Dicker, Joël Das Verschwinden der Stephanie Mailer

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Übersetzung aus dem Französischen von Amelie Thoma und Michaela Meßner

 

© Éditions de Fallois, 2018
Titel der französischen Originalausgabe: »La Disparation de Stephanie Mailer« bei Éditions de Fallois,Paris
© Piper Verlag GmbH, München 2019
Covergestaltung: Rothfos & Gabler
Covermotiv: mauritius images / Michael Matthews - Police Images / Alamy (Foto); Shutterstock.com (Riss)

 

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Widmung

 

Für Constance

Prolog

 

Zu den Ereignissen des 30. Juli 1994

Nur wer sich mit den Hamptons im Staat New York sehr gut auskennt, dürfte gehört haben, was am 30. Juli 1994 in Orphea geschehen ist, einem kleinen, piekfeinen Badeort am Atlantik.

An jenem Abend wurde das allererste Theaterfestival von Orphea eröffnet, und diese Veranstaltung hatte aus dem ganzen Land ein großes Publikum angezogen. Schon seit dem Spätnachmittag strömten Touristen und Einheimische zur Hauptstraße, um an den zahlreichen von der Stadt organisierten Festivitäten teilzunehmen. Es hatten so viele Anwohner ihre Viertel verlassen, dass diese wie ausgestorben wirkten: keine Spaziergänger mehr auf den Gehsteigen, keine Paare auf den Veranden, keine Kinder mit Rollschuhen auf der Straße, niemand in den Gärten. Alle Welt tummelte sich im Zentrum.

Gegen 20 Uhr war im menschenleeren Penfield-Viertel das einzige Lebenszeichen ein Auto, das langsam durch die verlassenen Straßen fuhr. Mit einem Anflug von Panik im Blick suchte der Mann am Steuer die Gehsteige ab. Er hatte sich noch nie so allein auf der Welt gefühlt. Nirgendwo irgendwer, der ihm helfen konnte. Er wusste nicht ein noch aus: Seine Frau war vom Joggen nicht zurückgekehrt.

 

Samuel und Meghan Padalin gehörten zu den wenigen Einwohnern von Orphea, die beschlossen hatten, an diesem ersten Festivalabend zu Hause zu bleiben. Sie hatten keine Karten mehr für die Eröffnungsveranstaltung bekommen, denn der Vorverkauf war gestürmt worden, und sie hatten keine Lust verspürt, das Volksfest an der Hauptstraße und der Marina zu besuchen.

Also war Meghan abends, wie jeden Tag, gegen 18 Uhr 30 laufen gegangen. Mit Ausnahme der Sonntage, an denen sie ihrem Körper ein wenig Ruhe gönnte, drehte sie täglich die gleiche Runde. Sie lief bei sich zu Hause los und die Penfield Street hinauf bis zum Penfield Crescent, wo die Straße im Halbkreis um einen kleinen Park herum führte. Dort hielt sie an, um auf dem Rasen ein paar Übungen zu machen – immer die gleichen –, und kehrte dann auf demselben Weg nach Hause zurück. Alles zusammen dauerte genau eine Dreiviertelstunde. Manchmal auch fünfzig Minuten, wenn sie mehr Zeit für ihre Gymnastik aufgewandt hatte. Aber länger nie.

Um 19 Uhr 30 hatte Samuel Padalin es seltsam gefunden, dass seine Frau noch nicht zurück war.

Um 19 Uhr 45 hatte er begonnen, sich Sorgen zu machen.

Um 20 Uhr tigerte er unruhig durch die Wohnung.

Um 20 Uhr 10 nahm er schließlich, als er es nicht mehr aushielt, seinen Wagen, um das Viertel abzufahren. Er hielt es für das Naheliegendste, an Meghans üblicher Joggingstrecke zu suchen. Was er dann auch tat.

Er fuhr in die Penfield Street und hinauf bis zum Penfield Crescent, wo der Weg sich gabelte. Es war 20 Uhr 20. Keine Menschenseele weit und breit. Er blieb einen Moment stehen und blickte forschend in den Park, konnte aber niemanden entdecken. Auf dem Rückweg bemerkte er etwas auf dem Gehsteig. Zunächst hielt er es für einen Kleiderhaufen. Dann begriff er, dass es ein Körper war. Mit klopfendem Herzen stürzte er aus dem Auto. Es war seine Frau.

 

Der Polizei erzählte Samuel Padalin später, er habe zunächst gedacht, sie sei wegen der Hitze zusammengebrochen. Er habe einen Herzanfall befürchtet. Aber als er auf Meghan zugelaufen sei, habe er das Blut und das Loch in ihrem Hinterkopf gesehen.

Er fing an zu schreien und um Hilfe zu rufen und wusste einfach nicht recht, ob er bei seiner Frau bleiben oder losrennen und an Türen trommeln sollte, damit jemand den Notarzt rief. Doch ihm wurde schwarz vor Augen und seine Beine trugen ihn nicht mehr. Schließlich hörte ihn der Bewohner einer Parallelstraße, der den Notarzt alarmierte.

 

Wenige Minuten später riegelte die Polizei das Viertel ab.

Einer der ersten Polizeibeamten vor Ort bemerkte, als er das Absperrband anbrachte, dass die Tür zum Haus des Bürgermeisters, vor dem Meghans Leiche lag, ein wenig offen stand. Neugierig sah er sich die Sache genauer an. Und stellte fest, dass die Tür aufgebrochen worden war. Er zog seine Waffe, erklomm mit einem Satz die Stufen der Außentreppe und machte sich durch Rufen bemerkbar, doch er erhielt keine Antwort. Mit der Fußspitze stieß er die Tür ganz auf und sah eine Frauenleiche im Flur liegen. Rasch forderte er Verstärkung an, bevor er sich langsam weiter ins Haus vorwagte, die Waffe schussbereit. In einem kleinen Wohnzimmer zu seiner Rechten entdeckte er voller Entsetzen die Leiche eines Jungen. In der Küche fand er dann den Bürgermeister, in seinem Blut badend, ebenfalls ermordet.

Die ganze Familie war niedergemetzelt worden.

ERSTER TEIL

Abgründe

– 7

Das Verschwinden einer Journalistin

Montag, 23. Juni – Dienstag, 1. Juli 2014

Jesse Rosenberg

Montag, 23. Juni 2014

33 Tage vor der Premiere des 21. Theaterfestivals von Orphea

Auf dem kleinen Empfang, der anlässlich meines Ausscheidens aus dem Polizeidienst des Staates New York veranstaltet wurde, sah ich Stephanie Mailer, die sich unauffällig unter die Gäste gemischt hatte, zum ersten und letzten Mal.

An jenem Tag hatte sich eine große Menge Polizisten aus sämtlichen Brigaden unter der Mittagssonne vor dem hölzernen Podium versammelt, das bei solchen Anlässen immer auf dem Parkplatz der Regionalzentrale der State Police aufgebaut wurde. Ich stand auf dem Podium, neben mir mein Vorgesetzter, Major McKenna, der während meiner gesamten Polizeilaufbahn mein Chef gewesen war und sich jetzt in seiner Dankesrede schier überschlug.

»Captain Jesse Rosenberg ist noch ein junger Polizist, aber er hat es offensichtlich sehr eilig zu gehen«, sagte der Major, was das Publikum mit Gelächter quittierte. »Ich hätte nie gedacht, dass er vor mir den Hut nehmen würde. Es geht im Leben wirklich nicht gerecht zu: Alle würden sich freuen, wenn ich ginge, ich bin aber immer noch da, und Jesse hätten alle gerne behalten, aber Jesse geht.«

Ich war fünfundvierzig Jahre alt und hatte meinen Abschied aus freien Stücken genommen. Nach dreiundzwanzig Dienstjahren hatte ich beschlossen, den mir mittlerweile zustehenden Ruhestand anzutreten, denn ich wollte endlich etwas verwirklichen, das mir schon lange am Herzen lag. Bis zum 30. Juni hatte ich noch eine Woche zu arbeiten. Danach würde ich ein neues Kapitel in meinem Leben aufschlagen.

»Ich erinnere mich noch an Jesses ersten großen Fall«, fuhr der Major fort. »Einen grausamen Vierfachmord, den er brillant gelöst hat, dabei hatte ihm das keiner in der Brigade zugetraut. Er war ja damals noch ein totales Greenhorn. Und von da an war es jedem klar, was für ein Kaliber dieser Jesse hat. Jeder, der mit ihm gearbeitet hat, weiß es: Er ist ein außergewöhnlich guter Ermittler. Ich kann wohl mit Fug und Recht behaupten: Er ist der Beste von uns allen. Wir haben ihn den Hundertprozentigen getauft, weil er die Fälle, an denen er dran war, alle gelöst hat. Das macht ihn einzigartig. Seine Kollegen bewundern ihn und jahrelang war er ein gefragter Sachverständiger und Ausbilder der Polizeiakademie. Eins kann ich dir sagen, Jesse: Schon seit zwanzig Jahren sind wir alle neidisch auf deinen Erfolg!«

Wieder lachte das Publikum.

»Wir haben nicht ganz verstanden, was das eigentlich für eine neue Sache ist, die da auf dich wartet, aber wir wünschen dir dabei alles Gute. Glaub mir, du wirst uns fehlen! Du wirst der Polizei fehlen, vor allem aber unseren Frauen, denn zu unseren Polizeifesten sind sie hauptsächlich deinetwegen gekommen …«

Nach diesen Worten brandete der Applaus auf. Der Major umarmte mich freundschaftlich. Dann stieg ich von der Bühne, um alle zu begrüßen, die mir zuliebe gekommen waren, ehe sie sich aufs Buffet stürzen würden.

Als ich einen Augenblick alleine dastand, wurde ich von einer sehr hübschen Frau um die dreißig angesprochen, die ich, soweit ich mich entsann, noch nie gesehen hatte.

»Dann sind Sie also der berühmte Hundertprozentige?«, fragte sie in schmeichelndem Ton.

»Scheint so«, antwortete ich lächelnd. »Kennen wir uns?«

»Nein. Ich heiße Stephanie Mailer. Ich bin Journalistin beim Orphea Chronicle

Wir gaben uns die Hand. Dann sagte Stephanie: »Stört es Sie, wenn ich Sie den Neunundneunzigprozentigen nenne?«

Ich runzelte die Brauen. »Wollen Sie damit andeuten, dass es da einen Fall gibt, den ich nicht gelöst habe?«

Sie zog bloß einen Zeitungsausschnitt aus dem Orphea Chronicle vom 1. August 1994 aus ihrer Tasche und reichte ihn mir.

Vierfachmord in Orphea:
Bürgermeister und Familie getötet

Samstagabend wurden Joseph Gordon, der Bürgermeister von Orphea, seine Frau und ihr zehnjähriger Sohn im eigenen Haus erschossen. Das vierte Opfer hieß Meghan Padalin, 32 Jahre alt. Die junge Frau hatte zur Tatzeit ihre Jogging-runde gedreht und wurde vermutlich unfreiwillig zur Zeugin des Mordes. Sie wurde auf offener Straße vor dem Haus des Bürgermeisters erschossen.

 

Den Artikel zierte ein am Tatort aufgenommenes Foto von mir und meinem damaligen Partner, Derek Scott.

»Worauf wollen Sie hinaus?«, fragte ich sie.

»Diesen Fall haben Sie nicht gelöst, Captain.«

»Was wollen Sie damit sagen?«

»1994 haben Sie sich im Täter geirrt. Ich dachte mir, das wüssten Sie bestimmt noch gerne, bevor Sie den Dienst quittieren.«

Ich hielt das Ganze zunächst für einen blöden Scherz der Kollegen, bis ich begriff, dass Stephanie es ernst meinte.

»Führen Sie hier eigene Ermittlungen durch?«

»Gewissermaßen, Captain.«

»Gewissermaßen? Das müssen Sie mir schon etwas genauer erklären, wenn ich Ihnen glauben soll.«

»Es ist die Wahrheit, Captain. Ich werde gleich im Anschluss an diesen Empfang jemanden treffen, der mir wahrscheinlich einen unwiderlegbaren Beweis liefert.«

»Und wer soll dieser Jemand sein?«

»Na hören Sie mal«, erwiderte sie amüsiert, »ich bin doch keine blutige Anfängerin. So einen Knüller will man sich als Journalistin ja nicht durch die Lappen gehen lassen. Ich verspreche Ihnen, Sie an meinen Ergebnissen teilhaben zu lassen, wenn es so weit ist. Bis dahin möchte ich Sie um einen Gefallen bitten: Gewähren Sie mir Einsicht in die Akten der State Police.«

»Sie nennen es einen Gefallen, ich nenne es Erpressung!«, erwiderte ich. »Zeigen Sie mir erst einmal Ihre Beweise, Stephanie. Das sind schwerwiegende Behauptungen.«

»Dessen bin ich mir bewusst, Captain Rosenberg. Und genau aus diesem Grund wäre es mir gar nicht lieb, wenn die State Police mir zuvorkommen würde.«

»Ich möchte Sie daran erinnern, dass Sie verpflichtet sind, die Polizei zu unterrichten, wenn Ihnen ermittlungsrelevante Informationen in die Hände fallen. So steht es im Gesetz. Ich könnte auch eine Haussuchung Ihrer Zeitung anordnen lassen.«

Stephanie schien von meiner Reaktion enttäuscht.

»Na denn, Sie Neunundneunzigprozentiger«, sagte sie. »Ich dachte, die Sache würde Sie interessieren, aber Sie sind in Gedanken wahrscheinlich schon im Ruhestand und bei diesem neuen Vorhaben, von dem der Major gesprochen hat. Was haben Sie vor? Wollen Sie einen alten Kahn wieder seetauglich machen?«

»Das geht Sie gar nichts an«, erwiderte ich schroff.

Sie zuckte die Schultern und schickte sich schon zum Gehen an. Ich war mir sicher, dass sie bluffte, und tatsächlich blieb sie nach wenigen Schritten stehen und drehte sich noch einmal um: »Die Lösung lag genau vor Ihren Augen, Captain Rosenberg. Sie haben sie einfach nicht gesehen.«

Ich war jetzt doch neugierig, und zugleich ärgerte ich mich. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich Sie richtig verstanden habe, Stephanie.«

Da hielt sie mir ihre Hand vors Gesicht. »Was sehen Sie, Captain?«

»Ihre Hand.«

»Ich habe Ihnen aber meine Finger gezeigt«, korrigierte sie mich.

»Ich sehe aber Ihre Hand«, erwiderte ich, denn ich verstand nicht, worauf sie hinauswollte.

»Genau das ist das Problem«, sagte sie zu mir. »Sie haben gesehen, was Sie sehen wollten, nicht, was da war. Genau das war auch vor zwanzig Jahren Ihr Fehler.« Das waren ihre letzten Worte. Sie ging und ließ mich mit ihrem Rätsel, ihrer Visitenkarte und der Kopie des Artikels stehen.

Ich entdeckte Derek Scott am Buffet, meinen alten Partner, der mittlerweile in der Verwaltung dahinvegetierte, eilte zu ihm und zeigte ihm den Zeitungssauschnitt.

»Du hast dich gar nicht verändert, Jesse«, sagte er, amüsiert über das alte Foto. »Was wollte diese Frau denn von dir?«

»Sie ist Journalistin und behauptet, wir hätten uns 1994 geirrt. Angeblich haben wir damals bei der Ermittlung etwas übersehen und uns den Falschen geschnappt.«

»Aber das ist doch Unsinn! Was hat sie genau gesagt?«

»Wir hätten die Lösung direkt vor Augen gehabt und sie nicht gesehen.«

Für einen Moment wirkte auch Derek verunsichert, sagte dann aber: »Keine Sekunde nehme ich ihr das ab. Das ist doch nur wieder so eine zweitklassige Journalistin, die mit einem billigen Trick auf sich aufmerksam machen will.«

»Vielleicht«, erwiderte ich nachdenklich. »Vielleicht aber auch nicht.«

Als ich den Blick über den Parkplatz schweifen ließ, sah ich Stephanie ins Auto steigen. Sie winkte herüber und rief: »Bis demnächst, Captain Rosenberg.«

Aber es sollte kein »demnächst« geben.

Denn das war der Tag, an dem sie verschwand.

Derek Scott

Ich erinnere mich noch genau daran, wie alles anfing. Es war am Samstag, dem 30. Juli 1994.

An jenem Abend hatten Jesse und ich Dienst. Wir gingen zum Essen ins Blue Lagoon, ein damals beliebtes Restaurant, in dem Darla und Natascha abends und an den Wochenenden als Bedienung arbeiteten.

Natascha und Jesse waren schon seit Jahren ein Paar. Mit Darla, einer ihrer besten Freundinnen, wollte sie ihr eigenes Lokal eröffnen. Einen Standort hatten die beiden schon gefunden, jetzt bemühten sie sich um die erforderlichen Genehmigungen. Und legten die Hälfte ihres Lohns aus dem Blue Lagoon als Startkapital für ihr zukünftiges Restaurant auf die hohe Kante.

Sie hätten lieber im Büro oder in der Küche gearbeitet, aber der Besitzer des Blue Lagoon hatte zu ihnen gesagt: »Wer ein so hübsches Gesicht und einen so hübschen kleinen Hintern hat, dessen Platz ist im Speisesaal. Was beschwert ihr euch denn, durch die Trinkgelder nehmt ihr mehr ein, als ihr in der Küche je verdienen könntet.«

Letzteres stimmte: Viele Kunden kamen nur ihretwegen ins Blue Lagoon. Sie waren schön, freundlich und immer gut drauf: Ihr Restaurant würde zweifellos ein Hit werden.

Darla war Single. Und ich muss zugeben, dass ich seit unserer ersten Begegnung nur noch an sie dachte. Ich lag Jesse ständig in den Ohren, wir sollten doch ins Blue Lagoon gehen und einen Kaffee bei den beiden trinken. Und wenn sie sich bei Jesse und Natascha trafen, um an ihrem Restaurantprojekt zu arbeiten, dann lud ich mich selbst ein und versuchte Darla zu bezirzen, was leider nicht so richtig klappte.

Am Abend jenes berühmten 30. Juli aßen Jesse und ich also an der Theke zu Abend und plauderten ein bisschen mit Natascha und Darla, als wir plötzlich angepiepst wurden, und zwar beide gleichzeitig. Wir sahen einander erstaunt an.

»Wenn der Piepser gleich bei euch beiden losgeht, muss ja was Schlimmes passiert sein«, bemerkte Natascha.

Sie deutete auf die Telefonkabine des Restaurants und den Apparat auf dem Tresen. Jesse ging in die Kabine, ich nahm den am Tresen.

»An alle Einheiten, ein Vierfachmord«, erklärte ich Natascha und Darla, nachdem ich aufgelegt hatte, und stürzte zur Tür.

Jesse zog noch seine Jacke an.

»Jetzt beeil dich doch«, schimpfte ich. »Die Einheit, die zuerst am Tatort ist, bekommt die Ermittlungen.«

Wir waren jung und ehrgeizig. Das war unsere Chance auf einen ersten großen Fall. Ich hatte mehr Erfahrung als Jesse und mir bereits den Dienstgrad eines Sergeants erarbeitet. Meine Vorgesetzten schätzten mich. Jeder sagte mir eine steile Polizeikarriere voraus.

Wir rannten zum Auto und sprangen hinein, ich hinters Steuer, Jesse auf den Beifahrersitz.

Mit quietschenden Reifen fuhr ich los, und Jesse schnappte sich das Signallicht vom Boden. Er schaltete es ein, setzte es durchs offene Fenster aufs Dach unseres Zivilfahrzeugs und erhellte die Nacht mit blauen und roten Lichtblitzen.

So fing alles an.

Jesse Rosenberg

Donnerstag, 26. Juni 2014

30 Tage vor der Premiere

Meine letzte Woche bei der Polizei hatte ich mir so vorgestellt: Ich würde durch die Gänge schlendern und mich bei einem Kaffee von meinen Kollegen verabschieden. Doch seit drei Tagen hatte ich mich in meinem Büro verschanzt und von morgens bis abends die Ermittlungsakte des Vierfachmordes von 1994 studiert, die ich aus dem Archiv gefischt hatte. Der Auftritt dieser Stephanie Mailer hatte mich aus der Bahn geworfen. Ich konnte nur noch an den Artikel und diesen einen Satz von ihr denken: »Die Lösung lag direkt vor Ihren Augen, Sie haben sie einfach nicht gesehen.«

Aber anscheinend hatten wir alles gesehen. Je tiefer ich mich in die Akte wühlte, desto überzeugter war ich, dass ich hier eine der stichhaltigsten Ermittlungen meiner Karriere durchgeführt hatte. Es passte alles zusammen, die Beweise gegen den mutmaßlichen Mörder waren erdrückend. Derek und ich hatten äußerst gewissenhaft an dem Fall gearbeitet, und ich konnte nicht die geringste Nachlässigkeit erkennen. Wie sollten wir uns da also im Täter geirrt haben?

An jenem Nachmittag nun schlug Derek bei mir im Büro auf. »Was machst du da, Jesse? In der Cafeteria warten alle auf dich. Die Kolleginnen aus dem Sekretariat haben dir einen Kuchen gebacken.«

»Ich komme, Derek, tut mir leid, ich bin mit meinen Gedanken gerade ganz woanders.«

Er betrachtete die Papiere, die über meinen gesamten Schreibtisch verstreut waren, schnappte sich eins und rief: »Ach nee! Jetzt sag bloß nicht, du nimmst den Schwachsinn dieser Journalistin ernst.«

»Ich wollte nur sichergehen, dass …«

Er fiel mir ins Wort: »Jesse, die Beweisführung war niet- und nagelfest! Das weißt du so gut wie ich. Na los jetzt, wir warten alle auf dich.«

»Gib mir eine Minute, Derek. Ich komme gleich.«

Er seufzte und ging wieder. Ich nahm Stephanies Visitenkarte, die vor mir lag, und wählte ihre Nummer. Ihr Telefon war ausgeschaltet. Ich hatte bereits am Vorabend vergeblich versucht, sie zu erreichen. Sie selbst hatte sich seit unserer Begegnung am Montag nicht wieder gemeldet, und so beschloss ich, nicht länger zu insistieren. Sie wusste ja, wo sie mich finden konnte. Schließlich sagte ich mir, dass Derek recht hatte, dass es keinen Grund gab, die Ergebnisse der Ermittlung von 1994 anzuzweifeln, und ging beruhigt zu meinen Kollegen in die Cafeteria.

Aber als ich eine Stunde später wieder in mein Büro kam, erwartete mich ein Fax der State Police von Riverdale in den Hamptons, in dem das Verschwinden einer jungen Frau gemeldet wurde: Stephanie Mailer, 32 Jahre, Journalistin. Seit Montag hatte man nichts mehr von ihr gehört.

Ich reagierte sofort, riss das Blatt aus der Maschine und stürzte zum Telefon, um die Kollegen in Riverdale anzurufen. Am anderen Ende erklärte mir ein Beamter, Miss Mailers Eltern hätten sich am frühen Nachmittag besorgt an die Polizei gewendet, weil ihre Tochter sich seit Montag nicht mehr gemeldet hatte.

»Warum haben die Eltern direkt die State Police kontaktiert und nicht erst die örtliche Polizei?«, fragte ich.

»Das haben sie ja, aber die Beamten vor Ort haben die Sache offenbar nicht ernst genommen. Daher dachte ich mir, ich gebe das mal besser gleich an die Beamten weiter, die sich mit den Kapitaldelikten befassen. Hat ja vielleicht gar nichts zu bedeuten, aber so war es mir trotzdem lieber.«

»Das haben Sie gut gemacht. Ich kümmere mich drum.«

Stephanies Mutter, die ich umgehend anrief, sagte mir, sie mache sich große Sorgen. Sie habe am Montagmorgen zum letzten Mal mit ihrer Tochter gesprochen. Seither herrsche Funkstille. Ihr Handy sei abgeschaltet. Ihre Freundinnen hätten sie auch nicht erreichen können. Schließlich seien sie mit einem Beamten des örtlichen Reviers in ihre Wohnung gegangen, aber da sei Stephanie auch nicht gewesen.

Ich suchte Derek in seinem Büro auf. »Stephanie Mailer«, sagte ich zu ihm, »die Journalistin, die am Montag hier war, ist verschwunden.«

»Was erzählst du da, Jesse?«

Ich hielt ihm die Vermisstenmeldung hin. »Sieh selbst. Wir müssen nach Orphea. Wir müssen überprüfen, was da los ist. Das kann doch kein Zufall sein.«

Er seufzte: »Jesse, wolltest du nicht deinen Abschied nehmen?«

»Erst in vier Tagen. Ich bin noch vier Tage Polizist. Als ich Stephanie am Montag sprach, erzählte sie mir, sie wolle jemanden treffen, der ihr die fehlenden Puzzleteile für ihre Nachforschung liefern würde …«

»Übergib den Fall einem deiner Kollegen«, riet er mir.

»Kommt nicht infrage! Derek, die junge Frau war sich ganz sicher, dass wir 1994…«

Er ließ mich nicht aussprechen: »Der Fall ist abgeschlossen, Jesse! Das ist Vergangenheit! Was hast du nur plötzlich? Warum willst du um jeden Preis wieder darin herumstochern? Willst du das wirklich alles noch einmal durchmachen?«

»Du kommst also nicht mit mir nach Orphea?«

»Nein, Jesse. Tut mir leid. Du spinnst doch.«

 

Also fuhr ich allein nach Orphea, zwanzig Jahre nachdem ich zuletzt einen Fuß in diesen Ort gesetzt hatte. Seit den Ermittlungen zum Vierfachmord.

Von der Regionalzentrale der State Police war es etwa eine Autostunde bis dorthin, aber um Zeit zu gewinnen, schaltete ich die Sirene und das Blaulicht meines Zivilfahrzeugs ein. Ich nahm den Highway 27 bis zur Abzweigung nach Riverhead, dann den 25 in nordwestlicher Richtung. Im letzten Abschnitt führte der Weg durch prächtige Wälder und vorbei an mit Seerosen bedeckten Seen. Ich erreichte schon bald die lang gestreckte und leere Route 17 nach Orphea selbst und schoss wie ein Pfeil darüber. Ein riesiges Straßenschild verkündete mir kurz darauf, dass ich angekommen war.

WILLKOMMEN IN ORPHEA, NEW YORK.

Nationales Theaterfestival, 26. Juli – 9. August.

 

Es war fünf Uhr nachmittags. Ich fuhr auf die Hauptstraße mit ihren üppigen Rabatten. Sah die Restaurants, Terrassen und Boutiquen an mir vorüberziehen. Es herrschte friedliche Ferienstimmung. Da der 4. Juli bevorstand, waren die Straßenlaternen mit Sternenbannern dekoriert, und Schilder kündigten für den Abend des Nationalfeiertags ein Feuerwerk an. Entlang der von Blumenbeeten und gestutzten Büschen gesäumten Marina schlenderten die Spaziergänger an den Buden der Fahrradverleiher und der Veranstalter von Whale-Watching-Touren vorbei. Diese Stadt wirkte wie eine Filmkulisse.

 

Der erste Besuch galt dem örtlichen Polizeirevier. Ron Gulliver, der Leiter der Polizei von Orphea, empfing mich in seinem Büro. Ich musste ihn nicht erst daran erinnern, dass wir uns vor zwanzig Jahren schon einmal begegnet waren: Er erkannte mich sofort.

»Sie haben sich nicht verändert«, sagte er und schüttelte mir die Hand.

Das konnte man von ihm nicht behaupten. Man sah ihm sein Alter an, und er war ziemlich dick geworden. Obwohl es weder Mittags- noch Abendessenszeit war, aß er Spaghetti aus einem Plastikschälchen. Und während ich ihm den Grund meines Besuches erläuterte, schlang er auf sehr unappetitliche Art und Weise die Hälfte dieser Mahlzeit herunter.

»Stephanie Mailer?«, fragte er erstaunt mit vollem Mund. »Das haben wir schon ad acta gelegt. Ist kein Vermisstenfall. Ich habe es den Eltern doch erklärt, das sind ja vielleicht Nervensägen! Gehen zur einen Tür heraus und kommen zur nächsten wieder hinein.«

»Oder einfach Eltern, die sich um ihre Tochter sorgen«, lautete mein Kommentar. »Sie haben seit drei Tagen keinerlei Nachricht von Stephanie und sagen, das sei sehr ungewöhnlich für sie. Sie werden verstehen, dass ich das mit der notwendigen Sorgfalt behandeln möchte.«

»Stephanie Mailer ist zweiunddreißig Jahre alt, sie kann tun und lassen, was sie will, oder? Glauben Sie mir, Captain Rosenberg, wenn ich Eltern hätte wie die, bekäme ich auch Lust, die Flucht zu ergreifen. Machen Sie sich keine Gedanken, Stephanie hat sich bloß eine Weile abgesetzt.«

»Wie können Sie da so sicher sein?«

»Das hat mir ihr Boss gesagt, der Chefredakteur des Orphea Chronicle. Sie hat ihm Montagabend eine Nachricht auf sein Handy geschickt.«

»Also am Abend ihres Verschwindens.«

»Aber wenn ich Ihnen doch sage, dass sie gar nicht verschwunden ist«, regte Gulliver sich auf.

Bei diesem Ausruf versprühte er ein Feuerwerk al pomodoro. Ich wich einen Schritt zurück, um zu verhindern, dass die Projektile auf meinem sauberen Hemd landeten. Nachdem der Polizeichef geschluckt hatte, fuhr er fort: »Mein Kollege hat die Eltern zu ihrer Wohnung begleitet. Sie haben sie mit ihrem Zweitschlüssel aufgeschlossen und durchsucht: Alles war in Ordnung. Die Nachricht an ihren Chefredakteur ist ein weiterer Beweis, dass es keinen Grund zur Besorgnis gibt. Stephanie ist niemandem Rechenschaft schuldig. Und wir haben unsere Arbeit korrekt gemacht. Ich bitte Sie also, gehen Sie mir nicht auf den Senkel!«

»Die Eltern sind sehr besorgt«, beharrte ich, »und falls Sie nichts dagegen haben, würde ich mich doch gerne selbst davon überzeugen, dass alles in Ordnung ist.«

»Wenn Sie mit so was Ihre Zeit verplempern wollen, Captain, nur zu! Sie müssen bloß warten, bis Jasper Montagne, mein Kollege und Stellvertreter, von seiner Streife zurückkommt. Er hat sich um die Geschichte gekümmert.«

Als Deputy Chief Jasper Montagne endlich kam, stand ich vor einem Schrank von einem Mann, der mit seinen Muskelpaketen einen furchterregenden Anblick bot. Er erläuterte mir, er habe die Eltern Mailer zu Stephanies Wohnung begleitet, aber sie sei nicht da gewesen. Keine Auffälligkeiten. Kein Anzeichen eines Kampfes, nichts Ungewöhnliches. Montagne hatte anschließend die Nachbarstraßen nach Stephanies Wagen abgesucht, vergeblich. Er hatte seinen Eifer sogar so weit getrieben, bei sämtlichen Krankenhäusern und Polizeistationen der Region anzurufen: nichts. Stephanie Mailer war einfach nur nicht zu Hause.

Als ich einen Blick in Stephanies Wohnung werfen wollte, bot er mir an, mich zu begleiten. Sie wohnte in der Bendham Road, einer kleinen ruhigen Straße nicht weit von der Hauptstraße, in einem schmalen, dreistöckigen Gebäude. Im Erdgeschoss gab es eine Eisenwarenhandlung, in der Wohnung darüber einen weiteren Mieter, im zweiten Stock wohnte Stephanie.

Ich klingelte lange an ihrer Tür, trommelte mit den Fäusten dagegen, schrie – vergebens. Offenbar war niemand zu Hause.

»Da sehen Sie’s, keiner da«, erklärte Montagne mir.

Ich drehte den Türknauf, die Tür war abgesperrt. »Können wir hineingehen?«, fragte ich ihn.

»Haben Sie einen Schlüssel?«

»Nein.«

»Ich auch nicht. Beim letzten Mal haben die Eltern aufgeschlossen.«

»Dann können wir also nicht rein?«

»Nein. Damit fangen wir gar nicht erst an, dass wir bei den Leuten grundlos die Tür eintreten! Falls Sie ganz sicher sein wollen, gehen Sie zur Lokalzeitung und sprechen Sie mit dem Chefredakteur, der wird Ihnen die Nachricht zeigen, die er am Montag von Stephanie erhalten hat.«

»Und der Nachbar unten?«, fragte ich.

»Brad Melshaw? Ich habe ihn gestern befragt, er hat nichts gesehen und auch nichts Auffälliges gehört. Bei ihm brauchen wir gar nicht erst zu klingeln, der arbeitet nämlich als Koch im Café Athéna, diesem Moderestaurant auf der Hauptstraße, und da ist er jetzt gerade.«

Ich läutete trotzdem bei diesem Brad Melshaw. Doch umsonst.

»Ich habe es Ihnen ja gesagt«, seufzte Montagne und ging die Treppen hinunter, während ich noch eine Weile hartnäckig vor der Tür stehen blieb.

Als ich selbst die Treppe hinunterkam, war Montagne schon aus dem Haus. Das nutzte ich, um Stephanies Briefkasten in Augenschein zu nehmen. Durch den Schlitz sah ich einen Umschlag, den ich mit den Fingerspitzen herausangeln konnte. Ich faltete ihn einmal und ließ ihn diskret in meine Gesäßtasche gleiten.

 

Nach unserem Abstecher zu Stephanies Wohnung begleitete mich Montagne in die Redaktion des Orphea Chronicle ganz in der Nähe der Hauptstraße, damit ich mit dem Chefredakteur Michael Bird sprechen konnte.

Die Redaktion befand sich in einem roten Backsteingebäude. Von außen sah es zwar ganz gut aus, doch drinnen bot sich mir ein Bild des Verfalls.

Mr. Bird empfing uns in seinem Büro. Er war schon 1994 in Orphea gewesen, aber ich konnte mich nicht erinnern, ihm begegnet zu sein. Er erklärte mir, durch eine Verkettung von Umständen habe er drei Tage nach dem Vierfachmord die Leitung des Orphea Chronicle übernommen, und habe daher damals vor allem am Schreibtisch hocken müssen, statt von vor Ort berichten zu können.

»Wie lange arbeitet Stephanie Mailer schon für Sie?«, fragte ich Michael Bird.

»Etwa neun Monate. Ich habe sie letzten September eingestellt.«

»Ist sie eine gute Journalistin?«

»Sehr gut. Sie hebt das Niveau dieser Zeitung. Das ist ein Glück für uns, denn es ist nicht immer leicht, qualitätsvolle Inhalte zu bringen. Wissen Sie, finanziell geht es der Zeitung sehr schlecht. Wir können nur überleben, weil die Stadtverwaltung uns diese Räume zur Verfügung stellt. Heutzutage lesen die Leute ja keine Zeitung mehr, also werden auch nicht mehr genug Anzeigen geschaltet. Früher waren wir ein wichtiges Regionalblatt, doch heute – warum sollten Sie sich den Orphea Chronicle kaufen, wenn Sie die New York Times online haben können? Ganz zu schweigen von denen, die überhaupt keine Zeitung mehr lesen und sich lieber über Facebook informieren.«

»Wann haben Sie Stephanie Mailer zum letzten Mal gesehen?«, fragte ich ihn.

»Montagmorgen. Bei der wöchentlichen Redaktionssitzung.«

»Und ist Ihnen da etwas aufgefallen? Hat sie sich irgendwie ungewöhnlich verhalten?«

»Nein, überhaupt nicht. Ich weiß, dass Stephanies Eltern sich Sorgen machen, aber wie ich ihnen und Deputy Chief Montagne gestern schon sagte, hat Stephanie mir spät am Montagabend eine Nachricht geschickt, in der sie schrieb, sie müsse für eine Weile fort.«

Er holte sein Handy aus der Tasche und zeigte mir eine Nachricht, empfangen um null Uhr, in der Nacht von Montag auf Dienstag:

Ich muss für eine Weile weg aus Orphea.
Es ist wichtig. Ich erklär dir alles später.

 

»Und seit dieser Mitteilung haben Sie nichts mehr von ihr gehört?«, fragte ich.

»Nein. Aber mal ganz ehrlich, ich mache mir da keine Sorgen. Stephanie ist eine sehr selbstständige junge Frau. Sie hat ihren eigenen Arbeitsrhythmus. Ich mische mich da nicht groß ein.«

»Womit befasst sie sich gerade?«

»Sie schreibt übers Theaterfestival. Jedes Jahr gegen Ende Juli findet in Orphea ein bedeutendes Theaterfestival statt …«

»Ja, das ist mir bekannt.«

»Also, und Stephanie wollte in einer Reihe von Artikeln aus Sicht der Akteure darüber berichten. Zurzeit interviewt sie die ehrenamtlichen Helfer, ohne deren Einsatz über all die Jahre dieses Festival gar nicht möglich gewesen wäre.«

»Ist es typisch für sie, einfach so zu ›verschwinden‹?«, fragte ich nach.

»Ich würde das eher ›abtauchen‹ nennen. Ja, sie taucht regelmäßig ab. Wissen Sie, als Journalist muss man oft seinen Schreibtisch verlassen.«

»Hat Stephanie Ihnen erzählt, dass sie einer größeren Sache auf der Spur war?«, fragte ich weiter. »Sie hatte mir gesagt, sie habe am Montagabend ein wichtiges Treffen …«

Ich wurde absichtlich nicht deutlicher, denn ich wollte keine weiteren Details verraten. Aber Michael Bird schüttelte den Kopf.

»Nein«, erwiderte er, »darüber hat sie nicht mit mir gesprochen.«

 

Beim Verlassen der Redaktion sagte Montagne: »Polizeichef Gulliver möchte wissen, ob Sie dann jetzt wieder fahren.«

»Ja«, antwortete ich, »ich glaube, ich habe alles gesehen.«

Als ich wieder im Auto saß, öffnete ich den Umschlag aus Stephanies Briefkasten. Es war eine Kreditkartenabrechnung. Ich las sie aufmerksam.

Abgesehen von den Ausgaben für den täglichen Bedarf (Benzin, Lebensmittel, Barabhebungen vom Automaten, Einkäufe in der Buchhandlung von Orphea) fielen mir zahlreiche Belege der Mautstation von Manhattan auf. Stephanie war also in letzter Zeit regelmäßig nach New York gefahren. Aber vor allem hatte sie sich ein Flugticket nach Los Angeles gekauft, für einen Kurztrip vom 10. bis zum 13. Juni. Einige Ausgaben vor Ort – vor allem eine Hotelrechnung – bestätigten, dass sie die Reise tatsächlich auch gemacht hatte. Vielleicht hatte sie einen Freund in Kalifornien? Jedenfalls war sie offenbar eine umtriebige junge Frau. Dass sie mal für eine Weile wegfuhr, erschien da nicht ungewöhnlich. Ich konnte die örtliche Polizei bestens verstehen: Rein gar nichts deutete auf ein Verschwinden hin. Aus Mangel an Indizien war ich schon geneigt, die Ermittlung ebenfalls einzustellen, als eine Sache mich plötzlich ansprang. Etwas fiel aus dem Rahmen: die Redaktion des Orphea Chronicle. Diese Zeitung passte so gar nicht zu dem Bild, das ich mir von Stephanie gemacht hatte. Natürlich kannte ich sie kaum, aber wegen des Selbstvertrauens, mit dem sie mich ein paar Tage zuvor angesprochen hatte, konnte ich sie mir viel besser bei der New York Times vorstellen als in der Lokalredaktion eines kleinen Badeortes in den Hamptons. Es war allein dieser Gedanke, der mich dazu brachte, noch ein wenig tiefer zu schürfen und Stephanies Eltern, die zwanzig Minuten entfernt in Sag Harbor lebten, einen Besuch abzustatten.

Es war 19 Uhr.

Zur gleichen Zeit parkte Anna Kanner auf der Hauptstraße von Orphea vor dem Café Athena, in dem sie mit ihrer Kindheitsfreundin Lauren und deren Ehemann Paul zum Abendessen verabredet war.

Lauren und Paul gehörten zu den wenigen Freunden, die Anna, seit sie von New York nach Orphea gezogen war, noch regelmäßig traf. Pauls Eltern hatten ein Ferienhaus im etwa fünfzehn Meilen entfernten Southampton, in dem er und Lauren regelmäßig verlängerte Wochenenden verbrachten, wobei sie Manhattan schon am Donnerstag verließen, um den dicksten Verkehr zu vermeiden.

Als Anna gerade aussteigen wollte, sah sie Lauren und Paul, die bereits auf der Terrasse des Restaurants saßen. Aber ihr fiel auf, dass sie in Begleitung eines Mannes waren. Da Anna sofort begriff, was los war, rief sie Lauren an.

»Willst du mich in die Falle locken, Lauren?«, fragte sie, sobald diese ans Handy gegangen war.

Es folgte ein peinliches Schweigen. »Kann schon sein«, sagte Lauren schließlich. »Wie kommst du darauf?«

»Mein siebter Sinn«, log Anna. »Ach, Lauren, wie kannst du mir das antun!«

Das Einzige, was sie an ihrer Freundin auszusetzen hatte, war, dass sie ständig versuchte, Anna auf Teufel komm raus zu verkuppeln.

»Der da wird dich umhauen«, versicherte ihr Lauren, nachdem sie sich vom Tisch entfernt hatte, weil der Mann in ihrer Begleitung das Gespräch nicht mithören sollte. »Glaub mir, Anna.«

»Weißt du was, Lauren, heute passt es mir im Grunde nicht so recht. Ich bin noch im Büro und hab eine Menge Papierkram zu erledigen.« Es amüsierte Anna zu sehen, wie Lauren auf der Terrasse nervös wurde.

»Anna, ich verbiete dir, mich zu versetzen! Du bist dreiunddreißig Jahre alt, du brauchst einen Mann! Wie lange ist es her, dass du mit einem im Bett warst, hm?«

Dieses Argument war immer Lauras letztes Geschütz. Aber Anna hatte wirklich keine Lust, sich ein arrangiertes Date anzutun. »Tut mir leid, Lauren. Außerdem habe ich Bereitschaftsdienst …«

»Ach, komm mir nicht schon wieder mit deinem Bereitschaftsdienst! In dieser Stadt passiert nie was. Du hast auch das Recht, dich ein bisschen zu amüsieren!«

In dem Moment hupte ein Auto, und Lauren hörte das Geräusch zugleich vor dem Lokal und durchs Telefon. »Aha! Jetzt hast du dich verraten«, rief sie aus und stürmte auf die Straße. »Wo bist du?«

Anna blieb keine Zeit zu reagieren.

»Ich sehe dich!«, schrie Lauren. »Glaubst du etwa, du kannst dich so aus der Affäre ziehen und mich hier sitzen lassen? Ist dir eigentlich klar, dass du fast jeden Abend allein verbringst wie eine alte Oma? Also weißt du, ich frag mich schon, ob das eine so gute Idee von dir war, dich hier lebendig begraben zu lassen …«

»Lass es gut sein, Lauren! Du hörst dich fast schon an wie mein Vater!«

»Aber wenn du so weitermachst, dann bleibst du bis zum Ende deines Lebens einsam und allein, Anna!«

Anna musste lachen und stieg aus dem Auto. Wenn man ihr bei diesen Worten jedes Mal eine Münze geschenkt hätte, hätte sie inzwischen ein Schwimmbad voller Taler. Sie musste sich allerdings eingestehen, dass Lauren nicht ganz unrecht hatte: Sie war frisch geschieden, kinderlos und lebte allein am Ende der Welt.

Laut Lauren gab es gleich mehrere Gründe, warum ihre Beziehungen immer scheiterten: Zum einen lag es an ihrem Mangel an gutem Willen und zum anderen an ihrem Beruf, der ›den Männern Angst macht‹. »Ich sage ihnen vorher nie, wie du dein Geld verdienst«, hatte Lauren ihr mehrfach erklärt. »Ich bin sicher, das schüchtert sie nur ein.«

Anna ging zu ihnen auf die Terrasse. Der Kandidat des Tages hieß Josh. Er hatte dieses schreckliche Auftreten von Männern, die sehr von sich eingenommen sind. Als er Anna begrüßte, verschlang er sie ungeniert mit den Blicken. Sie wusste sofort, dass sie ihrem Traumprinzen an dem Abend nicht begegnen würde.

»Wir sind sehr beunruhigt, Captain Rosenberg«, sagten Trudy und Dennis Mailer, Stephanies Eltern, wie aus einem Munde. »Sie meinte, sie sei in einer Redaktionssitzung und werde mich zurückrufen. Aber das hat sie nie getan.«

»Stephanie ruft sonst immer zurück«, versicherte mir Dennis Mailer.

Ich begriff sofort, warum die Eltern Mailer den Polizeibeamten auf die Nerven gegangen waren. Sie machten aus allem ein Drama, selbst aus der Tatsache, dass ich bei meiner Ankunft ihren Kaffee abgelehnt hatte.

»Mögen Sie keinen Kaffee?«, hatte Mrs. Mailer ganz verzweifelt gefragt.

»Vielleicht hätten Sie lieber Tee?«, schlug Mr. Mailer vor.

Nachdem ich schließlich erfolgreich ihre Aufmerksamkeit für das eigentliche Thema gewonnen hatte, konnte ich ihnen ein paar einleitende Fragen stellen. Hatte Stephanie irgendwelche Probleme? Nein, absolut nicht. Nahm sie Drogen? Auch nicht. Hatte sie einen Verlobten? Einen festen Freund? Nicht, dass sie wüssten. Könnte es irgendeinen Grund für ihr Verschwinden geben? Keinen.

Stephanies Eltern versicherten mir, es sei nicht die Art ihre Tochter, ihnen irgendetwas zu verheimlichen. Aber ich merkte schon bald, dass das nicht so ganz stimmte.

»Warum ist Stephanie vor zwei Wochen nach Los Angeles gefahren?«, fragte ich sie.

»Nach Los Angeles?«, wiederholte die Mutter erstaunt. »Was meinen Sie damit?«

»Vor zwei Wochen war Stephanie für drei Tage in Kalifornien.«

»Davon wussten wir nichts«, sagte der Vater bedauernd. »Das passt nicht zu ihr, nach Los Angeles zu fahren, ohne uns Bescheid zu geben. Vielleicht hat sie das für die Zeitung gemacht? Sie ist immer sehr verschwiegen, was die Artikel anbelangt, an denen sie arbeitet.«

Ich bezweifelte, dass der Orphea Chronicle es sich leisten konnte, seine Journalisten für eine Reportage ans andere Ende der Staaten zu schicken. Obendrein war ihre Anstellung bei diesem Lokalblatt genau der Punkt, der noch etliche Fragen aufwarf.

»Wann und wie ist Stephanie nach Orphea gekommen?«, erkundigte ich mich.

»Davor hat sie in New York gelebt«, erklärte Trudy Mailer. »Sie studierte Literatur an der Notre-Dame-Universität. Schon als sie noch ganz klein war, wollte sie Schriftstellerin werden. Sie hat bereits Kurzgeschichten veröffentlicht, zwei davon im New Yorker. Nach dem Studium hat sie bei der New York Review of Literature gearbeitet, aber im September wurde ihr gekündigt.«

»Aus welchem Grund?«

»Offenbar wirtschaftliche Schwierigkeiten. Als es dann mit der Anstellung beim Orphea Chronicle klappte, beschloss sie, hierher zurückzukommen. Sie schien froh zu sein, aus Manhattan wegzugehen und wieder in eine ruhigere Gegend zu ziehen.«

Stephanies Vater zögerte kurz, ehe er sagte: »Captain Rosenberg, wir gehören nicht zu denen, die die Polizei wegen jeder Lappalie belästigen, glauben Sie mir. Wir hätten keinen Alarm geschlagen, wenn meine Frau und ich nicht überzeugt wären, dass Stephanie etwas zugestoßen ist. Die Polizei von Orphea hat uns sehr klar gesagt, dass kein Grund für eine Ermittlung vorliegt. Aber selbst wenn sie nur kurz nach New York gefahren ist, hat Stephanie uns immer eine Nachricht geschickt oder nach ihrer Rückkehr angerufen, um uns zu sagen, dass alles bestens ist. Warum sollte sie eine Nachricht an ihren Chefredakteur schicken und an uns nicht? Wenn sie gewollt hätte, dass wir uns keine Sorgen machen, dann hätte sie uns auch Bescheid gesagt.«

»Apropos New York«, hakte ich weiter nach, »warum fährt Stephanie so häufig nach Manhattan?«

»Ich habe nicht gesagt, dass sie oft dort hinfährt«, korrigierte mich ihr Vater, »ich wollte das nur als Beispiel anführen.«

»Sie fährt sogar sehr oft hin«, erwiderte ich. »Meist an den gleichen Wochentagen und zur gleichen Zeit. Als fände dort ein regelmäßiges Treffen statt. Was könnte das sein?«

Die Mailers schienen wieder nicht zu wissen, wovon ich sprach. Trudy Mailer, die begriff, dass sie mich nicht ganz vom Ernst der Lage überzeugt hatten, fragte: »Waren Sie schon in ihrer Wohnung, Captain Rosenberg?«

»Nein, aber ich würde sie mir gern anschauen.«

»Wenn Sie möchten, können wir jetzt zusammen hinfahren. Vielleicht fällt Ihnen ja etwas auf, das wir übersehen haben.«

Ich ging darauf ein, allerdings nur, um mir diesen Fall endgültig aus dem Kopf zu schlagen. Ein Blick in Stephanies Wohnung würde mich überzeugen, dass die Polizei von Orphea recht hatte: Es gab kein Indiz, das auf ein Verbrechen hinwies. Stephanie konnte nach Los Angeles oder New York reisen, so viel sie wollte. Und was ihre Arbeit beim Orphea Chronicle anging, so erschien es plausibel, dass sie nach ihrer Kündigung die erstbeste Gelegenheit ergriffen hatte und dort auf ihre Chance zum Absprung wartete.

 

Es war genau 20 Uhr, als wir vor dem Haus in der Bendham Road ankamen. Wir gingen alle drei zu Stephanies Wohnung hinauf. Trudy Mailer reichte mir den Schlüssel, aber als ich aufschließen wollte, ließ er sich nicht drehen. Die Tür war gar nicht mehr abgesperrt. Ich spürte, wie mir das Adrenalin in die Adern schoss: Es war jemand in der Wohnung. Womöglich Stephanie?

Ich drückte vorsichtig die Klinke herunter und machte den Eltern ein Zeichen, sie sollten still sein, dann schob ich langsam die Tür auf, die sich geräuschlos öffnen ließ. Sofort bemerkte ich das Durcheinander im Flur: Irgendwer hatte die Wohnung durchsucht.

»Gehen Sie nach unten«, sagte ich leise. »Gehen Sie zurück zum Auto und warten Sie dort auf mich.«

Dennis Mailer nickte und zog seine Frau mit sich fort. Ich griff nach meiner Waffe, ehe ich mich ein paar Schritte weit in die Wohnung vorwagte. Alles war durchwühlt. Ich begann mit der Inspektion des Wohnzimmers. Die Regale waren umgeworfen worden, die Sofakissen aufgeschlitzt. Verschiedene auf dem Boden verstreute Gegenstände weckten meine Neugier, und so bemerkte ich nicht, dass sich mir jemand von hinten näherte. Erst als ich mich umdrehte, um die anderen Zimmer zu begutachten, sah ich direkt vor mir eine schemenhafte Gestalt, die mir Tränengas ins Gesicht sprühte. Meine Augen brannten, ich bekam keine Luft mehr. Dann erhielt ich einen Schlag.

Und alles um mich herum wurde schwarz.

20 Uhr 05 im Café Athena.

Die Liebe kommt zwar vermutlich ohne Vorwarnung, aber es bestand kein Zweifel, dass sie an diesem Abend beschlossen hatte, zu Hause zu bleiben. Josh redete jetzt schon eine Stunde lang ohne Unterlass. Anna hörte ihm längst nicht mehr zu und machte sich einen Spaß daraus, die Ichs zu zählen, die wie kleine Kakerlaken aus seinem Mund kamen und sie jedes Mal etwas mehr anwiderten. Lauren, die nicht mehr wusste, wohin mit sich, war bei ihrem fünften Glas Wein angelangt, während Anna sich mit alkoholfreien Cocktails begnügte.

Schließlich griff Josh, wahrscheinlich von seinem eigenen Wortschwall erschöpft, nach einem Wasserglas und trank es in einen Zug aus. Nach diesem wohltuenden Moment der Stille fragte er Anna etwas herablassend: »Und du, Anna, was machst du so beruflich? Lauren wollte es mir nicht verraten.«

Genau da klingelte das Telefon. Als sie die Nummer auf dem Display sah, begriff sie sofort, dass es sich um einen Notfall handelte.

»Entschuldige«, sagte sie, »den Anruf muss ich annehmen.«

Sie stand vom Tisch auf, entfernte sich wenige Schritte, bevor sie schnell zurückkam und verkündete, sie müsse leider gehen.

»Jetzt schon?«, fragte Josh sichtlich enttäuscht. »Wir hatten noch gar keine Zeit, uns richtig kennenzulernen.«

»Also ich weiß alles über dich, das war … wirklich sehr informativ.«

Sie küsste Lauren und ihren Mann auf die Wange, verabschiedete sich von Josh mit einem Winken, das »auf Nimmerwiedersehen!« heißen sollte, und weg war sie. Doch offenbar hatte sie es dem armen Josh sehr angetan, denn er folgte ihr und lief neben ihr her über den Gehsteig.

»Soll ich dich nicht irgendwo absetzen?«, fragte er. »Ich habe ein …«

»Mercedes Coupé. Ich weiß, das hast du mir bereits zweimal erzählt. Vielen Dank, wir stehen schon vor meinem Wagen.«

Während sie den Kofferraum öffnete, blieb Josh hinter ihr stehen.

»Ich werde Lauren um deine Nummer bitten. Ich bin oft in dieser Gegend, wir könnten mal einen Kaffee zusammen trinken.«

»Gute Idee«, sagte Anna, damit er endlich ging, während sie eine große Segeltuchtasche öffnete, die fast den ganzen Kofferraum einnahm.

Josh redete unbeirrt weiter: »Du hast mir noch nicht gesagt, was du so beruflich machst.«

Er hatte gerade zu Ende gesprochen, als Anna eine kugelsichere Weste aus ihrer Tasche holte und sie anlegte. Beim Anblick des Reflektorbands mit der Aufschrift

POLICE

 

fielen Josh fast die Augen aus dem Kopf.

»Ich bin Deputy Chief der Polizei von Orphea«, sagte sie, holte den Holster mitsamt der Dienstwaffe heraus, und befestigte ihn an ihrem Gürtel.

Während sie mit quietschenden Reifen davonfuhr, zuckten bereits die roten und blauen Blitze ihres Signallichts durch die Dämmerung, und die Sirene tat ein Übriges, um die Blicke sämtlicher Passanten auf sie zu ziehen.

Laut Zentrale war ein Beamter der State Police in einem Wohnhaus ganz in der Nähe angegriffen worden. Alle verfügbaren Streifen und die Bereitschaft waren zum Einsatz gerufen worden.

Sie raste mitten auf der Fahrbahn die Hauptstraße hinunter. Immerhin hatte sie Erfahrung mit Notrufeinsätzen zur Hauptverkehrszeit in Manhattan. Die Fußgänger, die gerade die Straße überqueren wollten, sprangen zurück auf den Gehsteig, und zu beiden Seiten wichen die Autos an den Straßenrand aus, sobald sie sie heranrauschen sahen.

Als sie vor dem Haus ankam, war schon eine Polizeistreife vor Ort, und beim Betreten des Gebäudes kam ihr auf der Treppe ein Kollege entgegen, der ihr zurief: »Der Verdächtige ist durch die Hintertür geflohen!«

Anna rannte quer durchs Erdgeschoss zum Notausgang, der zu einem verlassenen Gässchen führte. Dort war es seltsam still: Sie spitzte die Ohren, lauschte auf ein Geräusch, das ihr einen Hinweis liefern könnte, ehe sie weiterlief und an einen kleinen menschenleeren Park kam. Wieder völlige Stille.

Sie glaubte, ein Knacken im Gestrüpp zu vernehmen, zog die Waffe und betrat den Park. Nichts. Plötzlich sah sie einen Schatten vorbeihuschen, machte sich an die Verfolgung, verlor jedoch schnell die Spur. Am Ende blieb sie stehen, orientierungslos und außer Atem. In ihren Schläfen pulsierte das Blut. Da raschelte es kaum hörbar hinter einer Hecke. Langsam und mit klopfendem Herzen ging sie auf das Geräusch zu. Sie sah eine Gestalt, die sich auf leisen Sohlen vorwärtsschlich. Im geeigneten Moment sprang sie vor, zielte auf den Verdächtigen und befahl ihm, mit erhobenen Händen stehen zu bleiben.

Es war Montagne, der sie ebenfalls im Visier hatte. »Scheiße, Anna, bist du bekloppt?«, schrie er.

Mit einem Seufzen steckte sie ihre Waffe in den Holster zurück. »Montagne, was machst du denn hier?«

»Das frag ich dich! Du hast heute Abend gar keinen Dienst!«

In seiner Funktion als stellvertretender Leiter war Montagne ihr Vorgesetzter. Sie war nur zweite stellvertretende Leiterin.

»Ich habe Bereitschaft«, erklärte Anna. »Die Zentrale hat mich gerufen.«

»Und dabei hatte ich ihn schon fast geschnappt!«, entfuhr es Montagne verärgert.

»Ihn geschnappt? Ich war vor dir da. Es war nur ein Streifenwagen vor dem Gebäude.«

»Ich bin von hinten gekommen. Du hättest deine Position über Funk durchgeben müssen. Das macht man so im Team. Man gibt seine Informationen weiter und markiert nicht den Helden.«

»Ich war allein, ich hatte kein Funkgerät.«

»Du hast doch eins in deinem Wagen, oder etwa nicht? Echt, Anna, du nervst! Seit deinem allerersten Tag hier nervst du uns alle!«

Er spuckte aus und ging wieder zum Gebäude zurück.

Anna folgte ihm. Die Bendham Road war mittlerweile vor Einsatzfahrzeugen verstopft.

»Anna! Montagne!«, schnauzte ihr Vorgesetzter Ron Gulliver sie an.