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Inhalt

Zurück im Wuselwald

Die Klassenlotterie

Lennis Überraschung

Verschwunden!

In der Kastanienklasse

Wusel oder nicht Wusel

Der Wuselwald ist voller Rätsel

Der Flitzefluss

Die Erdspalte

Das Foto

Zurück im Wuselwald

Mino schnupperte. Blaubeerduft, Tannennadeln und feuchtes Moos. Ein bisschen Baumharz. Und ein kleines Eichhörnchen, das sich zwischen grünen Zweigen versteckte. Der unverwechselbare Wuselwald-Geruch und der seiner Bewohner.

Dabei hatte Mino die Augen geschlossen: Riechen genügte, um zu wissen, wie alles um ihn herum aussah und welche Tiere in der Nähe waren.

Alle Wölfe von Minos Rudel hatten eine gute Nase. Doch Mino hatte eine besonders gute. Schon als Wolfswelpe hatte er riechen können, wie viele Tannenzapfen seine Lieblingstanne trug. Natürlich ohne sie zu zählen. Und wie viele wilde Walderdbeeren auf der Lichtung reif geworden waren. Er hatte es nicht lernen müssen, er hatte es einfach gekonnt. Schon immer!

Mino trottete noch ein Stückchen weiter. Als das große Eingangstor der Waldschule sichtbar wurde, stoppte er, streckte die Pfoten aus und dehnte sich. Endlich wieder zu Hause!

Während des langen Sommers, den er mit seinen Eltern und seinem alten Rudel im Wilden Wald verbracht hatte, hatte er die Schule kaum vermisst.

Doch jetzt zitterte seine schwarze Nasenspitze vor Aufregung. Schon bald würde er Lenni, seinen besten Freund, wiedersehen. Mino hielt die Nase hoch. Wenn er sich nicht täuschte, konnte er Lenni sogar schon unter all den anderen Tieren, die gerade aus allen Richtungen in die Schule strömten, ausmachen. Minze und Karamell. So wie die Bonbons, die Lenni immer lutschte.

Schnell lief der kleine Wolf durch den Torbogen, kramte gleichzeitig in seinem Rucksack und zog seine Schulanstecknadel heraus, auf der ein paar Bäume, Kastanien und eine Wolfstatze zu sehen waren. Dann befestigte er sie an seinem Halstuch. Jetzt war er wieder ein echter Waldschüler.

Alles war bunt geschmückt. Die Schüler der Waldschule – Eichhörnchen, Dachse, Rehe, Wildschweine, Marder, Spechte, Hasen, Luchse, Wölfe, Bären und was sonst noch so an Tieren in den Wäldern rund um die Waldschule hauste – wuselten wild durcheinander auf dem Schulgelände herum.

Ab und zu blitzten orangefarbene Schirmmützen auf. Das waren die Erstklässler. Mino erinnerte sich noch gut daran, wie er letztes Jahr völlig hilflos mit einer ebenso orangefarbenen Schirmmütze vor der Aula gestanden hatte. Völlig verzweifelt hatte er auf den Lageplan der Schule geschaut.

Zum Glück hatte Lenni ihn damals angesprochen. Lenni war der Adoptivsohn der Schuldirektorin, Madame Kitty. Er war zwar auch Erstklässler gewesen, genau wie Mino, aber natürlich hatte er, seit er klein war, auf dem Schulgelände gewohnt. Dementsprechend kannte er sich dort bestens aus.

Plötzlich legte sich eine dicke puschelige Tatze auf Minos Schulter.

»Na, du graues Pelzungetüm!«, sagte eine Stimme. »Auch mal wieder im Wuselwald?«

»Lenni!«, rief Mino und umarmte den Bären stürmisch.

Lenni drückte Mino ganz fest. »Was hast du den ganzen Sommer lang gemacht?«, fragte er.

»Ich war mit dem Rudel unterwegs«, antwortete Mino. »Schnüffeln, jagen, laufen und was man als Wolf im Wilden Wald eben so macht. Und du?«

Lenni schob die Unterlippe vor und überlegte. »Das, was man als Bär so macht? Schlafen, lesen, Bonbons lutschen und sich das Fell an den rauen Rinden der Bäume schubbern? Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, ob alle Bären das in ihrer Freizeit machen. Ich habe es auf jeden Fall so gemacht. Ach ja: Und gebastelt habe ich auch. Wie gefällt dir meine Willkommens-Schuldekoration?« Er legte den Kopf schief. »Da drüben bei den Kobeln der Eichhörnchen sind die Nussgirlanden. Und was denkst du über die schwarze Papiermaske bei den Waschbärenwohnungen?

Besonders stolz bin ich auf den Wiesel-Irrgarten und den alten Kaugummiautomaten, den ich für die Wildschweine umgebaut habe. Da kommen jetzt Eicheln raus.«

»Es sieht alles fantastisch aus! Du musst ewig gebraucht haben. Hast du das alles alleine gemacht? Alle Achtung!«

»Meine Mutter und Koko und Lores haben mir ein bisschen geholfen. Aber ausgedacht habe ich mir alles selbst.«

»Ja, hat er!«

»Nein, hat er nicht!«, krächzte es über ihnen und zwei Käuzchen landeten rechts und links auf Lennis Schultern.

»Hallo, Koko, hallo, Lores«, begrüßte Mino sie.

Er freute sich, die beiden zu sehen. Es war immer lustig mit ihnen. Die Käuzchen waren unzertrennlich. Zumindest hatte Mino sie bisher immer nur zusammen gesehen. Aber sie waren auch sehr streitlustig. Es verging kaum eine Minute, in der sie sich nicht in die Federn bekamen.

»Es geht gleich los mit der Willkommensfeier«, meinte Koko. »Das soll ich dir von deiner Mutter ausrichten!«

Lores trappelte um Lennis Hinterkopf herum zu ihrem Bruder und fauchte: »Hast du keine Augen im Kopf? Es dauert noch. Die Schrägen Vögel versammeln sich doch erst.«

Die beiden Käuzchen funkelten sich wütend an und flogen dann gleichzeitig auf. Sie drehten einen Looping in der Luft und landeten auf dem Holzdach, das zum Haus der Schuldirektorin gehörte.

Mino bemerkte, dass sich vor dem Eingang der Aula ein kleiner Schwarm Vögel niedergelassen hatte: der Chor der Waldschule. Amseln, Spechte, Rotkehlchen, Krähen und sogar die grellblauen Federn eines Eisvogels konnte Mino ausmachen. Alle Vögel hatten eine rote Schleife um den Hals gebunden und piepten und sangen wild durcheinander.

»Das dauert wirklich noch. Die Schrägen Vögel singen sich erst ein. Wollen wir trotzdem schon mal in die Aula gehen?«, fragte Mino. »Ich will einen guten Platz bekommen.«

Lenni hakte Mino unter. »Klar, machen wir. Und später zeige ich dir, was ich für dich gebastelt habe.«

Die Fensterläden der Aula, die aus dem Holz der verschiedenen Bäume zusammengezimmert waren, waren noch mit den Blättervorhängen verschlossen. Minos Augen mussten sich erst an das schummrige Licht gewöhnen. Die Wände links und rechts waren mit grünem Efeu berankt. Es roch nach Erde und dem süßen Duft der gelben Blumen, die auf der Bühne standen. Die Bühne selbst bestand aus gleich hohen Baumstümpfen, die fest miteinander verbunden waren. Viele Holzbänke waren aufgestellt, auf denen sich bald alle Schüler der Waldschule drängen würden. Der Boden war mit weichem Moos ausgelegt. Ein himmlisches Tatzen-Gefühl, als Mino so über das Moos trappelte.

Normalerweise schwirrte die Luft in der Aula von den Stimmen der unterschiedlichen Tiere, doch jetzt waren Mino und Lenni noch unter sich. Es war ganz still und leise.

Bis auf … bis auf ein zaghaftes Knurren. So etwas hatte Mino noch nie gehört! Wie Samt, der über herabrollende Steine streicht.

Mino schnüffelte. Merkwürdig! Zu diesem sonderbaren Schnurrknurren gab es keinen Geruch. Wie unheimlich.

Prrrrrr, prrrrr! Das kam von dort vorne!

Mino suchte Lennis Hand. Doch der wirkte überhaupt nicht nervös.

Wusste er etwa, von wem dieses Geknurre kam?

Fragend hob Mino eine Augenbraue und fletschte die Zähne.

Doch Lenni schüttelte bloß den Kopf. »Komm mit!«, forderte er Mino auf. »Wenn ich mich nicht sehr täusche, wirst du gleich Lola kennenlernen.«

Das Prrrr,prrrr! hatte aufgehört und Mino sah eine puschelige, gestreifte Tatze, die sich über die Lehne einer Holzbank legte.

»Seit wann gibt es Tiger im Wuselwald?«, zischte Mino erschrocken. Sein Fell sträubte sich und er legte die Ohren an.

»Keine Tiger«, hörte er eine helle freundliche Stimme. Ein rundes Gesicht tauchte neben der Tatze auf. »Nur Wildkatzen. Besser gesagt: eine. Du musst Mino sein. Lenni hat mir von dir erzählt.«

Mino konnte es nicht glauben. Eine Wildkatze in der Waldschule? Oh nein! Alle Tiere, so unterschiedlich sie auch waren, lebten hier friedlich zusammen. Aber bislang hatte es auch noch keine Katze gegeben. Und eines wusste doch wirklich jeder: Wölfe und Wildkatzen konnten keine Freunde sein.

»Sie ist wirklich nett«, meinte Lenni und lief zu Lola hinüber.

Mino folgte ihm widerwillig. Wieder schnüffelte er. Nichts. Warum konnte er diese Wildkatze nicht riechen?

Die Wildkatze gähnte unbeeindruckt. Dann reckte und streckte sie sich ausgiebig. »Es schläft sich sehr gut hier«, meinte sie. Sie leckte sich die Pfote und fuhr dann ein paarmal über ihr weiches Ohr.

Mino schüttelte sich. Puh, wie katzig sich die Wildkatze benahm. So schleichend und flutschig. Pfuigitti! Wie Butter in der heißen Pfanne.

Lieber mal das Fell gesträubt lassen, die Ohren angelegt und die Zähne gefletscht.

Doch Lenni sah das ganz anders.

»Pack mal die Beißerchen wieder ein«, sagte er. »Sonst kriegt Lola noch Angst vor dir.«

»Ich kann sie nicht riechen!«, raunte Mino. »Ich habe Angst vor ihr!«

»Also jetzt hör mal, du kennst sie überhaupt nicht und sagst schon, dass du sie nicht leiden kannst.«

»Das auch, aber das habe ich nicht gemeint. Ich sagte: Ich kann sie nicht riechen. Sie hat keinen Duft! Ich kann sie einfach nicht wittern.«

Lenni zuckte mit den Schultern. »Das ist ja komisch.«

»Ich habe eine Idee, woran es liegen könnte. Ich bin viel zu schnell«, meinte Lola. »Da kommt mein Duft nicht hinterher.«

Nun war Mino komplett verwirrt. »Wie bitte?«

»Ich bin anders«, erklärte Lola. »Ich bin nämlich siebenmal schneller als alle anderen Wildkatzen. War ich schon immer.«

»Und ich kann besser riechen als alle anderen Wölfe!«, sagte Mino. Vielleicht sogar siebenmal besser, dachte er.