimmers. Aus ihrer Träumerei wird sie durch ihre Mutter, Katharina Petkoff, aufgeschreckt, eine stattliche Frau über vierzig, von gebieterischer Energie, mit wunderbaren schwarzen Augen und Haaren. Als Frau eines Gutsbesitzers im Gebirge würde sie prachtvoll wirken; sie will aber durchaus die Wiener Dame spielen und trägt zu diesem Zwecke bei jeder Gelegenheit ein hochmodernes Tea-gown.]

Katharina [tritt hastig ein, erfüllt von guten Nachrichten]: Raina! [Sie spricht Rahina mit Betonung des i.] Raina! [Sie geht an das Bett in der Erwartung, Raina dort zu finden.] Wo steckst du denn? [Raina wendet sich nach dem Zimmer um.] Um Gottes willen, Kind, warum da draußen in der Nachtluft statt im Bett! Du wirst dir den Tod holen. Louka sagte mir doch, daß du schliefest.

Raina [eintretend]: Ich habe sie fortgeschickt, weil ich allein sein wollte—die Sterne sind so wundervoll. Was ist denn los?

Katharina: Große Neuigkeiten—eine Schlacht ist geschlagen worden!

Raina [mit weiten Augen]: Ah! [Sie wirft ihren Pelz auf die Ottomane und kommt in bloßem Nachtkleid, einem hübschen Kleidungsstück, doch sichtlich dem einzigen, das sie anhat, heftig auf Katharina zu.]

Katharina: Eine große Schlacht, bei Slivnitza, ein Sieg! und Sergius hat ihn erfochten.

Raina [mit einem Freudenschrei]: Ah—[Entzückt:] O Mutter! [Dann plötzlich ängstlich:] Ist der Vater gesund und unversehrt?

Katharina: Selbstverständlich, von ihm kommt ja die Nachricht.
Sergius ist der Held des Tages, der Abgott seines Regiments.

Raina: Erzähle, erzähle! wie ist das zugegangen? [Ekstatisch:] O Mutter, Mutter, Mutter! [Sie drückt ihre Mutter auf die Ottomane nieder. Sie küssen einander leidenschaftlich.]

Katharina [mit ungestümem Enthusiasmus]: Du kannst dir nicht vorstellen, wie herrlich es ist. Eine Kavallerieattacke, denke dir nur! Er hat unseren russischen Befehlshabern Trotz geboten, er handelte ohne Kommando. Auf eigene Faust führte er einen Angriff aus, er selbst an der Spitze. Er war der erste Mann, der die feindliche Artillerie durchbrach! Stell es dir nur einmal vor, Raina, wie unsere kühnen glänzenden Bulgaren mit blitzenden Schwertern und blitzenden Augen einer Lawine gleich herniederdonnerten und die elenden Serben mit ihren geckenhaften österreichischen Offizieren wegfegten wie Spreu. Und du, du ließest Sergius ein Jahr lang warten, bis du ihm dein Jawort gabst. Oh, wenn du einen Tropfen bulgarischen Blutes in den Adern hast, wirst du ihn jetzt anbeten, wenn er zurückkommt.

Raina: Was wird ihm an meiner armseligen Anbetung liegen, nachdem ihm eine Armee von Helden zugejubelt hat! Doch einerlei. Ich bin so glücklich, so stolz! [Sie steht auf und geht heftig bewegt auf und ab.] Es beweist mir, daß alle unsere Ideen doch Wahrheit waren.

Katharina [indigniert]: Unsere Ideen Wahrheit? Was meinst du damit?

Raina: Unsere Vorstellungen von dem, was ein Mann wie Sergius einmal vollbringen würde—unsere Vorstellungen von Patriotismus, von Heldentum. Ich zweifelte manchmal, ob sie etwas anderes als Träume wären. Oh, was für ungläubige kleine Geschöpfe wir Mädchen sind! Als ich Sergius den Säbel umgürtete, sah er so edel aus. Es war Verrat von mir, da an Enttäuschungen, Demütigung oder Mißerfolg zu denken, und doch—und doch…[Rasch:] Versprich mir, daß du es ihm niemals sagen wirst.

Katharina: Verlange kein Versprechen von mir, bevor ich weiß, was ich eigentlich versprechen soll.

Raina: Nun, als er mich in seinen Armen hielt und mir in die Augen blickte, da fiel es mir ein, daß wir vielleicht unsere Vorstellungen von Heldengröße bloß deshalb haben, weil wir gar so gerne Byron und Puschkin lesen und weil wir in diesem Jahre von der Oper in Bukarest so entzückt waren. Das wirkliche Leben gleicht so selten diesen Bildern—ja niemals, soweit ich es bis dahin kannte…[reuevoll:] Denk dir nur, Mutter, ich zweifelte an ihm. Ich fragte mich, ob nicht am Ende alle seine Soldateneigenschaften und sein Heldentum sich als Einbildung erweisen würden, sobald er sich in einer wirklichen Schlacht befände. Ich hatte eine unangenehme Angst, daß er am Ende gar eine klägliche Figur inmitten all der klugen russischen Offiziere abgeben würde.

Katharina: Schämst du dich nicht—eine klägliche Figur? Die Serben haben österreichische Offiziere, die genau so klug sind wie unsere russischen, und wir haben sie trotzdem in jeder Schlacht geschlagen.

Raina [lacht und setzt sich wieder]: Jawohl! ich war bloß ein poesieloser kleiner Feigling. Nein, zu denken, daß dies alles wahr ist—daß Sergius genau so edel und kühn ist, wie er aussieht—, daß die Welt tatsächlich eine herrliche Welt für Frauen ist, die ihre Größe sehen können, und für Männer, die fähig sind, ihre Romantik darzustellen! Was für ein Glück, was für unaussprechliche Erfüllungen—ach! [Sie wirft sich neben ihrer Mutter auf die Knie und umschlingt sie leidenschaftlich mit den Armen.]

[Sie werden durch den Eintritt Loukas unterbrochen, eines hübschen stolzen Mädchens in der hübschen bulgarischen Bauerntracbt mit Klappschürze. Sie benimmt sich so keck, daß ihr dienstliches Verhalten gegen Raina beinahe unverschämt aussieht; vor Katharina fürchtet sie sich, aber selbst mit ihr geht sie so weit, wie sie's nur immer wagen zu dürfen glaubt. Sie ist jetzt ebenso aufgeregt wie die anderen, aber sie sympathisiert nicht mit Rainas Begeisterung und blickt verachtungsvoll auf die Verzückung der beiden, bevor sie sie anredet.]

Louka: Entschuldigen Sie, gnädige Frau, alle Fenster müssen geschlossen und alle Läden verriegelt werden. Man sagt, daß vielleicht in den Straßen geschossen werden wird. [Raina und Katharina erheben sich gleichzeitig erschrocken.] Die Serben werden durch den Paß zurückgejagt, und es heißt, sie könnten sich in die Stadt flüchten. Unsere Kavallerie wird ihnen nachsetzen, und Sie können sicher sein, daß unser Volk sie gebührend empfangen wird; jetzt, wo sie davonlaufen. [Sie geht auf den Balkon hinaus, schließt die Außenläden und tritt dann in das Zimmer zurück.]

Raina: Ich wollte, unsere Leute wären nicht so grausam. Was ist das für ein Ruhm, arme Flüchtlinge niederzumachen?

Katharina [geschäftig, sich ihrer häuslichen Pflichten erinnernd]:
Ich muß zusehen, daß unten alles in Sicherheit gebracht wird.

Raina [zu Louka]: Laß die Läden so, daß ich sie schnell schließen kann, sobald ich irgendwelchen Lärm höre.

Katharina [strenge, während sie ihren Weg nach der Tür fortsetzt]: O nein, mein Kind, die Läden müssen verriegelt bleiben; du würdest sicher darüber einschlafen und sie offen lassen. Riegele sie ganz zu, Louka.

Louka: Jawohl, gnädige Frau. [Sie schließt sie.]

Raina: Sei ohne Sorge meinetwegen, sobald ich einen Schuß höre, werde ich die Kerzen auslöschen, mich in mein Bett verkriechen und die Decke über die Ohren ziehen.

Katharina: Das klügste, was du tun kannst, liebes Kind. Gute Nacht.

Raina: Gute Nacht, Mama. [Sie küssen einander, und Rainas Ergriffenheit kehrt für einen Augenblick zurück.] Beglückwünsche mich zu der schönsten Nacht meines Lebens—wenn nur die Flüchtlinge nicht wären.

Katharina: Geh zu Bett, Liebling, und denk nicht daran. [Geht ab.]

Louka [heimlich zu Raina]: Wenn Sie die Läden offen haben wollen, stoßen Sie nur ein wenig—so! [Sie stößt ein wenig gegen die Läden, die Läden gehen auf, dann schließt sie sie wieder.] Der eine müßte unten verriegelt werden, aber der Riegel ist abgebrochen.

Raina [würdevoll, mißbilligend]: Danke, Louka, aber wir müssen tun, was uns befohlen wird. [Louka schneidet ein Gesicht.] Gute Nacht!

Louka [nachlässig]: Gute Nacht. [Sie stolziert ab.]

Raina [allein gelassen, gebt nach der Kommode und betet das darauf befindliche Bild mit Empfindungen an, die über jeden Ausdruck sind. Sie küßt es weder, noch preßt sie es ans Herz, noch gibt sie ihm irgendein Zeichen von körperlicher Zärtlichkeit, aber sie nimmt es in die Hände und hebt es empor, wie eine Priesterin.—Das Bild betrachtend]: Oh, ich werde mich nie mehr deiner unwert zeigen. Held meiner Seele—nie, nie, nie! [Sie setzt das Bild ehrfürchtig zurück, dann wählt sie einen Roman aus dem kleinen Bücherstoß. Verträumt blättert sie darin, findet, wo sie stehen geblieben ist, biegt das Buch an dieser Stelle nach außen zusammen, und mit einem glücklichen Seufzer sinkt sie auf das Bett, um sich in den Schlaf zu lesen. Bevor sie sich jedoch ihrem Roman überläßt, blickt sie noch einmal auf, gedenkt der seligen Wirklichkeit und murmelt]: Mein Held! mein Held! [Ein entfernter Schuß durchbricht draußen die Stille der Nacht. Sie fährt horchend auf,—da fallen noch zwei Schüsse aus viel größerer Nähe. Sie erschrickt, stürzt aus dem Bett und bläst die Kerze auf der Kommode rasch aus. Dann läuft sie, mit den Händen an den Ohren, zum Toilettetisch, bläst die Kerze auch dort aus und eilt im Dunkeln in ihr Bett zurück, man unterscheidet nichts mehr in der Stube als einen Lichtschimmer aus der durchbrochenen Metallkugel vor dem Christusbilde und das Sternenlicht, das durch die Spalten der Fensterläden glänzt. Abermals fallen Schüsse, ein fürchterliches Gewehrfeuer ist ganz nahe. Während man noch das Echo der Salve hört, werden die Fensterläden von außen aufgestoßen, für einen Augenblick flutet in einem Rechteck das schneeige Sternenlicht plötzlich herein, von dem sich die dunkle Silhouette einer männlichen Gestalt abhebt. Dann schließen sich die Läden wieder, und das Zimmer liegt abermals im Dunkeln. Aber jetzt wird das Schweigen durch ein keuchendes Atemholen unterbrochen, dann hört man ein Kratzen, und die Flamme eines Streichholzes wird in der Mitte des Zimmers sichtbar.]

Raina [aufs Bett gekauert]: Wer ist da? [Das Streichholz verlischt sofort wieder.] Wer ist da—wer ist da?

[Eines Mannes Stimme gedämpft aber drohend]: Scht! Schreien Sie nicht, sonst schieße ich! Bleiben Sie ruhig, und es wird Ihnen nichts geschehen. [Man hört, wie sie ihr Bett verläßt und nach der Tür tastet.] Nehmen Sie sich in acht, es hilft Ihnen nichts, wenn Sie davonlaufen wollen. Merken Sie sich, sobald Sie Ihre Stimme erheben, wird mein Revolver losgehen. [Befehlend:] Machen Sie Licht und lassen Sie sich sehen! Hören Sie! [Noch ein Augenblick der Stille und Dunkelheit, während Raina an den Toilettetisch zurücktritt. Dann zündet sie die Kerze an, und das Rätsel löst sich.—Ein Mann von ungefähr fünfunddreißig Jahren, in bejammernswürdigem Zustande, mit Kot, Blut und Schnee bespritzt, steht vor ihr. Sein Degengehänge und der Riemen seiner Revolvertasche halten die Fetzen des blauen Waffenrocks eines serbischen Artillerieoffiziers zusammen. Alles was man beim Kerzenlichte aus dem ungewaschenen, verwahrlosten Aussehen des Mannes halbwegs erkennen kann, ist, daß er mittelgroß, von nicht sehr vornehmem Aussehen, breitschultrig und starkknochig ist. Sein rundlicher, eigensinnig aussehender Kopf ist mit kurzen braunen Locken bedeckt. Er hat klare, bewegliche, blaue Augen, gutmütige Brauen und einen freundlichen Mund, eine hoffnungslos prosaische Nase wie die eines besonders aufgeweckten Babys, aufrechte soldatische Haltung und eine energische Art; er besitzt volle Geistesgegenwart trotz seiner verzweifelten Lage, die er sogar mit einem Anflug von Humor betrachtet, ohne jedoch im geringsten damit spielen zu wollen oder eine Rettungsmöglichkeit außer Acht zu lasten.—Er überlegt, was er von Raina zu erwarten haben mag, schätzt ihr Alter, ihre gesellschaftliche Stellung ab, ihren Charakter, den Grad ihrer Furcht, alles mit einem Blick, und fährt höflicher, aber immer äußerst entschlossen fort]: Entschuldigen Sie, daß ich Sie störe, aber Sie erkennen wahrscheinlich meine Uniform, ich bin Serbe! Wenn ich gefangen werde, wird man mich töten. [Drohend]: Begreifen Sie das?

Raina: Ja.

Der Flüchtling: Nun, ich habe keine Lust zu sterben, solange ich es verhindern kann. [Noch fürchterlicher]: Begreifen Sie das? [Er verschließt die Tür mit einem kurzen Schnappen des Schlosses.]

Raina [verachtungsvoll]: Es scheint, Sie haben keine. [Sie richtet sich stolz auf und blickt ihm gerade ins Gesicht, während sie mit scharfer Betonung spricht]: Es gibt Soldaten, die den Tod fürchten, das weiß ich.