Die Autorin

Kate Dakota – Foto © Privat

Kate Dakota wurde 1968 in Rheine/Nordrhein-Westfalen geboren. Aufgewachsen ist die unter einem Pseudonym schreibende Autorin in einem kleinen Ort im südlichen Emsland in Niedersachsen, als jüngstes von sieben Kindern. Dort lebt sie noch heute. Mit dreiundzwanzig Jahren entdeckte sie ihre Leidenschaft für Genealogie sowie für die orts- und regionalgeschichtliche Forschung. Fast zeitgleich regte sich auch eine andere Passion, nämlich die des Schreibens. Von 1995 bis 1997 absolvierte sie ein Autorenstudium an der Fernuniversität Hamburg. 1998 erfolgte unter ihrem richtigen Namen ihre erste Buchveröffentlichung zu einem regionalhistorischen Thema, der weitere Publikationen folgten. Daraufhin wurde auch ihr Wunsch, fiktive Geschichten zu schreiben, immer größer. Im Februar 2014 schließlich veröffentlichte sie ihren ersten Roman.

Das Buch

Als Kind hat sie in New York in einem Moment alles verloren. Kann sie die Vergangenheit hinter sich lassen und der Liebe eine Chance geben?

Emma kehrt in die Stadt zurück, aus der sie nach einer Tragödie als Kind geflohen war. New York City. Hier besucht die Dolmetscherin im Rahmen einer Weiterbildung eine Sprachschule. Ein Angebot für einen Nebenjob kommt ihr gerade recht: Emma soll neben ihrem Studium Touristen auf Rundflügen über New York betreuen. Als sie dabei den Piloten Floyd kennenlernt, ist es Abneigung auf den ersten Blick. Denn der attraktive Mann wirkt arrogant und überheblich auf sie. Doch aus der Zusammenarbeit entsteht nach und nach eine Freundschaft und die beiden kommen sich sogar näher. Doch plötzlich stößt Emma Floyd von sich und die Narben der Vergangenheit brechen wieder auf …

Von Kate Dakota sind bei Forever by Ullstein erschienen:
Tage mit dir
Für dich bis ans Ende der Welt
Weil mein Herz sich nach dir sehnt
Der Klang eines Augenblicks
Eine Liebe in Manhattan

Kate Dakota

Eine Liebe in Manhattan

Roman

Forever by Ullstein
forever.ullstein.de

Originalausgabe bei Forever
Forever ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
Februar 2019 (2)

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2019
Umschlaggestaltung:
zero-media.net, München
Titelabbildung: © FinePic®
Autorenfoto: © privat
E-Book powered by pepyrus.com

ISBN 978-3-95818-391-9

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Prolog


Mein Arm tut weh. So weh, dass ich weinen muss. Mommy kümmert sich nicht darum. Sie zieht mich weiter hinter sich her. Wir rennen. Immer schneller, sodass ich stolpere und fast hinfalle. Doch auch das scheint Mommy egal zu sein.

Was ist nur los? Sie hat gesagt, dass ich keine Angst haben muss. Doch ich habe Angst. Mommy ist anders als sonst, seitdem wir Daddy gesehen haben. Nur aus der Ferne, aber er war es. Er hat gelacht. Das hat er lange nicht mehr getan. Sonst ist er immer traurig. So furchtbar traurig.

Darum war es schön, ihn so glücklich zu sehen, Mommy aber ist wütend geworden. Sie hat geschimpft. Hat Dinge gesagt, die ich nicht begreife, und viele böse Worte, die ich nie benutzen darf. Wir fahren nach Hause, hat sie gemeint. Sofort. Um unsere Koffer zu packen. Das habe ich auch nicht verstanden. Wir waren doch gerade erst in den Ferien. Bei Oma und Opa in Deutschland. Schön war’s dort. Wollen wir etwa wieder zu ihnen? Ich konnte Mommy nicht fragen, denn plötzlich gab es einen Knall über uns, und als ich nach oben sah, war da ein riesiger Feuerball.

Mommy und ich haben uns furchtbar erschreckt. Sie hat mich in den Arm genommen und gesagt, dass ein schreckliches Unglück passiert ist, aber dass ich mich nicht fürchten muss. Was ist ein Unglück? Das Wort kenne ich nicht. Ich konnte Mommy wieder nicht fragen, denn sie meinte, dass wir losmüssen. Dabei hätte ich mir den Feuerball gerne noch länger angeschaut. So, wie alle anderen es auch getan haben. Mommy hat das nicht zugelassen. Sie hat mich an die Hand genommen, und wir haben uns auf den Weg zur U-Bahn-Station gemacht. Überall standen Leute und starrten in den Himmel. Sie versperrten uns den Weg, und wir kamen nur langsam voran. Als wir die Station fast erreicht hatten, knallte es noch mal. Plötzlich rannten alle los. Wir auch. Weg von hier, hat Mommy geschrien. Bloß weg von hier!

Jetzt tut nicht nur mein Arm weh, ich bekomme auch keine Luft mehr. »Nicht so schnell, Mommy«, jammere ich. »Ich kann nicht mehr.«

»Du musst durchhalten, Liebes!«, ruft sie. »Wir haben es gleich geschafft.«

»Was ist mit Bella?«, will ich plötzlich wissen. »Sie wartet doch im Battery Park auf uns.«

»Liebes, ich habe jetzt wirklich keinen Kopf für die Nanny. Bella wird schon alleine nach Hause finden.«

Also hasten wir weiter. Die Stufen hinunter und durch einen langen dunklen Gang, in dem es muffig riecht. Wir müssen durch ein Drehkreuz, oder? Aber da ist keins. Oder habe ich es nur nicht bemerkt? Es sind so viele Menschen hier unten. Sie drängeln und schieben uns in Richtung Bahnsteig.

Mommy meint, dass weiter vorne mehr Platz ist. Sie zerrt wieder an meinem Arm, aber ich will nicht. Der Weg dahin ist schmal und nah an den Gleisen. Ich fürchte mich so sehr. Mommy gibt nicht nach. Sie schreit mich an, ist böse mit mir. Das will ich nicht. Mommy soll nicht böse auf mich sein. »Ist gut, ich komm ja schon«, rufe ich und schlucke meine Angst hinunter. Wir drängen nach vorne, immer ganz nah an der Bahnsteigkante. Ich versuche nicht darüber nachzudenken und bete, dass ich nicht wieder stolpere.

Das tue ich auch nicht. Diesmal ist es Mommy. Alles geht so schnell. Sie wankt, und als sie fällt, lässt sie meine Hand los. Ich schreie. Dann kommt der Zug …


Ruckartig setze ich mich im Bett auf und fasse an meinen Hals. Drücke panisch gegen die Kehle und sacke vollkommen erschöpft in mich zusammen, als die Blockade sich nach einer gefühlten Ewigkeit endlich löst und ich wieder frei atmen kann. Es ist immer dasselbe, wenn ich schlecht träume. Diesen grausamen Albtraum, der mich regelmäßig heimsucht und mich an den schwärzesten Tag meines Lebens zurückversetzt. In dem ich alles noch einmal durchmachen muss. So real, als würde es wirklich gerade passieren. Ich sehe das Gleiche wie damals, fühle das Gleiche. In seiner ganzen Brutalität. Erleide Höllenqualen, die kaum zu ertragen sind. Bis mein Unterbewusstsein mir zu Hilfe eilt und meinen Atem stocken lässt. Der Mangel an Sauerstoff reißt mich schließlich aus dem Schlaf und erlöst mich von meiner Pein. So ist es jedes Mal. Seit über siebzehn Jahren.

Ich fasse an mein Schlafshirt. Es ist schweißdurchtränkt, und ich stehe auf, um mir ein frisches aus dem Schrank zu holen. Bevor ich es anziehe, möchte ich mich waschen. Darum verlasse ich leise mein Zimmer, damit ich Opa nicht wecke. Er würde sofort wissen, dass ich wieder schlecht geträumt habe. Und er würde sich Sorgen machen, was ich ihm absolut nicht verdenken kann.

Durch den schmalen Flur schleiche ich mich ins Bad. Als ich meine Hände unter den Hahn halte und kühles Wasser über sie fließen lasse, sehe ich, dass sie zittern. Wie alles an mir zittert. Ich versuche, mir die Worte meiner Therapeutin ins Gedächtnis zu rufen. Ruhig weiteratmen und den Schmerz aushalten! Ich schließe die Augen und öffne sie gleich wieder, weil die Bilder, die in meinem Kopf herumspuken, eine Fortsetzung meines Albtraums sind. Unerträglich für mich. Trotzdem gelingt es mir, die aufsteigende Panik zu unterdrücken. Allerdings auf meine Art, von der meine Therapeutin absolut nichts hält. Ich verdränge, was geschehen ist. Lasse es nicht mehr an mich heran. Rede mir ein, dass es nie passiert sei. Es kostet mich meine ganze Kraft, aber es wirkt, und allmählich werde ich ruhiger. Natürlich weiß ich, dass meine Herangehensweise falsch ist. Doch solange sie mir hilft, die Gegenwart zu meistern, fühlt es sich richtig an.

Ich stöhne leise auf. Wie lange will ich mir noch etwas vormachen? Ich muss mich endlich von der Vergangenheit lösen. Aber ich will … ich kann diesen Schmerz nicht aushalten, wie meine Therapeutin es von mir verlangt. Es würde mich zerstören. Warum begreift sie das nicht? Meine Dämonen würden nicht nur in meine Träume einfallen, sie würden meinen Alltag, mein ganzes Leben vergiften. Mich in den Abgrund ziehen. So, wie sie es schon mal getan haben. Das darf nicht wieder passieren. Es wäre mein Untergang. Darum verdränge ich den Schmerz lieber, kapsele mich ab.

Niedergeschlagen setze ich mich auf den Rand der Badewanne. Zu allem Übel knurrt mein Magen, und mir ist schlecht vor Hunger. Kein Wunder, ich habe den ganzen Tag über kaum etwas gegessen. Wie auch die Tage und Wochen zuvor. Dafür habe ich Nacht für Nacht den Kühlschrank geplündert. So werde ich die letzten zehn Kilo, die ich noch zu viel auf den Rippen habe, nie los. Was allerdings mein kleineres Problem ist. Ich weiß, dass ich definitiv etwas gegen dieses Übergewicht unternehmen kann, wenn ich es nur ernsthaft will. Aber was ist mit meiner angeknacksten Psyche? Okay, das ist untertrieben, sie ist nicht nur angeknackst, es ist schlimmer. Seit damals klafft ein riesiges schwarzes Loch in meiner Seele. Werde ich es jemals stopfen können?

Leider sieht es nicht so aus. In den letzten Jahren habe ich gewaltige Fortschritte gemacht, aber im Moment fühlt es sich an, als wenn es nicht weiterginge. Als wenn ich mich damit abfinden muss, dass ich nie wieder ganz gesund werde. Dabei habe ich es Oma, kurz bevor sie starb, versprochen. Eine dumpfe Traurigkeit durchflutet mich, weil sie mir so sehr fehlt. Vier Jahre lang vermisse ich sie nun schon. Doch wenn ich tief in mich hineinhorche, höre ich ihre warme Stimme, die mir Mut macht und die mir Kraft gibt. Plötzlich weiß ich, dass ich es schaffen werde. Ich muss es einfach. Für Oma und auch für Opa. Er hat doch nur noch mich. Ja, verdammt, ich werde mich meinen Dämonen stellen. Das bin ich den beiden schuldig.

Noch während ich darüber grübele, wie ich es anstellen soll, kommen andere Erinnerungen in mir hoch. Gute Erinnerungen. Auch wenn ich keine Ahnung habe, warum ich gerade jetzt daran denken muss, wie Opa mir das Schwimmen beigebracht hat, als ich acht Jahre alt war. »Spring, mein Mädchen!«, hat er gerufen, als ich völlig verängstigt am Beckenrand in dem Hallenbad bei uns um die Ecke stand. »Du wirst sehen, dann geht es fast wie von allein!«

Ich habe es getan. Ich bin gesprungen. Auch wenn Opa ein bisschen geflunkert und es einiges mehr gebraucht hat, bis ich schwimmen konnte, war die Überwindung meiner Angst ein großer Schritt dahin. Der wichtigste überhaupt.

Als ich aufstehe und wieder ans Waschbecken trete, sehe ich im Spiegel meinen entschlossenen Blick, und als ich meine Hände erneut unter den kühlen Strahl des Wasserhahns halte, zittern sie nicht mehr. Weil ich jetzt weiß, was zu tun ist. Ich muss dorthin zurück, wo es geschehen ist. Ich muss zurück nach New York.

»Spring, Emma!«, flüstere ich. »Du musst springen, es ist der einzige Weg.«

1


Das Kaugummi in seinem Mund hatte längst den Pfefferminzgeschmack verloren und pappte zunehmend an seinen Zähnen, doch Floyd nahm das nicht wahr. Zu sehr war er damit beschäftigt, aus seinem Cockpit heraus die hübsche Blondine zu beobachten, die gerade von dem Kollegen des Bodenpersonals per Handzeichen die letzten Sicherheitsinstruktionen bekam. Das Mädchen war genau sein Typ, und wie es aussah, würde es beim nächsten Flug die einzige Passagierin an Bord seines Helikopters sein. Wenn das nicht eine Fügung des Schicksals war.

Seine Augen scannten ihre Körpermaße, und das Ergebnis kam dem fleischgewordenen Männertraum, zumindest seinem, sehr nahe. Große Brüste, schmale Taille, lange Beine. Dazu lange blonde Haare, die in der Frühlingssonne wie goldene Seide glänzten. Ihr Gesicht konnte er nur im Profil erkennen. Es schien ebenfalls nicht übel zu sein, aber das war für Floyd nicht mehr so wichtig. Ihre anderen »Argumente« hatten ihn längst überzeugt. Es kribbelte gewaltig in seinen Fingern und auch in anderen Regionen seines Körpers, was ihm deutlich machte, dass es mal wieder an der Zeit für eine Nummer war. Gut, die kurze, aber heftige Begegnung mit einer namenlosen Schönheit auf der Toilette seiner Lieblingsbar war erst zwei Tage her, aber was sollte er machen? Ein Mann in seinem Alter hatte nun mal Bedürfnisse, und die wollten befriedigt werden.

Er rollte mit den Augen, weil er plötzlich die Stimme seines Vaters im Ohr hatte, wie er über den angeblich widerlichen Jagdtrieb seines Sohnes lamentierte. Als ob sein alter Herr niemals jung gewesen wäre. Irgendwie war er das wohl auch nicht, denn er und Floyds Mum hatten sehr früh zueinander gefunden und quasi im Kindesalter geheiratet. Doch waren sie auch jetzt, nahezu drei Jahrzehnte später, immer noch miteinander glücklich. Was schön für sie war und natürlich auch für ihn, ihren Sohn. Dennoch konnte Floyd sich das für sich nicht vorstellen: eine längere Beziehung oder gar eine Ehe. Das hörte sich nach Langeweile pur an. Darauf hatte er absolut keine Lust. Lieber das Leben und die Liebe in vollen Zügen genießen.

Wieder hörte Floyd seinen Vater, wie er ihm erst gestern erneut eine Predigt gehalten hatte. »Das ist keine Liebe, sondern lediglich Sex. Oberflächlich und inhaltslos. Versuche es mal mit etwas Ernsthaftem! Heirate und werde Vater. Übernimm Verantwortung. Vielleicht bekommst du dann den Rest deines Lebens auch in den Griff.«

Floyd schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn, um die Stimme von Jeremy Taylor aus seinem Kopf zu vertreiben. Er wollte es nicht mehr hören. Warum konnte sein Vater nicht aufhören, bei jeder Gelegenheit den Finger in seine Wunden zu legen? Als wenn er nicht selbst wüsste, dass er eine einzige Enttäuschung für seinen alten Herrn war. Eben das genaue Gegenteil von …

Floyd schüttelte sich. »Schluss jetzt!«, murmelte er entschlossen. »Das Leben ist zu kurz, um es sich mit trüben Gedanken zu vermiesen. Konzentrier dich lieber auf den heißen Feger da.«

Als wenn sie ihn gehört hätte, drehte sich die Blondine in seine Richtung und winkte ihm kurz zu. Floyd lief ein angenehmer Schauer über den Rücken. Das Mädchen war wirklich scharf. Und er war auf dem besten Weg, es zu werden. Grinsend winkte er zurück. Plötzlich stutzte das Mädchen und zog aus der vorderen Tasche seines engen Jeansrocks ein Handy. Sie musste das Vibrieren des Gerätes bemerkt haben, denn draußen auf dem Start- und Landeplatz des Downtown Heliport am Pier 6 dröhnten die Motoren der stetig an- und abfliegenden Hubschrauber derart laut, dass man nichts anderes hören konnte. Auch sein Falke röhrte bereits kräftig mit in diesem Chor. Bereit, jede Sekunde in den blauen Himmel über Manhattan aufzusteigen. Es fehlte nur noch der Fluggast.

Das Mädchen sah auf das Display seines Telefons, drehte sich um und rannte zurück in die Halle des Kontrollzentrums. Floyd verzog das Gesicht. Verdammt, was sollte das denn jetzt? Er warf seinem Kollegen vom Bodenpersonal einen bösen Blick zu, hob die Hand und zeigte auf seine Armbanduhr. Der Kollege zuckte gleichgültig mit den Schultern. Das sagte Floyd alles.

Der Faktor Zeit spielte in dem Unternehmen seines Vaters eine wichtige Rolle. Alle Abläufe waren genau getaktet, um in möglichst kurzer Zeit möglichst viele Flüge mit möglichst vielen Touristen zu stemmen, wie Jeremy Taylor seinen Mitarbeitern zu jeder Zeit einbläute. Wenn also eine Passagierin einen Rundflug für sich allein buchte und sich dann auch noch die Freiheit herausnahm, die Abflugzeit eigenmächtig hinauszuzögern, dann musste eine Menge Geld geflossen sein. Wahrscheinlich handelte es sich bei der Dame um das verwöhnte Töchterchen eines Multimillionärs. Floyd verzog erneut das Gesicht, denn solche Kreaturen, die nie erwachsen wurden und sich mithilfe der Eltern durchs Leben schnorrten, waren ihm abgrundtief zuwider.

Aus seiner Kehle drang ein dunkles Grollen, und er fuhr sich wütend durch das dunkelblonde kurze Haar. Er selbst nahm zwar das Geld seines Vaters, aber immerhin arbeitete er dafür. Das hieß, wenn man ihn ließ. Ungeduldig riss er sich den Kopfhörer herunter, nur um ihn gleich wieder aufzusetzen. Denn just in diesem Moment erschien das Blondchen wieder auf der Bildfläche und stöckelte auf hohen Sandaletten, die Rettungsweste noch in der Hand, mit kurzen Schritten an der Seite des Kollegen zum Hubschrauber. Im Nu verflog Floyds schlechte Laune, denn die Knöpfe ihrer hellblauen Bluse, die sich bei jeder Bewegung über ihren prallen Brüsten spannten, hypnotisierten ihn nahezu. Zumindest stimmten sie ihn milde.

Der Kollege öffnete die Tür und half der jungen Frau beim Einsteigen und beim Anlegen der Rettungsweste, was Floyd die Gelegenheit gab, blitzschnell sein altes Kaugummi gegen ein neues auszutauschen. Hatte er doch vor, seinem Gast schon bald ziemlich nahe zu kommen, wozu ein frischer Atem zweifelsohne von Vorteil sein würde.

»Danke, Rick«, schrie er gegen den Motor seines Falken an. »Den Rest übernehme ich.«

Sein Kollege nickte und donnerte die Tür des Hubschraubers zu, was Floyd wegen der lauten Hintergrundgeräusche zwar nicht hören konnte, aber allein der Anblick bereitete ihm Schmerzen.

»Herrgott noch mal«, schimpfte er leise vor sich hin. »Wann begreift dieser Idiot endlich, dass das hier ein Hubschrauber und kein Traktor ist.«

Die Blondine, die neben ihm Platz genommen hatte, war wohl von seinem missmutigen Blick und seinen unverständlichen Worten irritiert. Sie sah ihn fragend an. Floyd lächelte, nahm aus einer Halterung vor ihr ein Headset und schob es vorsichtig auf ihren Kopf.

»Hallo«, sprach er in sein Mikrofon. »Können Sie mich hören, Miss?«

»Ja, kann ich«, erwiderte die Blondine, nachdem sie den Sitz des Kopfhörers noch etwas korrigiert hatte. »Was war denn los?«

»Wieso? Weil ich so grimmig geguckt habe? Das galt nicht Ihnen.«

»Dann sind Sie nicht böse, dass ich mich etwas verspätet habe?« Sie klimperte unschuldig mit den Wimpern, und sofort kribbelte es wieder bei Floyd.

»Ach was, die paar Minütchen lassen sich schon verschmerzen«, meinte er und musste sich selbst wundern, wie schnell seine Libido die Oberhand gewann. »Wollen wir dann?«

Sie nickte.

»Vorher muss ich Sie aber noch anschnallen.« Er beugte sich zu ihr und griff nach den Sicherheitsgurten, die er ihr geschickt anlegte. Er spürte ihren Blick auf sich ruhen und dass ihre Atmung sich beschleunigte. Sie reagierte auf ihn. Was auch sonst? Floyd kannte seine Wirkung auf Frauen sehr gut. Nichts funktionierte beim anderen Geschlecht besser als ein halbwegs gut aussehender Kerl in einer Uniform mit einem Fluggerät unterm Hintern, davon war er überzeugt. Selbst wenn seine dunkelblaue Hose und das strahlend weiße Hemd mit den Schulterklappen gar nicht Teil einer Uniform waren, weil Taylor Flights ein Privatunternehmen war, aber wen störte das schon? Für die Ladies gab es da keinen Unterschied.

Als der letzte Gurt geschlossen war, nahm Floyd seine Sonnenbrille ab und sah seiner Passagierin direkt in die Augen. »Fein, das hätten wir. Ich bin übrigens Floyd. Und Sie, meine Schöne? Haben Sie auch einen Namen?«

»Belinda«, erwiderte sie verlegen und wich seinem Blick aus.

Floyd grinste amüsiert. Wenn er eines noch schärfer fand als Blondinen, dann waren es schüchterne Blondinen. Ihr diese Schüchternheit zu nehmen, würde ihm ein Vergnügen sein.

Er richtete sich auf, schob die Sonnenbrille wieder auf die Nase und legte die Hand an den Steuerknüppel, der zum Führen des Helikopters unerlässlich war. »Also gut, Belinda, wir starten in Kürze. Wenn es ein Problem geben sollte, Ihnen schlecht oder schwindelig wird, dann sagen Sie es bitte sofort. Wir wollen doch, dass Sie sich wohlfühlen.« Floyd zwinkerte ihr zu, konzentrierte sich dann aber auf die Messinstrumente vor ihm und unterzog sie einem letzten Check. Als er damit durch war, legte er einen kleinen Schalter um und sprach in das Mikrofon seines Headset. »Flight Control, this is N123FT! Black Falcon 241 is ready to depart.« Nach wenigen Sekunden wurde ihm von der Flugkontrolle die Starterlaubnis erteilt. Unmittelbar danach hob der schwarze Hubschrauber, eine Bell 407 GPX, ab und stieg auf.

Es war für Floyd jedes Mal aufs Neue ein berauschendes Gefühl, wenn sein Falke sich aufmachte, die Lüfte zu erobern. So spielerisch leicht, als wäre er wirklich ein Vogel und nicht eine tonnenschwere Maschine aus Stahl und Blech. Floyd liebte das. Nicht nur, weil ihn die Technik faszinierte, sondern vor allem, weil er sich nirgendwo freier und glücklicher fühlte als in der Luft. Als wenn sich alle Probleme dort sprichwörtlich auflösen würden. Was sicher nicht so war, aber allein das Gefühl, dass es so sein könnte, wirkte wie ein heilendes Elixier auf ihn.

»Okay«, sagte er und sah Belinda an. »Sie haben die Grand Island Tour gebucht. Die dauert etwa fünfundzwanzig Minuten und führt uns am Rande der Downtown und der Uptown Manhattans entlang bis hoch zu den Washington Heights und zum Yankee Stadion in die Bronx. Auf dem Weg dahin werden Sie alle bedeutenden Sehenswürdigkeiten von Big Apple ausführlich bewundern können. Sie haben Glück. Das Wetter ist optimal, die Aussicht grandios.« Er bewegte den Steuerknüppel, und der Helikopter drehte eine ausgedehnte Runde über die Mündung des East River, in deren Mitte die Freiheitsstatue ihre Fackel in den blauen Himmel stemmte. Und das vor dem Hintergrund der imponierenden Skyline Manhattans. Floyd freute sich über Belindas große Augen und ihr begeistertes Staunen. Wobei ihn das nicht im Geringsten verwunderte, der Anblick war wirklich fantastisch und zutiefst beeindruckend. Er hatte ihn schon so oft genossen, und doch war es jedes Mal wieder erhebend.

Gleich neben Lady Liberty war Ellis Island zu sehen. Jener Ort, an dem sich lange Zeit Einwanderer untersuchen und registrieren lassen mussten, damit ihr Traum von einem Leben im Land der unbegrenzten Möglichkeiten wahr werden konnte. Ein Ort der Hoffnung, aber auch der Tränen, wie Floyd seiner Passagierin erklärte. Weil viele dieser armen Gestalten zurückgewiesen wurden und auf dem nächsten Schiff die Heimreise antreten mussten. Zurück in ein tristes Dasein ohne jede Zukunftsperspektive.

»Wir werden jetzt den Hudson River entlangfliegen. Auf der linken Seite liegt New Jersey, zu Ihrer Rechten Manhattan. Vieles werden Sie sicher von ganz allein erkennen, aber ich werde zur gegebenen Zeit immer wieder auf Sehenswertes hinweisen.«

»In Ordnung«, erwiderte die Blondine knapp.

Floyd kniff die Augen zusammen. Gesprächig war das Mädchen nicht gerade. Aber das wäre doch gelacht, wenn er sie nicht aus der Reserve locken könnte.

»Sind Sie auf Urlaub hier?«, fragte er unverblümt.

»Was?« Belinda schreckte auf. »Nein, ich studiere seit letztem Herbst Jura in New York.«

»Wow, Jura. Das wäre nichts für mich. Zu trocken.«

»Ist es nicht. Im Gegenteil, es ist sogar sehr spannend.«

»Ansichtssache. Und Sie gönnen sich diesen Rundflug, um Ihre neue Heimat ein wenig kennenzulernen?«

»Oh nein. Das war die Idee meiner Eltern. Wissen Sie, ich habe heute Geburtstag. Das ist ihr Geschenk. Zusammen mit dem hier.« Stolz zeigte sie auf ihren Armreif, der diamantenbesetzt war und sicher ein Vermögen gekostet hatte.

Sie war also wie vermutet ein reiches Töchterchen. Bevor Floyd das bitter aufstoßen konnte, fiel sein Blick auf ihren Ausschnitt und auf die spannenden Knöpfe, die er trotz der Rettungsweste sehen konnte. Er musste schlucken, und seine aufwallende Antipathie verpuffte im Nu.

»Sie haben Geburtstag?«, fragte er. »Herzlichen Glückwunsch.«

Belinda errötete. »Oh, danke, das ist nett.«

»Okay, dann frage ich das Geburtstagskind mal, ob es einen besonderen Wunsch hat. Vielleicht später noch mal eine Extrarunde über die Freiheitsstatue? Das hat Ihnen doch gefallen.«

Belinda nickte. »Das stimmt. Aber noch lieber würde ich das Empire State Building umrunden. Geht das vielleicht?«

Floyd schüttelte bedauernd den Kopf. »Tut mir leid, das ist nicht möglich. Wir dürfen über den East River und über den Hudson River fliegen, aber direkt über Manhattan, das darf man seit 9/11 nur mit einer Sondergenehmigung. Die haben wir für diesen Flug leider nicht.«

Belindas Enttäuschung war unübersehbar. Floyd hatte schon ein paar aufheiternde Worte auf der Zunge, doch genau in diesem Moment gab der oberste Knopf ihrer Bluse den Kampf auf und platzte ab. Was Belinda nicht bemerkte, jedenfalls reagierte sie nicht darauf.

Floyd hingegen hatte es nun mit einer weiteren wunderbaren Aussicht zu tun. Nämlich mit der in das atemberaubend tiefe Dekolleté der Blondine. Erneut musste er hart schlucken und sich zwingen, wieder nach vorne zu schauen.

»Wissen Sie was?«, stieß er plötzlich hervor. »Sie haben heute Geburtstag. Mal schauen, ob ich Ihnen Ihren Wunsch nicht doch erfüllen kann.« Erneut betätigte er den kleinen Hebel an der Konsole vor ihm. »Flight Control? Bitte kommen …«

2


Mit zerfurchter Stirn beäugte Emma die blinkenden, blau leuchtenden Zahlen, die sich nur widerwillig auf einen Wert einzustellen schienen. Einen Wert, der einmal mehr ihre Laune nicht unwesentlich beeinflusste. Und zwar zum Negativen.

»Wie bitte?«, murmelte sie angefressen. »Ein Pfund mehr als gestern? Mist!«

»Na, meine Kleine?«, erklang die Stimme von Siegfried Schmidt hinter ihr, der nahezu lautlos mit einem Koffer in der Hand ihr Zimmer betreten hatte. »Was guckst du denn so kritisch?«

»Das würdest du an meiner Stelle auch tun, Opa«, entgegnete Emma missmutig und zeigte auf die Waage unter ihren Füßen. »Ich kann machen, was ich will, mein Gewicht geht einfach nicht weiter runter. Und das, obwohl ich seit Ewigkeiten kaum etwas gegessen habe.«

»Stimmt, das hast du nicht!«, erwiderte ihr Großvater trocken. »Das heißt, wenn man mal von deinen nächtlichen Ausflügen zum Kühlschrank absieht. Heute Nacht mussten eine Tüte Chips und ein halbes Glas Bockwürstchen dran glauben, nicht wahr?«

Emma lief rot an. »Das hast du gemerkt?«, erwiderte sie peinlich berührt.

Der alte Mann stellte den Koffer auf dem Boden ab und setzte sich auf Emmas Bett. »Wenn du nicht willst, dass man es bemerkt, mein Mädchen, solltest du künftig die Spuren besser verwischen. Oder noch besser, hör endlich auf mit diesem schwachsinnigen Hungern, dann bekommst du auch keine nächtlichen Heißhungerattacken mehr.«

»Aber ich würde so gerne noch ein paar Kilo abnehmen«, murrte Emma trotzig, schob die Waage beiseite und ließ sich neben ihrem Großvater auf die Matratze fallen.

»Jetzt hör schon auf! Warum glaubst du immer, dass du zu dick bist? Das bist du nicht.«

»Oh doch, das bin ich. Sieh mich nur an! Mein zweiter Name könnte Wuchtbrumme sein.«

»Blödsinn. Ich bin froh, dass du so gesund aussiehst. Deine Großmutter wäre es auch.«

Emma schluckte, als sie den Schmerz in der Stimme des alten Mannes hörte. Sie griff nach seiner Hand. »Es tut mir leid, Opa. Bitte verzeih mir.«

Er sah überrascht auf. »Was soll ich dir denn verzeihen, meine Kleine?«

»Dass ich euch Kummer gemacht habe. Vielleicht … ich meine, wenn ich nicht so einen Mist gebaut hätte, dann würde Oma möglicherweise
noch …«

Der alte Mann schüttelte vehement den Kopf. »So etwas darfst du dir nicht einreden, mein Kind. Es stimmt, deine Oma war sehr unglücklich darüber, dass es dir so schlecht ging, und sie war verzweifelt über den Tod deiner Mutter, aber der Krebs hat schon viele Jahre vorher begonnen, sie zu zerstören. Als du dann plötzlich bei uns warst, hat sie neue Kräfte mobilisiert, und das hat den Verlauf ihrer Krankheit immens beeinflusst, wenn du mich fragst. Zum Positiven. Ich behaupte sogar, dass sie viel eher gestorben wäre, wenn sie nicht für dich hätte sorgen müssen.«

»Wenn ihr nicht für mich hättet sorgen müssen«, verbesserte Emma ihren Großvater sanft.

Er nickte lächelnd. »Ja, wir. Und wir haben es gerne gemacht.«

»Obwohl ich euch so viel angetan habe?«

»Du hast uns nichts angetan, Kind. Du warst krank und konntest mit deiner Trauer nicht umgehen.«

Emma seufzte. »Opa, wir beide wissen, dass nicht nur meine Trauer um Mama das Problem war, sondern auch der Zorn auf meinen Erzeuger.«

Der alte Mann kräuselte die Stirn. »Ich mag es nicht, wenn du so über Don sprichst. Er ist immer noch dein Vater.«

Emma ballte die Fäuste. »Auf dem Papier, ja. Ansonsten spielt er keine Rolle mehr in meinem Leben.«

Siegfried seufzte. »Ob du es willst oder nicht, er wird immer eine Rolle in deinem Leben spielen, doch natürlich ist es deine Entscheidung, wie groß sie ist.«

»Ach ja?«, erwiderte Emma angriffslustig. »Ist es nicht eher so, dass du stetig darauf hinwirkst, dass ich mich mit dem Mann versöhne? Obwohl du ganz genau weißt, dass er Mamas Blut an seinen Fingern hat?«

Ihr Großvater schüttelte ihre Hand ab und stand auf. Emma zuckte zurück, als sie seinen aufgebrachten Blick auffing, denn normalerweise ließ der alte Mann sich durch nichts aus der Ruhe bringen.

»Nie wieder möchte ich so etwas von dir hören, Emma Henderson«, fuhr er sie zornig an. »Dein Vater mag nicht immer alles richtig gemacht haben, ja, aber er trägt sicher nicht die Schuld am Tod deiner Mutter. Es war ein Unfall, verdammt. Ein furchtbarer Unfall an jenem schrecklichen Tag, an dem die ganze Welt aus den Fugen geraten ist. Wenn du Don in den vergangenen Jahren nur ein einziges Mal die Chance auf ein Gespräch und auf eine Begegnung gegeben hättest, dann wüsstest du, wie sehr er immer noch unter ihrem Tod leidet. Wie sehr er deine Mutter … geliebt hat und wie sehr er sie vermisst. Du glaubst alles zu wissen, aber du weißt gar nichts. An einem anderen Ort zu einer anderen Zeit wäre die Geschichte deiner Eltern noch nicht zu Ende erzählt gewesen, aber es sollte nun mal nicht sein. Wir alle haben das zu akzeptieren. Auch du, mein Kind. Wenn du das endlich kannst, wirst du die Probleme, die dich und uns so lange Zeit schon begleiten, in den Griff bekommen, da bin ich mir sicher. Was deine Annahme betrifft, gestehe ich ein, dass du recht hast. Natürlich arbeite ich auf eine Versöhnung zwischen dir und deinem Vater hin. Emma, ich bin vierundsiebzig Jahre alt. Schon bald werde ich nicht mehr da sein. Ich möchte dich nun mal nicht allein zurücklassen.«

Emma stand auf und griff erneut nach den Händen ihres Großvaters. »Siehst du, und das ist etwas, was ich nicht von dir hören möchte, Opa«, sagte sie leise. »Es geht dir gut. Du wirst noch lange nicht sterben, verstanden?«

»Das liegt nicht in meiner Hand, meine Kleine.«

»Wie so vieles andere auch nicht.«

»Dass du dich mit deinem Vater aussöhnst, wäre schon im Bereich des Machbaren.«

Emma verzog das Gesicht. »Du gibst keine Ruhe, oder?«

»In dieser Angelegenheit sicher nicht, irgendeiner muss meiner sturen Enkelin und meinem zaghaften Schwiegersohn ja auf die Sprünge helfen. Für den Moment will ich mich damit zufriedengeben, dass du auf sein Angebot eingegangen bist, für die Dauer deines Aufenthalts in New York in seinem Apartment zu wohnen.«

Emma rollte mit den Augen. »Unter der Bedingung, dass er dort in dieser Zeit nicht auftaucht, und auch nur, weil du darauf bestehst. Sonst lässt du mich womöglich nicht ziehen.«

»Unsinn. Du bist volljährig. Wenn du gehen willst, kann ich dich nicht aufhalten.«

Emma seufzte und schlang ihre Arme um die Taille des alten Mannes. »Das kannst du jederzeit, und das weißt du auch. Nur ein Wort von dir, und ich bleibe. Umso dankbarer bin ich, dass du mir vertraust und dass du mich in dieser Sache unterstützt.

Siegfried Schmidt erwiderte ihre Umarmung. »Es ist an der Zeit, mein Kind. Das Vögelchen muss ja irgendwann mal aus dem Nest und testen, ob es fliegen kann. Nur, dass es ausgerechnet in New York sein muss, setzt mir schon sehr zu.«

»Mir auch, das darfst du mir glauben. Ich habe einen ganzen Monat darüber nachgedacht, und mein Entschluss steht. Es muss New York sein. Wenn ich es dort schaffe, Opa, dann schaffe ich es überall, oder?«

Ihr Großvater schob sie etwas von sich weg und nickte. »Das ist wohl wahr, aber nimm es bitte nicht auf die leichte Schulter. Du hast in den letzten Jahren viel erreicht, doch es liegt noch ein weiter Weg vor dir.«

»Ich weiß. Und damit ich den pünktlich in Angriff nehmen kann, muss ich jetzt auch anfangen zu packen. Danke, dass ich euren Koffer nehmen darf.«

»Das ist doch selbstverständlich. Während du dich um dein Gepäck kümmerst, werde ich dir für unterwegs ein paar Brötchen schmieren.« Er drückte ihr einen leichten Kuss auf die Stirn, drehte sich um und trottete gemächlich zur Tür.

»Nein, bitte keine Brötchen«, rief Emma ihm nach. »Pack mir doch lieber ein bisschen Obst ein.«

»Dazu vielleicht ein Glas Bockwürstchen?«, schallte es zurück, und sie hörte ein Lachen.

»Das ist nicht witzig, Opa«, fauchte Emma, worauf das Lachen ihres Großvaters sich noch verstärkte.

Emma nahm mit säuerlicher Miene den Hartschalenkoffer und wuchtete ihn aufs Bett. Als sie ihn öffnete, fiel ihr Blick auf ein kleines Buch, das in einem der Seitenfächer steckte. Sie wusste sofort, dass es sich um die Reisebibel ihrer Großmutter handelte, denn die hatte sie immer dabeigehabt, wenn es auf Fahrt ging. Emma zog das Büchlein hervor und strich liebevoll mit den Fingerspitzen darüber. Dann nahm sie ein Bild vom Nachttisch, das sie als sechzehnjähriges Mädchen zeigte, legte es zwischen die Seiten der Bibel und verstaute sie wieder im Seitenfach. So würde ihre Oma immer ganz nah bei ihr sein, und wenn es ihn gab, der liebe Gott auch. Keine schlechte Sache, wo sie doch jeden Beistand bitter nötig haben würde.

Emma schaute auf ihre Hände. Unbewusst hatte sie sie zu Fäusten geballt. Plötzlich verließ sie der Mut. War es vielleicht doch keine gute Idee, was sie vorhatte? Sie, ganz allein in dieser riesigen Stadt auf der anderen Seite des Atlantiks? In New York, das ihr fremder nicht hätte sein können, obwohl sie dort geboren worden war? Was, wenn ihr Plan nicht aufging? Wenn sie ihre Probleme dort nicht endgültig hinter sich lassen könnte? Wenn sie stattdessen von ihnen wieder eingeholt und vollends überrollt würde? Dann wäre nicht einmal ihr Großvater da, um sie zu retten. Und auch sonst niemand. Ein schrecklicher Gedanke.

Emma griff nach der Mappe mit ihren Reisepapieren und kramte den Zettel heraus, den ihr ihre Therapeutin gegeben hatte. Darauf hatte sie den Namen und die Adresse einer Kollegin in New York notiert, die sie auf einem Kongress in den USA kennengelernt hatte. Emma nahm sich fest vor, diese Dame sofort nach ihrer Ankunft in den Staaten zu kontaktieren. Gleich war ihr wieder ein bisschen wohler. Sie würde das hinbekommen. Schritt für Schritt, ganz egal, wie lange es dauern würde. Und währenddessen würde sie auf der Sprachschule in Midtown ihr Businessenglisch weiter verfeinern. Das würde ihr zugutekommen, was auch ihr Chef nach langer Diskussion eingesehen hatte. Für die nächsten zwei Monate war sie freigestellt. Spätestens dann würde sie wissen, ob der Trip in die USA ihr etwas gebracht hatte. Ob er ihre Albträume verscheuchen und ihre Ängste eindämmen konnte.

Sie trat ans Fenster. In der Ferne sah sie die Umrisse der Elbphilharmonie und die vielen schlanken Kirchtürme der Stadt, unter ihnen den des Michel. Hamburg würde ihr fehlen. Trotz der schwierigen Zeit, die sie hier durchlebt hatte, war es ihr Zuhause. Das einzige, das sie kannte. Sie drückte ihre Nase gegen die Scheibe, wie sie es schon als knapp Siebenjährige getan hatte. Damals, als dieses Zimmer ihr neues Heim wurde. Der Raum war ihr vorgekommen wie eine Festung, in der ihr nichts mehr geschehen konnte. In der sie sicher und behütet war. Beschützt vor allem Bösen in der Welt. Emma schluckte. Wie naiv sie doch gewesen war. Denn es gab Bedrohungen und Unheil, gegen die war keine Festung der Welt gewappnet. Das hatte sie bitter erfahren müssen.

Emma schaute so lange hinaus, bis ein Blick auf die Uhr ihr sagte, dass es an der Zeit war. »Mach’s gut, Hamburg. Ich komme wieder, ganz bestimmt«, flüsterte sie traurig und zuckte zusammen, als hinter ihr die polternde Stimme ihres Großvaters erklang.

»Na, das will ich doch schwer hoffen«, kommentierte er ihren Abschied sehr eindringlich, als befürchtete er, sie wäre sich in diesem Punkt nicht absolut sicher.

»Keine Panik, Opa«, beruhigte Emma ihn umgehend. »Du wirst mich nicht los.«

»Dann ist ja gut«, brummte der alte Mann und stellte eine Frischhaltebox auf das Bett. »Ein bisschen Obst, wie mein Mädchen sich das gewünscht hat.«

Emma lächelte. »Danke, das ist lieb.« Sie sah auf das Kuvert in seinen Händen. »Was ist das?«

»Ich dachte, ein bisschen Startkapital wäre nicht schlecht«, meinte er verlegen und reichte ihr den Umschlag. »Es ist nicht viel, fürs Erste solltest du aber damit über die Runden kommen.«

Emma nahm das Kuvert, schüttelte zugleich jedoch den Kopf. »Das sollst du nicht, Opa. Ich komme schon klar. So bald wie möglich werde ich mir in New York einen Job suchen. Vielleicht als Kellnerin, mal sehen. Irgendetwas, was ich gut neben der Sprachschule hinbekomme. Ich will niemandem auf der Tasche liegen. Als Vorschuss akzeptiere ich das Geld, aber ich werde es auf Heller und Pfennig zurückbezahlen. Genauso wie ich auch meinem Vater Miete für seine Wohnung bezahlen werde.«

»Was er schlichtweg nicht will, wie du weißt«, sagte ihr Großvater leise.

»Ja. Und wie du weißt, ist es mir schlichtweg egal, was mein Vater will oder auch nicht.«

»Ach, Emma.« Siegried seufzte.

»Opa, das Thema hatten wir vorhin schon. Wir sollten es gut sein lassen. Geh jetzt! Deine heiß geliebte Telenovela läuft doch gleich. Danach müssen wir auch schon los zum Flughafen.«

Der alte Mann betrachtete sie für einen langen Moment, bevor er kopfschüttelnd und ohne ein weiteres Wort das Zimmer verließ.

Emma sah ihm bedrückt nach. Schließlich legte sie den Umschlag neben die Box mit dem Obst auf das Bett und ging zu ihrem Kleiderschrank. Die Zeit drängte nun wirklich. Der Koffer packte sich schließlich nicht von allein.