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André Lorenzetti

Nur nicht den Kopf verlieren

Wie Musikunterricht zum Erreichen von gymnasialen Bildungszielen beitragen kann

ISBN Print: 978-3-0355-1432-2

ISBN E-Book: 978-3-0355-1433-9

Umschlag: Gestaltet unter Verwendung der Karikatur «Watschenkonzert», abgedruckt in der Zeit vom 6. April 1913

1. Auflage 2019

Alle Rechte vorbehalten

© 2019 hep verlag ag, Bern

www.hep-verlag.ch

Inhalt

1Einleitung

1.1Musikunterricht im Dilemma

1.2Macht Musik am Gymnasium studierunfähig?

1.3Aufbau des Buches

2Musikunterricht mit Kopf, Herz oder Hand?

2.1Dreiecksdiagramm

2.2Studierende und Lehrpersonen im Spannungsfeld

2.3Inhaltsanalyse und Kategoriensystem

2.4Vergleichende Darstellung von KAP-Anteilen

2.4.1Lernzielanteile in den Lehrplänen

2.4.2Lernzielanteile in den Lehrmitteln

2.4.3Lernzielanteile in den Prüfungen

2.5Lehrmittel, Lehrpläne und Prüfungen im Spannungsfeld

2.6Ergebnisse der Befragungen

2.6.1Verwendung von Lehrmitteln

2.6.2Wozu Lehrmittel im Unterricht eingesetzt werden

2.7Soll Musikunterricht ausgeglichen sein?

2.8Ist der Kopf verloren?

2.9… aber er könnte unterfordert sein

2.10Zusammenfassung «Spannungsfeld»

3Überfachliche Kompetenzen

3.1Überfachlichen Kompetenzen in den untersuchten Texten

3.1.1Lehrpläne

3.1.2Lehrmittel

3.1.3Prüfungen

3.2Überfachliche Kompetenzen in den Umfragen

3.2.1Überfachliche Kompetenzen aus Sicht der Studierenden

3.2.2Überfachliche Kompetenzen aus Sicht der Lehrpersonen

3.2.3Sind überfachliche Kompetenzen kantonsabhängig?

3.2.4Zusammenfassung

3.3Überfachliche Kompetenzen im Musikunterricht

3.4Bisherige Erkenntnisse

3.5Zusammenfassung «Musik und ÜFK»

4Studierfähigkeit und Musikunterricht

4.1Elemente von Musikunterricht für eine gute Studienvorbereitung

4.1.1Ergebnisse der Befragung von Studierenden

4.1.2Ergebnisse der Befragung von Lehrpersonen

4.1.3Gute Studienvorbereitung mit dem Fach Musik

4.2Statistische Auswertung der Befragung von Studierenden

4.2.1Allgemeine Aussagen

4.2.2Gut oder schlecht vorbereitete Studierende

4.2.3Studierende mit oder ohne Maturaprüfung in Musik

4.3Ein Unterrichtsmodell für den Musikunterricht

4.4Über Musik reden

4.4.1Ist Musik die Sprache für das Unaussprechliche?

4.4.2Sprachen für Musik

4.4.3Vom Phänomen ausgehen

4.4.4Wie Worte für das Unsagbare finden?

4.4.5Die Unterrichtszeit gehört den Lernenden

4.5Musikalische Analyse

4.5.1Zum Unterschied Deutschland−Schweiz

4.5.2Schritte zur Analyse

4.6Projekte realisieren

4.7Elemente von Musikunterricht zur Entwicklung überfachlicher Kompetenzen

4.7.1Vokale Praxis

4.7.2Instrumentale Praxis

4.7.3Und die fachlichen Kompetenzen?

5Fazit

6Anhang

6.1Zentrale Begriffe

6.1.1Musikunterricht an Gymnasien

6.1.2Kompetenzbegriff

6.1.3Überfachliche Kompetenzen

6.1.4Taxonomy of Educational Objectives (TEO)

6.2Berechnungsgrundlagen

6.3Tabelle Lehrmittel

6.4Abbildungsverzeichnis

6.5Tabellenverzeichnis

6.6Literaturverzeichnis

Danksagung

Mein grosser Dank geht an alle Musiklehrerkolleginnen und -kollegen, die mich mit Lehrplänen, Curricula und Richtlinien bedienten, die mir ihre schriftlichen und mündlichen Prüfungen zur Analyse zur Verfügung stellten und meine Arbeit und meine Gedanken kommentierten; darunter Dietrich Irmer vom Goethe-Gymnasium und Musikgymnasium Demmin, Dresden, Andrea Tenhagen vom Humboldt Gymnasium Köln, Christian Heib vom Ludwigsgymnasium Saarbrücken, Urs Mayr vom Gymnasium Thun, Michael Schraner von der Neuen Kantonsschule Aarau und Peter Honegger vom Gymnasium Kirchenfeld in Bern.

Das Verständnis und die mir in vielfältiger Form zuteilgewordene Unterstützung meiner Familie haben mich getragen, grossen Dank! Ich danke meiner Tochter Julia und meinem Sohn Pascal für die Prüfung des Manuskripts auf dessen logische Konsistenz und für die präzisen und stringenten Rückmeldungen, welche auf eigener Erfahrung im Gymnasium und mit Musik gründen. Meiner liebsten Weggefährtin, Freundin und Gattin Susanne danke ich aufs herzlichste für die Begleitung, die ich über die letzten dreieinhalb Dekaden erfahren habe, und die mir zuteilgewordene, allumfassende Unterstützung.

Dem Team des hep-Verlages danke ich sehr für die angenehme Zusammenarbeit. Besonders danke ich dem Verlagsleiter Peter Egger für sein Vertrauen in dieses Projekt und meinem Lektor Christian de Simoni für seine ebenso sympathisch vorgetragenen wie inhaltlich schonungslosen Rückmeldungen.

Ihnen, liebe Leserin, lieber Leser, danke ich für das Interesse an dieser Thematik und für mögliche Rückmeldungen (musikunterricht_S2@gmx.ch).

Oberdiessbach, im Oktober 2018

André Lorenzetti

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Kapitel 1Einleitung

Das strukturelle Dilemma des Musikunterrichts im schweizerischen Bildungssystem. Weshalb die Frage gestellt werden muss, ob Musikunterricht am Gymnasium zu einer Verschlechterung der Studierfähigkeit von Absolventinnen und Absolventen beiträgt. Zum Aufbau dieses Buches.

 

An einem Fachschaftstag der Musiklehrer der bernischen Gymnasien vor einigen Jahren wurde eine Debatte darüber geführt, ob an der schriftlichen Maturitätsprüfung im Fach Musik der Analyseaufgabe (erster Teil der schriftlichen Prüfung) nebst dem Notentext auch ein Tonbeispiel zur Verfügung gestellt werden soll bzw. darf.

Es war in der Diskussion unbestritten, dass das Lesen eines Notentextes allein bereits anspruchsvoll ist und dass nicht bei allen zu Prüfenden von einem durch das visuelle Erfassen ausgelösten Klangeindruck ausgegangen werden kann. Ebenso unbestritten war, dass der Höreindruck für den emotionalen Eindruck der Musik von grosser Bedeutung ist und dass, wenn nun das zu analysierende Stück auch auditiv erfasst werden kann, dies für all jene eine Erleichterung darstellt, welche die Fertigkeit des inneren Mithörens beim Lesen von Noten nicht in ausreichendem Masse entwickelt haben.

Der Diskurs entzündete sich an den Fragen, ob

a)diese Erleichterung bereitgestellt werden soll und damit all jene bevorzugt werden, welche sich der Mühe des Erlernens des inneren Mithörens entzogen haben, und ob

b)für die Analyse diese quasi emotionale Ebene des Musikstücks überhaupt von Bedeutung sei.

Wie viele meiner Kolleginnen und Kollegen stelle auch ich in meiner Berufspraxis als Musiklehrer eines Gymnasiums fest, dass meine Passion für Musik die Schülerinnen und Schüler auf einer emotionalen Ebene viel leichter erreicht als auf einer kognitiven. Das manifestiert sich ausgeprägt in jenen Bereichen, in denen sich ein emotionaler Zugang weniger anbietet, beispielsweise in Musiktheorie und Analyse.

Wenn beim erwähnten ersten Teil der schriftlichen Maturitätsprüfung nebst einem Gesangs- oder einem Orchesterstück auch eine Fuge zur Wahl steht, so wird diese Aufgabe von der Mehrheit bevorzugt. Den Grund kann man darin vermuten, dass die Analyse quasi grafisch gelöst werden kann und die Fähigkeit des inneren Mithörens von marginaler Bedeutung ist. Überdies wird eine Fuge in der Wahrnehmung der Schülerinnen und Schüler nicht als Beispiel von Musik mit emotionaler Wirkung angesehen, sondern als vielleicht kunstvolles, aber eben doch technisches Konstrukt. Daraus ergibt sich eine Frage, die an besagtem Fachschaftstreffen leider nicht diskutiert wurde: Ist es vernünftig, eine Aufgabe zu stellen, deren Lösung scheinbar ohne äusserlich klingende oder emotionale Komponente auskommt?

Verneint man, so kommt man unmittelbar zur nächsten Frage: Wie kann es gelingen, dass sich die Schülerinnen und Schüler sprachlich verständlich zu Musik und deren Wirkung auf die Emotionalität des Hörers oder sich selbst äussern können, ohne in die Falle des dualen Werturteils zu tappen («die Stelle/die Musik gefällt mir/gefällt mir nicht») oder bei einem mehr oder weniger fantasievollen Bildvergleich stehen zu bleiben («diese Stelle wirkt auf mich wie ein Glasregen»)? Ein hoher Anspruch, der hier an die Prüflinge gestellt wird.

Dieser Anspruch ist allerdings nicht aus der Luft, sondern aus den Lehrplänen gegriffen. Ein Beispiel aus Deutschland: «Der unersetzbare Beitrag des Faches Musik zu Bildung besteht darin, den Schülerinnen und Schülern sowohl kreative Gestaltungsmöglichkeiten, emotionales Erleben und künstlerische Erfahrungen mit Musik zu ermöglichen als auch Musik-Verstehen und rationale Argumentation zu vermitteln.»1 Ein zweites Beispiel stammt aus der Schweiz: «Das Grundlagenfach Musik − bestehend aus den Fächern Musik und Instrumentalunterricht – legt besonderen Wert auf eine ausgewogene Bildung von Kopf (intellektuelle Kompetenz), Herz (emotionale Kompetenz) und Hand (handelnde und umsetzende Kompetenz) und fördert sie in ganzheitlicher Weise.»2

Der Musikunterricht bewegt sich also quasi in einem Spannungsfeld zwischen intellektuell-kognitiven Anforderungen, emotionalem Erlebenlassen und praktischem Singen und Musizieren.3 Die Lehrperson steht bei der Unterrichtsplanung und selbst während des Unterrichts ständig vor der Entscheidung, wie viel Zeit und Zuwendung sie den jeweiligen Bereichen zukommen soll.

1.1Musikunterricht im Dilemma

Ist das Ziel des Musikunterrichts im Gymnasium, auf ein Musikstudium vorzubereiten, oder soll mit der Maturität eine integrale Hochschulreife erreicht werden, die nicht auf eine spezifische Studienrichtung fokussiert ist? Das Dilemma zwischen diesen beiden Ansprüchen manifestiert sich im Unterrichtsalltag. Sollen die Lektionen im Fach Musik am Gymnasium so gestaltet werden, dass sie von den kognitiv geforderten Gymnasiastinnen und Gymnasiasten als willkommene Abwechslung empfunden werden, weil die praktischen Aspekte des Fachs, also singen, musizieren, Musik hören, im Vordergrund stehen? Oder sollen praktische Aspekte aus dem regulären Unterricht in den Fakultativbereich verlagert werden, damit sich die Gymnasiastinnen und Gymnasiasten gründlich den theoretischen, historischen und ästhetischen Aspekten der Musik vom frühen Mittelalter bis zum 20. Jahrhundert widmen können? Soll das Fach als Ausgleich zu den kognitiven Grundlagenfächern gestaltet werden, ist es Teil dieser kognitiven Fächer oder dient es, vor allem als Schwerpunktfach, der Ausbildung von zukünftigen Berufsmusikerinnen und -musikern?

Mein Klavierlehrer oder was schwierig ist

Als ich mich eines Nachmittags in der Klavierstunde darüber beklagte, das neue Stück sei viel zu schwierig für mich, widersprach mein Klavierlehrer, in dem er sagte: «Alles, was man nicht kann, ist schwierig. Wenn man es kann, ist es leicht.» Die zur Diskussion stehende Invention von Bach war damals also leicht für meinen Klavierlehrer, aber schwierig für mich. Schwierigkeit ist somit nicht eine Eigenschaft der Aufgabe, sondern zeigt sich erst in der Beziehung zur Person, welche sich der Aufgabe annimmt.

Ich habe damals die Bachinvention übrigens geübt und einstudiert. Sie ist für mich noch immer nicht leicht geworden.

Auch Schülerinnen und Schüler stellen sich, wenn sie im Musikunterricht schwierige Aufgaben lösen müssen, manchmal die Frage, wozu es den Musikunterricht am Gymnasium überhaupt braucht, sie wollen ja nicht Berufsmusiker werden. Diese Frage ist durchaus berechtigt, denn der Musikunterricht am Gymnasium ist nicht auf zukünftige Berufsmusikerinnen und -musiker ausgerichtet, sondern auf zukünftige Juristinnen, Ärzte, Theologen, Historikerinnen und als Teil der gymnasialen Allgemeinbildung zu verstehen. Das jedenfalls ist die Sichtweise der Konzeption des gymnasialen Bildungsgangs.

Das Dilemma wird auf struktureller Ebene generiert. Weil nämlich die angehenden Berufsmusikerinnen und -musiker in Fachhochschulen und somit auf der Tertiärstufe ausgebildet werden, aber keine vorbereitenden Institutionen auf der Sekundarstufe II existieren. Mangels einer vorbereitenden Allgemeinbildung auf Sekundarstufe II für die angehende Berufsmusikerinnen und Berufsmusiker absolvieren diese das Gymnasium mit dem Schwerpunktfach Musik. Es könnte also sein, dass musikalisch Begabte (auch jene mit weniger Talent zu Mathematik, Naturwissenschaften und Sprachen) das Gymnasium mit Schwerpunktfach Musik wählen, vielleicht mit der anfänglichen Idee, nach der Matura Musik zu studieren. Daraus leitet sich die Forderung ab, der Unterricht (in Musik, aber auch in anderen Fächern) sei entsprechend zu konzipieren und zu gestalten. Das Gymnasium soll aber weder auf ein bestimmtes universitäres Fachstudium vorbereiten (dies wäre in diesem Fall das Studium in Musikwissenschaften), noch auf ein praktisch ausgerichtetes Studium an einer Fachhochschule.4

Im schweizerischen Bildungssystem sind die Fachmittelschulen als Vorbereitung für die als Fachhochschulen legitimierten Tertiärinstitutionen zur Berufsmusikerausbildung zuständig: «Die Fachmittelschule (ehemals Diplommittelschule) bereitet Jugendliche auf weiterführende Ausbildungen an Höheren Fachschulen vor.»5

Wenn nun aber keine solche Fachmittelschule zur Verfügung steht?6

Dann akzentuiert sich das Dilemma. Der Bericht der EDK zur Situation des Gymnasiums weist darauf hin, dass für einzelne Fachbereiche der Fachhochschulen, darunter auch für Musik «die gymnasiale Matura mit einem Anteil von 40 und 50 Prozent (…) der Hauptzugang»7 darstellt.

Der Mangel an alternativen Bildungsgängen für Schülerinnen und Schüler mit dem Ziel, ein Studium in den oben genannten Fachbereichen aufzunehmen, führt dazu, dass diese Schülerinnen und Schüler einen gymnasialen Bildungsgang einschlagen, ohne dass sie beabsichtigen, nach ihrem Abschluss ein universitäres Hochschulstudium aufzunehmen. Diese Schülerinnen und Schüler haben verständlicherweise die Erwartung, dass das Fach Musik am Gymnasium ihnen als Vorbereitung auf ein Musikstudium diene; was in mindestens einem Fall auch so beworben wird.8

Das Dilemma ist nicht neu, sondern bekannt. Schon 2010 fragte die Zürcher Analyse zu Studierfähigkeit und Hochschulreife, «welche Rolle das musische Profil als Vorbereitung für ein Musikstudium spielt, spielen könnte oder spielen sollte»9. Wie die Umfrage von Blanchard und Huber aus dem Jahr 2014 unter Lehrpersonen an Gymnasien zeigte10, sahen sich diese selbst im Spannungsfeld. Sollen sie sich als «Künstler und Musiker, welche in Klassen unterrichten» oder als «Gymnasiallehrerinnen, mit Fachgebiet Musik» verstehen?

Wie geht die Praxis mit diesem bekannten und beschriebenen Dilemma um? Wie können Gymnasiastinnen und Gymnasiasten, die Musik belegen, die Bildungsziele, die die Gesellschaft formuliert, erreichen? Dieses Buch hält darauf mögliche Antworten bereit.

1.2Macht Musik am Gymnasium studierunfähig?

Die Ergebnisse von EVAMAR II lassen Zweifel daran aufkommen, ob die gymnasialen Bildungsziele erreicht werden. Diese mit 3800 getesteten Maturandinnen und Maturanden aus der ganzen Schweiz gross angelegte Studie11 prüfte Kenntnisse der Erstsprache, Mathematik, Biologie und die überfachliche Studierfähigkeit.

«Zwischen den Schwerpunktfachgruppen gibt es erhebliche Unterschiede bei den Testergebnissen. Erwartungsgemäss schneiden die Schülerinnen und Schüler mit dem Schwerpunktfach ‹Physik und Anwendungen der Mathematik› in Mathematik am besten ab, diejenigen mit Schwerpunktfach ‹Biologie und Chemie› in Biologie. Die Schwerpunktfachgruppe ‹Alte Sprachen› erreichte überall gute Resultate (die besten in Erstsprache), während die Schwerpunktfachgruppen ‹Musik› und ‹Bildnerisches Gestalten› sowie ‹Philosophie, Pädagogik, Psychologie (PPP)› (hier mit Ausnahme des Testergebnisses in Erstsprache) generell weniger gut abschnitten.»12

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| Abb. 1 | Ergebnisse EVAMAR II nach Schwerpunktfächern (Punktzahlen in der Ordinate)13

Es ist bemerkenswert, dass die Schwerpunktfachgruppe ‹Musik› im Erstsprachentest schlechter abschneidet als ‹Physik und Anwendungen der Mathematik› und ‹Philosophie, Pädagogik, Psychologie (PPP)›.

Die schweizerische Studie EVAMAR II14 lässt also die Möglichkeit offen, dass Schülerinnen und Schüler mit Schwerpunktfach Musik nicht die gleichen Chancen zur Kompetenzentwicklung gehabt haben könnten, wie die Schülerinnen und Schüler anderer Schwerpunktfächer. Aufgrund der Ergebnisse könnte man den Eindruck erhalten, nicht alle Schwerpunktfächer würden gleichermassen zu den Kompetenzen in Erstsprache, Mathematik und Biologie beitragen, insbesondere das Schwerpunktfach Musik möglicherweise eher nicht. Im Schlussbericht PGYM zuhanden der EDK werden für Schülerinnen und Schüler mit den Schwerpunktfächern Pädagogik-Psychologie-Philosophie (PPP), Musik und Bildnerischem Gestalten tiefere Anforderungen im gymnasialen Unterricht vermutet:

«Aufgrund der Ergebnisse muss man zum Schluss kommen, dass nicht alle Schwerpunktfächergruppen dieselben hohen Anforderungen in Bezug auf die drei untersuchten Fächer stellen, was die deutlichen Unterschiede in den Testergebnissen bei den beiden Kernfächern erklärt.»15

Es wäre allerdings ebenso möglich, dass die Anforderungen des gymnasialen Unterrichts zwar mit anderen Schwerpunktfachgruppen vergleichbar hoch waren, aber die Leistungsfähigkeit der Schülerinnen und Schüler relativ zu anderen Schwerpunktfachgruppen sich im Vergleichstest als tiefer erweisen. Jedenfalls sollen mit dem Schwerpunkt Musik im Gymnasium nicht nur musikalische Menschen noch musikalischer, sondern hochschulreif werden. Auch wenn Musik zwar nicht klug macht16, so könnte es sein, dass Kluge Musik machen und dadurch klüger werden können. Ziel des gymnasialen Bildungsgangs ist es, diese Erkenntnis angemessen umzusetzen, damit der Bildungserfolg der Absolventinnen und Absolventen grösser wird. Solange Musik ein Promotionsfach oder ein Schwerpunktfach ist, besteht die Aufgabe darin, zur Erreichung der allgemeinen universitären Hochschulreife beizutragen. Damit rücken folgende Fragen in den Fokus:

Wie können mit dem Fach Musik die gymnasialen Bildungsziele erreicht werden?

Welche Elemente von Musikunterricht tragen dazu bei?

1.3Aufbau des Buches

Im Rahmen meiner Dissertation habe ich einige determinierende Parameter von Musikunterricht an Gymnasien, Lehrpläne, Lehrmittel und Abschlussprüfungen, untersucht und in diesem Spannungsfeld verorten können. Dieses Buch ist aus diesen Erkenntnissen entstanden, ich habe es angereichert mit Beispielen aus meinem Berufsalltag. Dieses Sachbuch erhebt keinen wissenschaftlichen Anspruch, aber beinhaltet wissenschaftlich und empirisch abgestützte Aussagen. Die Leitfragen sind:

Wie können mit dem Fach Musik die gymnasialen Bildungsziele erreicht werden?

Welche Elemente von Musikunterricht tragen dazu bei?

Wie kann man in der Praxis mit dem eingangs beschriebenen strukturellen Dilemma umgehen?

Diese Kästen dienen dazu,

Randnotizen, Anektoten oder Beispiele aus meinem (Berufs-)Leben aufzunehmen, die ich für so bedeutsam halte, dass ich sie nicht in eine Fussnote verbannen möchte.

Die Ergebnisse und die Einschätzung von aktiven Lehrpersonen und ehemaligen Schülerinnen und Schülern des Gymnasiums werden in den ersten beiden Kapiteln dieses Buches vorgestellt und erläutert. Auf eine detaillierte Beschreibung der Untersuchung und Auswertung habe ich verzichtet, kurze theoretische Grundlagen finden sich im Anhang. Für eilige Leserinnen und Leser habe ich die Erkenntnisse der ersten beiden Kapitel an deren Ende zusammengefasst. Ihnen seien auch das Kapitel 4.3, Ein Unterrichtsmodell für den Musikunterricht (ab S. 113), und das abschliessende Fazit (ab S. 141) empfohlen.

Im vierten Kapitel stelle ich die Einschätzung der Qualität der Hochschulvorbereitung in Beziehung zum erlebten Musikunterricht und zeige zusammen mit Ansätzen anderer Autorinnen und Autoren Möglichkeiten auf, wie sich Musikunterricht am Gymnasium entwickeln könnte, um die Kompetenzen der Lernenden noch weiter zu erhöhen.

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Kapitel 2Musikunterricht mit Kopf, Herz oder Hand?

Gedanken einer sich auf die nächste Doppellektion vorbereitenden Musiklehrperson: «Wir sind mit der Musikgeschichte im Rückstand. Die Exposition einer Fuge erkennen noch nicht alle. Der Chorus des neuen Stücks sitzt, er sollte aber in der nächsten Doppelstunde mehrstimmig werden. Und für die Vorbereitung der praktischen Liedbegleitung sind mindestens 30 Minuten vorzusehen. Ich sollte mal wieder 120 statt 90 Minuten zur Verfügung haben. Was tun? Prioritäten setzen! Aber worauf kann denn nun verzichtet werden?!?»

 

Das Spannungsfeld zwischen Kopf, Herz und Hand, dem jeder Unterricht und alle daran Beteiligten ausgesetzt sind, habe ich in der vorangehenden Einleitung beschrieben. Findet Unterricht statt, so müssen sich die Lehrenden wie auch die Lernenden entscheiden, wie sie sich selbst in diesem Spannungsfeld verhalten und wie andere sich darin verhalten sollten. Lehrende wie Lernende sind sich aufgrund ihrer täglichen Erfahrung über dieses Spannungsfeld mehr oder weniger bewusst. Entsprechend interessant ist es, von den Protagonisten des Unterrichts zu erfahren, wie sie den Unterricht im Bezug auf die Kopf-Herz-Hand-Balance konzipieren, durchführen und erleben. Ich habe also sowohl ehemalige Schülerinnen und Schüler als auch Lehrpersonen befragt und die Ergebnisse so ausgewertet, dass sich die Aussagen zu einem Datenpunkt im visualisierten Spannungsfeld, einem Dreiecksdiagramm, verdichten lassen.

Dem Kopf-Herz-Hand-Spannungsfeld sind aber auch die Lehrpläne, die Lehrmittel und die (Abschluss-)Prüfungen ausgesetzt. Könnte man deren Positionierung auch in diesem Dreiecksdiagramm verorten und mit den Aussagen der Beteiligten vergleichen? Genau dazu mache ich nachfolgend einen Vorschlag.

2.1Dreiecksdiagramm

Mit Dreiecksdiagrammen wird im Folgenden die Positionierung von Lehrmitteln, Prüfungen und Lehrpläne im Spannungsfeld der drei Lernzielbereiche visualisiert. Diese Art der Darstellung eignet sich gut dazu, drei voneinander abhängige Parameter darzustellen. Dabei wird je ein Bereich einer Dreiecksseite zugeordnet, die Fläche des Dreiecks visualisiert das Spannungsfeld zwischen den drei Lernzielkategorien kognitiv (K), affektiv (A) und psychomotorisch (P). Die Seiten des Dreiecks dienen als Achsen, je mit einer Skala von 0−100 (%).17

Zur Illustration ist in Abbildung 2 das Lehrmittel Tonart abgebildet, das rund 58 Prozent kognitive, 37 Prozent affektive und 5 Prozent psychomotorische gewichtete Lernziele beinhaltet.

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| Abb. 2 | Dreiecksdiagramm Beispiel

Für die Lokalisierung eines Datenpunktes wird die Prozentzahl auf der jeweiligen Achse abgetragen und im Winkel von –120° eine Gerade gezogen. Der Datenpunkt liegt dann im Schnittpunkt dieser drei Geraden. Umgekehrt können die Anteile eines Datenpunktes auf der jeweiligen Achse abgelesen werden. Diese Darstellung erlaubt eine Visualisierung des Spannungsfeldes von kognitiven, affektiven und psychomotorischen Lernzielen, indem Lehrmittel, Prüfungen und Lehrpläne mit je einem Datenpunkt in diesem Dreieck dargestellt, positioniert und verglichen werden können.

2.2Studierende und Lehrpersonen im Spannungsfeld

Um eine Einschätzung der Befragten über die Positionierung des von ihnen erlebten Musikunterrichts im Spannungsfeld von praktischmusikalischen Tätigkeiten, kognitiven Anforderungen und emotionalem Erleben zu erhalten, habe ich die Studierenden nach der Häufigkeit und der Qualitätstiefe dieser drei Aspekte im von ihnen erlebten Musikunterricht befragt. Damit sich die Befragten besser vorstellen konnten, was ich mit den im Fragebogen verwendeten Begriffen meinte, habe ich dem Feld zum Ankreuzen der Antworten folgende Beispiele vorangestellt:

kognitive Tätigkeit: Pro- und Kontra-Argumente sammeln

affektive Tätigkeit: Befindlichkeit einer Figur eines Stummfilms beschreiben

psychomotorische Tätigkeit: Bewegungsablauf beim Korbwurf im Basketball üben

Da deutlich weniger Lehrpersonen als Studierende an der Umfrage teilgenommen haben, erhalten die einzelnen Antworten der Lehrpersonen ein viel höheres Gewicht. Daraus folgt, dass die Ergebnisse mit Vorsicht zu interpretieren sind und sich die nachfolgenden Aussagen nicht für die gesamte deutschsprachige gymnasiale Bildungswelt verallgemeinern lassen.

341 Studierende haben diese Fragen beantwortet, die Verteilung der Anteile ist im Trend identisch, unabhängig davon, ob im Fach Musik eine Maturitätsprüfung abgelegt wurde oder nicht. Die Position im Dreiecksdiagramm habe ich nach Herkunftskantonen differenziert. Die Fallzahlen sind eigentlich nur für die Kantone Bern (n = 149) und Luzern (n = 45) gross genug. Die relativ kleinen Fallzahlen und die Umrechnung in ein dreiecksdiagramm-fähiges Format18 mahnen zur vorsichtigen Auslegung der Grafik hinsichtlich der Herkunftskantone der Befragten.

Ein kleiner Unterschied im Erleben des Musikunterrichts von Studierenden, welche eine Maturprüfung in Musik abgelegt haben (Musik also im Schwerpunktfach oder Ergänzungsfach belegten) im Vergleich zu jenen, welche zwar Musik im Grundlagenfach besuchten, aber keine Prüfung ablegten, zeigt sich im Dreiecksdiagramm: Die Studierenden mit Prüfung haben ihren Unterricht bei gleichen kognitiven Anteilen als weniger psychomotorisch und dafür als kognitiver und affektiver erlebt.

Auffallend ist, dass die wenigen Lehrpersonen (n = 22), welche diese Frage beantwortet haben, im Mittel einen praktisch ausgeglichenen Musikunterricht realisieren (der schwarze Punkt kennzeichnet den Mittelpunkt, der violette Punkt die Einschätzung der Lehrpersonen).

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| Abb. 3 | Dreiecksdiagramm LP und SuS (SuS nach Kantonen und mit/ohne Prüfung)

Die Positionierung des Musikunterrichtes in der Wahrnehmung der Studierenden zeigt einen klaren Trend zur rechten unteren Ecke, der Unterricht wurde als vorwiegend praktisch erlebt, mit vergleichsweise deutlich geringeren affektiven und kognitiven Anteilen.

Im Rahmen des Fragebogens habe ich darauf verzichtet, das Konzept der Lernzieltaxonomie19 einzuführen, auf dem das Kategoriensystem der Inhaltsanalyse basiert. Um nicht auf eine Einschätzung des Qualitätsniveaus der drei Aspekte verzichten zu müssen, habe ich mir mit einer endpunktbenannten sechsteiligen Skala beholfen. Im Ergebnis schätzen die Befragten die Qualität des Musikunterrichtes weder als «sehr tief» oder «tief» noch als «sehr hoch» ein. Den höchsten Anteil an «sehr hoher» und «hoher» Qualität hat der psychomotorische Aspekt. Offenbar gelang es den Musiklehrpersonen sehr gut, praktische Aspekte mit den Klassen zu üben. Demgegenüber scheinen die Lehrpersonen affektive und kognitive Aspekte weniger erfolgreich unterrichtet zu haben, die entsprechenden Anteile sinken von der Qualität «eher hoch» (Stufe 4) bis «sehr hoch» steil ab (kognitive Aspekte um etwa Faktor 4, affektive Aspekte um etwa Faktor 3).

Die Auswertung dieser beiden Fragen führt zur Erkenntnis, dass zum einen der Musikunterricht hauptsächlich von psychomotorischpraktischen und affektiv-emotionalen Aspekten geprägt ist und der psychomotorisch-praktische Aspekt nach Einschätzung der befragten Studierenden qualitativ am besten unterrichtet wird. Das qualitative Niveau kognitiver Aspekte wird vergleichsweise etwas tiefer als bei psychomotorisch-praktischen Aspekten eingeschätzt.

Die Studierenden haben ihren Musikunterricht also stärker von praktischen und weniger von kognitiv geprägten Aktivitäten in Erinnerung, als dies von den Lehrplänen her intendiert ist. Bei den affektiven Anteilen gibt es keine Differenz, die Anteile bewegen sich sowohl bei den Lehrplänen als auch in der Einschätzung der Studierenden im Bereich von 10−30 Prozent.

2.3Inhaltsanalyse und Kategoriensystem

Im vorangehenden Kapitel haben wir gesehen, dass Lehrpersonen ihren Unterricht bezüglich der affektiven, kognitiven und praktischen (psychomotorischen) Lernziele als äusserst ausglichen betrachten, während die ehemaligen Schülerinnen und Schüler ihn als praktisch dominiert erlebt haben, mit deutlich kleineren Anteilen an kognitiven und affektiven Inhalten.

Anhand einer qualitativen Inhaltsanalyse20 von Lehrplänen wollte ich klären, wie die Gewichtung der drei Lernzielkategorien von Musikunterricht an deutschsprachigen Gymnasien gemäss dieser Planungsvorgabe intendiert ist. Mit der methodisch identischen Untersuchung der Abschlussprüfungen und der dazugehörenden Reglemente wollte ich abschätzen, inwieweit die Anforderungen der Prüfungen den Intentionen der Lehrpläne entsprechen. Die Analyse der Lehrmittel schliesslich sollte deren Beitrag in der Erreichung der Lernziele und damit deren praktischen Nutzen zeigen.

Untersucht wurden die Lehrpläne aus vier Kantonen der Schweiz (Aarau, Bern, Luzern, St. Gallen) und fünf deutschen Bundesländern (Baden-Württemberg, Bayern, Nordrhein-Westfalen, Mecklenburg-Vorpommern, Saarland) und die Abschlussprüfungen von Schulen aus diesen Regionen. In allen Kantonen der Schweiz wird das Fach Musik an der Maturaprüfung sowohl schriftlich als auch mündlich geprüft, wobei die mündliche Prüfung nebst Gehörbildung (Solfège) häufig ein Instrumentalstück oder einen Gesangsvortrag beinhaltet. In Deutschland wird die schriftliche Prüfung in einen fachtheoretischen und fachpraktischen Teil differenziert; wobei mit «fachpraktisch» bei der Musikprüfung das vorbereitete Instrumentalspiel bzw. der Gesangsvortrag gemeint ist. Die Unterschiede führen dazu, dass die quantifizierten Aussagen nur relativ und nicht absolut gelten können. Ebenfalls untersucht habe ich fünf bekannte und aktuell im Musikunterricht von Gymnasien verbreitete, integrale Lehrmittel aus dem deutschen Sprachraum. Als «integral» bezeichne ich ein Lehrmittel dann, wenn damit inhaltlich alle Bereiche des Musikunterrichts mehr oder weniger umfangreich abgedeckt werden können. Selbstverständlich gibt es viele weitere Lehrmittel, welche aber jeweils auf Teilaspekte des Musikunterrichtes fokussieren und die ich nicht weiter betrachtet habe. Untersucht wurden folgende Lehrmittel:

Musik Sekundarstufe 221

Musik um uns22

Soundcheck23

Spielpläne24

Tonart25

Für die Untersuchung habe ich ein Kategoriensystem gebildet, das sich zum einen an den Taxonomiestufen nach Bloom (Taxonomy of educational Objectives, kurz TEO)26, 27, zum anderen an fachspezifischen Bereichen orientiert.

| Tab. 1 | Kategoriensystem im Überblick

Kategorien/Bereiche (TEO)

Ausprägungen/Stufen (TEO)

Dimensionen (Fachspezifisch)

Kognitiv (K)

1 Kennen/Wissen

Musikgeschichte

2 Verstehen

Theorie/Analyse

3 Anwenden

Musikalisch ausdrücken

4 Analysieren

Sprachlich ausdrücken

5 Synthetisieren

Andere

6 Evaluieren

Affektiv (A)

1Aufnehmen

Akustisch-musikalisch

2Reagieren

Optisch-bildnerisch

3Wertung

Sprachlich

4Wertordnung

Kombination verschiedener Sinne

5Bestimmt sein durch Werte

Kombination verschiedener Sinne

Psychomotorisch (P)

1Imitation

Individuelles oder kollektives instrumentales Musizieren

2Manipulation

Individuelles oder kollektives Singen

3Präzision

Weitere

4Handlungsgliederung

5Internalisierung

 

 

 

Wenn eine Aufgabe beispielsweise lautet «Definieren Sie Metrum», so wird diese der kognitiven Kategorie, der Dimension Theorie/Analyse und der Ausprägung Kennen/Wissen zugeordnet und mit einem Kode versehen. Die Kodes wurden zur Auswertung digitalisiert und in Auswertungsfenstern für jede Kategorie, Ausprägung und Dimension ausgezählt. Um relative Werte berechnen zu können, bildet die Summe aller vergebenen Kodierungen die 100-Prozent-Basis.

Freilich sind nicht nur die Anteile an kognitiven, affektiven und praktischen (psychomotorischen) Lernzielen von Interesse, es sollen auch Aussagen über die TEO-Stufen und damit über das (Anspruchs-) Niveau gemacht werden können. Diesem Zweck dienen die Darstellungen, welche den Anteil der ersten Stufe darstellen («Vergleich der Trivialität») und jene, welche die oberen Stufen (3 oder höher) zusammenfassen («Vergleich der Meisterschaft»).