Ich war nur die Dicke!

 

Fine Kerkhoff

 

 

 

 

Ich war nur die Dicke!

Ein Leben mit Lipödem

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Original-Ausgabe erschienen im Januar 2019 bei Merlins Bookshop.

 

Copyright © Merlins Bookshop

Korrektorat & Lektorat: Klarissa Klein

Verlag: Merlins Bookshop, Inh. Dietmar Noss, Waldstr. 22, 65626 Birlenbach

Alle Rechte liegen bei Merlins Bookshop, Inh. Dietmar Noss, Waldstr. 22, 65626 Birlenbach

 

Coverfoto: Fine Kerkhoff

Inhaltsverzeichnis

 

Über mich:

Kapitel 1 - Der Anfang

Kapitel 2 - Umzug: die Scheidung meiner Eltern

Kapitel 3 - Periode

Kapitel 4 - Oma und Opa Herdringen

Kapitel 5 - Fine und die Männer

Kapitel 6 - Bulimie

Kapitel 7 - Schillerstraße

Kapitel 8 - Kinderpsychologen und Spieltherapie

Kapitel 9 - Ein Tag im Freibad / Mein bester Freund Pepe

Kapitel 10 - Heimweg – 7. Klasse

Kapitel 11 - Der Kühlschrank mein Feind?

Kapitel 12 - Schwangerschaft und Entbindung Darius

Kapitel 13 - Magenband

Kapitel 14 - Ehe gescheitert

Kapitel 15 - (M)ein neuer Mann Carsten

Kapitel 16 - Der Arzt in Troisdorf

Kapitel 17 - Termin bei Dr. Deling

Kapitel 18 - Ein E-Rollstuhl

Kapitel 19 - Einer dieser Tage

Kapitel 20- Corinna

Kapitel 21 - Lipödem-Tag in Hannover 2017

Kapitel 22 - August, die Armoperation

Kapitel 23 - Dezember Innenseite Oberschenkel

Kapitel 24 - Februar Außenseite Oberschenkel

Kapitel 25 - Es geht weiter – Anfang April

Kapitel 26 - Menschen, die mir wichtig sind

Kapitel 27 - Kompressionstherapie

Kapitel 28 - Gedankenschnipsel

Kapitel 29 - Ende oder Anfang

 

Über mich:

 

Vor nun mehr 41 Jahren wurde ich im schönen Sauerland geboren.

Meine Mutter war bei meiner Geburt noch sehr jung; mit 16 Jahren bekam sie meine Schwester, und als sie zwanzig war, bekam sie mich. Die Ehe meiner Eltern als harmonisch zu bezeichnen, wäre nicht so richtig. Sie stritten sehr viel und meine Mutter hatte immer was zu meckern. Was genau das war, das wusste ich nicht oder ich war einfach zu klein, um das zu verstehen. Meine Mutter ist gelernte Friseurin und sie arbeitete damals sehr viel bei Bekannten und Nachbarn, um sich etwas dazu zu verdienen. Faul war meine Mutter nie, sie versuchte immer ihr Bestmöglichstes, damit es uns gut ging. Mein Vater arbeitete mal in einer Firma für Metallwaren oder er fuhr Lkw.

Zu meinem Leben gehörten alle drei; meine Mutter, mein Vater und meine Schwester. Aber auch meine Tante Illa und meine Großeltern aus Hüsten und Herdringen, die meinem Vater sehr oft bei unserer Betreuung halfen.

 

Heute habe ich erfahren, dass Fotos von mir an Gesundheitsminister Jens Spahn geschickt wurden, damit er bei seiner Entscheidungsfindung, zwecks Aufnahme des Krankheitsbilds des Lipödem / Lymphödem in den G-BA (Gemeinsamer Bundesausschuss), vor Augen hat, was es damit auf sich hat. Ich freue mich über diese Möglichkeit mitzuwirken und werde euch berichten.

 

Kapitel 1 - Der Anfang

 

Es ist nun Ende Februar 2018 und ich schaue auf viele Lebensjahre zurück. In meinem Leben gab es viele Meilensteine, doch das wird vielen von euch genauso gehen, da bin ich mir sicher.

Meine jüngere Kindheit verlief – soweit mir berichtet wurde – ziemlich normal; bis ich ca. sieben Monate alt war.

Ich war noch ein kleines Mädchen und plötzlich entdeckte meine Mutter, dass ich Blut in der Windel hatte. Also brausten sie mit mir los. Vom Kinderarzt wurden wir direkt an die Uniklinik nach Hamm verwiesen. Meine Mutter erreichte meinen Vater nicht, so etwas wie Handys gab es damals noch nicht.

Mein Onkel kam zur Hilfe und fuhr meine Mutter mit ihrem kranken Kind auf dem Arm nach Hamm. Dort in der Kinderklinik überschlugen sich die Ereignisse und die Kinderärzte beschlossen, dass unverzüglich eine Operation am Darm durchzuführen sei. Ich hatte einen Ileus (das ist eine in vielen Fällen tödliche Darmverschlingung). Mein Vater war mittlerweile auch aufgetaucht; er war wohl beim Sport gewesen. Fußball spielte in der Familie meines Vaters eine große Rolle. So war er, genau wie sein Vater, Torwart in Hüsten.

Die Operation ging noch mal gut, aber ich lag einige Zeit auf der Intensivstation.

Meine Mutter war danach viel arbeiten und ich viel allein. Einige meiner Psychologen, die ich in der Zukunft noch kennenlernen sollte, meinten, dass während dieser Zeit die frühkindliche Bindung nicht vollzogen werden konnte. Meine Mutter hätte für mich da sein müssen, doch sie konnte sich ja auch nicht zerreißen.

Leider waren es andere Zeiten und viele Dinge wusste man, glaube ich, einfach nicht besser. Zu meiner Mutter entwickelte ich nach und nach ein sehr schwieriges Verhältnis. Doch daran möchte ich euch zu einem späteren Zeitpunkt teilhaben lassen.

Leider kann ich nicht genau sagen, wie lange ich in Hamm in der Kinderklinik lag, aber es muss lange gewesen sein und ich war ab diesem Zeitpunkt das Sorgenkind meiner Eltern.

Ich habe es ihnen aber auch nie einfach gemacht. Kein Familientreffen, ohne dass ich wieder irgendetwas anstellte oder es meinetwegen Streit gab. Warum ich mich so verhalten habe? Weiß der Geier. Vielleicht wollte ich einfach nur beachtet werden, egal ob negativ oder positiv. Ich wollte Aufmerksamkeit.

Ich war ein echter Terrorzwerg und dafür möchte ich mich entschuldigen.

Meine Kinderpsychologin sagte mir mal, das käme daher, weil ich kein Fundament oder Liebe erhalten hätte, und dass das ein Aufschrei war.

Es begann die Zeit, in der meine Mutter mich immer mehr in Watte packte und ich einen Infekt nach dem anderen bekam. Irgendwann kam hinzu, dass ich anscheinend nicht schlank genug war. Meine Mutter war sehr auf unser Aussehen und die Meinung anderer versessen. Irgendeine „schlaue“ Arbeitskollegin erzählte ihr einmal von einer Diät-Kur für Kinder.

Also versuchte meine Mutter alles, damit auch ich mal so eine Kur bekam. Meine Schwester war – im Gegensatz zu mir – schlank. Sie sollte aber ebenfalls zur Kur, da die Luftveränderung ihr guttun würde.

Also wenn ich nach dem Kinderklinikaufenthalt kein Trauma hatte, dann nach der Kur.

Hier nur mal ein kleiner Ausschnitt:

Es war sonnig und ich saß in einem Raum voller Kinder. Ich hörte Lachen, Rufen und viele andere geschäftig klingende Geräusche. Geschirr klapperte, irgendwo rief jemand etwas und ich saß an einem Tisch mit anderen Kindern zwischen 4 und 12 Jahren. Vor mir standen Teller und Schalen mit Obst, Brötchen, Nutella, Cornflakes und der Duft von warmem Kakao mit Sahne stieg mir in die Nase. Das fand ich gut. Ich griff nach einem Brötchen, als ich plötzlich harsch von der Seite angeredet wurde:

„Hey Du, das ist aber nichts für dich! Du gehörst zu den dicken Kindern und musst sofort an den Abnehmtisch!“

Ich schaute auf und sah in ein altes, hageres Frauengesicht mit vielen Falten, auf dem Kopf trug sie den schwarzen Schleier eines Habits und eine dicke Brille rahmte ihr Gesicht ein.

So stellte ich mir das aber nicht vor. Es war mein erster Tag in Haus Arnsberg auf Norderney. Ich war vier Jahre alt, wusste nicht, was ich hier sollte und was diese Frau (es handelte sich um eine Nonne) von mir wollte!

Ich roch den duftenden Kakao, sah die schmatzenden Kinder und ich fühlte mich so alleingelassen. Einige Kinder lachten, andere meinten gehässig: „Haha, sie muss zum Dummentisch! Die ist zu dumm zum Essen!“ Schlimmer noch: Meine Schwester saß an einem der anderen Tische. Ich sollte doch in die Ferien und nicht in ein Bootcamp; so jedenfalls würde ich heute denken. Die Schwester nahm mich bei der Hand und zog mich zu einem der anderen Tische. Da waren sie – die Dicken; die, die wohl nicht essen durften, die Kinder, die wie Aussätzige am Rand saßen. Ich saß nun an einem Tisch, als jüngstes Mädchen, um mich etwas dickere, aber vor allem ältere Kinder, so ab 6 Jahren.

Ich saß dort, wusste nicht, was ich da machte, meine Schwester war ja am anderen Ende des Raumes, hatte Spaß, lachte, futterte ein Marmeladenbrot – und ich? Ich war verunsichert und ängstlich.

Vor mir standen diesmal keine Schalen mit süßem Obst, kein duftender Kakao oder warme Milch mit Honig; nein, stattdessen standen dort kleine Schälchen. Auf dem Tisch standen weder Brötchen noch Nutella oder Marmelade, Cornflakes, Honig, Butter, Salami, Käse, nein, alles nicht, Fehlanzeige.

Stattdessen stand eine riesige Metallkanne mit Hagebuttentee vor uns. Natürlich meinte es diese Nonne nur gut, als sie sagte: „Ach komm, Mädchen hier hast du erst einmal einen leckeren Hagebuttentee, der dir bestimmt guttun wird, natürlich ist es besser, wenn du ihn wie die anderen Dickerchen ungesüßt bekommst.“

Sie schenkte mir etwas in eine kleine Tasse ein, der Tee war sogar noch warm. Ich ließ meinen Blick über den Tisch schweifen. Wo waren die Brötchen, die Butter, die Marmelade, wo war der duftende Kakao? Ich schaute die Nonne hilflos an und fragte sie, nahm meinen ganzen Mut zusammen, da ich eher ein sehr schüchternes Kind war: „Bekomme ich keinen Kakao?“ Sie schaute mich von oben herab an und sagte: „Kinder wie du haben keinen Kakao verdient. Hast du kleines Ding schon mal darüber nachgedacht, dass Völlerei eine Sünde ist? Ihr seid hier, um wieder auf den rechten Weg zu gelangen und euren Körper zu stählen.“

Bums! Was? Wie bitte? Was bitte wollte diese Nonne von mir? Völlerei? Allein dieses Wort war mir zu diesem Zeitpunkt völlig unbekannt. Diese Frau kam aus einer für mich ganz anderen Welt. Sie lächelte mich an, ich weiß bis heute nicht, ob sie es lieb oder zynisch meinte.

Mittlerweile hatte die Nonne eine Suppenkelle voller Haferschleim in der Hand, dann – flatsch – eine Kelle des grauen Schleimbreis lag in meiner Schale.

Das Lächeln der Nonne wurde breiter, als sie mein Gesicht sah und sie tätschelte mein Gesicht. „Kleines“, sagte sie, „das hier wird dir guttun, ich gebe dir sogar ein bisschen mehr als den anderen Kindern, denn es ist dein erster Tag.“ Mehr von was? Von diesem Schleimbrei? Wie toll! Egal, wie man es sah: Ab diesem Tag hatte ich verloren. Nicht nur, dass dieser Brei fad und eklig schmeckte und an Pappbrei erinnerte; nein, denn ich hatte auch mit der Aussage der Nonne die Arschkarte des Tages oder der ganzen Kur gezogen. Ich bekam mehr als alle anderen und mit Argusaugen starrten die anderen Kinder mich an. Ich war doch noch so jung und so klein und ich wollte das nicht, ich verstand es nicht.

Mama hatte mir doch gesagt, es würde Spaß machen. Mama sagte, die Luftveränderung würde meine Lungen wieder heile machen. Sie sagte nicht, dass ich merkwürdiges Essen bekommen würde. So drehte ich mich nach meiner Schwester um.

Sie saß mit anderen Kindern vier Tische weiter und biss herzhaft in ein Marmeladenbrot und trank Kakao. Ich verstand die Welt nicht mehr. Es tat weh und es ist eine der ersten Erinnerungen, die ich habe; eine Erinnerung, die mich auch heute noch verletzt. Vielleicht wurde an diesem Tag schon der Grundstein für meine Essstörung gelegt? Ich kann es nicht genau sagen. Ich weiß, dass meine Schwester keine Schuld trug, sie war selber jung und bekam es auch gar nicht so mit. Doch Gefühle kommen und gehen.

Ich wollte das nicht, ich wollte die Blicke der anderen nicht auf mir spüren und ich wollte dieses Zeug nicht essen. Ich wollte Kakao und ein Brötchen und ich wollte zu meiner Schwester. Ich sprang auf und rannte zu dem Tisch, an dem meine Schwester saß. Ich kam nicht weit, denn wie eine Furie stand die Nonne zwischen mir und meiner Schwester. Plötzlich sagte sie nicht mehr ganz so nette Sachen zu mir, packte mich am Arm und zwang mich an meinen Tisch.

Nun stocherte ich in dem geschmacklosen Schleimbrei herum und hatte fürchterlichen Hunger. Da es für mich nichts anderes Essbares gab, aß ich es natürlich; mit Widerwillen. Es war schlimm für mich und ab und an musste ich würgen, weil ich es überhaupt nicht mochte.

Neben mir saß ein etwas rundlicher Junge, er schaute mich nicht so böse an wie der Rest und sprach mich mit vollem Mund an. „Ach, das ist nicht so schlimm, du wirst dich daran gewöhnen, ich bin schon 14 Tage hier und ein Kilo leichter.“ Dabei zeigte er auf seinen großen runden Bauch. Ich empfand mich aber gar nicht dick. Ich fand, dass ich einfach nur ein blondes, kleines Kind war, so wie alle anderen. Na ja, was sich meine Mutter damals dabei dachte? Ich weiß es nicht, aber egal was meine Mutter machte, ich musste mir später immer anhören, dass sie es ja nur „gut gemeint hatte“.

Nach diesem schrecklichen Essen wurden wir in Gruppen eingeteilt, die nach Alter sortiert waren. Meine Schwester, die ich zu diesem Zeitpunkt vergötterte, war viereinhalb Jahre älter, und so war es nicht verwunderlich, dass sie einer anderen Gruppe zugeordnet wurde.

Ich weinte, Kälte zog in mir auf ...

Ich war allein.

Meine Mama war nicht da, meine Schwester in einer anderen Gruppe und mein Vater? Der ist eine Geschichte für sich. Denn zu diesem Zeitpunkt waren die Streitereien meiner Eltern bereits auf dem Höhepunkt. Ich hing an meinem Vater und natürlich verstand ich nicht, warum sie immer und immer wieder stritten. Wie auch? Mir wurde ja immer nur gesagt, der Papa ist böse, der Papa hat keine Zeit mehr für dich oder Papa hat dich nicht mehr lieb.

Ich musste, als gerade mal Vierjährige, mit so viel zurechtkommen und anstatt für mich da zu sein, mir das Gefühl von Geborgenheit zu vermitteln, bekam ich immer nur das Gefühl, nichts wert, nicht erwünscht, eine Last zu sein und nicht geliebt zu werden. Warum schickte Mama mich denn sechs Wochen zu solchen Nonnen und warum durfte ich nicht wenigstens bei meiner Schwester sein? Meine Schwester hingegen war ganz anders: Sie freute sich und hatte Spaß.

Nun was soll ich euch sagen? Ich war jung, war etwas größer als die anderen Mädchen in meinem Alter. Ich hatte hellblondes Haar mit einem Pony und einen „Topfschnitt“. Ich war kein feingliedriges Mädchen, sondern eher robust. Doch dick? Nein, wenn ich die wenigen Kinderbilder sehe, die ich noch besitze, dann kann ich nicht behaupten, dass ich sonderlich dick war. Vielleicht wollte meine Mama ja wirklich nur das Beste für uns? Vielleicht waren ihr aber auch die Stimmen von außen, Arbeitskollegen oder Nachbarn, wichtiger, als das Wohlergehen ihrer Mädchen? Vielleicht war es aber auch so, dass es einfacher war, uns Kinder für eine Zeit aus dem Haus zu haben? Ich weiß es nicht, denn irgendwas war bei uns immer los. Es wurde viel gebrüllt, geschimpft und Türen geschlagen. Sollte das nun vorbei sein? Papa war ja nicht mehr da. Doch das wussten wir zu dem Zeitpunkt noch nicht. Das erfuhren wir erst nach dem Aufenthalt in der Kur.

In dieser Kur erlebte ich noch so einiges, was mir Angst machte, dass mich verunsicherte und das mich vielleicht ein bisschen prägte. Ständig saß eine dieser Nonnen bei uns dicken Kindern. Ständig wurden wir ermahnt und wehe wir aßen nicht ordentlich oder mehr als vier Esslöffel, also mehr als uns guttat.

Stefan, so hieß der dicke Junge, und ich wurden regelmäßig nach dem Frühstück für den Küchendienst eingeteilt, denn wir mussten ja die zu vielen Kalorien wieder abarbeiten. Eine der Nonnen saß dann immer am Tisch und las uns aus der Bibel vor, während wir die Tische abräumten und drüber wischten und die Tee- und Kakaokannen auf einen silbernen Wagen stellten.

Nur zur Erinnerung: Ich war vier Jahre alt, und während die anderen mit Puppen spielten, durfte ich mir die Bibel anhören und mir sagen lassen, was für ein sündiges Kind ich sei. Ich wollte doch in den Himmel, jedenfalls sagte das diese alte Nonne, dass alle Kinder das wollten. Hä? Warum in den Himmel? Was meinte sie denn? Ich fragte sie nach einiger Zeit, was sie denn meinen würde und sie antwortete mir: „Dein Leben ist bald zu Ende, und wenn du als Sünder gelebt hast, kommst du nicht zum lieben Gott, sondern in die Hölle, dort wartet der Teufel auf dich, der hat Hörner und er wird dich aufspießen und über Feuer so lange brennen lassen, bis dein Fett ins Fegefeuer tropft. Das wird ihm schmecken, denn die dicken Kinder mag er am liebsten. Nimm also ab, damit du nicht in die Hölle kommst.“

Super! So was erzählt man doch keinen Kleinkindern. Heute habe ich zwei Söhne und so was würde ich ihnen niemals antun. Der Effekt ließ nicht lange auf sich warten. Ich hatte Angst. Angst, dass der Teufel zu mir kommt, und meinen fetten Körper auf den Grill legen würde. Ich schlief schlecht, wachte oft auf, und die anderen fünf Kinder in meinem Zimmer waren schon genervt. Sie bewarfen mich mit Kissen und anderen Dingen und beschimpften mich, ich solle still sein, ich solle die Klappe halten. Es wurde nicht besser, es wurde schlimmer. In der vierten Woche kam ein Mädchen zu mir ans Bett, Marion oder Manuela hieß sie. Sie war eine 9-Jährige und plötzlich stand sie mitten in der Nacht über mir.

Warum es geschah, keine Ahnung … bis heute nicht. Vermutlich habe ich einfach zu viel geweint und sie so beim Schlafen gestört? Sie schlug mich mehrfach, und als ich schreien wollte, nahm sie ein Kissen und drückte es mir auf das Gesicht. Ich spürte den Stoff über meinem kleinen Gesicht und ruderte mit den Armen. Ich hatte das Gefühl, dass ich nun in die Hölle komme. Der Stoff verschloss meine Nase und meinen Mund und voller Panik atmete ich tief ein; ich wollte doch Luft atmen, doch es ging nicht. Sie drückte noch fester und ich spürte Hände an meinen Füßen, die mich festhielten. Ich begann zu husten, versuchte zu atmen und mir wurde schon ganz schwindelig. Andere Mädchen kicherten. Sie fanden das alles sehr lustig. Dann plötzlich ein Geräusch, die Mädchen ließen von mir ab und rannten in ihre Betten. Ich weinte, ich japste; das Licht ging an. Eine der Erzieherinnen stand im Raum.

„Was ist hier los?“ Die anderen Mädchen zeigten auf mich und sagten: „Da, die Kleine, die spinnt. Die macht die ganze Nacht Terror. Wir wollten ihr helfen, dass sie einschläft und ihr eine Geschichte erzählen. Da hat sie uns gehauen.“

Ich saß da immer noch, japsend, mit hochrotem Kopf und heulte wie ein Schlosshund. Was dann geschah, war unglaublich.

„Das geht so nicht. Ich nehm sie mit, damit ihr schlafen könnt.“

Ich wurde nicht gefragt und ich traute mich auch nicht, etwas zu sagen.

Die Mädchen machten mir auch tags drauf klar, dass es gesünder wäre, wenn ich die Klappe halten würde. So saß ich dann im Dienstzimmer auf einem Stuhl.

Ich hatte ein Schmusetier, einen Affen, der Judy hieß. Ihn hatte ich im Arm und er gab mir alles, was ich brauchte. Die Menschen verstanden mich nicht, die Menschen wollten mich nicht, warum sonst machten sie solche Sachen mit mir? Warum ließ das meine Mama zu? Warum wollte sie mich nicht?

Nach einiger Zeit durfte ich ins Zimmer zurück. Aber meine Angst war geboren. Ich war zu erschöpft, hatte Angst einzuschlafen, denn was wäre, wenn das noch mal passieren würde? Wenn diese bösen Mädchen wiederkämen? Aber sie schliefen und als es hell wurde, fielen mir auch die Augen zu.

Wenn ich mich richtig zurückerinnere, begann ich nach diesem Kuraufenthalt wieder regelmäßig in der Nacht einzunässen. Natürlich war das für meine Mutter sehr schlimm. Sie schämte sich, das anderen zu erzählen, aber auf der anderen Seite ließ sie auch keinen Moment aus, jedem zu erzählen, wie schwer sie es doch mit mir hätte.

Aber ich versuche, in der zeitlichen Reihenfolge zu bleiben.

Am Ende des Kuraufenthaltes war ich fünf Kilogramm leichter und aus dem schüchternen Mädchen war ein ängstliches Kind geworden, das nachts ins Bett machte.

Wir kamen nach Hause und freuten uns auf Mama und Papa.

Doch Fehlanzeige: Kein Papa mehr da. Unsere Eltern hatten unsere Kur genutzt, um sich klammheimlich zu trennen. Vielleicht war das nach den ganzen Streitereien auch besser so, aber mir fehlte mein Papa. Mein Vater schlief bei meinen Großeltern. Wann es dann genau zur Scheidung kam, kann ich nicht sagen. Doch Mama hatte schon einiges gepackt und die ersten Kartons standen im Flur. Es waren unsere Kartons, denn wir sollten bald umziehen. Ich hatte keine Zeit, mich von dieser Kur zu erholen und wurde mit vier Jahren in das nächste Abenteuer gedrückt. Neue Wohnung, neue Umgebung, neuer Kindergarten bzw. neue Schule für meine Schwester.

Während des Aufenthaltes in der Kur war festgestellt worden, dass ich einen Sprachfehler hatte. Der sollte von einer Logopädin in Arnsberg behoben werden. Meine Tante Illa machte dann mit uns immer diese wundervollen Kindertage. Meine Schwester und ich fuhren mit dem Bus oder dem Auto von Hüsten nach Arnsberg. Damals immerhin eine ganze halbe Stunde, die mir wie eine Ewigkeit vorkam. Eine schöne Ewigkeit. Wir lachten viel, erzählten und ich machte die Therapie und lernte, wie man die Worte richtig ausspricht. Ich freute mich immer sehr darauf, denn oft gab es im Brückencenter in Arnsberg (das ist eine Einkaufspassage) einen Kakao oder ein Biene-Maja-Eis. Aber natürlich war es nicht nur das Eis …

Es war mein Highlight der Woche und lenkte mich von den Problemen zu Hause ab. An diesen Tagen fühlte ich mich beachtet, ohne dass ich mich sehr anstrengen musste. So wie meine Schwester: Meine Schwester war für mich immer etwas Besonderes. Ich wollte so stark und mutig sein wie sie und ich wollte, dass man mich auch so lieb hat. Denn, ohne es wirklich zu verstehen, merkte ich doch irgendwie, dass sie immer bevorzugt wurde.

Würde man meine Schwester heute nach dieser Zeit fragen, würde sie sicherlich sagen, dass das, was ich damals empfunden habe, überhaupt nicht so war und sie diejenige welche, die unter mir zu leiden hatte. Denn auch sie hatte Gefühle und sie war oft von ihrer kleinen Schwester genervt und eines Tages sagte sie mir: „Du bist ja immer das Sorgenkind gewesen, ständig warst du krank und alle mussten sich um dich kümmern. Du mit deinen Ausrastern. Du hast mir das Leben zur Hölle gemacht.“

 

Kapitel 2 - Umzug: die Scheidung meiner Eltern

 

Ich kann gar nicht genau sagen, wann die folgende Situation sich ereignete, doch ich will es euch erzählen:

Den Kuraufenthalt hatte ich mehr oder weniger gut überstanden. Ich war einfach nur froh, wieder zu Hause in meiner kleinen Welt zu sein, in der ich mich doch so wohl fühlte. Doch auch diese Welt begann zu zerbröseln. Wir wohnten in Hüsten, in der Nähe meiner Großeltern, die ich sehr mochte. Nur drei Minuten und ein Spielplatz trennten uns. Ich fand das schön. Doch es sollte sich bald alles ändern. Es war Abend und wir saßen alle zusammen, in diesem Fall Mama, meine Schwester und ich, als meine Mutter uns eröffnete, dass wir bald umziehen würden und dass wir ein ganz großes, tolles Zimmer bekommen sollten. Sie erzählte uns, dass wir nach Bruchhausen umziehen würden und dort hätten wir auch eine tolle Terrasse und könnten viel draußen spielen. Ich verstand es damals nicht so wirklich. Wir zogen um – ohne Papa, und anfangs fragte ich immer wieder nach ihm. Erst wurde mir gesagt, dass er so viel Arbeit hätte, dass er wieder bei Oma und Opa wohnen würde, damit er nicht zu spät zur Arbeit käme, danach war er einige Zeit krank und irgendwann sagte meine Mutter:

„Papa kommt jetzt nicht mehr. Er und ich sind keine Freunde mehr und deshalb darfst du ihn auch nicht sehen.“

Wieder etwas, das über meinen kindlichen Horizont ging. Mein Papa hatte uns doch noch lieb? Warum kam er nicht? Warum sprach er nicht mit uns? Meine Schwester sagte irgendwann mal zu mir – sie war zu der Zeit acht oder neun Jahre alt: „Ach der Papa, der ist doch dumm im Kopf, und der kommt auch nicht wieder. Mama wird schon einen neuen Papa für uns finden.“ Einen neuen Papa? Wie konnte denn das sein? Ich wollte keinen neuen Papa, mir reichte doch der alte.

Meine Mutter ging wieder viel arbeiten und ich in den Kindergarten. Das funktionierte ganz gut, weil ich mich da wohlfühlte. Meine Schwester besuchte mittlerweile die Grundschule und sie war eine tolle Schülerin. Jedenfalls sagte die Mama das immer wieder. Ich war fünf und wir hatten morgens unsere Rituale. Meine Mama zog mich an, während ich auf einem Stuhl stand.

Natürlich hatte ich bei dem, was ich anziehen sollte, kein Mitspracherecht. Das entschied meine Mutter allein, aber sie achtete immer darauf, dass ich farblich gut passend und für die 80er gut gekleidet war. Wie oft sagte sie dabei, dass es so schade sei, dass ich so ein dickes Kind wäre, und wie schlimm es sei, dass ich nicht in diese wunderschönen hellgelben Hosen reinpasste, die damals so modern waren.

Natürlich wuchs ich, natürlich war ich etwas mehr als andere Kinder, jedenfalls glaubte ich das immer. Eines Tages war es wieder so weit: Meine Mutter zog mich an und die Hose ging nicht zu. Sie meckerte unentwegt und sagte mir, was ich alles falsch machte und dass ich mich mehr bewegen müsse. Sie entschied damals, dass ich nur noch Knäckebrot als Pausenbrot für den Kindergarten bekam.

Immer wieder sagte sie zu mir: „Mariechen, wenn du doch so ein schönes Mariechen wärst, dann könntest du schön tanzen und dünne Beinchen haben, doch sieh dich an, an dir schwabbelt alles; so wirst du kein Tanzmariechen.“

Das hat sie vielleicht nicht so gemeint, aber es verletzte mich. Ich zog mich immer mehr zurück, denn ich fühlte mich dick und plump. Und ungeliebt. Meine Mutter ging mit der Mode, es war ihr wichtig, dass wir immer gut gekleidet waren, und es war ebenso immer wichtig, was andere Menschen über uns dachten. Sie bläute mir immer und immer wieder ein, wie nett ich zu allen sein müsste und dass ich dann auch nie alleine sein bräuchte. Nette, hübsche, dünne Menschen hätten es viel besser im Leben. Ich war, glaube ich, zu diesem Zeitpunkt sechs Jahre und es war mir ziemlich egal. Ich wollte mit meiner Nachbarin Karolin spielen und schauen, ob der Riese noch schlief.

Ja, ja, der Riese, der kam aus unseren Fantasien, denn wir erschufen uns eine Traumwelt, was in diesem Alter auch vollkommen in Ordnung war. So erfanden wir eine Geschichte über einen schlafenden Riesen. Dicke Grasbüschel waren seine Haare und die schauten aus der Erde heraus. Wir alberten wochenlang herum und erfanden immer mehr Geschichten rund um den Riesen Wuschel. Wir fanden den Namen gut, denn die Grasbüschel sahen so wuschelig aus. Nach dem Kindergarten spielten wir viel draußen und es war eine wunderschöne Zeit. Wir kletterten auf Bäume, gingen auf die Felder, um Mais zu essen, oder wir rutschten Hügel hinunter und spielten fangen. Es war toll und ich war so froh, meine Nachbarmädchen zu haben. Nach einiger Zeit kamen noch Melanie, Ramona und einige andere dazu.

Wir waren ein kleiner Haufen von Mädchen, die spielten, lachten und einfach Dinge taten, die Kinder so machen. Eines Tages muss meiner Mutter das aber zu viel geworden sein, sie war genervt und so sagte sie immer häufiger:

„Ach, guck dir die mal an, wie die Mutter aussieht und das sind so komische Leute. Warum spielst du denn mit denen?“

So ging das immer weiter und ich wurde mehr und mehr verunsichert. Ich wurde misstrauisch, dabei bestand doch gar kein Grund. Aber meine Mutter war noch nicht am Ziel, denn sie machte weiter und setzte noch einen oben drauf:

„Wer will denn schon mit dir befreundet sein? Hast du schon mal in den Spiegel geschaut? Wie du aussiehst? Wie du immer rumläufst, die vielen Flecken und immer machst du dich schmutzig und die ganze Arbeit, die ich mit dir habe. Deine Schwester ist viel hübscher und sie kann vieles so viel besser.“ Ah ja. „Und du bist wie dein Vater. Dick, hässlich und dumm.“

Sie sagte das immer und immer wieder, mal so, mal härter. Jedenfalls ließ sie selten eine Gelegenheit aus, um mich zu verletzen und mich daran zu erinnern, wie ähnlich ich meinem Vater doch sah. Dass ich auch gerne mal Zeit mit meinem Papa verbringen wollte, störte sie wohl auch und oft bekam ich auf meine Bitte, zu ihm zu dürfen, zur Antwort:

„Ach Mensch, was willst du denn bei diesen Dummbatz?“

Ich war so verwirrt, dass ich auch die Geschichten, die meine Mutter über ihn erzählte, glaubte. Eine nicht ganz so einfache Situation, alles in allem. Es kam, wie es kommen musste: Ich traute mir kaum noch etwas zu. Ich blieb sitzen, während alle anderen auf Bäume kletterten, ich blieb am Straßenrand, während die anderen durch den Wald liefen. Ich log, um besser dazustehen und Freunde zu haben.

Die Zeit verging und ich wurde älter. Irgendwann bekam ich Windpocken! Oh je, die Windpocken! Meine Mutter gab sofort den Nachbarskindern die Schuld und verbot mir, jemals wieder mit ihnen zu spielen. Meine Mutter war in dieser Zeit zwar für mich da, aber sie empfand mich als Störung, denn sie hatte die ganze Zeit Angst um meine große Schwester.

„Hoffentlich wird sie nicht krank. Ach, diese schrecklichen Windpocken die jucken ja so schlimm.“

Ich schaute sie nur verdutzt an und kratzte mich weiter.

Ich musste tagelang in einem abgedunkelten Zimmer hocken bleiben und war mit meinen Gedanken größtenteils allein. Die Wochen vergingen und mir wurde bewusst, dass ich allein war. Meine Eltern waren getrennt und der Umgang mit meinem Vater war sehr schwierig. Doch auch zu Oma Marga und Opa Albert, Papas Eltern, durfte ich zeitweise nicht. Meine Mutter machte sich nämlich Sorgen, dass ich zu viel erzählen würde, weil ich doch irgendwie alle Streitereien mitbekäme oder sonst was.

Nun: Es war ein ewiges Hin und Her. Meine Mutter arbeitete sehr viel und war am Wochenende oft unterwegs. Wir schliefen häufig bei Oma Ida und Opa Bernhard. Zum Glück wohnte meine Tante Illa auch in der Nähe und ich freute mich auf sie. Opa erzählte viel von früher und Oma kochte immer so toll. Dort wurde ich nicht ermahnt, dass ich ein fettes Kind sei. Dort durfte ich alles essen, was ich wollte, und Opa Bernhard war es immer sehr wichtig, dass ich auch meinen Teller leer aß. Ich lernte von ihm, dass es ja in der Welt auch ganz viele andere Kinder gab, die es nicht so gut hatten wie ich, die sogar hungern mussten. Damals verstand ich das so, dass, wenn ich gut essen würde, es diesen anderen Kindern helfen würde. Heute weiß ich natürlich, dass das falsch war. Doch als kleines Kind versteht man die Welt noch nicht so ganz.

Die Scheidung meiner Eltern habe ich nicht gut verkraftet, denn immer wieder wurden die alten Themen durchgekaut und Streitereien hochgekocht und es war für mich ganz fürchterlich. Mittlerweile war ich sieben oder acht Jahre alt und ging in die Grundschule und dort flüchtete ich mich in meine kleine Welt. Tabaluga von Peter Maffay kam grade auf den Markt und es half mir über schlimme Zeiten. Auch heute ist es noch so, dass ich unglaublich viel aus diesen Liedern und Geschichten ziehen kann.

Ich glaube, schon zu diesem Zeitpunkt hatte ich ein sehr gestörtes Verhältnis zum Essen. Ich hatte Angst, vor anderen Menschen etwas zu mir zu nehmen und begann damit, heimlich zu essen. Das war mir wichtig, denn nach außen wollte ich doch die perfekte Tochter sein. Ich hatte doch so große Angst, auch noch meine Mama zu verlieren, lernte ich doch von klein auf, dass es sehr wichtig war, was andere denken und dass meine Meinung nicht viel Wert hatte. Innerlich machte mich das kaputt.

Hinzu kam, dass ich die Trennung von meinem Vater und meinen anderen Großeltern nur sehr schwer verkraftete. Irgendwann wurde das Verhältnis zwischen ihnen und meiner Mutter besser und ich durfte sogar bei dort übernachten. Meine Mutter war damals eine sehr jugendliche Person und auch noch jung und ich glaube, mit 27 Jahren wollte sie das Leben nochmals genießen. Sie ging auf Tour mit Freundinnen, Konzerte, Partys und Karnevalsveranstaltungen. Manchmal dachte ich, dass wir ihr doch nur im Weg waren und sie uns nicht wollte, dass wir sie in ihrer Entfaltung störten. Sie redete immer viel von anderen Männern und darüber wie toll diese Männer sie fanden und dass dieser und jener sie anhimmeln würde, oder dass der arme Soundso mit so einer dicken, hässlichen Frau geschlagen wäre und sie, also meine Mama, ja viel besser zu ihm passen würde. Also war für mich klar: Dick ist gleich tollpatschig, dumm und nicht normal. So kam es, dass sie recht bald einen neuen Lebenspartner in ihr und somit unser Leben ließ.

Ich wurde älter und machte viel mit anderen Kindern. Ich versuchte so normal wie möglich mit ihnen umzugehen. Doch es waren Kleinigkeiten, die mich auf die Palme brachten, und wehe, eine hatte sich einen Barbiestiefel von mir auszuleihen, ohne mich zu fragen. Ich gab keine Ruhe, bis ich ihn wiederbekam. Denn mir wurde es ja eingebläut: „Die macht ihn kaputt, warum leihst du ihr deinen Barbiestiefel?“ Ich glaube, ich war ein schreckliches Kind, geprägt von Angst, Einsamkeit und auch Hilflosigkeit.

Meine Schwester musste immer häufiger auf mich aufpassen, da meine Mutter nun in einem großen Möbelhaus eine Vollzeitstelle angenommen hatte und eigentlich war meine Mutter darüber sehr glücklich.

Ich ging jetzt in die Schule und mir gefiel es, auch wenn die erste Zeit ziemlich schwierig war, weil ich doch verträumt war und mich nicht konzentrieren konnte. Doch die Schule machte mir Spaß, ganz im Gegensatz zu meinem Zuhause. Wir wohnten jetzt in Bruchhausen, in einer sehr dunklen Kellerwohnung, und immer, wenn wir das Haus betraten, mussten wir die dunkle Treppe hinunter gehen, an der Kellertüre vorbei und dann noch zwei Stufen, ehe die Eingangstür kam. Die Wohnung an sich war sehr schön und hell, das große Fenster im Wohnzimmer ließ zum Glück viel Licht herein.

Meine Schwester wollte auch mal für sich sein, was recht schwierig war, weil die Wohnung doch sehr klein war. Meine Mutter hatte nicht einmal ein richtiges Schlafzimmer, sondern nur ein Bett neben dem Bad. Dort war eine kleine Ecknische. Im Nachhinein denke ich, hat sie vieles nicht bewusst gemacht, aber mit ihren unbedachten Worten und Handlungen doch eine Menge Schaden bei mir angerichtet. Vielleicht spielt auch die Tatsache, dass sie bis heute der Meinung ist, dass sie nur das Beste für mich wollte und keinerlei Einsicht zeigt, eine große Rolle. Fehler machen ja nur immer die anderen. In Bruchhausen erlebte ich trotz allem eine schöne Zeit, aber eben auch meinen ersten Unfall, der ganz fürchterlich war.

Karolin, meine Nachbarsfreundin, und ich spielten gegenüber auf der Wiese. Wir pflückten die schönen lila Blumen und wollten sie zu Wuschel bringen. Wuschel war ja der Riese, dessen Haare aus der Erde wuchsen. Es war ein kleines mit Gras bewachsenes Stück Brachland (heute stehen dort viele Häuser und die Siedlung ist gewachsen). Wir tollten so herum und liefen, lachten und alberten nach Herzenslust. Plötzlich rutschte ich über ein kleines Maulwurfsloch aus und knallte unglücklich auf den Boden. Erst glitt ich irgendwie über den Steinsplitt am Ende des Abhangs, um von dort noch mal einen Purzelbaum zu machen. Mein Sturz wurde von einer Bordsteinkante gestoppt. Ich knallte voll darauf und saß erst mal da. Ich weiß noch, wie verwirrt ich war. Karolin kam angerannt und wurde kreidebleich.

„Was ist los?“, fragte ich sie besorgt, aber immer noch durcheinander.

„Och, schau Karoline, nun hab ich mein schönes Kleid dreckig gemacht, da wird die Mama aber böse mit mir sein.“

Karolin starrte mich immer noch mit weit aufgerissenen Augen an.

„Mella, Mella!“ Dann wurde sie hysterisch: „Hilfe! Mella du musst zu einem Arzt!!“

Mir tat alles weh und ich pulte mir grade die Steinsplitter aus meinen Handinnenflächen, als ich merkte, dass es warm wurde. Es war ein komisches Gefühl, so als ob, ja, als ob warmes Wasser über meinem Kopf ausgeschüttet wurde.

Ich stand nun ganz langsam auf und da wurde es mir echt komisch. Dann sah ich das Blut. Es waberte nur aus mir heraus! Meine Arme, meine Hände waren voller Blut. Doch, oh je, warum war das so? Was passierte da mit mir?

Karoline schrie immer noch aus vollem Leib. Diesmal klang es spitz und sie weinte und sie sagte unter Tränen:

„Komm mit mir, Melanie, du musst schnell machen, du blutest ganz doll.“

Da erst verstand ich, dass es kein Wasser war, und versuchte mit meinen zerschundenen Händen das Gesicht sauber zu halten. Ich drehte meine Hände um, und was ich da sah, ließ mich erschaudern und in eine Art Schock verfallen. Ich schrie nun auch. Meine Hände waren voller Blut, es sah aus wie aus einem Horrorfilm und es tropfte an mir herab. Ich sah an mir herunter und auch mein blaues Kleid war voll. Karoline hielt nichts mehr, sie lief zu meinem Haus. Sie schellte an allen Klingeln Sturm und versuchte meine Mama zu holen. Dumm nur, dass zu diesem Zeitpunkt meine Mama arbeiten war.

Nach einiger Zeit machte eine Nachbarin auf und war sehr erschrocken. Karolin war immer noch hysterisch. Sie brachte nicht viel raus außer:

„Bitte Hilfe! Melanie voller Blut! Gefallen bei Wuschel! Bitte helfen Sie uns!“

Die Nachbarin lief zu mir herüber. Ich konnte nicht mehr laufen und saß einfach auf Wuschels Kopf. In meiner Fantasie machte ich mir grad Sorgen, dass ich ihn nun auf seinen Kopf blutete. Die Nachbarin sah mich, wurde blass und nahm mich in den Arm. Ich hab nie gewusst, wie laut und lange ein Mensch so schreien konnte. Jetzt wo ich es euch erzähle, laufen mir die Tränen die Wangen herunter und ich werde diese Schreie nie vergessen. Sie schrie und schrie um Hilfe und andere Nachbarn reagierten. Waschlappen, Tücher und ich weiß nicht, was sonst noch alles gereicht wurde; sie versuchten die Wunde an meinem Kinn zu schließen. Ich weinte nur noch, schrie nach meiner Mama und nach meiner Schwester; aber niemand war da.

Ich schrie und schrie und schrie und ich war fast heiser. Tante Illa, wo warst du? Ach, sie war ja auch arbeiten, so wie die Mama. Irgendwann saß ich auf dem Rücksitz eines Wagens; die Nachbarin hielt mich fest im Arm und drückte mir die Lappen ins Gesicht. Immer wieder wechselte sie die Tücher, denn die saugten sich so voll. Ich machte mir Sorgen, dass ich irgendetwas dreckig machte.

So richtig hatte ich den Ernst der Lage nicht verstanden. Wie denn auch? Ich war viel zu klein und wusste nur, dass es wehtat. Irgendjemand musste meine Mutter informiert haben. Aber sie war immer noch nicht da. Ich war im Karolinen-Hospital in Hüsten und schrie immer noch. Die Ärzte und Schwestern konnten mich kaum beruhigen.

Meine Mama war nicht da und die Nachbarin hielt nun meine Hand. Sie war super und versuchte mich zu beruhigen, erzählte mir Geschichten und sagte immer wieder:

„Hey Kleine, beruhige dich, Mama ist gleich da.“

Sie konnte mir ja sagen, was sie wollte, es war für mich viel zu viel. Dann ging alles ganz schnell, und sie steckten meinen kleinen Kopf unter ein grünes Tuch und versuchten einen Zugang zu legen. Doch ich wehrte mich, aber sie versuchten es weiter und es waren ein Arzt und zwei Schwestern sowie die Nachbarin (vier Personen!), die mich festhielten.

Es war schrecklich, wie ich die Hände auf mir spürte, die Schmerzen überall und dieses Gefühl nicht mehr bestimmen zu können. Der Arzt war sehr ruhig und versuchte, Ruhe zu vermitteln. In diesem Moment war es aber nichts mehr mit Ruhe, denn meine Mutter betrat die Szene. Sie war völlig außer sich, weinte und schrie. Doch Ihr kennt meine Mutter nicht. Sie wurde hysterisch und kreischte:

„Was ist mit meinem Mädchen, Mariechen? Geht es dir gut? Mariechen, ich bin da. Deine dich liebende Mama ist nun hier, alles wird wieder gut! Ich lasse dich nie mehr alleine!“

Der Arzt schimpfte mit ihr und bat sie sehr harsch, sich zu beruhigen.

Dann sagte er:

„Sie verliert zu viel Blut, wir müssen es nun nähen, auch ohne Zugang zur Vene. Können Sie ihre Tochter festhalten?“

Es wurde nicht lange mehr gefackelt und nein, meine Mutter konnte es nicht. Sie sah mich an und sagte:

„Ich geh ins Nebenzimmer, du weißt doch, dass ich kein Blut sehen kann, ich sitze dort auf einem Stuhl, ach, was du immer anstellt, nie hab ich meine Ruhe und nun muss ich von der Arbeit ins Krankenhaus. Du machst Sachen. Jetzt bin ich für dich da, Mariechen, Mama hat dich lieb.“